HSP – was ist das?
Transcrição
HSP – was ist das?
HSP – was ist das? PETER MAY 22 20 Häufigkeit in Prozent 18 16 14 12 10 8 6 4 2 0 1 Die Hamburger Schreibprobe stellt ein neues Konzept zur Erfassung des Rechtschreibkönnens von Schülern im Grundschulalter sowie in der Sekundarstufe I dar. Die Diagnostik zielt auf die Erfassung von orthografischem Strukturwissen und grundlegenden Rechtschreibstrategien. Mit ihr wird nicht nur die richtige Schreibung von Wörtern, sondern die Zahl der richtig geschriebenen Grapheme ausgewertet. Damit soll auch ein Beitrag zur Überwindung der Defizit-Sichtweise auf die Schreibungen der Schülerinnen und Schüler geleistet werden. Nicht die Fehler stehen im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern das Gekonnte, das sich auch in teilweise richtigen Schreibungen zeigt. Die Hamburger Schreibprobe bildet ein Gesamtkonzept zur Diagnose des Rechtschreiblernens in der Schule. Es liegen verschiedene Versionen mit bundesweiten Vergleichswerten ab Mitte der ersten Klasse bis Ende der neunten Klasse vor, sodass die Rechtschreibleistungen über viele Jahre hinweg nach einem Gründe für die Entwicklung Die Hamburger Schreibprobe ist in der vorliegenden Form 1994 entwickelt worden. Gleichwohl ist ihr Grundkonzept, nämlich die Auswertung der Schreibungen nach dem Prinzip der „Graphemtreffer“, seit langem erprobt und praktisch bewährt. Seit 1985/86 werden alle Hamburger Schüler des 2. und 3. Schuljahres, die für eine besondere Rechtschreibförderung in Frage kommen, mithilfe früherer Versionen der Hamburger Schreibprobe ausgewählt. Das hauptsächliche Ziel der Hamburger Schreibprobe ist die Diagnose von Lernständen zum Zwecke der Förderung. Eines der Hauptprobleme von Rechtschreibtests, die nach dem Prinzip „richtig/falsch“ ausgewertet werden, besteht in der meist unzureichenden Differenzierungsfähigkeit im unteren Bereich der Leistungsverteilung. Abbildung 1 zeigt die Verteilung der Rohwerte des DRT 2 in einer repräsentativen Hamburger Stichprobe. Dabei wird auf den ersten Blick deutlich, dass der Rechtschreibtest mit der Methode der wortbezogenen Auswertung in der Hamburger Anzahl richtiger Graphen Großstadtstichprobe bei zehn ausgewählten eher im oberen LeisWörtern des DRT 2 tungsspektrum differenziert, dagegen im Bereich der schwächsten RechtRohwerte des DRT 2: schreibleistungen Zahl falsch kaum zur Leisgeschriebener Wörter tungsdifferenzierung herangezogen werden kann. Wenn man dagegen denselben Rechtschreibtest nach der Anzahl richtig geschriebe0/2 3/4 5/6 7/8 9/10 11/12 13/14 15/1617/18 19/20 21/22 23/24 25/26 27/28 29/30 31/32DRT 2 Roh ner Grapheme aus62/64 59/6156/58 53/55 50/52 47/49 44/46 41/43 38/40 35/37 32/34 29/31 26/28 20/25 14/19 ≤13 Graphemtreffer wertet, dann genügen bereits die Grapheme von zehn einheitlichen Konzept erfasst und ausgewählten Wörtern (anstelle der dadurch Lernfortschritte gut beob- ursprünglich 32 Wörter des DRT 2), achtet werden können. Die Ham- um die Differenzierungsfähigkeit burger Schreibprobe ist sowohl für des Tests im unteren Leistungsbedie Einschätzung individueller reich entscheidend zu erhöhen. Lernstände als auch für die Erhe- Durch die Zählung richtig bzw. bung klassenbezogener Leistungen falsch geschriebener Wörter werden zudem qualitativ unterschiedliche geeignet. Lehrerkommentar HSP 1-9 Schreibungen fälschlicherweise als gleich behandelt. Dieser Einwand gilt umso mehr, je früher im Verlauf der Lernentwicklung die Schreibungen erhoben werden und/oder je weniger entfaltet die individuelle Rechtschreibfähigkeit ist. Das in der Hamburger Schreibprobe angewendete Auswertungsprinzip trägt dagegen der Tatsache Rechnung, dass Lerner sich die orthografischen Prinzipien schrittweise aneignen. Daher