Tour de France 2003 - Inhaltsverzeichnis
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Tour de France 2003 - Inhaltsverzeichnis
Tour de France 2003 - Inhaltsverzeichnis Prolog 1 I. Anreise nach Paris 3 II. Chartres 5 III. Blois 9 IV. Chambord 12 V. Villandry 19 VI. Azay-le-Rideau 23 VII. Tours 25 VIII. Cognac 30 IX. Bordeaux 34 X. Das Bordelais 37 XI. St- Emilion 38 XII. Am Atlantik – La Dune du Pilat 41 XIII. Biarritz 43 XIV. Saint-Jean-de-Luz 46 XV. Pau 48 XVI. Lourdes 51 XVII. Toulouse 60 XVIII. Carcassonne- Les Saintes-Maries-de-la-Mer 68 XIX. Château de Flaugergues 88 XX. Die Camargue 91 XXI. Nîmes 100 XXII. Pont du Gard 105 XXIII. Avignon- Palais du Papes 106 XXIV. Lyon 111 XXV. 116 Die Abtei Cluny XXVI. Dijon 130 XXVII. Beaune 138 XXVIII.Clos de Vougeot 143 XXIX. Colmar 145 XXX. 153 Riquevihr XXXI. Im Elsaß 158 XXXII. Straßburg 160 XXXIII. Epilog 169 Tour de France 2003 Rundreise mit Eberhardt Travel vom 31. August – 13. September 2003 Prolog O ft wird man nach der Motivation gefragt: Warum fährst du eigentlich da und da hin? Das ist eine gute Frage, weil sie Nachdenken auslöst. Wie sind wir eigentlich darauf gekommen, ausgerechnet nach Frankreich zu fahren? Meine Antwort ist klar. Vordergründig muss gelten: Wir waren 1996 in Paris, Martina und ich, planten unsere erste gemeinsame Reise, quasi die Verlobungsreise. Eine Städtereise sollte es sein. Im Winter nach dem Norden kam nicht in Frage, nach Osten auch nicht. In London, Amsterdam, Brüssel, Madrid, Rom war ich gewesen. Blieb Paris. Wir hatten nur fünf Tage. Paris ist aber noch nicht Frankreich, also mussten wir zwangsläufig auch noch eine Reise rings ums Land oder quer durchs Land unternehmen, um mehr von unserem westlichen Nachbarn kennen zu lernen. Hintergründig hat sich schon seit meiner Jugend der Wunsch verankert, einmal selbst Frankreich zu erleben, unser Nachbarland, das unsere Väter und Großväter als „Erb- Feind“ bekämpft haben. Meine ersten Sympathien für dieses Land vererbte Kurt Tucholsky auf mich. Seine Faszination von der französischen Lebensart, den ganz unterschiedlichen Landschaften, der hohen Kultur und der einheitlichen Geschichte des Frankenreiches, die der über die Mitte Europas wabernden Völkergemische und rivalisierenden Kleinstaaten Germaniens so unähnlich ist, hat sich auch auf mich übertragen. Hinzu kommt, dass ich in den 70er Jahren schon den Versuch begann, Französisch zu lernen und jetzt dies wieder seit drei Jahren weiterführe, das Begehren, mich zu beweisen und ein wenig auf eigenen Füßen Begegnungen herbeizuführen. Das Reiseprogramm reizte mich. Es versprach ganz unterschiedliche Berührungspunkte und Orte, die alle einen Platz auf meiner imaginären Liste einnahmen. Wir sollten nach Chartres kommen, Schlösser der Loire besichtigen, in Biarritz baden gehen, in Lourdes pilgern, auf die höchste europäische Düne klettern, in der Haute Médoc Weine verkosten und in Cognac Kognac; in Nîmes den Pont du Gard, in der Camargue die weißen Pferde und schwarzen Stiere, Bordeaux, Pau, Tours, Lyon, Dijon, Beaune, Colmar und Straßburg sehen …Und das alles in 14 Tagen! Wie reizvoll, wie spannend, aber welch ein Riesenprogramm! Anstrengend wird es werden, nur aus dem Koffer zu leben, jeden Abend ein anderes Hotel zu beziehen. 14 Tage kein Eingewöhnen, doch das ist der Preis. Ein Querschnitt nur, besser ein kleiner Einblick ins Nachbarland wird es sein, ein Anfang. Nun hängt uns noch eine Kette mit Kugel am Bein, 50 Mitreisende und der Bus! Natürlich sind sie alle alt, die Mitfahrenden, über fünfzig bis kurz vor dem Schlaganfall, das Klientel der Rentner. Viele leben noch, sind aber trotzdem schon tot. Ich meine die, welche aus der ersten Autobahnraststätte stolz mit der neuesten Bildzeitung bewaffnet hervorkommen – sie ist ja eine scharfe Waffe! – wenngleich sie oft nach hinten losgeht und unterhalb des Gürtels benutzt wird. Die stumpfsinnige Herde der Mitreisenden vor uns zu haben und dann selbst Hinterbänkler zu sein – wir saßen auf der vorletzten Reihe hinten links, das waren die ständigen Beschwerden, die ich spürte. Ich fand während der ganzen Tour keine Gleichgesinnten. Hatte ich mich schon so weit von den Menschen entfernt? Wo bleibt die junge Generation? Es gibt noch etwas voraus zu schicken. Die Massenmedien beschäftigten sich gerade sehr intensiv mit Frankreich und drängten mir sozusagen das erste Nachdenken über die moderne französische Gesellschaft auf. Der Sommer, speziell der August 2003 war unmenschlich heiß, vor allem in den westeuropäischen Ländern. In den letzten Augusttagen gingen täglich Rekordmeldungen über Spitzentemperaturen durch die Presse. Hitze und Trockenheit. © Rolf Bührend, Winter 2005 Seite 1 Mitte August kommt es speziell in Paris, aber auch in anderen Großstädten Frankreichs, bei Temperaturen bis zu 42°C zu einem Massensterben betagter Menschen; es gibt zwei- bis dreimal mehr Verstorbene als üblich. Man spricht von mehr als 11500 Hitzetoten innerhalb ganz weniger Tage. Es sind meist alte, einsame Menschen, in Paris, in Frankreich, und über dem ganzen Land liegt ein Schatten von Scham, Bestürzung und Hilflosigkeit. Wie kam es dazu? Der Albtraum für die französischen Bestatter kam innerhalb weniger Stunden. Plötzlich war jeder von ihnen mit Hunderten Toten konfrontiert, und die Thanatologen1 kamen nicht nach. So lagerten Hunderte von Leichen in Kühlwagen, die zu provisorischen Leichenhallen umfunktioniert wurden. Viele Familien mussten mit dem langsam verwesenden Körper ihres Verstorbenen tagelang in der Wohnung leben, weil der Leichnam nicht abgeholt wurde. Die Unbeschwertheit der modernen Spaßgesellschaft hatte üble Folgen: Ausgegrenzt, allein gelassen, von ihren Familien beinahe vergessen, sind während der großen Ferien Tausende Alte in Frankreichs Metropolen lautlos gestorben. Die Hospitäler fuhren wegen der vor drei Jahren verankerten 35- Stunden- Woche und - weil die Franzosen traditionell alle auf einmal in den Urlaub fahren - in Notbesetzung. Der Notstand brach aus. Dem stolzen Land macht plötzlich die Tatsache zu schaffen, dass sich für viele Tote niemand wirklich interessiert. So suchen Spezialisten der Pariser Sozialämter die Angehörigen von 400 Pariser Toten, deren Angehörigen sich im Urlaub amüsieren oder die – zu Hause angekommen – nicht bemerken, dass einer ihrer Angehörigen tot ist. Dann gibt es über tausend Tote, deren Angehörige den Fall nicht melden, weil sie sich schämen, dass sie es zu spät gemerkt haben oder – noch brutaler – die 2500 € für die Beerdigung nicht bezahlen wollen. Viele, die im Urlaub nicht erreicht werden konnten, erfahren bei ihrer Rückkehr, dass ihre Oma anonym in einem Massengrab beerdigt wurde, ohne letzten Gruß, ohne Angehörige, auf dem Areal 58 des Pariser Vorstadt- Friedhofes Thiais, 20 km außerhalb der Stadt. In Paris wohnen eine halbe Million Menschen über 65 Jahre, vorwiegend mehr oder weniger hilflos in den billigeren Dachwohnungen, wo bei diesen Hitzewerten jegliche Kühlung unmöglich war. Pariser Politiker kamen erst aus dem klimatisierten Urlaub zurück, als ein großer Teil des Großhandelszentrums Rungis, Umschlagplatz für frische Lebensmittel, zu einer riesigen Leichenhalle umfunktioniert wurde. Das lässt tief blicken. Alles das beschäftigte die Medien und natürlich auch mich im Vorfeld unserer Reise. Frankreich ist also nicht nur das Traumland mit all den Sehenswürdigkeiten und dem großen Kulturerbe. Es hat zwar noch die Einheit einer in sich geschlossenen Sprache. Aber die moderne französische Gesellschaft ist gespalten und zerrissen. Sie hat alle Probleme der heutigen Mischgesellschaften, was die nationalen und religiösen Herkünfte angeht. Millionen islamisch geprägter Menschen aus den französischen Kolonien, aus Algerien, Marokko und Übersee haben ihre Kultur mitgebracht und sich mit ihr im christlichen, katholisch- evangelischen Frankreich integriert. Dazu kommt noch, dass arm und reich auch wie bei uns immer weiter auseinander klaffen. Davor will ich den Blick nicht verschließen. Letzten Endes wird mir während der Reise nicht viel davon vor Augen kommen. Sie wird so vorbereitet, dass dem Touristen die Schokoladenseite gezeigt wird. Schließlich will Otto Normalverbraucher aus Ostdeutschland die 1 Thanatos, griechischer Todesgott, Bruder des Hypnos (Schlaf), Sohn der Nyx (Nacht). Thanatologie: Die Wissenschaft von den Umständen und Ursachen des Todes Thanatologen sorgen für die Konservierung und das Schminken der Leichen © Rolf Bührend, Winter 2005 Seite 2 Fahrt genießen und keine Problemstudie von gesellschaftlichen Missständen erleben, die er ganz gut auch zu Hause sehen kann. Und so heißt denn auch die Reise programmatisch: „Tour de France – Erlebnisreise für Genießer“ Ich muss noch ergänzen, dass ich natürlich diesen Bericht viel mehr bebildern könnte. Aber es gibt drei riesige Fotoalben dazu mit 600 aus mehr als 1500 Bildern, die ich mitbrachte und vielen Stadtplänen und Prospekten. Es ist sicher reizvoll, neben dieser Reisebeschreibung auch diese anzuschauen! So habe ich Textergänzungen im Bild gesucht, die zum besseren Verständnis der französischen Geschichte dienen. I. Anreise nach Paris Sonntag, 31.8.2003 as Taxi holt uns 5.40 Uhr ab und bringt uns zum Dresdener Flughafen, dem Busstartplatz des Reisebüros. Ehe alle an Bord des Eberhardt- Reisebusses sind, ist Sachsen durchfahren und längst das Vogtland erreicht. Auf der Fahrt über die Autobahnen A4- A9- A6 erreichen wir über Nürnberg den mir weitgehend unbekannten Westen Deutschlands. Man muss die Strecke geduldig hinter sich bringen. Heute Abend werden wir in Paris sein! Was blieb in der Erinnerung hängen? Die Überquerung des Rhein- Main- Donau- Kanals, Fehlinvestition von mehreren Milliarden DM, reines Beschäftigungsprogramm? Immerhin eine Wasserstraße, die die Nordsee mit dem Schwarzen Meer verbindet. Letzte Rast in Old- Germany in Saarbrücken. Schilder weisen schon nach Frankreich. Wir wittern die Grenze. Nun kommt Neuland für mich. Und doch kenne ich es schon! Unterwegs durchqueren wir die Lorraine, das ehemalige deutsche Lothringen. Wir kommen auf einer Umfahrung vorbei an Metz, ihrer Hauptstadt. Schon in der Römerzeit war es als Dividorum das Zentrum des östlichen Galliens. Dann nach einiger Fahrt durch den schönen Sonnentag erreichen wir das Weichbild von Verdun. Rechts und links liegen die Schlachtfelder und Soldatenfriedhöfe des ersten und zweiten Weltkrieges, auf denen französische und deutsche Soldaten den Opferzoll von 800 000 Gefallenen, Verwundeten, Vermissten und Gefangenen brachten. Wofür? Für wen? Hier verweile ich in Gedanken. Viel habe ich gelesen über diesen heiß umkämpften Platz, um Verdun, bei Arnold Zweig, Das Beinhaus von Douaumont Ludwig Renn, Henri Barbusse, Erich-Maria Remarque und anderen. Besonders schlimm waren die Verluste bei den Kämpfen um das Fort de Douaumont. Dies war das am stärksten bewaffnete Fort der Region. Im Herzen des Schlachtfeldes, auf einem verwüsteten Abschnitt, auf einem Stück Land, das zu einer riesigen Grabstätte geworden ist, die noch heute die Narben des Krieges trägt, wurde von 1920 bis 1932 auf Initiative Seiner Eminenz Monseigneur Ginisty, Bischof von Verdun, das Ossuaire2 de