ist es lernpsychologisch bedeutsam, Näherungslösungen zu erfassen. Auch in nur teilweise richtigen Schreibungen manifestieren sich gelungene Operationen. Auf diese Weise wird es möglich, zwischen unterschiedlichen Schreibweisen zu differenzieren, die Ausdruck qualitativ verschiedener Lernstände sind. Damit lassen sich verschiedene Grade der Annäherung an die Normschreibung unterscheiden, sodass entsprechende Fördermaßnahmen abgeleitet werden können. Wie wichtig eine differenzierte Erfassung des erreichten Lernstandes ist und auf welche Weise qualitativ unterschiedliche Schreibungen mithilfe der Graphemauswertung berücksichtigt werden können, lässt sich zum Beispiel anhand verschiedener Schreibungen des Wortes „Fahrrad“ (siehe Abbildung 2) zeigen. Der Entwicklung der seit 1994 vorgelegten neuen Formen der Hamburger Schreibprobe liegen die Ergebnisse eines umfassenden Forschungsprojekts zugrunde, das die Herausbildung orthografischer und textualer Kompetenz in der Schule erforscht. Dabei wurden die Schreibungen von über 200 Wörtern (als Einzelwörter und in Sätzen) sowie Aufsätze zu fünf Themen bei über 10.000 Schülern der Klassenstufen 1 bis 9 aus elf Bundesländern im Hinblick auf die Entwicklung der Rechtschreibfähigkeit ausgewertet. Im Mittelpunkt dieser Untersuchungen standen vier Längsschnitterhebungen über mehrere Jahre. Aus diesem Fundus wurden die Aufgaben für die Hamburger Schreibprobe ausgewählt. Im Ergebnis dieses Forschungsprojektes wurden die theoretischen Grundlagen der Hamburger Schreib- Schreibung FT Fart Farat Farad Fahrad Fahrrad richtig/falsch falsch falsch falsch falsch falsch richtig probe – u. a. durch die Auswertung der Schreibungen nach den in ihnen realisierten Rechtschreibstrategien – erweitert, die mit ihrer Hilfe erfassten orthografischen Anforderungen systematisiert und bundesweite Vergleichswerte ermittelt. Diagnostisches Konzept Theoretische Annahmen Das Konzept der Hamburger Schreibprobe geht davon aus, dass es grundlegende Strategien zur Erschreibung von Wörtern und Sätzen gibt und dass die Regeln, die Schriftlerner entdecken und denen sie schreibend folgen, bestimmten Prinzipien zugeordnet werden können, die der deutschen Orthografie zugrunde liegen. Neben dem Prinzip, so zu schreiben, wie es Schriftkundige vormachen, und sich die Buchstabenkombinationen zu merken (logographemisches Prinzip), sind vor allem die beiden Grundprinzipien relevant, die als „alphabetisches Prinzip“ (Laut-BuchstabenZuordnung) und als „morphematisches Prinzip“ (Konstanz des Stammes und der Wortbildungsbausteine) bekannt sind. Daneben bzw. dazwischen gibt es verschiedene „orthografische Prinzipien“, die auf der Grundlage des morphematischen Prinzips das alphabetische Prinzip modifizieren (orthographische Elemente im Wortstamm wie Längeund Kürzezeichen). Beim Schreiben von Sätzen und Texten müssen darüber hinaus wortübergreifende Regelungen beachtet werden. Sowohl die einzelnen Rechtschreibstrategien als auch deren Integration zu einer umfassenden Gesamtstrategie des Rechtschreibens werden von den Lernenden auf der Basis eigenaktiver Regelungsprozesse und unterrichtlicher Hinweise angeeignet und schrittweise vervollkommnet. Während die Kinder die handlungsleitenden Hinweise und (Selbst-)Instruktionen zunächst weitgehend „kontextfrei“ (d. h. buchstäblich und noch nicht mor- realisierte Kompetenz alphabetisches Schreiben: verkürzte Lautfolge alphabetisches Schreiben enfaltet vollstaändiges alphabetisches Schreiben orthografisches Regelelement bezeichnet orthografisches Merklelement bezeichnet Kompositum morphematisch durchdrungen phembezogen) anwenden und dabei notwendigerweise Fehler produzieren, sammeln sie im Laufe der Zeit zunehmend Erfahrungen über die Einbettung der Rechtschreibregeln in die Wort- und Satzkontexte und können die gelernten Handlungsregeln spezifizieren und verallgemeinern. Das „Lernen durch Instruktion“ wird demnach ergänzt und überformt durch ein „Lernen durch Tun“ und das Wissen der Lernenden schreitet vom Wissen über anzuwendende (Selbst-)Instruktionen, also Handlungsregeln (know that), zum intuitiven Wissen (know how) fort. Das Fertigkeitserwerbsmodell, das der Hamburger Schreibprobe zugrunde liegt, ist jenes der stufenweisen Entwicklung, die vom „Anfänger“ zum „Experten“ führt. Entsprechend der Wortauswahl und der Aufgabenkonstruktion wird durch die Hamburger Schreibprobe orthografisches Wissen und Können in einem Umfang und in einem Komplexitätsgrad erfasst, das den Anforderungen an orthografische Kompetenz entspricht. Denn die Wörter und Sätze der Hamburger Schreibprobe erfordern von den meisten Schüler /innen, ihre gelernten Rechtschreibstrategien und Zugriffsweisen beim Schreiben nicht eigens geübter Wörter zu erproben, d. h., die Schreibungen müssen in Form eines Problemlöseprozesses rekonstruiert werden. Da beim Erschreiben komplexer und weitgehend ungeübter Wörter Fehler in der Regel unvermeidlich sind, werden durch die Art der Auswertung der Hamburger Schreibprobe (Graphemauswertung) Zwischenlösungen ausdrücklich berücksichtigt. Aspekte der Rechtschreibung Die Hamburger Schreibprobe besteht aus Einzelwörtern und Sätzen. Die Bedeutung der Wörter und Sätze wird durch Illustrationen veranschaulicht. Das Erfassen der Bedeutung der zu schreibenden Wörter, eine wichtige Bedingung beim Rechtschreiblernen, wird dadurch Graphemtreffer 1 2 3 4 5 6 Abb.2: Bewertungsmaßstab gezielt unterstützt. Zugleich können die Schüler in ihrem individuellen Tempo schreiben, nachdem sie mit den Wörtern vertraut gemacht worden sind. Damit entfällt weitgehend das gleichschrittige Schreiben, das bei Diktaten für bessere wie schwächere Schreiber stets eine Belastung darstellt. Die Hamburger Schreibprobe kann als Gruppentest mit der ganzen Klasse oder mit einzelnen Schülern durchgeführt werden. Das Bearbeiten der Schreibblätter beansprucht auch bei leistungsschwächeren Schülern weniger als eine Unterrichtsstunde. Die Auswertung erfolgt – über die Erfassund richtig geschriebener Wörter hinaus – auf der Buchstabenebene (genauer: Graphemebene). Ermittelt wird die Zahl richtig geschriebener Grapheme (Graphemtreffer). Der Vorteil dieses Verfahrens besteht darin, dass die Rechtschreibleistung mit einer vergleichsweise geringen Zahl von Wörtern zuverlässig und ökonomisch erfasst werden kann und auch bei orthografisch schwierigen Wörtern Näherungslösungen gewertet werden können. Anhand einer Auswahl von sog. Lupenstellen können auf einfache Weise Vergleichswerte für die einzelnen Rechtschreibstrategien ermittelt werden. Mit der Hamburger Schreibprobe wird die individuelle Rechtschreibleistung der Schüler durch folgende Werte bestimmt: 1. Die Zahl richtig geschriebener Grapheme: („Graphemtreffer“) dient der Einschätzung des erreichten Niveaus des Rechtschreibkönnens. 2. Werte für den Grad der Beherrschung der grundlegenden Rechtschreibstrategien: Mit den folgenden vier Rechtschreibstrategien werden grundlegende Zugriffsweisen von Kindern auf Schrift beschrieben. Sie dienen der Bestimmung des jeweilig erreichten individuellen Lernstandes. Die Ausprägung dieser Rechtschreibstrategien und der Grad ihrer In- Lehrerkommentar HSP 1-9 2 – – – – 3. 