Douaumont errichtet. Hier liegen die Gebeine von 130 000 nicht identifizierten Soldaten. D 843 wurde in Verdun das Fränkische Reich Karls des Großen in Frankreich, Lothringen und Deutschland aufgeteilt. Verdun kam zunächst zu Lothringen, dann 870 zu Ostfranken und damit später als freie Reichsstadt Virten zum alten Deutschen Reich. Der französische König Heinrich II. besetzte es 1552. Nach dem Dreißigjährigen Krieg 1648 fiel es endgültig an Frankreich. Von da an wurde es systematisch als Festung ausgebaut, unter anderem auch vom Festungsbaumeister 2 Ossuaire, frz. Beinhaus, Gefallenenengedenkstätte © Rolf Bührend, Winter 2005 Seite 3 Ludwig XIV., Vauban3. In der Schlacht um Verdun 1916 widerstand sie als Eckpfeiler der französischen Ostfront den deutschen Angriffen. Ich möchte einmal eine gesonderte Reise dorthin machen. Das beschäftigt mich schon lange. Wir sind in der Champagne. Was wird wohl interessanter sein als über dieses Weinland zu sinnieren, in dem der Champagner, diese edle Getränk „geboren“ wurde. Weit gedehnt erstrecken sich die grünen Weinfelder mit den reifenden Reben. Nur hier darf sich der erzeugte Schaumwein Champagner nennen! Mein Herz schlug höher, als wir durch die große Stadt Reims fuhren. Für einen kurzen Moment erblickten wir die majestätisch in die Höhe ragende Kathedrale von Reims, die zum Weltkulturerbe der UNESCO zählt. Die Autobahn führt hier direkt durch die Stadt und wird ein kurzes Stück vom Canal de l’Aisne begleitet. Das Kirchenbauwerk, eine der bedeutendsten gotischen Kathedralen der christlichen Welt, leuchte kurz auf in der Mittagssonne, dann ist es verschwunden. Wann werde ich da mal hinkommen? Irgendwann nach endlosen Kilometern in der flachen, vielfach leicht hügeligen Landschaft der Region Champagne- Ardenne überqueren wir die Marne. Wieder denke ich an den ersten Weltkrieg. Hier an der Marne wandelte sich der von den Deutschen geführte Bewegungskrieg zum Stellungskrieg. Der berühmte Schlieffenplan, Frankreich mit einer riesigen Zangenbewegung über Belgien zu überrollen, ging nicht auf. Hier südlich der Marne, genau wo wir jetzt durchfahren, passierte einst das, was die französischen Schulkinder als „Das Wunder an der Marne“ lernen. Zwischen dem 15. August und dem 10. September 1914 hatte die französische Armee 250 000 Soldaten eingebüßt. Der Krieg schien verloren. Frankreich war bis zur Marne besetzt. Drei deutsche Armeen bewegten sich auf Paris zu. Die Regierung setzte sich nach Bordeaux ab, Stadtkommandant Gallieni bereitete die Sprengung des Eiffelturmes und der Seinebrücken vor. Da geschah das „Wunder“. Ein Opfer ihres eigenen schnellen Vorstoßes, hatten die Deutschen zwischen der 1. deutschen Armee unter General von Kluck und der 2. deutschen Armee unter General von Bülow eine gefährliche Bresche von 40 km Breite entstehen lassen. Franzosen und Briten konnten ungehindert in die eher zufällig entdeckte Lücke hineinstoßen. In fünf schrecklichen Kampftagen wendeten die Franzosen die Lage. Aus dem deutschen Hauptquartier kam der Befehl zum Rückzug, um die zerrissene Front zu stabilisieren. Schlieffens Plan war gescheitert. Die Heere bissen sich ineinander fest- für vier Jahre! Am Ende des Krieges hatten hier 1,3 Millionen Franzosen und über 2 Millionen Deutsche den Tod gefunden. 3 Vauban, Sébastien le Prestre de, französischer Volkswirtschaftler und Festungsbaumeister, * 1. 5. 1633 St.-Légerde-Fougeret (nach ihm später St.-Léger-Vauban), Département Yonne, † 30. 3. 1707 Paris; zahlreiche Festungen, u. a. Metz, Verdun und Straßburg. © Rolf Bührend, Winter 2005 Seite 4 Vom zweiten Weltkrieg, in dem Hitler die Uhr zurückdrehen wollte, passierte in dieser Landschaft wiederum das grausige Hin und Her der Kriegsfurie. Ich erinnere nur an die letzten Zuckungen der deutschen Eroberer in der Ardennen- Offensive im Herbst 1944… Ich habe zu Hause den persönlichen Erlebnisbericht eines deutschen Offiziers in englischer Sprache - jetzt ist er ein alter Mann - der aus seiner Sicht von diesen sinnlosen Versuchen der Generale Hitlers eindringlich berichtet, wie er in den Ardennen in amerikanische Gefangenschaft gerät und das unsinnige Ende vieler junger Menschen miterlebt. Heute, 90 Jahre später, rolle ich mit vergnügten Reisenden in dieses Land und durch diese Landschaft, und die wenigsten machen sich klar, was für ein Wahnsinn hier stattgefunden hat. Die meisten Älteren haben es verdrängt, sich nicht damit befasst; es interessiert sie nicht. Bald wird uns rechts die Silhouette von Disneyland gezeigt. Eurodisney liegt im Großraum Paris. Es gibt Auslastungsprobleme. Hohe Preise verprellen zunehmend das Publikum, das ja auf Familien mit Kindern ausgerichtet ist. Ich muss da nicht hin. In mir kribbelt es in anderer Hinsicht: Bald werden wir in Paris sein. Doch uns wird ein Zahn gezogen, eigentlich wussten wir es schon: Wir werden in einer der fünf neuen Städte übernachten, die im so genannten Speckgürtel liegen, aber weit weg vom Stadtzentrum von Paris. Wir verlassen die Autobahn, biegen nach Süden ab. Nach einer ewig langen Fahrt erreichen wir nach 1096 km Fahrt in der Dämmerung den Ort Evry bei Paris. Flache Häuser, neu angelegte Straßen, architektonische Langeweile einer Schlafstadt mit einigen Gewerbegebieten. Immerhin ist Evry Verwaltungssitz des Departements Essonne und hat 46 000 Einwohner. Im hübschen Hotel „Le Flamboyant4“ erhalten wir im beheizten Zelt am Pool ein zufrieden stellendes Menü: 1. Gang: Fischpastete, 2. Gang: Nudeln mit Schweinegulasch, 3. Gang: Milchreis mit Pfirsichkompott. Dann beziehen wir unser enges Zimmer, ungewohnte Handgriffe, Weckerstellen. Ich schalte noch den Fernseher an: Außer den verhassten deutschen Privatsendern, die mir gestohlen bleiben können, eine Menge unbekannte französische Programme. Weiche, nasale, wohltönend klingende französische Laute. Ich verstehe kein Wort. Im Dunkeln sehen wir unten einen gepflasterten Hof mit dem kleinen Schwimmbecken. Vom Ort ist nichts zu sehen. Duschen. Dann strecken wir die von der Fahrt noch krummen und schmerzenden Glieder aus. II. Chartres Montag, 1. September 2003 m Morgen erste Versuche mit ein paar französischen Brocken an der Rezeption. Sie werden mit strahlendem Lächeln quittiert, das Mut macht. Kofferschleppen zum Bus. Check. Wir starten 8 Uhr. Fahrt durch den Großraum Paris. Viel von d e m Paris ist nicht zu sehen. Gewerbegebiete, Keime für Neuansiedlung von Arbeitskräften, üppiger morgendlicher Straßenverkehr, nichts Aufregendes. Wir überqueren die Seine. Hafenanlagen. Überraschend viel Grün. Kleine Staus: Alles strömt in die Innenstadt zur Arbeit, abends in Gegenrichtung in die Schlafstädte. Wir lernen: Frankreich hat 22 Régions, die in 96 Départements aufgeteilt sind. Diese sind durchnummeriert. Diese Nummer bildet die beiden ersten Ziffern der Postleitzahl und die beiden letzten jedes KfzKennzeichens. Paris hat die 75. Es ist dicht bewölkt. Ab und zu peitscht ein Regenschauer an die Busscheiben. Draußen sind etwa +10°C. Das Wetter ist unfreundlich und wenig einladend für Urlauber. Doch ein wenig Sonne lugt zwischen schweren Wolken hervor, als wir in das Städtchen Chartres einfahren. Der kleine Ort wirkt verschlafen. Ich besinne mich. Es ist Montag. Die Leute sind auf ihrer Arbeit. A 4 flamboyant, frz. funkelnd, blitzend, leuchtend © Rolf Bührend, Winter 2005 Seite 5 Das erste Ziel ist natürlich die Kathedrale. Wir werden auf eigene Füße gestellt. Treff 11 Uhr am Busplatz. Vorher nimmt uns unsere Reiseleiterin, die immer lächelnde, junge, wenn auch nicht ganz schlanke Conny, angesichts der Kathedrale noch einmal zusammen und hält uns einen Vortrag: Chartres ist Hauptstadt im Departement Eure-et-Loire in der Region Centre. Die vorwiegend ebene, fruchtbare Landschaft zwischen Paris und Orleans heißt die Beauce. Chartres ist eine alte Römerstadt, seit dem 4. Jahrhundert Bischofssitz und seit 800 ein berühmter Wallfahrtsort und erstrebtes Pilgerziel: 876 schenkte Karl der Kahle der Kathedrale das Gewand oder ein Schleier der heiligen Jungfrau aus dem Reliquienschatz Karls des Großen. Früher war sie die Hauptstadt der Grafschaft, seit 1528 des Herzogtums Chartrain, die seit 1623 dem Hause Orléans als Apanage5 gehörte. Conny erzählte, dass ein Fluch über der Baugeschichte hängen soll. Mitte des 9. Jahrhunderts schlugen die Wikinger hier alles kurz und klein. Der Ort wurde vom Feuer geplagt und vieles brannte ab. 1134 wird die Fassade vom Brand zerstört. Zwischen 1140 und 1160 werden der Glockenturm, das Königsportal und die südliche Kirchenspitze aufgebaut. 1194, am 10. Juni, wird nochmals Feuer ausbrechen und die Kirche zerstören. Danach wird von den Gläubigen in unbändigem Aufbauwillen nach dem Gründungsjahr 1195 das Gotteshaus wieder aufgebaut, bis 1260 die Kathedrale geweiht werden konnte. 1589 wurde Heinrich IV. hier gekrönt. Damit wurde Chartres zum Zentrum der katholischen Christenheit. Conny erzählte weiter von den Steinmetzen in den Bauhütten, die sommers 12 Stunden, winters 8 Stunden arbeiten mussten. Zwischen 1050 und 1350 wurden in Frankreich 80 große Kathedralen, 500 Pfarrkirchen und über 10000 Dorfkirchen errichtet. Die Bautätigkeit war produktiv und effektiv. Künstler kamen aus ganz Europa. Man benutzte die in Schriften überlieferte Technik der Römer, Laufrad, Hebewinden, Seilrollen. Das Material war der leicht bearbeitbare Kalkstein, der im Loiretal vorkommende Tuffstein und Toulouser Backstein. Die Hauptfassade im Westen wurde seltsamerweise von allen weiteren Feuern verschont. An ihr kann man alle Stilepochen der Kunstgeschichte ablesen, von der Romanik über die Früh- bis zur Hochgotik. Sie ist ein architektonisches Juwel, ein Weltwunder, kann man getrost erhöhen. Als ich davor stand, spürte ich das Verlustgefühl, dass ich dieses Kunstwerk nicht erfahren, erleben, erfassen kann, einfach weil die Zeit fehlte, weil es wieder zu regnen anfing, weil es an notwendiger Erklärung fehlte, war ich stark beeindruckt. Es war der erste starke Impuls auf mich, der von diesem Bauwerk ausging, als ich unmittelbar davor stand. Vorher hatte ich ja versucht, es als Ganzes aus der Entfernung auf die Linse zu bannen. Touristen sind zur Oberflächlichkeit verdammt. Die große Rosette über den zwei Dreierbögen des westlichen Königsportales misst 12,8 Meter im Durchmesser. Dahinter verbergen sich die westlichen Glasfenster. Man muss sie von innen betrachten! Im leichten Nieselregen trete ich hinter das Eingangsgitter, stehe vor den drei Portalen der Westfassade. In schlichtem romanischem Stil zieren Personen des Alten Testamentes in Lebensgröße ihre Flanken. Über dem Sturz des Haupteinganges finden sich die 12 Apostel. Ich kann nur durch Zählen auf die Inhalte kommen. Vielfach fehlt mir das Wissen. Im Tympanon der sitzende Christus, umgeben von den Symbolen der vier Evangelisten. Die Zeit drängt. Wir müssen hineingehen. Düsteres Halbdunkel umgibt uns jetzt. Draußen ist es trübe. So fällt auch nur wenig Tageslicht durch die herrlichen Glasfenster in den hohen Kirchenraum. Es ist das Wertvollste, das die Kathedrale an Schmuck zu bieten hat, die über 2000 m2 farbigen Bleiglasfenster, die größte Buntglasfläche in Kirchen überhaupt. Sie alle erzählen biblische Geschichten. Sie wurden aufgemalt, ausgeschnitten, aufgelegt, mit Zinkoxidfarben 5 Apanage, die; franz., Unterhalt für nicht regierende Mitglieder der Herrscherfamilie. © Rolf Bührend, Winter 2005 Seite 6 gebrannt und mit Blei verbunden. 