3 Lehrerkommentar HSP 1-9 tegration kann anhand eines Strategieprofils bestimmt werden: Alphabetische Strategie: Damit wird die Fähigkeit beschrieben, den Lautstrom der Wörter aufzuschließen und mithilfe von Buchstaben bzw. Buchstabenkombinationen schriftlich festzuhalten. Diese Zugriffsweise basiert also auf der Analyse des eigenen Sprechens („Verschriftlichen der eigenen Artikulation“). Orthografische Strategie: Damit wird die Fähigkeit beschrieben, die einfache Laut-BuchstabenZuordnung unter Beachtung bestimmter orthografischer Prinzipien und Regeln zu modifizieren. „Orthografische Elemente“ sind zum einen solche, die sich der Lerner als von der Verschriftlichung der eigenen Artikulation abweichend merken muss („Merkelemente“, z. B. Zahn, Vater, Hexe). Zum anderen sind dies Elemente, deren Verwendung hergeleitet werden kann („Regelelemente“), z. B. Koffer, stehen, Hand. Morphematische Strategie: Damit wird die Fähigkeit beschrieben, bei der Herleitung der Schreibungen die morphematische Struktur der Wörter zu beachten. Sie erfordert sowohl die Erschließung des jeweiligen Wortstammes wie bei Staubsauger und Räuber (morphematisches Bedeutungswissen) wie auch die Zerlegung komplexer Wörter in Wortteile wie bei Fahrrad und Geburtstag (morphologisches Strukturwissen). Wortübergreifende Strategie: Damit wird die Fähigkeit beschrieben, beim Schreiben von Sätzen und Texten weitere sprachliche Aspekte zu beachten, unter anderem die Wortart für die Herleitung der Groß- bzw. Kleinschreibung, die Wortsemantik für die Zusammen- bzw. Getrenntschreibung, die Satzgrammatik, z. B. für die Kommasetzung oder die „dass“-Schreibung und die Verwendungsart eines Satzes, z. B. in der wörtlichen Rede. Hier erfordert die Herleitung der Schreibung eines Wortes und das Setzen des Satzzeichens die Einbeziehung größerer sprachlicher Einheiten (Satzteil, ganzer Satz, Textpassage). Überflüssige orthografische Elemente: Falsch platzierte orthografische Elemente deuten in frühen Phasen des Erwerbsprozesses darauf hin, dass die Schüler bereits solche Aspekte der Schrift in den Blick nehmen, die über die alphabetische Verschriftung hinausgehen, dass sie jedoch noch keine tragfähigen Entscheidungsgrundlagen für die Anwendung der orthografischen oder morphematischen Strategie entwickelt haben. Je nach erreichtem Lernstand können die Gründe für überflüssige orthografische Elemente unterschiedlich sein: weil orthografische Elemente beim Überformen der alphabetischen Strategie zunächst „übergeneralisiert“ verwendet werden, oder weil die orthographischen Elemente nicht in die Schreibung der Morpheme eingebettet werden. 4. Oberzeichenfehler: Sie weisen auf den Grad der Sorgfalt und auf die Kontrolle beim Schreiben hin. Die Ausprägung der Rechtschreibstrategien und der Grad ihrer Integration kann anhand eines Strategieprofils bestimmt werden. Mithilfe dieser verschiedenen Merkmale der Rechtschreibfähigkeit ermöglicht die Hamburger Schreibprobe eine qualitative Auswertung der Schreibergebnisse, die Voraussetzung für eine gezielte Förderung ist. Zur raschen Ermittlung relativ grober Vergleichsergebnisse (z. B. bei Großgruppenvergleichen) kann auch die Zahl der richtig geschriebenen Wörter bestimmt werden. Beschreibung von Lernentwicklungen und Förderplanung Die Schreibaufgaben der Hamburger Schreibprobe sollen lehrgangsübergreifend jenes Strukturwissen erfassen, das den Kern orthografischen Wissens und Könnens (Kompetenz) ausmacht. Die Wörter und Sätze enthalten solche Phänomene in genügender Anzahl, die die wichtigsten alphabetischen, orthografischen und morphematischen Zugriffe abfordern. Das Wortmaterial bietet ein breites Spektrum unterschiedlicher Schwierigkeiten, so dass die Schreibprobe genügend hohe Anforderungen an die besten und auch angemessene Anforderungen an die schwachen und schwächsten Schreiber stellt. Durch die bundesweiten Vergleichswerte erhalten die Lehrer zudem Vergleichsmaßstäbe, um die Leistungen der einzelnen Schüler und der gesamten Klassen einordnen zu können. Die Hamburger Schreibprobe bildet ein diagnostisches Gesamtkonzept für die Erfassung des rechtschriftlichen Könnens in der Schule (Klasse 1 bis 9). Durch die einheitliche Form der Aufgabenstellungen sowie der Auswertung können die Lernfortschritte der Schüler mithilfe der einzelnen Jahrgangsformen der Hamburger Schreibprobe erfasst und dokumentiert werden. Ein Teil der zu schreibenden Wörter wird in mehreren Versionen der Hamburger Schreibprobe wiederholt dargeboten, so dass die Entwicklung der den Schreibungen zugrundeliegenden Strategien auch anhand einzelner Wortschreibungen erfasst werden kann. Damit ist die Hamburger Schreibprobe besonders zur Erfassung und Dokumentation von Lernentwicklungen geeignet. Durch die Bestimmung sog. Strategieprofile werden Störungen im Aneignungsprozess differenziert erfassbar. Gefährdete und gestörte Lernentwicklungen zeigen sich in der Hamburger Schreibprobe nicht nur in einer vergleichsweise schwachen Gesamtleistung, sondern auch in der mangelhaften Integration der einzelnen Rechtschreibstrategien (z. B. in der Beharrung auf dem alphabetischen Schreiben als dominanter Strategie). Durch die Auswertung nach Strategieprofilen liefern die Ergebnisse eine sichere Grundlage sowohl für die Differenzierung im Unterricht wie auch für die gezielte Förderung von Schülern mit Rechtschreibschwierigkeiten. Die zugrundegelegten Kriterien für die Erfassung der grundlegenden Rechtschreibstrategien lassen sich auch bei der Auswertung von Schreibungen im Schulalltag (z. B. bei informellen Rechtschreibproben, Diktaten, Aufsätzen) anwenden, so dass die mit der Hamburger Schreibprobe gewonnenen Ergebnisse im Unterrichtsalltag weiter differenziert werden und bei der Planung informeller Leistungsbeobachtungen im Rahmen von Fördermaßnahmen helfen können. Anmerkung Dieser Text erschien erstmals 1998 in Wortspiegel. Zeitschrift der L.O.S. zur Lese-/Rechtschreibschwäche als Sonderdruck. © I.B.S Trainmedia, Berlin 1998 Lernbeobachtung mit der Hamburger Schreibprobe Auszug aus dem Handbuch/Manual Nadine ist eines der Kinder aus unserer Längsschnittstudie. An ihrem Beispiel möchten wir zeigen, wie mit Hilfe der Hamburger Schreibprobe die Lernentwicklung einzelner Kinder nachgezeichnet werden kann. Bei Nadine (und auch bei Jens, dessen Lerngeschichte im Handbuch als zweite abgedruckt ist) nimmt die Herausbildung der orthographischen Kompetenz einen atypischen Verlauf. Während mittlere oder gute Rechtschreiber ein ausgewogenes Leistungsprofil über die alphabetische, orthographische und morphematische Strategie aufweisen, ist das Verhältnis der drei grundlegenden Rechtschreibstrategien zueinander bei Jens und Nadine von Anbeginn unausgewogen. Diese Unausgewogenheit ist ein Hinweis auf eine unter Umständen gravierende Störung des Aneignungsprozesses. Kinder mit Schwierigkeiten beim Rechtschreiblernen geben ihre Schwierigkeiten in ihren Schreibungen zu erkennen. Je frühzeitiger wir auf sie aufmerksam werden, desto größer sind die Chancen einer gezielten Intervention und Förderung. Auf welche Weise dies mit der Ham- burger Schreibprobe gelingen kann, soll das folgende Beispiel veranschaulichen. Die Bezugsgrößen, mit denen wir die Rechtschreibleistungen einschätzen können, sind die Prozentränge für die Kennwerte der Hamburger Schreibprobe, die aus den jeweiligen Tabellen in den Anleitungsheften abzulesen sind. Sie geben an, welcher Prozentanteil aller Schüler der Gesamtstichprobe bessere, gleiche bzw. schwächere Leistungen in dem jeweiligen Bereich erzielt hat. Für Nadine liegen uns Schreibungen aus der 2., 3., 4. und 5. Klasse vor.1 Nadine zeigt am Ende der zweiten Klasse in den 18 Wörtern der HSP 2 (Vorform), dass sie sich die lautlichen Strukturen der Wörter