172 Fenster. Acht davon wurden im 18. Jahrhundert durch Domherren und vier durch Revolutionäre zerstört. Ein riesiges Kunstwerk. Auch hier wieder: Warum hat man nicht die Geduld, die Zeit und den Trieb, sich alles in Ruhe und Gelassenheit anzuschauen? Hingeschaut, klick ins Gehirn. Dieses schaltet auf Ablage in eine temporäre Datei. (Wird beim nächsten Speichervorgang gelöscht.) Warum? Ich kaufe mir immer, sehr zum Leidwesen Martinas, ein illustriertes Heft, um zu Hause in Ruhe wenigstens die Bilder zu haben. Leider häufen sich diese Hefte. Der Platz dafür ist knapp. Kirchenrundgang mit der inneren Spannung: Du musst noch alles andere sehen! Warum auch dieses? Genügt es nicht, zum Beispiel mal eine Sache gründlich, dafür einige andere gar nicht zu sehen? Nein. Ich kann mich noch nicht frei machen von den so genannten Kunstexperten, die dann abends fragen: „Haben Sie diesen wunderbaren Heiligen Georg gesehen mit dem weltberühmten stintfarbigen Achat?“ „Heiligen Georg?“ Ja, davor fürchte ich mich noch. Plötzlich huscht ein mitleidiger Zug um die Mundwinkel des Kunstfreundes. Er bedauert dich. ‚Du armes Würstchen! Du Einfaltspinsel! Du Kunstbanause!’ wird er denken. Und er sagt: „Schade, Sie haben das Größte verpasst! Er ist einzigartig! Deshalb bin ich zum Beispiel extra hierher gekommen!“ Also rennt man, möchte alles sehen, nichts verpassen und – sieht nichts. Also schaue ich. Das 800 Jahre alte Fenster Notre-Dame-de-la-Belle-Verrière6. Beeindruckend schon für den Kunstfreund, den Techniker. Wie muss es aber den gläubigen Menschen bewegen, wenn hier die Gottesmutter, von der Sonne lichtblau durchhellt, den Jesusknaben im schützenden Schoß, auf ihn gnädig herabschaut? Im nördlichen Ostchor thront auf einer Säule, für mich überraschend und ungewöhnlich, Notre Dame du Pilier7. Auf einem schlichten Marmorzylinder erhebt sie sich, von reich verziertem Kapitell unterstützt, eine gekrönte Frauenstatue mit gekröntem Jesusknaben in dem einen, im anderen Arm Zepter und Reichsapfel, eingehüllt in ein Gewand aus Goldbrokat mit silbern schimmernden Fransen. So vereint sie weltliche und religiöse Macht. Über ihr schweben in einer muschelförmigen Nische mehrere Bogenreihen von tropfenden Herzen. Ein halbes Dutzend rot leuchtender Ampel hängen herab und verbreiten magisches Licht, das die Kannelierung der Säulen in der Nische matt und seidig glänzen lässt. Katholische Frömmigkeit. Überall brennen die Kerzen, die die katholischen Gläubigen und Touristen anzünden. Es riecht nach verbranntem Stearin und Weihrauch. Der Hauptaltar mit Mariä Himmelfahrt zeigt eine Gruppe des Künstlers Bridan. Die Experten wollen wissen, dass das 18. Jahrhundert nicht in der Lage war, Chartres zu verstehen. Mit seinem schwülstigen Manierismus trifft das Werk nicht den gottesfürchtigen Charakter des Heiligtums. Ich kann das nicht finden. Es passt nur irgendwie nicht hier hinein. Das sehe ich nun auch. Der innere Altarraum wird eingefriedet von einem Chorumgang, der mit Stein- Reliefs aus dem 16. Jahrhundert geschmückt ist. Es sind die Reste eines Lettners aus dem 13. Jahrhundert, der bis zum 18. Jahrhundert den Zutritt zum Chor kennzeichnete. Um den Chor herum finden sich wunderbare, in Stein gemeißelte Szenen, die Taufe Christi, Jesu Versuchung, eine Frau aus Kanaan, die um Heilung ihrer Tochter fleht. Ich fotografiere einige Bilder. Sie sind von inniger und lebendiger Aussagekraft. Den Gang in die Krypta ersparen wir uns. Ich gestehe, auch das herrliche Nordportal nicht geschaut zu haben. Der Blick durch die Rosette und die blau- violett schimmernden hohen Fenster von innen muss genügen. Wir müssen 11.30 Uhr wieder am Bus sein und wollen noch in die Altstadt. Ich bin im Nachhinein froh über diese Entscheidung, denn wir hätten die schöne Altstadt von Chartres nicht gesehen. Das wäre wahrlich ein Verlust gewesen. 6 7 Notre-Dame-de-la-Belle-Verrière, heißt so viel wie Unsere liebe Frau zum Schönen Kirchenfenster Notre Dame du Pilier, Unsere Frau auf der Säule © Rolf Bührend, Winter 2005 Seite 7 Ein kleines Heftchen führt uns. Ein roter Strich weist uns den kürzesten Rundgang mit den wesentlichen Sichterlebnissen. Durch die Altstadt von Chartres fließt die Eure, teilt sich in der Altstadt in drei Arme und vereint sich dahinter wieder. Sie ist ein linker Nebenfluss der Seine, 225 km lang. Die Quartiere der Basse Ville, der Unterstadt, sind um die drei Wasserläufe angeordnet, die Eure, der Große Bouillon und der Kleine Bouillon, welche vielleicht ein altes keltisches Grabensystem bilden. Im Mittelalter wurde es von Handwerkern der Textilverarbeitung bewohnt. Das zeigen noch die Namen der Gassen und Sträßchen (Corroierie= Lederverarbeitung, Foulerie= Walken, Moulin-à-Tan= Mühle, Tannerie= Gerberei…). Ich lese es von einem Schild „Histoire de la Cité“ ab. Seit 1970 gibt es ein Projekt zur Bewahrung und Erneuerung der alten Handwerkerquartiere. So gibt es noch in der Rue de la Tannerie das älteste erhaltene Atelier für Kirchenfenster in Chartres. Dieser Gang führt von der Kathedrale ständig über enge, dunkle, verwinkelte Treppen, kleine Plätze, alte Steinbrücken über einen der Wasserläufe, an Geländern am Wasser über antikes Kopfsteinpflaster, vorbei an alten Häusern. Er bietet an jeder Biegung, an jeder Ecke idyllische Blicke auf das still fließende Wasser, in dem sich Trauerweiden, Buchen und Eichen spiegeln. Wir sehen die Steinplatten der alten Waschplätze der Lederer und Gerber. Selbst wenn die Kathedrale zum Ruhme Chartres ausreicht, sollte man doch nicht das ganze Patrimonium8 an Kirchen, Abteien und alten Wohnsitzen vergessen. Denn um die Kathedrale herum drängen sich Gebäude aus mehreren Jahrhunderten, das Marienkloster, der Weinkeller von Loëns mit dem Speicher, heute internationales Zentrum der Glasmalerei, die an den alten Befestigungswall angelehnte Renaissance- Kirche St. Aignan, die Benediktiner- Abtei St. Pierre, die Krypta St-Martin du Val, von der einige Teile ins 4. Jahrhundert reichen, die alten Häuser des „Salms“, des „spinnenden Schweins“, der „alten Konsuln“, die herrschaftlichen Wohnsitze von La Caige, von Claude Huvé, einem Arzt in Chartres im 16. Jahrhundert… Wo wir uns aber auch in Chartres befinden mochten, wir entdeckten die Kathedrale immer wieder aus neuem Blickwinkel. Von der Brücke Bouju überragt sie eines der Stadtviertel, wo früher die Handwerker wohnten: Lohgerber, Rauchwaren- Zurichter, Kürschner, Weber, Wollewäscher. Sie alle kann man auf den Kirchenfenstern von Notre Dame wieder finden. Ohne Zweifel würden sie auch heute noch die Giebel und das Fachwerk ihrer Häuser wieder erkennen. Bald stehen wir am Hause der „Alten Konsuln“. Es wird in seiner Breitseite durchdrungen von einem hölzernen Treppentürmchen, das gar nicht zum Stile des Hauses passt: Die Treppe der Königin Berthe. Es befindet sich an der Kreuzung der Straßen du Bourg und des Ecuyers. Die Bezeichnung besteht in einem Zusammenhang mit einem Aufenthalt vier Jahrhunderte vorher, als diese jetzt zu sehende Haus gebaut wurde, mit Berthe, Witwe des Herzogs Alain de Bretagne, die etwa 1069 hier in einem Haus gewohnt haben könnte, das vielleicht an dieser Stelle stand. Die Fensterkreuze des Treppentürmchens zeigen wunderbare Schnitzereien. Fachwerk, stille alte Gassen, verträumte Winkel, ich wünschte mir hier länger zu sein. Ich fotografiere einen Briefträger bei seiner Arbeit mit langer Linse, ein junger Mann in blauer Jacke und gelbem Fahrrad. Dann sind wir schon wieder im Bannkreis der Benediktinerkirche, sehen sie von hinten, ein auch tausendjähriges gotisches Bauwerk mit herrlichen Strebepfeilern, Maßwerk und vielen Glasfenstern. Vieles sehen wir nicht, die Picassiette9 zum Beispiel. Da hat ein Friedhofsangestellter, Raymond Isidore (1900 – 1964) in tief- inniger Gläubigkeit, auch etwas Dauerndes zu hinterlassen, sein Haus und seinen Garten mit Hunderttausenden bunten Glasscherben und Mosaiksteinen belegt und gepflastert. Er baute 1928 sein Haus und begann, zunächst ohne besondere Absicht, Glas-, Porzellan- und Geschirrscherben zu sammeln. Dann bekam er die Idee, sie als Mosaik für die 8 9 Patrimonium, im römischen Recht das väterliche Erbgut; allgemein Vermögen. Picassiette, umgangsspr. „Tellerklauer“ © Rolf Bührend, Winter 2005 Seite 8 Ausschmückung seines Hauses zu benutzen. Er begann im Innern, bedeckte dann die Außenwände und schließlich alle verfügbaren Flächen im Garten (55 x 15 m2). Nach etwa 29000 Arbeitsstunden war er schließlich 1952 fertig. Ich habe nur die Bilder gesehen und schwanke zwischen lächelnder Herablassung über solchen Kitsch und allerhöchster Hochachtung über die Frömmigkeit, die Ausdauer, die kindliche Liebe zum Glauben und die Hartnäckigkeit, etwas Bleibendes der Nachwelt zu hinterlassen. Das Letztere überwiegt am Ende. Mein Lächeln verfliegt und die Hochachtung bleibt. Das was Isidore hinterlässt ist einzigartig. III. Blois W ir bleiben in der Region Centre (Verwaltungszentrum Orléans), verlassen aber das Département Eure-et-Loire und fahren nun in den sehr sonnig werdenden Mittag nach Süden. Die nächstgrößere Stadt ist Châteaudun. Hier gabeln sich die Straßen. Eine führt direkt über Vendôme nach Tours, unserem Tagesziel, die andere auf niederer Rangordnung führt nach Blois. Diese schlagen wir ein, sie wird enger, ihre Ortsdurchfahrten weisen ländliches Gepräge. Aber erst ist einmal Mittagszeit. Wir halten an einer Windmühle bei Oucques. Conny gibt FünfMinuten- Suppen aus oder Bockwürstchen mit Weißbrot. Am Rande eines in der Hitze der letzten Wochen völlig verbrannten Sonnenblumenfeldes suchen wir ein grünes Plätzchen und halten Rast in den warmen Strahlen der Sonne, die den trüben Dunst von heute Vormittag endgültig vertrieben hat. Ein wenig später. Französische Landschaft gleitet an unserem Busfenster vorbei. Flach ist das Land hier in der Beauce, Erntesommer, nichts Besonderes. Wir überqueren die Autobahn A10 und sind nach einer halben Stunde Fahrt in Blois, im Vallée de la Loire, im Loiretal. Schlösser der Loire, welch verlockendes Reisziel! Einparken auf einem nüchternen Parkplatz vor einer Kirche. Es stehen schon Busse da, meist sind wir nicht allein. Die Reiseleiter kennen und begrüßen sich. Sammeln. Langsam wankeln und bummeln und schaukeln sich die steif gewordenen alten Leute hinüber in den Park, wo uns die nette Stadtführerin begrüßt, eine kleine drahtige Frau mit kurzem kupferrotem Jungenhaarschnitt. Sie hört auf den schönen Namen Françoise und spricht ein sehr reines Deutsch, natürlich mit wunderschönem französischem Akzent gefärbt: Blois liegt direkt an der Loire, ist Hauptstadt des Départements Loir-et-Cher, hat 51500 Einwohner und ein altes ehrwürdiges Königsschloss, dessen Fassade hier vom Park aus zu sehen ist. Es gibt hier Agrarhandel, also mit Getreide, Gemüse und Wein, etwas Industrie, Druckereien, Fremdenverkehr. Das sind wir jetzt. Und eine Kathedrale aus dem 17. Jahrhundert. Während Françoise sich über den fast venezianisch anmutenden Stil der Fassade des Schlosses auslässt, fotografiere ich im Park das Denkmal von Augustin Thierry(1796 – 1856). Er war französischer Geschichtswissenschaftler, hier geboren, und verfasste neben anderem als Autor „Briefe zur Geschichte Frankreichs“. Dann gehen wir eine kleine ansteigende Gasse hinauf und stehen vor dem Eingangsflügel des Königsschlosses. Das Eingangsportal wird gekrönt von einer Reiterstatue Ludwigs XII. (1462 – 1515). Das ganze Schloss gruppiert sich mit vier Seiten um einen großen Innenhof. Es repräsentiert vier ganz unterschiedliche Kunststile und Bauepochen. 1. Das älteste Haus, ein Bau im frühgotischen Stil, ist eine mittelalterliche Festung aus dem 13. Jahrhundert. Es wurde von den Grafen von Blois seit dem 10 Jh. erbaut. Es enthält die mittelalterliche Halle der Generalstände, die großartigste Frankreichs, der alle Umbauten über die Zeit nichts anhaben konnten. Eine Säulenreihe mit Spitzbogen und Knospenkapitellen teilt und stützt einen zweischiffigen Raum. Seinen Namen erhielt er, als Heinrich III. zweimal, 1576 und 1588, die Generalstände des Königreiches hier zusammenrief. Diesen Raum sehen wir aber als Letzten. Ich bekomme einen kleinen Rüffel, weil ich aus der Reihe tanze und nur den Apparat vor Augen habe: „Sie können nachher fotografieren, da haben sie ein wenig frei!“ Ich weiß aber, dass dem © Rolf Bührend, Winter 2005 Seite 9 nie so ist und schieße meine Bilder, wenn uns die Dinge erklärt werden. Schlechte Erfahrungen. Trotzdem höre ich nun wieder aufmerksam zu, denn jetzt lerne ich Neues. Ich muss mich in der Dynastie der französischen Herrscher zurechtfinden lernen. Hier ist der Stammbaum der Valois und Bourbonen: 2. Wir verweilen noch vor dem Eingang zu dem Flügel Ludwigs XII. Hier finden wir den in Ziegel und Stein unverkennbar ausgeführt– so belehrt mich die Führerin – den Flamboyant10- Stil wieder. Ludwig XII. hat in den Jahren seiner Herrschaft (1498 – 1515) keine Mittel und Mühe gescheut, mehr zu bauen, doch er brachte es nur zu diesem Flügel. Heute beherbergt er im ersten Stock ein Museum für Schöne Künste. Gleich hier fällt ein Symbol auf, mit dem sich dieser Ludwig schmückte, „Le Porc Epic“, das Stachelschwein mit der Devise „Cominus et eminus qui pique de près et de loin.11“ Im Mittelalter hat man es gemacht, den Mut zu symbolisieren, einmal offensiv und einmal defensiv zu sein. Er war ein guter König, wurde „Père du Peuple“, Vater des Volkes, genannt und, nachdem ihm seine erste Frau starb, seit 1499 verheiratet mit Anne de Bretagne, die ihm die Bretagne ins Königreich einbrachte. Schloss Blois und die französischen Könige Wir gehen durch das Tor hindurch und sehen im Innenhof Gerüste, die für ein großes Konzertpublikum Sitzplätze und eine Bühne aufbauen. 3. Von hier sehen wir die Vorderseite des jüngeren Flügels König Franz I. (François 1er). Was wissen wir Deutschen über die Königsgeschlechter Frankreichs, ihre Dynastien, Intrigen, Taten und Untaten? Ich gestehe, hier klaffte bei mir ein großes Vakuum. So hörte ich genau hin, wenn unsere nette Führerin sprach, sah die Büsten der verflossenen Herrscher, ihre Portraits, bestaunte ihre gesammelten Gemälde, auf denen wichtige Ereignisse zu sehen sind, die mir natürlich auch unbekannt waren. So las ich Schilder an Vitrinen, folgte der erklärenden Führerin, die mir öfter verloren ging, sah mir Bilder an, vertiefte mich, geriet an den Schwanz der wie immer schnell die Säle und Räume durcheilenden Schlange der Bildzeitungs- Menschen. Halt, ich will nicht so gemein sein. Museum ist nicht jedermanns Interesse, was verlange ich da! 10 Flamboyant, [flãbwa'jã; französisch; das], spätgotisches flammenartiges Maßwerk des 15. Jahrhunderts, vornehmlich in der Kirchenarchitektur Frankreichs und Englands. Flamboyantstil, Bezeichnung für die englische und französische Spätgotik. In Frankreich wird nach der Flammenform der Fischblase die Spätgotik auch Flamboyant-Stil genannt. 11 „Cominus…“ frz. etwa: Hin und zurück, das sticht aus der Nähe und von weitem. © Rolf Bührend, Winter 2005 Seite 10 In diesen Flügel gelangten wir über eine doppelt gewendelte wunderschöne RenaissanceTreppe, eine Ehrentreppe, den Wendelstein. Ich muss an Schloss Hartenfels in Torgau denken. Die Pfeiler und Brüstungen sind reich verziert. Immer wieder fällt das Symbol von Franz I., „La Salamandre“, der Salamander auf. Dieses Tier widersteht dem Feuer. Es repräsentiert die Leidenschaft zum Leben und Ruhm und Ehre. Dazu gehörte seine Devise: „Nutrisco et extinguo.12“ Das dekorative Motiv des feuerspeienden Drachens mit der Krone darüber findet man häufig in der Architektur der französischen Renaissance. Franz I., geboren 1494 in Cognac, trat 1515 die Nachfolge seines Onkels Ludwig XII. an, dessen Tochter Claude er zur Frau nahm. Er führte einen brillanten Hof in den Schlössern in der Île de France und im Tal der Loire. Wir sind in der zweiten Etage, im Ratssaal des Flügels Franz I., in den Räumen, in denen ein Drama im Kampf um die Macht stattgefunden hat, allerdings nach Franz, der schon 1547 verstarb. Heinrich III. (1551 – 1589) kommt 1574 an der Macht. Religionskämpfe toben im Land. Die Regierung ist bankrott. Es herrscht galoppierende Inflation. Das Schreckgespenst eines drohenden Bürgerkrieges hält das Volk in Atem. Er ist der letzte aus dem Grafengeschlecht der Valois, die den König stellen. Er führte mehrere Kriege gegen die protestantischen Hugenotten. In Erinnerung ist mir der Film über die schreckliche Bartholomäusnacht vom 23. zum 24. August 1572, als Heinrich von Navarra die Schwester des französischen Königs Charles IX., (Karl IX., 1550 – 1574), Margarete von Valois heiratet. In dieser Nacht werden alle hugenottischen Hochzeitsgäste auf Veranlassung der Brautmutter Katharina von Medici von der fanatisierten Bevölkerung von Paris niedergemetzelt. Es geschehen 2000 Morde in Paris, 30000 in der Provinz…Das geschieht unter dem dritten Heinrich. Und nun zur Mordgeschichte von Blois: Große Bilder zeigen den Mord an Herzog von Guise, einem Führer der katholischen Partei, den Heinrich III. am 23.12.1588 in diesem Ratssaal umbringen ließ. Er soll gesagt haben, indem er den leblosen Körper des Herzogs mit dem Fuß von sich schiebt: „Als Toter ist er noch größer als im Leben.“ Heute ist man der Auffassung, dass ihm dieser Satz von den Auftraggebern dieses feigen Mordes untergeschoben worden ist. Charles Comte: „Heinrich III. und der Herzog von Guise am 22. Dezember 1588 in Blois“ 12 „Nutrisco…“ lat. etwa: Ich ernähre es und ich lösche es aus. © Rolf Bührend, Winter 2005 Seite 11 Der Hauch französischer Geschichte weht mich an. In diesem Raum, dem Schlafzimmer des Königs ist es passiert, vor 415 Jahren. Das Bett mit dem Baldachin, die Wandtapeten mit der Königslilie, die Holzbalkendecke sind identisch mit dem Interieur auf dem Bild… Heinrich III. wird 1589 selbst ermordet. Sein Nachfolger Heinrich IV. von Navarra gründet das Königsgeschlecht der Bourbonen, deren Nachkommen noch heute Thronansprüche in Frankreich anmelden. 4. Dem Ludwigsflügel gegenüber liegt der Flügel des Gaston von Orléans. Er umfasst einen Hauptteil, der leicht vorspringt, außen flankiert von zwei Pavillons. Sie sind durch einen halbrunden Säulengang verbunden. Die Außenfassade zeigt klassische Säulenelemente: im Erdgeschoss dorische Säulen, im ersten Stock ionische und im dritten Stock korinthische. Wir betreten nur kurz das lichterfüllte großräumige Treppenhaus und sind schon ganz gesättigt von all der wunderbaren Architektur. Der Bau, ganz im Stil des französischen Klassizismus, stammt aus dem 17. Jahrhundert, geschaffen von dem berühmten Architekten François Mansart, dessen Urenkel Jules HardouinMansart einmal das Schloss von Versailles bauen sollte. Leider wird er nie fertig, denn Gaston von Orléans, der Bruder Ludwig XIII., gehen die Geldmittel aus. Gaston, der ehrgeizige jüngere Bruder des Königs Ludwigs XIII. wird auf Betreiben Richelieus –wir erinnern uns seiner - 1634 hierher nach Blois verbannt. Er ließ nun vier Jahre emsig bauen. Doch 1638 wurde er von dem Dauphin13, dem späteren Ludwig XIV. von der Thronfolge ausgeschlossen. Damit verlor er das Interesse an Blois und wandte sich dem Schloss von Chambord zu. IV. Chambord G enau 15.40 Uhr entführt uns der Bus von Blois. Wir fahren über die Loire- Brücke hinüber in den anderen Teil der Stadt und bewundern die über dem Ufer aufsteigende stolze Silhouette des Schlossberges. Die Loire ist fast ausgetrocknet. Sie hat einen seltenen Tiefstand, kein Wunder nach dieser Hitze. Sandbänke, umgeben von Rinnsalen und Lachen, kleine grüne Inseln hat die Trockenheit freigelegt. Manche Brückenpfeiler stehen auf dem Trockenen. Das Gras ist braun. Dann passieren wir die Einfahrt in ein riesiges, mit einer Mauer, der Mur du Parc umfriedetes Gelände. Sie wurde 1543 begonnen, mehrmals im Bau unterbrochen und schließlich 1645 von Gaston von Orléans in einer Länge von 32 km fertig gestellt. Sie schließt einen Waldpark von heute 5433 Hektar ein, der auch heute noch dem Reh- und Schwarzwild vorbehalten ist und als nationales Jagdgebiet genutzt wird. Wir stehen nun vor dem bekannten Bild des größten Schlosses an der Loire: das Königsschloss Chambord mit seinen auf einen Blick unzählbaren Türmen, Türmchen und Schornsteinen präsentiert sich im goldenen Licht der Nachmittagssonne. Die Führung ist kurz. Wir müssen uns selbst umsehen. Von der Schlossgeschichte seien hier ein paar Besonderheiten und Begebenheiten wiedergegeben: Wie wir wissen, baute Franz I. 1515 bis 1519 den Flügel im Schloss Blois. Er beauftragte 1519 keinen geringeren als Leonardo da Vinci mit dem Baubeginn in Chambord. Franz war der Architektur leidenschaftlich zugetan und errichtete in den 32 Jahren seiner Herrschaft eine Vielzahl wunderbarer Schlösser und Herrensitze. Franz I., Ritter und Bauherr von Chambord 13 Dauphin, 1349-1830 Titel der französischen Thronfolger © Rolf Bührend, Winter 2005 Seite 12 Franz I. ist aber auch ein großer Jäger. Er beschließt 1518, inmitten des waldreichen Gebietes der Sologne sein neues Jagdschloss zu bauen, in einem Moorgebiet, in dem sich das Flüsschen Cosson verliert. 