nahezu vollständig erschließen kann und den lautlichen Einheiten die entsprechenden Grapheme zuzuordnen vermag (siehe Abb.1). Sie beherrscht das alphabetische Schreiben. Ungeschrieben bleiben lediglich das vokalisierte r in Briefmarke und Spardose, der Zwielaut in Mäuse (*Mosse) und die Lautfolge des Segments aub in Staubsauger, vermutlich weil Nadine das Wort noch nicht als Kompositum erkennt und darum den Wortteil Staub nicht identifiziert (was nicht besagt, dass ihr die Bedeutung des Wortes unbekannt ist; es besagt lediglich, dass sie ihr nicht in der Form „Gerät, mit dem man den Staub vom Boden aufsaugt“ transparent ist). Nadine beginnt zu diesem Zeitpunkt, ihre gut ausgebildete alphabetische Strategie durch orthographische Elemente zu überformen, wie die durchgängige Großschreibung der Nomen, die Verwendung der Grapheme <au>, <ei> und <v>, das <h> als (hier silbenanlautendes) Längezeichen in Rollschuhe und die Auslautverhärtung in Bild zeigen. Orthographische Elemente wie die Wiedergabe des /sch/Lautes vor /t/ und /p/ mit dem Graphem <s> sowie der Gebrauch der Doppelkonsonanten sind hingegen noch nicht in ihrem Blick. Von den Schreibungen, die die Beachtung des Wortstamms erfordern, so die Umlautung in Zähne, Blätter, Räuber, Mäuse, die Auslautverhärtung in Bild und Staubsauger und das <v> in ver, schreibt Nadine lediglich Bild richtig. PETER MAY/ VOLKMAR MALITZKY/ ULRICH VIELHUF Nadines Schreibweisen in der zweiten und dritten Klasse: HSP 2 (Vorform) Bild Zene (Zähne) Brifmage (Briefmarke) Rolschuhe (Rollschuhe) Bleter (Blätter) Kam (Kamm) Schdugsauger (Staubsauger) Papergei (Papagei) Rober (Räuber) Schbadose (Spardose) Mosse (Mäuse) Hamer (Hammer) Ana Ferkleidet sich vor dem spigel HSP 3 (Vorform) Farad (Fahrrad) Zehne (Zähne) Briefmake (Briefmarke) Rollschue (Rollschuhe) Blatter (Blätter) Kam (Kamm) Stausauger (Staubsauger) Spinne Reuber (Räuber) Ferkeuferrin (Verkäuferin) Schmetterling Windmüle (Windmühle) Hantuch (Handtuch) Ana Ferkleidet sich vor dem Spiegel Lehrerkommentar HSP 1-9 4 Ein Jahr später, am Ende der dritten Klasse, ist der Anspruch an das Rechtschreibkönnen der Kinder, den die 14 + 6 Wörter der HSP 3 (Vorform) stellen, deutlich höher. Nadine zeigt Fortschritte in der Verwendung orthographischer Elemente: Die <st/sp>Regel wird von ihr in allen drei Anwendungsfällen beachtet, viermal verwendet sie regelentsprechend den Doppelkonsonanten, zweimal kennzeichnet sie ein langes /i:/ durch <ie> und die Vokallänge in *Zehne durch <h>. Die Auslautverhärtung und Umlautung werden von ihr ansatzweise beachtet: So verwendet sie <d> in Fahrrad und Windmühle sowie <a> (ohne Oberzeichen) in Blätter; die Stammvokale in Verkäuferin, Zähne und Räuber schreibt sie dagegen weiterhin lautorientiert, hat also das Prinzip der Stammschreibungen noch nicht hinreichend erfasst. Ebenso wenig durchgliedert sie Komposita, bei denen der Auslaut des Bestimmungsworts mit dem Anlaut des Grundwortes verschmilzt: Sie schreibt *Farad und *Hantuch, und auch das Präfix ver wird von ihr noch nicht als solches erfasst (*Ferkeuferrin, *Ferkleidet). Im Vergleich zur Gesamtstichprobe der Drittklässler ist bei Nadine in dieser Phase ihres Aneignungsprozesses in den Bereichen des orthographischen und des morphematischen Schreibens eine Lernverzögerung festzustellen. Es gelingt ihr nicht genügend, die alphabetische Strategie produktiv in der orthographischen Strategie aufzuheben. Die vier Abbildungen auf dieser Doppelseite zeigen Nadines Schreibungen und ihre Auswertung in der HSP 4/5. Nadine schreibt am Ende der vierten Klasse 253 der insgesamt 277 Grapheme der Wörter der HSP 4/5 richtig. Dieses Ergebnis entspricht dem Prozentrang 23. In der Gesamtstichprobe erzielen 77 von 100 Kindern