25 Jahre später erreicht der Bau mit 156 Metern Länge und 117 Meter Breite für die Epoche gigantische Ausmaße. Trotzdem beschließt Franz I. bald nach Baubeginn, sein Machtzentrum aus dem Loire- Tal nach Paris und der Île de France zu verlegen. Insgesamt verbringt der König nur acht Wochen in seiner 32-jährigen Regierungszeit in Chambord. Nach jedem kurzen Besuch hinterlässt er ein verlassenes Schloss. Dieser eigenartige Zustand der Quasi- Verwahrlosung prägt die ersten zweihundert Jahre der Schlossgeschichte. Zwischen ersten Empfang am 18. Dezember 1539 des Kaisers Karl V. durch Franz I., einem der ganz wenigen politischen Ereignisse auf Chambord bis zum letzten Grafen von Chambord, der es 1871 verlässt, liegen dreieinhalb Jahrhunderte. Plan des Schlosses Chambord. Diese gigantische Anlage wird wohl für immer unvollendet bleiben. Während des 16. Jahrhunderts ist der französische Hof noch nicht sesshaft: Er folgt seinem Monarchen bei dessen Reisen durch das Königreich. © Rolf Bührend, Winter 2005 Seite 13 Der größte Teil der königlichen Schlösser ist nicht dauerhaft möbliert. Möbel und Wandbehänge begleiten den König von einem Ort zum anderen. Wenn der Hof von Franz I. unterwegs war, konnte man auf Straßen und Flüssen 10 000 Menschen in einer unendlichen Schlange von Reitern, Wagen, Sänften, Fußgängern und- Booten sehen. Kein Königsschloss war in der Lage, eine solche Menschenmenge zu beherbergen. Nur die wichtigsten Persönlichkeiten hatten das Recht, in der Nähe des Königs zu übernachten. Für all jene, die keinen Platz im Schloss fanden, wurden in den umliegenden Ortschaften und Dörfern Quartiere beschlagnahmt. Hat sich der Hof dann niedergelassen, folgte der Tagesablauf des Königs relativ präzisen Regeln, die von Heinrich III. in einer starren Regelung kodifiziert wurden und die Basis für die berühmte Etikette am Hofe Ludwigs XIV. bildeten. Aber wie auch seine Vorgänger mischte sich Franz 1. gerne unter seine Höflinge. Dieses familiäre Verhalten erregte bei den ausländischen Diplomaten immer wieder großes Aufsehen, insbesondere bei den an ein größeres Zeremoniell gewöhnten Italienern. Ein vorgeschriebenes Programm bestimmte den Tagesablauf. Auf das "Lever14" des Königs folgte eine Beratung über die Geschäfte des Königreichs in Anwesenheit einer begrenzten Anzahl von Sekretären und Beratern, die in seinem Zimmer oder seiner Garderobe stattfand, danach kam die Messe. Auf dem Hin- und Rückweg zur Messe konnten ihn die Höflinge und das Volk sehen und ihm Bitten vortragen. Nach dem Diner, dem heutigen Mittagessen, leisteten die edlen Damen und Herren des Hofes dem König bis zum Abend Gesellschaft, sei es auf der Jagd oder bei anderen Vergnügungen. Danach folgte das Souper, häufig gefolgt von einem Ball, dann das "Coucher15" des Königs in Anwesenheit des Adels. Die direkten Nachfolger von Franz I. kamen so gut wie nie nach Chambord. Heinrich II. gibt die Baustelle nach und nach auf, und Karl IX. kommt nur gelegentlich zur Jagd. Ludwig XIII. macht dort zwei kurze Besuche. Es ist sein Bruder Gaston von Orléans, der neues Leben ins Schloss bringt. Er rettet es vor dem Ruin. Ludwig XIV. kehrt ab 1668 mit dem Hof nach Chambord zurück und lässt bei dieser Gelegenheit den ersten Stock des Donjons16 in eine königliche Suite umbauen. Insgesamt kommt er bis zum Jahr 1685 zu neun Jagdaufenthalten mit einer Durchschnittsdauer von drei Wochen. Es wurden 150 Tage in 17 Jahren gezählt! Das 18. Jahrhundert bringt Chambord, wenn auch nicht die brillanteste Phase seiner Geschichte, so doch diejenige, in der die Aufenthaltsdauer seiner Gäste am längsten ist. Zu dieser Zeit beginnen die wichtigsten Räumlichkeiten ein mehr oder wenig dauerhaftes Mobiliar und eine Dekoration aufzuweisen, und die Bauarbeiten sind endlich abgeschlossen. Der erste Gast des Jahrhunderts ist Stanislaus Leszczynski, der polnische König. Da er 1725 seine Tochter Maria Leszczynska geheiratet hat, gewährt Ludwig XV. seinem Schwiegervater seine Gastfreundschaft, als dieser gezwungen ist, ins Exil zu gehen. Er bringt ihn zwischen 1725 und 1733 in Chambord unter, das für diese Gelegenheit mit Möbeln aus dem Möbelspeicher von Versailles eingerichtet wird. Der Marschall Graf Moritz von Sachsen wird ab 1748 für zwei Jahre zum Bewohner von Chambord. Ludwig XV. belohnt ihn für seine brillanten militärischen Erfolge im Dienste Frankreichs - der letzte 1745 in Fontenoy gegen die Engländer - und macht ihn auf Lebenszeit zum Gouverneur von Chambord. Er erhält außerdem den Titel eines Generalmarschalls der "Camps et Armées" Frankreichs. Das Mobiliar stammt erneut aus dem Möbelspeicher von 14 lever: frz. aufwachen, erheben; hier Empfang enger Vertrauter durch den König im Bett coucher frz. schlafen; hier offizieller „Gut-Nacht- Empfang“ 16 Donjon: urspr. Bergfried, Wohnturm einer normannischen Burg; im mittelalterlichen Schloss der Hauptturm, letzter Zufluchtsort der Bewohner 15 © Rolf Bührend, Winter 2005 Seite 14 Versailles, und im Schloss herrscht ein brillantes Hofleben, animiert vom Regiment der Freiwilligen von Sachsen, deren tägliche Militärparaden an Prunk kaum zu überbieten sind. Für sie lässt der Marschall die Ställe von Jules Hardouin Mansart fertig stellen, in denen er ein königliches Gestüt einrichtet. Bis zu seinem Tod im Jahr 1750 begeistert er sich ebenfalls für die Jagd und das Theater. Sein Neffe, der Graf von Friesen, bewohnt das Schloß anschließend bis 1755. Nachdem die Wirren der Revolution 1789 vorbei waren, stellte man sich die Frage der Verwendung von Chambord. Sollte man es abreißen oder in eine Erziehungsanstalt verwandeln? Nach dem es als Lagerplatz für Viehfutter, Atelier zur Herstellung von Pulver und Salpeter und Gefängnis gedient hatte, vertraut man es 1802 dem Marschall Augereau an, um dort den Sitz der 15. Kohorte der Ehrenlegion zu errichten. Nach dem Sieg bei Wagram 1809 erhebt Napoleon Chambord zum Fürstentum Wagram und schenkt es zur Belohnung dem Marschall Berthier, Fürsten von Neuchâtel und Herzog von Valangin. Dieser verbringt dort nur zwei Tage und stirbt 1815. 1820 erhält die Witwe des Marschalls Berthier von Ludwig XVIII. die Erlaubnis, Chambord zu verkaufen. Es ist das Geburtsjahr des Heinrich von Bourbon, Herzog von Bordeaux, Enkel von Karl X. Der letzte Erbe des ältesten Zweigs dieser Bourbonen erblickt das Licht der Welt nach der Ermordung seines Vaters, des Herzogs von Berry. Der Graf Adrien von Calonne organisiert eine nationale Anleihe. Chambord wird zurückgekauft und dem Neugeborenen geschenkt. Während des Exils, das Louis- Philippe 1830 über die Bourbonen verhängt, nimmt der junge Herzog von Bordeaux den Titel des Grafen von Chambord an. Die Legitimisten17 kämpfen für die Restauration der Monarchie zugunsten Heinrichs von Bordeaux, der dann unter dem Namen Heinrich V. regieren würde. 1871 wartet der Graf von Chambord darauf, Paris zu betreten und den Thron zu besteigen. Zu diesem Zweck begibt er sich zum ersten Mal nach Chambord, wo eine Karosse und mehrere Wagen bereitstehen. Er bleibt dort drei Tage, kehrt aber nach der Veröffentlichung seines Manifests "der weißen Fahne" und nach der Niederlage seiner Partisanen wieder ins Exil nach Frohsdorf in Österreich zurück, wo er 1883 verstirbt. 1914 wird das Schloß mit Beschlag belegt, und der französische Staat kauft Chambord für elf Millionen Goldfranken von seinem damaligen Besitzer Elie von Bourbon- Parma ab. Das Schloss Chambord ist also keineswegs Schauplatz wichtiger politischer Ereignisse Frankreichs, obwohl sich alle Herrscher hier, wenn auch nur kurz aufgehalten haben. Trotzdem nimmt es in der großen Reihe der Loire- Schlösser – es sind deren mehr als vierzig! – einen wichtigen Platz ein. Ein großer Teil dieser Schilderungen sind natürlich nicht von mir. Es sind für mich drei bedeutsame Punkte in Erinnerung geblieben. 1. Die Haupttreppe Als technisches Meisterwerk der Maurermeister und Steinmetze wird die Treppe in den mittelalterlichen Schlössern zu einem herausragenden architektonischen Dekor. Sie kann als Innentreppe zur Fassade offen sein, wie in Azay-le-Rideau (1518-1527) - wir werden es noch sehen! - oder als Außentreppe konzipiert, wie die Treppe, die Franz I. 1517 bei seinem ersten architektonischen Projekt im Schloß von Blois in Auftrag gab. Im Schloss Chambord gibt es eine offene Treppe mit doppeltem Umlauf. Sie wird von acht Pfeilern getragen und oberhalb der Terrassen von einem Laternenturm mit zwei Oberlichtern gekrönt. Mit ihren zwei Schrauben, die um einen hohlen Kern laufen, ist sie sowohl die größte, die am reichster dekorierte, die am erstaunlichsten platzierte und die gewagteste Treppe ihrer 17 Legitimisten, lat., Verfechter der monarchischen Legitimität; Vertreter einer Lehre von der Unantastbarkeit dynastischer Rechtmäßigkeit, die auch durch revolutionäre Umstürze nicht beseitigt werden kann. Legitimisten sind die Anhänger der Bourbonen in Frankreich, die Karlisten in Spanien. © Rolf Bührend, Winter 2005 Seite 15 Zeit. Diese hohle Mittelstütze ist mit Öffnungen versehen, durch die man von der einen Treppe aus die Personen beobachten kann, welche die andere Treppe benutzen. Außerdem besitzt sie an ihrer Basis einen Durchgang, der es möglich macht, sie zu durchqueren, um zum Eingang der anderen Schraube zu gelangen, ohne die gesamte Struktur umrunden zu müssen. Dort kann man die gewagte Konstruktion durch den Anblick des hohlen Mittelpfeilers bewundern. Sie gleicht einem Instrument der Bühnenausstattung, die diejenigen zur Schau stellt, die sie benutzen. Man kann ihre unterschiedlichen Aufgänge auch spielerisch benutzen, wie das Gaston von Orléans und Mademoiselle von Montpensier, seine Tochter, taten. Letztere berichtet amüsiert, daß „die Abstufung so gebaut ist, daß eine Person hinauf- und eine andere hinuntersteigen kann, ohne sich zu treffen, obwohl sie sich sehen.“ Nach der Unterbrechung auf der Terrassenebene geht die Treppe mit doppeltem Umlauf dann in eine kleinere Wendeltreppe über, die innerhalb des Mittelpfeilers bis zu einer runden Terrasse, und dann bis zur letzten Laterne aufsteigt. Wir bewunderten diese seltsame Konstruktion, die auf einer Idee von da Vinci beruhen soll, teilten uns in zwei Gruppen, probierten es aus und begegneten einander, ohne uns zu treffen. Wahrlich genial! Chambord: Louis XIV. 2. Das Theater Ludwigs XIV. Ganz unverhofft begegne ich dem großen Theaterdichter Molière. Das heißt seiner Büste. Ludwig XIV. zeigt seit 1668 ein großes Interesse an Chambord. Am 19. September 1669 kommen König, Königin und Hof in Chambord an. Einige Tage später trifft Molière mit seiner Truppe ein und verweilt einen Monat im Schloß. Sie führen dort mehrere Komödien auf, darunter zum ersten Mal die Ballettkomödie „Monsieur de Pourceaugnac“. Dieses neue Werk, das Molière geschrieben hat, mit der Musik von Lully18 für Ballet und Intermezzos, ist gleich bei der ersten Aufführung sehr erfolgreich. Im folgenden Jahr kommt das Monarchenpaar nach Chambord zurück. Die Truppe von Molière stellt ein neues Stück vor. Es handelt sich um „Le Bourgeois Gentilhomme“, den Bürger als Edelmann, das vom König anlässlich der Ankunft einer türkischen Botschaft in Frankreich bestellt worden war. Am 14. Oktober 1670 missfällt die erste Aufführung dem König und wird demnach von den Höflingen verrissen. Nach der zweiten Vorstellung sagt der König: „Mein Herr, sie haben noch nie etwas geschrieben, was mich besser amüsiert hat, und ihr Stück ist ausgezeichnet“. Die Höflinge fließen danach vor Lob über, obwohl das Stück nicht gerade zart mit ihnen umgeht. Es wird vor der Abreise des Königs noch drei weitere Male aufgeführt. Der Festspielsaal ist im ersten Stock des Donjons untergebracht, im Südsaal des Kreuzes. Die Szene wurde vor den Fenstern errichtet. Der König hatte sich vermutlich in der Innentreppe eine Loge einrichten lassen, und aus Gerüsten wurde ein Amphitheater gebaut, um den zahlreichen Zuschauern in diesem relativ kleinen Raum Platz zu bieten. Außer den Büsten von Molière und Lully erinnert nichts mehr daran. 18 Lully, Jean-Baptiste, französischer Komponist italienischer Herkunft, * 28. 11. 1632 Florenz, † 22. 3. 1687 Paris; kam 1646 nach Frankreich. 1653 wurde er zum königlichen Hofkomponisten und 1662 zum Kapellmeister der königlichen Familie ernannt. Bedeutendster Meister und Organisator der französischen Barock-Oper, deren Prunk (großer Anteil von Chor und Ballett) den politischen und kulturellen Ansprüchen Ludwigs XIV. entsprach. Weitere Kennzeichen dieses Operntyps, der über ein Jahrhundert vorbildlich blieb, sind kleine, liedhafte „Airs“ und abwechslungsvolle Rezitative. © Rolf Bührend, Winter 2005 Seite 16 Und an diesen Büsten blieb ich hängen und musste dieses Intermezzo des Gedenkens für den heute noch gespielten Meister nachlesen. 3. Das Theater des Marschalls von Sachsen Wie Marschall Graf Moritz von Sachsen zu dieser Ehre in Chambord kam, wurde gesagt. Dass er ein Reiterführer und Pferdenarr war auch. Bedeutsam und überraschend für mich ist aber, dass er ebenfalls das Theater liebte und sehr viel dafür tat. Der Marschall von Sachsen war vom Theater begeistert. Nachdem er sich in Chambord niedergelassen hatte, unterstützte er die Gruppe aus Musikern und Tänzern von Favart. Stücke von Marivaux, der italienischen Komödie, wie auch die Vorstellung von Proverben machten die Berühmtheit des Theaters aus. Autoren wir Marmontel oder Graf Grimm waren unter den geladenen Gästen. Die Chronik berichtet, daß der Marschall von Sachsen Unsummen ausgab, um sein Theater von Chambord dem von Ludwig XIV. in seinen kleinen Appartements in Versailles ebenbürtig zu machen: Es soll sogar achtmal so teuer gewesen sein wie das des Königs, nämlich 600 000 Livres (etwa 1,5 Millionen heutiger Euro!). Moritz von Sachsen soll den bedeutendsten damaligen Dekorateur, den Italiener Jean- Nicolas Servadoni beauftragt haben, diesen Saal, der auf engstem Raum ein Fassungsvermögen von 200 Zuschauern hatte, für ihn zu realisieren. Unter den bemalten Kassetten des Nordsaals des zweiten Stocks, mit Skulpturen, die mit Pudergold vergoldet wurden, war vor den verdunkelten Fenstern die Bühne errichtet worden. Sie bestand aus einem Boden, der sich in Richtung der Zuschauer neigte, einer Maschinerie und einem herrlichen Vorhang, der eine Imitation eines „Drapees“ darstellte. Eine immer sichtbare Tür war in die Westmauer gebrochen worden. Sie verband die Bühne mit dem daneben liegenden Appartement der Schauspieler. Dieses Dekor blieb bis 1792 bestehen, dann wurde es abgebaut. In regelmäßigen Abständen schmückten Holzpilaster die Mauern des Saals, die mit dunkelrotem Samt bespannt waren. Dieser stammte aus Utrecht und war mit goldenen Festons verziert. Die Zuschauer saßen Parterre, während in der großen Treppe und an den Seitenwänden Ehrenlogen eingerichtet wurden. Orthogonal zwischen den vier mächtigen Türmen des Donjon erstrecken sich die so genannten Kreuzsäle im Erdgeschoss, ersten und zweiten Stock. Sie enthalten, zusammengetragen und gestoppelt im letzten Jahrhundert, Zukäufe Leihgaben von Privatpersonen, einige Ausstattungsstücke, nicht alle original hier hin gehörig, die ein wenig an die Vergangenheit erinnern. 1792 wurde alles Mobiliar auf Auktionen versteigert. Ein Großteil der Holztäfelungen, die diesen Verkäufen entgingen, wurde später als Brennholz verwendet, um die Verwundeten der Loire- Armee während des Deutsch- Französischen Krieges im Winter 1870/71 zu wärmen. Ich erinnere mich an wunderbare Wandteppiche, deren Geschichten, die sie erzählen, Jagdszenen aus der Zeit Franz I. enthalten oder Allegorien aus dem Alten Testament, um 1650 gewebt, oder an das Königszimmer, in dem ein nachgebautes Himmelbett zu bestaunen ist. Endlich stiegen wir hinauf auf die Terrassen, die sich rings um die Laterne des Donjon ziehen. Von dort verfolgten die Königin und ihr Gefolge die Hirschjagd. Heute konnten wir im Scheine der sinkenden Nachmittagsonne den verspielten Charme der Türmchen und Schornsteine, von denen es Dutzende gab, sehen und einen Blick in die weite Parklandschaft werfen, die in der Ferne in dichten grünen Wald überging. Dann war Sammeln am Busplatz. Wir kauften noch ein Kilo herrlich saftig und süß schmeckende Äpfel. Wir fuhren an einigen Loire- Schlössern vorbei, zum Beispiel am Jagdschloss Château de Cheverny, dem Château de Troussay, aber wir sehen nur die Eingänge oder über die lange Allee © Rolf Bührend, Winter 2005 Seite 17 im Hintergrund flüchtig den Gebäudekörper- es wird wohl keine Reise geben, die alle Schlösser einschließt. Es gibt deren über vierzig entlang des Tales der Loire. Ich schätze mich schon glücklich, dass wir vier zu sehen bekommen. Ad hoc gewissermaßen, wir sind ja auf Tour de France. Für zwei Tage sind wir in der Touraine, im Loiretal zwischen Orléans und Tours. Von 3000 Schlössern in Frankreich sind über 60% privat. Der Rest gehört dem Staat. Nicht alle sind offen für Besucher. Wir passieren Amboise, die Stadt, in der Leonardo da Vinci gelebt hat. Er wurde von Franz I. 1516 hierher geholt. Da Vinci verließ Italien für immer und lebte bis zu seinem Tod mit seinem Freund und Chronisten Francesco Melzi im Landschlösschen Cloux bei Amboise. Künstlerisch sind aus dieser Zeit noch der Entwurf für ein Schloss der Königinmutter bezeugt, der nicht ausgeführt wurde, aber entscheidenden Einfluss auf den Bau von Schloss Chambord nahm. Leonardo da Vinci starb am 2.Mai 1519. Er wurde im Kreuzgang der Kirche St.-Florentin auf dem Schlossberg von Amboise bestattet. Sein Grab wurde beim Abbruch der Kirche 1808 zerstört. Auch ein großer Sohn von Amboise ist Descartes19, an den in der Stadt ein Denkmal erinnert. Wir erfahren, dass in dieser Gegend langhaarige Esel gezüchtet werden, sehen auch einige weiden. Für 10 000 Euro werden sie gewinnbringend exportiert. Immer wieder gibt es Wald zwischen freien Flächen. An einem Kreuzweg, auf freiem Felde, halten wir, um Françoise abzusetzen. Sie sagt, sie wohne hier nicht weit und ginge den Rest nach Hause zu Fuß. Wir sollten sie einmal besuchen. Und das meinte sie ernst. Man sollte es wohl auch wirklich tun und privat dorthin in die Ferien fahren. Morgen früh um neun Uhr will sie uns Villandry und Azay le Rideau und Tours zeigen. Und morgen Abend wollen wir in einem der Felsenrestaurants, die als tiefe Kavernen und Höhlen in die weichen aber hohen Kalksteinwände, an denen die Straße jetzt vorbei führt, hinein geschnitten sind, einen besonderen Spezialitätenabend genießen. Es dauerte nicht lange, da fuhren wir gegen 19 Uhr auf der Rue Nationale in die große Stadt Tours hinein, das Herz und Haupt der Touraine. Tours hat etwa 300 000 Einwohner, eine ehrwürdige Universität, eine mächtige, alles überragende Kathedrale- und die St- MartinsKirche, den Pilgerpunkt der Heiligen Jakobs- Brüder auf ihrer Pilgerfahrt nach Santiago de Compostella. Wir werden hier zwei Nächte bleiben. Wir überquerten in Höhe des Hôtel de Ville den Place Julie Jaurès und den Boulevard Béranger. Ich las gerne die Straßenschilder. Dicht bevölkerte Straßen, viel Autoverkehr, Geschäftshäuser, Banken, Ladenzeilen, Kaufhäuser, Plätze, Kreisverkehre- dann der Bahnhof. Es wird eng. Der Bus biegt am Bahnhofsvorplatz links ab und hält vor dem Best-Western- Hotel „Le Grand Hôtel“. Verblichener Glanz vergangener Zeiten unter neuem amerikanischem Konzept, aber in Frankreich. Ganz seltsames Gemisch. Erdgeschoss und drei Vollgeschosse plus Dachzone. Wir wohnen oben und haben einen schönen Blick auf die sich jetzt in der Abendstunde langsam belebende Fußgängerzone. Schau ich nach links, liegt unter mir der gewaltige Komplex des Hauptbahnhofes von Tours. Das Abendessen ist sehr „europäisch“. Freundlich werden 3 Gänge serviert: Eierspeise - Huhn mit Kartoffelbällchen – Vanillepudding mit Eischnee. An diesem Tage legten wir insgesamt 304 km zurück. 19 Descartes, René, lateinisch Renatus Cartesius, französischer Philosoph, Mathematiker und Naturforscher, * 31. 3. 1596 La Haye, Touraine, † 11. 2. 1650 Stockholm. Mit Descartes beginnt die neuzeitliche Philosophie; er begründete die analytische Geometrie und ist in der Geschichte der Physik durch seine Arbeiten zur Dynamik, Optik und Astronomie hervorgetreten. Er suchte ein geschlossenes mechanistisches Weltsystem zu errichten. Die Philosophie sollte nur den Zugang eröffnen, die Prinzipien klären und die Erkenntniskriterien bestimmen. © Rolf Bührend, Winter 2005 Seite 18 V. Villandry Dienstag, 2. September 2003 m 8.00 Uhr Frühstück. Punkt 9.10 Uhr fahren wir ab. Françoise lässt kurz halten und unternimmt mit uns einen ganz kurzen Stadtrundgang, verspricht uns aber für heute Abend eine ausgiebige Stadtführung. Der Tag verspricht schön zu werden. Blauer Himmel. Nach nur wenigen Kilometern sind wir schon am ersten Ziel: Die Gärten des Schlosses Villandry. Für knapp eineinhalb Stunden komme ich aus der Bewunderung nicht mehr heraus. Es ist weniger das Schloss selbst, in das wir nicht hineindürfen. Es ist bewohnt, privat und für Besucher nicht zu besichtigen. Hier sind es die Gartenanlagen, die den einmaligen Reiz dieses Schlosses ausmachen. Ein paar Stufen hinauf. Eine niedrige Mauer. Wir standen und staunten. U Schloss Villandry Die Gärten von Villandry sind terrassenförmig auf drei Stufen angelegte Gärten, die eine Fläche von 7 Hektar einnehmen, die Gebäude und Höfe eingeschlossen: der Gemüsegarten auf der untersten Stufe, die Ziergärten verlängert vom Heilkräutergarten, auf der mittleren Stufe, der Wassergarten auf der obersten Stufe Unter unserer Mauer lagen die Ziergärten. Sie liegen auf derselben Höhe wie die Salons des Schlosses. Er wird auf 5000 m2 von 70 cm hohen Buchsbäumen und beschnittenen Eiben gebildet, die Blumenteppiche einschließen. Der Blumenschmuck wird zweimal im Jahr erneuert. Die ersten vier Quadrate bilden den „Garten der Liebe“. „Die Zärtliche Liebe“, symbolisiert durch Herzen, die durch die Flammen der Liebe in den Ecken getrennt sind. In der Mitte Masken, die man auf den Bällen trug und die alle ernsten oder auch oberflächlichen Gespräche erlaubten. „Die leidenschaftliche Liebe“. Auch hier findet man Herzen, aber sie sind zerbrochen. Die Buchsbaumreihen sind ineinander verschlungen und bilden ein symbolisches Labyrinth, das gleichzeitig die Bewegungen Tanzender heraufbeschwört. „Die unbeständige Liebe“, indem die vier Fächer in den Winkeln die Oberflächlichkeit der Gefühle symbolisieren. Zwischen den Fächern sieht man die Hörner der betrogenen Liebe und in der Mitte die Liebesbriefe oder billets doux, die die unbeständige Dame ihrem Geliebten zukommen ließ. Die Hauptfarbe ist gelb, Symbol der betrogenen Liebe. © Rolf Bührend, Winter 2005 Seite 19 „Die tragische Liebe“. Hier stellen die Buchsbaummuster Dolch und Schwertklingen dar, welche in den Duellen der Rivalität um die Liebe der Frauen benutzt wurden. Im Sommer blühen rote Blumen und stellen symbolisch das während dieser Kämpfe vergossene Blut dar. Es handelt sich um die Heraufbeschwörung der tragischen Liebe. Es ist alles so liebevoll und mit Akkuratesse bepflanzt, so gepflegt, dass man des Sehens nicht müde wird. Ich fotografiere wie ein Weltmeister, wechsle in eiliger Hast die Batterien, dann einen Chip. Immer wenn es dringend ist, erscheint der Pfeifton „Karte voll“ oder „Batterie leer“. Man muss es wissen, ich entnehme es dem Prospekt: In Fortsetzung der Liebesgärten finden sich noch drei auf der Spitze stehenden Quadrate: Das Malteserkreuz, die Kreuze der