ein besseres Ergebnis. Nadine zeigt damit eine gerade noch durchschnittliche Rechtschreibleistung. Differenziert nach den Werten für die alphabetische, orthographische und morphematische Strategie sowie für überflüssige orthographische Elemente und Oberzeichenfehler, ergibt sich folgendes Bild (vgl. Abb. 2 Nadines Summenwerte in der HSP 4/5) Die 25 Lupenstellen für die alphabetische Strategie hat Nadine allesamt richtig geschrieben. Darin 5 Lehrerkommentar HSP 1-9 zeigt sich, dass sie die Wörter lautlich vollständig durchgliedert und den lautlichen Einheiten das jeweils entsprechende Graphem zuordnen kann. Von den 20 Lupenstellen für die orthographische Strategie schreibt Nadine 16 richtig. Das entspricht dem Prozentrang 37. Dieser Wert liegt deutlich unter dem Wert für die Beherrschung der alphabetischen Strategie. Nur einmal verwendet Nadine ein orthographisches Element an falscher Stelle. Angesichts des auffälligen Fehlens orthographischer Elemente (*Verker-, *-program und *Frü-) belegt dies jedoch keine Sicherheit, sondern ist als Folge der Nichtverfügbarkeit der zugrunde liegenden Regeln anzusehen. Bei den Schreibungen, die die Beachtung des Wortstamms erfordern, wird das in den beiden anderen Strategien erreichte Niveau deutlich unterschritten. Von den 15 Lupenstellen, mit denen die morphematische Strategie erfasst wird, schreibt Nadine nur 9 richtig, was dem Prozentrang 17 entspricht. Damit erreicht sie den niedrigsten Wert in eben jener Strategie, die für die weitere Herausbildung orthographischer Kompetenz grundlegend ist. Dagegen zeigt Nadine mit 14 von 15 möglichen Punkten für die wortübergreifende Strategie, dass sie die elementaren Regelungen für die Satzschreibung (Markierung der Satzschlusspunkte, Beachtung grammatischer Formen, Großschreibung von einfach erkennbaren Nomen) anwenden kann. Zur Bestimmung des Ausmaßes der Differenzen der Strategiewerte findet sich im Anhang des Anleitungsheftes der HSP 4/5 eine Grafik (Kopiervorlage). Trägt man die Werte für die einzelnen Strategien dort ein, so können die erheblichen Diskrepanzen zwischen den Strategiewerten unmittelbar abgelesen werden (siehe Abb. 3). Die Differenzen zwischen dem TWert für die alphabetische Strategie (T= 60) und dem T-Wert für die orthographische Strategie (T= 47) sowie dem T-Wert für die morphematische Strategie (T= 40) betragen 13 bzw. 20 T-Werte und sind damit (mit mehr als 10 T-Werten) signifikant. Sie belegen ein unausgewogenes Strategieprofil mit einer deutlichen Dominanz des alphabetischen Schreibens. Die Diskrepanzen zwischen den drei Strategiewerten, ins- Lehrerkommentar HSP 1-9 6 besondere der auffällig niedrige Wert für die Fähigkeit zur morphematischen Durchdringung der Wörter, dokumentieren eine gravierende Störung des Erwerbsprozesses. Legte die Sicherheit in der alphabetischen Strategie am Ende der zweiten Klasse noch nahe, Nadine verfüge über ein solides Fundament, auf dem aufbauend sie sich die komplexeren orthographischen Regelungen schon aneignen werde, so erweist sich diese Hoffnung zunehmend als trügerisch. Am Ende der Grundschulzeit entspricht Nadines Strategieprofil dem Profil aussichtsreicher Zweitklässler: Sicherheit in der Basisstrategie der Verschriftlichung der eigenen Artikulation, noch unsichere Verwendung orthographischer Elemente und erste Ansätze einer Berücksichtigung morphematischer Segmente. Während Nadine in der 2. Klasse noch eine durchschnittliche Rechtschreibleistung aufweist (Prozentrang 50), fällt sie in der 3. Klasse auf PR 40 und Ende Klasse 4 auf PR 29 ab. In der 5. Klasse setzt sich diese negative Entwicklung mit PR 25 weiter fort. Hier zeigen ihre Schreibungen teilweise sogar einen Rückschritt (siehe Abb. 4). Parallel zu dieser Entwicklung