Languedoc- Gegend, und des Baskenlandes und die symbolischen Lilien der Bourbonen. Villandry ist das letzte der großen Schlösser, die in der Renaissance- Zeit an den Ufern der Loire gebaut wurden. Es wurde 1536 fertig und gehörte einem Finanzminister von Franz I., Jean le Breton. Er hatte jahrelang den Bau von Chambord überwacht. Um das aktuelle Schloss zu bauen, ließ Jean le Breton eine alte Festung aus dem 12. Jahrhundert niederreißen, von der nur noch die Fundamente und der Burgfried blieben, deren Existenz man hinter Plan des Schlosses Villandry mit seinen Gärten, Stich von 1532 dem Schlosshof errät. "Der Frieden von Colombiers" (Name von Villandry im Mittelalter) wurde am 4. Juli 1189 in dieser Festung unterzeichnet, und Heinrich 11. Plantagenêt, König von England, erkannte dort vor Philipp- August, König von Frankreich, seine Niederlage an. Dieser Friedensschluss stellt eine wesentliche Etappe des Triumphes der Kapetinger Monarchie über die Lehnsherren dar, zu denen allen voran die Plantagenêts gehörten, deren riesiger französischer Grundbesitz die Normandie, die Bretagne, die Maine- Gegend, die Touraine, das Poitou und Aquitanien (infolge der Heirat von Henri II. mit Alinéor d'Aquitaine) umfasste. Die Nachkommen von Jean le Breton behalten Villandry bis 1754. In diesem Jahr wird der Marquis von Castellane, der Botschafter des Königs ist und aus einer sehr berühmten Familie des provenzalischen Adels stammt, Besitzer des Schlosses. Er ließ die Nebengebäude im klassizistischen Stil bauen, die man auf beiden Seiten des Vorhofes sehen kann. Er renovierte die © Rolf Bührend, Winter 2005 Seite 20 Innenausstattung des Schlosses, indem er diese den Komfortnormen des 18. Jahrhunderts anpassen ließ, die denen unserer Epoche ähnlicher sind als denen der Renaissance. Im XIX. Jahrhundert wurde der traditionelle Garten zerstört und durch die Schaffung eines um das Schloss gelegenen englischen Parks ersetzt (im Stil des Parc Monceau in Paris). 1906 wird das Schloss vom Doktor Joachim Carvallo gekauft, der 1869 in Spanien geboren wurde und der Urgroßvater des heutigen Eigentümers ist. Er gab eine brillante wissenschaftliche Karriere an der Seite von Professor Charles Richet - Nobelpreisträger 1913 - auf, um sich völlig Villandry zu widmen. Er rettete so das Schloss vor dem drohenden Abbruch und gestaltete in Harmonie mit dessen Renaissancestil die Gärten, die wir heute bewundern können. Joachim Carvallo war ebenfalls 1924 der Gründer der „Demeure Historique“, der ersten Vereinigung von Besitzern historischer Schlösser. Er war ein Wegbereiter für das Öffnen dieser Monumente für Besucher. In Villandry, das doch Azay-le-Rideau ganz nah ist und fast aus der gleichen Zeit stammt, fehlen der italienische Einfluss und die Erinnerungen an das Mittelalter wie dekorative Türmchen und Pechnasen fast ganz und machen einem einfacheren, völlig französischen Stil Platz, der mit seiner Dachform Anet, Fontainebleau und den späteren Stil Heinrichs IV. ankündigt. Die Originalität von Villandry liegt nicht nur in seiner neuen Bauform: sie liegt auch in der Art, in der die Landschaft genutzt wurde, um dort in voller Harmonie mit Natur und Stein Gärten von bemerkenswerter Schönheit anzulegen. Ein kleines, von einem Bach durchzogenes Tal fällt vom Plateau aus nach Süden ab. Sein Hang erlaubte es, drei Gartenstufen terrassenförmig anzulegen. Martina und ich lösen uns von der Reisegesellschaft. Wir genießen die halbe Stunde, die uns hier vergönnt ist. Der Wassergarten ist vergleichsweise langweilig und verlassen. Auf der obersten Stufe zwischen einem weitläufigen Lindenkreuzgang sammelt ein 3000 m2 großes Wasserbecken in Spiegelform das zum Bewässern der gesamten Gartenanlage notwendige Wasser. Es ist mit Schwänen bevölkert, die neugierig mit raschen Flossenschlägen herbei eilen, als ich mich am Rande in die Knie herunterlasse, um sie zu fotografieren. Früher wurde es von einem artesischen Brunnen mit großer Durchflussleistung gespeist, der in den Schlossgräben die Strömung aufrechterhielt. Heute muss durch große Wasserabnahme an anderem Ort gepumpt werden, etwa 7m3/h. Wir „steigen“ hinab in den Gemüsegarten. Um dieses botanische Wunder und seine Probleme voll zu verstehen, muss ich noch einmal ins Prospekt schauen: Der Gemüsegarten (12.500 m2) besteht aus neun größenmäßig gleichen Quadraten, die sich jedoch durch das Muster der mit Buchsbaumhecken eingefassten und mit Gemüse bepflanzten Beete unterscheiden. Die Anbaupläne werden jedes Jahr im November und Dezember ausgearbeitet. Dies ist eine recht schwierige Arbeit, die zahlreiche Stunden in Anspruch nimmt und an der alle Gärtner unter der Leitung der Frau des Besitzers teilnehmen. Es müssen jedes Jahr zwei Pläne erstellt werden Der Plan für den Frühling: er umfasst die Verwendung folgender Gemüsesorten: Erbsen, Saubohnen, Radieschen, Linsen, Frühlingskohl, Salate (römischer Salat, rotes und grünes Eichenblatt, blonde Maikönigin, Grenobler Salat, grüner Bowl, roter Bowl). Die ausdauernden Pflanzen: Erdbeerpflanzen, Artischocken, Sauerampfer, Schnittlauch und Bohnenkraut bleiben von einem Jahr auf das andere in der Erde (höchstens vier bis fünf Jahre). Der Sommerplan: er bestimmt die Anordnung der Blumen und Gemüse vom Juni bis in den Herbst. Die hauptsächlichen Gemüsesorten, die verwendet werden, sind: © Rolf Bührend, Winter 2005 Seite 21 - die Kohlart „Petruskopf“, - blaugrüner Mailänder Kohl, - grüner Zierkohl mit rotem Herz, - grüner Zierkohl mit weißem Herz, - Rotkohl, genannt „Mohrenkopf“, - die Giraumons (Kürbisse), genannt „Türkenhüte“ - die Pâtissons (Kürbisse), „spanische Artischocken“, genannt, - Zucchinis, - purpurner und grüner Mangold - goldener Krautsellerie - Knollensellerie, - Blumenkohl, - Karotten, - Porree, - Auberginen, - Paprika, - Kirschentomaten, - Schnittlauch, - Petersilie, - Basilikum, - runde oder lange Rüben, - Koloquinten, - Chicoree Mein Gartenverstand wird gefordert. Viele Gemüsearten habe ich noch nicht gehört- und noch nicht in natura gesehen! Um den Gemüsegarten anschaulicher zu gestalten, werden mehrere Sorten Frühlingsblumen in den Einfassungen gepflanzt, die jedes dieser neun Quadrate umgeben: abwechselnd rote und gelbe Stiefmütterchen, Maßliebchen mit großen weißen Blüten, blaue Stiefmütterchen, Vergissmeinnicht; sie sind im vorausgegangenen Herbst gepflanzt worden (zweimal im Jahr blühende Pflanzen). Die Ausführung der beiden Pläne muss technische und ästhetische Betrachtungen berücksichtigen: Da sind die technischen Faktoren: der Fruchtwechsel. So kann man zum Beispiel keine Karotten dort pflanzen, wo das Jahr zuvor Stangensellerie wuchs; da diese beiden Gemüse nämlich der Familie der Doldengewächse angehören, entziehen sie dem Boden die gleichen Nährstoffe und können von den gleichen und vom Boden übertragenen Krankheiten befallen werden. Desgleichen können Kohl und Radieschen, die beide der Familie der Kreuzblütler angehören, nicht einander abwechseln. Der Fruchtwechsel ist also unerlässlich, um die Auslaugung des Bodens zu vermeiden und die Pflanzenkrankheiten zu bekämpfen. Um den ganzen Umfang dieses Problems zu verstehen, muss man wissen, daß sich die Hauptgemüsesorten in acht Pflanzenfamilien einteilen lassen und dass man drei Jahre verstreichen lassen muss, bevor ein Gemüse derselben Familie wieder auf derselben Parzelle angebaut werden kann. Und in Villandry werden die Parzellen jedes Jahr zweimal bepflanzt! Die ästhetischen Betrachtungen: Die Verteilung der Farben und der Formen ist das zweite entscheidende Element bei der Ausarbeitung der Pläne. Das Problem ist heikel, weil die Farben der Gemüse untereinander Kontrast bieten. Zum Beispiel muss man vermeiden, Paprika und Tomate Seite an Seite zu pflanzen, denn ihre Blätter haben in etwa die gleiche Farbe. So wird im Gegenteil versucht, um die Kontraste hervorzuheben, zum Beispiel das Jadegrün von Karotten und das Blau von Soleser Porree zusammenzustellen oder das Rot der Rübenblätter und das Goldgrün von Sellerie. Man wechselt ebenfalls hoch wachsende Gemüsesorten (z.B. Auberginen und Artischocken) mit rankenden Pflanzen ab (Sauerampfer, Salat). Mir wird ganz schwindelig, wenn ich an diese Geschichten denke. Und ich sehe doch diese herrliche Anlage in sommerlicher Pracht. Kleine Fontänen springen im Zentrum von vier Laubenpavillons in ein Steinbecken. Knirschender weißer Kies bedeckt die tadellos vom Unkraut gesäuberten Wege. Wir bücken uns, die eine oder andere Kultur näher zu betrachten. Wie Soldaten ausgerichtet wachsen sie auf strenges Geheiß der Gärtner und bilden strenge Symmetrie. Und die Farben ergänzen sich oder kontrastieren und bilden unter der leuchtenden Morgensonne eine große Sinfonie. Und die Düfte wechseln von Beet zu Beet. Blüten über Blüten. Es ist ein Rausch der Natur, vom Menschen gezeugt. © Rolf Bührend, Winter 2005 Seite 22 VI. Azay-le-Rideau I n flotter Fahrt brachte uns der Bus nach Azay-le-Rideau. Der Mittag war heraufgestiegen. Das Château schimmerte durch das Grün der Bäume. Wir warten auf Françoise, die uns sammelt. Wir müssen durch ein kleines Museum wie durch eine Schleuse. Hier kaufe ich gleich ein kleines Heft und einen Briefmarkenblock mit den französischen Königen. Wie viel gibt es gleich zu sehen, doch- „Sie haben nachher noch Zeit! Bitte folgen Sie mir!“ Wir gehen eine grüne Allee entlang, die mit einer Brücke über die Indre auf den Hofplatz führt. Linker Hand heute untergeordnete Nebengebäude, irgendwann früher bildeten sie wichtige Bestandteile des Anwesens. Vor uns jetzt das Château Azay-le-Rideau. Im Grundriss bildet das Gebäudeensemble ein großes L mit gleich langen Schenkeln. Es gibt dann noch das Gesindehaus, in dem jetzt das Museum untergebracht ist, eine Kirche und eine Kapelle. An den Außenseiten der Gebäudeschenkel ist das Wasser der Indre zu einem Schlossteich ausgeufert worden, in dem sich die herrlichen Fassaden widerspiegeln. Ein großer weitläufiger Park umgibt das Château. Wir hörten den Einführungsvortrag von Françoise: Es gab hier im 15. Jahrhundert einen Flussübergang über die Indre. Inmitten des kleinen Flusses, der zur Loire fließt, lag eine Insel mit einem festen Haus. Zu Beginn der Regierungszeit von Franz I. 1515 erwirbt Gilles Berthelot das Lehen von Azay, die alte Festung. Gilles Berthelot ist mit dem Oberintendanten der Finanzen des Königreiches, Semblançay, verwandt, macht glänzende Karriere und wird bald Generalsteuereinnehmer und darauf Schatzmeister Frankreichs. Das Schloss bringt diesen sozialen Aufstieg zum Ausdruck. Doch es kommt wie so vielerorts, auch heute noch. Ich blende hier die Geschichte ein, die etwas genauer auf diesen Mann eingeht und noch ein Schlaglicht auf diese Zeit wirft: Der Sturz Gilles Berthelots König Franz I. wundert sich über die Pracht der Bauten, die sich seine Finanzverwalter errichten lassen, und ernennt 1523 eine Kommission zur Prüfung der Schatzbücher, wovon er sich eine Sanierung der Staatskassen verspricht. Berthelot beobachtet das mit Missmut. Doch es kommt noch schlimmer. Nachdem Franz I. 1525 bei Pavia von den Truppen Karls V. besiegt und eine Zeitlang in Madrid gefangen gehalten wird, kehrt er mit der festen Absicht zurück, in seinem Königreich Ordnung zu schaffen, und lässt sich mit seinem Hofstaat in der Île-de-France nieder. Für seine ehrgeizige Politik braucht er viel Geld. 1526 erfährt der König, daß sich mehrere Finanzverwalter der Veruntreuung schuldig gemacht haben, was er als gute Gelegenheit betrachtet, seine Kassen aufzufüllen und gleichzeitig die "alte Garde" der Staatsdiener Ludwigs XII. abzusetzen. Die Säuberungsaktion der „Tour Carrée- Kommission“ dezimiert das französische Finanzbürgertum. Jacques de Beaune Semblançay, einer der großen Schatzamtsvertreter in der Touraine, wird am 11. August 1527 am Galgen von Montfaucon bei Paris gehängt. Als einer der Hauptangeklagten weiß auch Berthelot, daß sein Schicksal besiegelt ist. Die „Tour Carrée- Kommission“ fällt ihr Urteil im Oktober 1527: Berthelot wird seines Amtes enthoben und zur Zahlung von 54.400 Pfund verurteilt, eine relativ bescheidene Summe im Vergleich zu den 300.000 Pfund, die von Jacques de Beaune bzw. zu den 190.000 Pfund, die von Thomas Bohier, dem Erbauer des Schlosses Chenonceaux, verlangt wurden. Um zu vermeiden, daß es ihm genauso ergeht wie Semblançay, flieht Berthelot in die zu dieser Zeit freie Stadt Metz. 1529 stirbt er in Cambrai. Nach der Flucht Berthelots bleibt seine Frau als Herrin eines unfertigen Schlosses zurück. Irgendwie gibt es Parallelen zu heute. Franz I. schenkt Azay-le-Rideau einem seiner Kampfgefährten, Antoine Raffin, dessen Nachkommen bis Ende des 18. Jh. in diesem Schlosse lebten. 