werden ihre Aufsätze kürzer und diffus. Nadine scheint zu resignieren. Nadine liegt mit ihren Rechtschreibleistungen am Ende der fünften Klasse mit Prozentrang 25 im unteren Durchschnittsbereich der Gesamtstichprobe, sie ist demnach von einer scheinbar soliden Durchschnittsleistung (PR 50) am Ende der zweiten Klasse kontinuierlich abgefallen. Jedoch zeigte sich bei ihr bereits am Ende der zweiten Klasse ein unausgewogenes Strategieprofil, Abb. 2: Summenwerte PR T-Wert 99,4 99,2 98,9 98,6 98,2 97,7 97 96 95 95 93 92 90 89 86 84 82 79 76 73 69 66 62 58 54 50 46 42 38 35 31 27 24 21 18 16 14 12 10 8 7 6 4,5 3,6 2,9 2,3 1,8 1,4 1,1 0,8 0,6 75 74 73 72 71 70 69 68 67 66 65 64 63 62 61 60 59 58 57 56 55 54 53 52 51 50 49 48 47 46 45 44 43 42 41 40 39 38 37 36 35 34 33 32 31 30 29 28 27 26 25 A O M WÜ Abb. 3: Nadines Strategieprofil in der HSP 4/5 am Ende der Klasse 4 Abb. 4: Nadines Schreibungen am Ende der 5. Klasse (HSP 5-9): Sätze Wörter Haubtbahnhof Fussbalmanschaft Verkersschild Tischtennisschläger Der Torwart schipft mit dem Schiesrichter Dauernt ist der Doofe Computer Kapput. Stöhnt die Sigreteren. Frühstücksei Reißferschlus Verkauferin Bankrauber Lehrerrin Geburztagsgeschenk Giskanne Ferseprogram Die Tierarztin plegt das Verlezte Nilpferd. Der Brief träger merkt das er das Päckchen vergesen hat. Der Polizist knackt das Fahradschloß. Bohrmaschine 7 Lehrerkommentar HSP 1-9 Spinnennetz Wenn man dem Mann nicht vertrauen kann, wem den dann? das auf die Gefahr einer Störung des Aneignungsprozesses in den Folgejahren hinweist. Nadine gibt in ihrem Strategieprofil frühzeitig zu erkennen, dass ihre Vorstellungen vom Zusammenhang zwischen der gesprochenen und der geschriebenen Sprache nicht hinreichen, um die orthographisch relevanten Aspekte der Wörter zureichend erfassen zu können. In ihrem Falle ist es die lang anhaltende nahezu ausschließliche Nutzung der eigenen Artikulation unter weitgehender Vernachlässigung der morphematischen Struktur beim Erschreiben der Wörter. Hier liegt vermutlich auch ein Defizit eines Rechtschreibunterrichts vor, der ihr möglicherweise zu lange die alphabetische Strategie nahelegte. Entsprechend der Profildiagnose sind die Hilfen auf die spezifischen Stärken und Schwächen des einzelnen Kindes abzustimmen. Am Beispiel von Nadine gilt es, ihre Aufmerksamkeit auf die morphematische Struktur der Wörter zu lenken und ihr den Zusammenhang zwischen Wortbedeutung, Wortstamm und orthographischen Regelungen transparent werden zu lassen.2 Das, was die Hamburger Schreibprobe mit ihren spezifischen Kennwerten zu leisten vermag, ist eine auf den Erwerbsprozess ausgerichtete Lernbeobachtung.3 Sie lässt nicht nur frühzeitig auf Lernschwierigkeiten aufmerksam werden, sie gibt darüber hinaus Hinweise auf die Spezifik der jeweiligen Lernschwierigkeit und schafft damit die Grundlage für eine gezielte Beobachtung und Förderung im Rechtschreibunterricht.3 Anmerkungen 1) Beispiele für Schreibungen aus Klasse 1 sind in der Anleitung zur HSP 1+ enthalten. In der zweiten und dritten Klasse hat Nadine Vorformen der Hamburger Schreibprobe bearbeitet, deren Wortauswahlen sich von denen der aktuellen Versionen der HSP 2 bzw. HSP 3 unterscheiden. 2) Siehe dazu auch die Hinweise im Kapitel „Förderung der orthographischen Kompetenz“ im HSP-Manual. 3) Siehe zur Erfassung und Analyse der Leseentwicklung die Anleitung der HSP. Literatur Zum Zusammenhang von Diagnose und Förderung: Balhorn/Büchner: „Passungen im Rechtschreibunterricht – Unsere Methoden müssen zu ihren Strategien passen.“ In: Balhorn u. a. (Hrsg.): Schatzkiste Sprache 1 – Von den Wegen der Kinder in die Schrift. Arbeitskreis Grundschule/Deutsche Gesellschaft für Lesen und Schreiben, Frankfurt/Hamburg 1998.