1791 erwirbt es ein liberaler Aristokrat, Charles de Biencourt. Die Marquis de Biencourt erweisen sich für Azay als Wohltäter, entfernen die Reste des Mittelalters und geben dem Gebäude seinen heutigen Glanz, indem sie auch den großzügigen Park anlegen. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 23 Das Schloss ist in einer bemerkenswerten stilistischen Einheit erbaut. Den Fassadenkopf umschließt statt eines Simses ein dekorativer wie nützlicher Wehrgang, ein innen mit Fenstern abgeschlossener Umgang. Wir gehen hinein, nicht ohne vorher auf die Wappensymbolik aufmerksam gemacht zu werden. An vielen Stellen finden wir im Fassadendekor neben dem schon erwähnten Salamander von Franz I. auch das Hermelin der Königin Anne de Bretagne1. Das Hermelin wurde von ihr auf Grund seiner makellosen Weiße gewählt und wegen der Legende, dass dieses Tier beim geringsten Schandfleck den Tod bevorzugt. Das Hermelin ist das Symbol der Jungfrau, der unbefleckten Reinheit. Zwei große Rundbogenöffnungen führen zu der im Inneren angelegten, geraden und mehrläufigen Ehrentreppe mit Richtungswechsel, die als Hauptzugang zu den Geschossen dient. Zwischen den Eingangsbögen und dem Treppenaufgang liegt eine weiträumige Vorhalle, von der aus das Dienstpersonal einst links in das Erdgeschoss und rechts in Speisekammer und Küche gelangte Vom ersten Podest aus eröffnet sich uns ein herrlicher Blick hinaus aufs Wasser und darüber ins Grün des Parkes. Im Schwarm unserer Reisegruppe, die sich stetig nach oben drängt, gelingt nur ein kurzer Blick nach oben in die Gewölbe der Treppenläufe. Schräge Flachkassetten mit Blendbögen und hängenden Schlusssteinen in der Mitte, die mit Blattwerk oder Fruchtornamenten verziert sind. Ebenso sind die Kapitelle der Treppenpodeste gestaltet. Die Widerlager bildhauerisch ausgebildet. Der Handlauf ist wandeben als Rinne in die Wand eingearbeitet. Man möchte stehen bleiben und staunen! Die Wände der in Form von Loggien gebauten Zwischenpodeste sind auf der Hofseite durch große Rundbogenöffnungen ohne Fensterscheiben und auf der Flussseite durch Fenster durchbrochen. Nun folgt eine Führung durch die gut erhaltenen und möblierten Räume des Schlosses in der ersten Etage: Vorzimmer des Königs. Schlafzimmer des Königs. Wieso Königs? Nun, wie jedes Schloss ersten Ranges besaß auch Azay-le-Rideau seine Königsgemächer. Hier übernachtete Ludwig XIII. im Jahre 1619. Azay-le-Rideau, Ehrentreppe Die Dielen knarren unter unseren Schritten. Auf ihnen ist Ludwig XIII. gelaufen! Hier im Schlafzimmer des Königs, dessen drei Fenster den Blick auf den Hof, den Park und den Fluss freigeben, hat Armand- François Biencourt 1825-26, als er sämtliche Tonfußböden des Schlosses durch Parkett ersetzte, beschlossen, die Dielen, die der König betreten hatte, zu erhalten. Über die Treppe gelangen wir in den großen Saal, der im Winkel des großen L liegt und mit seiner erhöhten Decke einen Teil des Dachgeschosses einnimmt. Ich habe nicht mehr alles in Erinnerung. Wunderschöne Wandbehänge, weit herab hängende Lüster, sparsames Mobiliar verleihen ihm Feierlichkeit und über dem auf zwei Säulen ruhenden Kranzgesims des dominierenden Kamins prangt in einem vertieften Relief wieder das Wappen Franz I. mit dem Drachen und der Spruch, den ich schon in Blois fand: „Nutrisco et Extingo“. Gemeint ist nicht nur das Feuer, das dem Rachen des Drachens lodernd entflieht: „Ich ernähre dich und ich lösche dich aus.“ 1 Anna von Bretagne, Königin von Frankreich, *25. 1. 1477 Nantes, †9. 1. 1514 Blois; Erbin des Herzogtums Bretagne; heiratete Karl VIII. von Frankreich (†1498), nach dessen Tod 1499den französischen Thronfolger Ludwig XII. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 24 Das blaue Zimmer, in das man vom großen Saal aus gelangt, war im 16. Jahrhundert das Vorzimmer zu den Wohngemächern des Hausherrn. Wandteppiche aus der Zeit des Sonnenkönigs und ein ganzfigürliches Portrait zieren die im Übrigen mit blauer Tapete verkleideten Wände. Das Schlafzimmer des Hausherren und seiner Gemahlin lagen wie in den meisten Schlössern übereinander. Über eine Wendeltreppe im runden Eckturm gelangte man hinauf. Hier befanden sich auch die Latrinen. Wir bekommen noch die Küche gezeigt, in die wir durch einen Quergang im Erdgeschoss gelangen, der gegen früher fast einen Meter höher liegt. Mich begeistern vor allem die Azay-le-Rideau, ganzfigürliches verzierten Widerlager an den Portrait des jungen „Sonnenkönigs“ Spitzbogengewölben der Ludwig XIV. Speisekammer. Die Motive erinnern an die Funktion des Raumes, aber ich sehe auch wieder Abarten des Drachens, Putten und mit Tieren spielende Kinder. Um den halb in das Mauerwerk eingelassene Kamin und den Brunnen ist der ursprüngliche Fußboden frei gelegt. Die Decke bildet ein gotisches Kreuzgewölbe mit einem großen kranzförmigen Schlussstein. Wir kommen nun im Erdgeschoss in die Räume der Familie Biencourt. Sie wurden im Stile des 19. Jahrhunderts restauriert und geben den Geschmack des Hochadels auf dem Lande wieder. Dann verweilen wir nach dieser Führung im Park. Kleine Mittagsrast. Wir suchen eine still gelegene Parkbank, von der wir die wundervolle Fassade des Schlosses und ihr Spiegelbild im Wasser sehen. Eine Schar Wildenten, die das Wasser bewohnen, watscheln eilends über den Rasen herbei, als sie mitbekommen, dass wir Brötchen essen und dabei Krümel verschenken. Martina hat harte Salami und eine Thermoskanne mit Kaffee im Rucksack, immer unsere Wegzehrung. Hier möchte man Urlaub machen, ging mir durch den Sinn. Doch wir sind auf Rundreise- Tour de France. Das hat auch seine Reize. Man muss sie finden und kosten! Wir verlassen den still im Mittagsglast dieses warmen und sonnigen Septembertages liegenden Schlosspark über die kleine Holzbrücke über die Indre, die ebenfalls von hier weiter fließt, der Loire zu. Sie entspringt im Zentralmassiv, ist 265 km lang und mündet 30 km unterhalb von Tours. Danach bummeln wir noch ein wenig in dem kleinen Städtchen, das jetzt um die Mittagszeit verschlafen daliegt. Wenige Läden sind offen, die Souvenirgeschäfte, ein Bilderladen. Wir sind unschlüssig, welches Andenken wir erstehen sollen. Schließlich entschließen wir uns, nichts mitzunehmen. Zu größeren Erkundungen blieb keine Zeit. Wir laufen zum Busplatz. VII. Tours er Nachmittag wurde in Tours verbracht. Auch hier führte uns Françoise. Sie war charmant und wusste viel, und man spürte ihren Stolz auf dieses Land, das sie uns auf so angenehme Weise näher brachte. Der Bus lud uns in der Innenstadt ab. Erstes Ziel war die Basilika zum Heiligen Martin, erbaut 1886 – 1926. also eine noch junge sehr moderne Kirche. Sie steht auf den Grundmauern einer früher viel umfangreicheren gewaltig großen Pilgerkirche, über dem Grab des Heiligen Martin, welches in der Krypta zu sehen ist. Die zwei Türme, der Glockenturm und der Turm Karls des Großen sind die verblieben Spuren der riesengroßen Basilika, die am D © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 25 Ende des 18. Jahrhunderts zerstört wurde und bis zu 20 000 Pilger fasste. Tours lag an einer der großen Pilgerstraßen, dem Jakobsweg nach Santiago de Compostella. Wir dürfen uns alles anschauen, wieder unter Zeitdruck. Als ich zwei Glasbilder in kostbarer Emailmalerei, die das Geschenk des Papstes anlässlich seines Besuches sind, fotografierte, mehrere Male, mit verschiedenen Einstellungen wegen des ungünstigen Lichts und mich nach der Truppe umschaute, war die Gruppe weg, auch Martina. Ein Schreck! Martina hält sich immer streng an die Führungsperson, schon um alles zu hören, was gesagt wird. Ich hinke immer hinterher, logisch wenn man mit dem Fotoapparat ständig auf Motivsuche ist. Doch bald habe ich alle wieder. Sie verschwinden gerade durch eine Gasse in den historischen Teil der Altstadt von Tours. Von der Gründung als „Caesarodunum“ (Hügel Cäsars) der römischen Stadt im 1. Jahrhundert nach Christi bis zur Konstruktion des Vinci- Kongress- Zentrums, entworfen von dem Architekten Jean Nouvel, trägt Tours den Stempel aller Epochen und Stile eines ungewöhnlich reichen geschichtlichen Erbes. Während sich die römische Stadt zunächst nach dem Osten entwickelte, befand sie sich im 4. Jahrhundert in voller Expansion nach dem Westen, gemäß der zahlreichen Pilger, die zum Grab des Heiligen Martin strömten. Im 5. Jahrhundert wurde die schon genannte Basilika errichtet, von denen heute nur noch die Türme Charlemagne (Karl der Große) und der Tour d’Horloge (Uhrenturm) existieren. 1205 kam Tours mit der umliegenden Landschaft, der Touraine, an die französische Krone. Im 15. und 16. Jahrhundert, als Tours Hauptstadt des Königreiches Frankreich war, wurde die Kathedrale fertig gestellt. Die Stadt kam zu außergewöhnliche künstlerischer und architektonischer Entfaltung und handwerklicher Blüte. Einen Umbruch gab es im 18. Jahrhundert, als mit einem gewaltigen Städteprogramm die Hauptstraße Nord – Süd von Paris nach Spanien als Hauptstraße auch durch die Stadt geführt wurde. Mit ihm kam eine „Aufstieg aus der „mittelalterlichen Unordnung“. Das 19. Jahrhundert brachte die kontinuierliche Weiterentwicklung dieser Nationalstraße, welche Tours zu einem wichtigen Handelsplatz aufwertete. Während dieser Periode wurden Theater, Gerichtsgebäude und Stadthalle gebaut, entworfen von Victor Laloux, einem Bewohner der Stadt, dem die Pariser die Orsay- Station und die Stadt Tours ihm die Neue Basilika St. Martin und die Fassade des Hauptbahnhofes zu verdanken hat. Wir marschieren fast in Gänsereihe durch ganz alte enge Gassen und finden hier sehr alte Fachwerkhäuser aus dem 14., 15.Jh. und aus der Renaissancezeit, kleine Plätze mit Straßencafés, von denen Gassen mit holprigem Kopfsteinpflaster abzweigen. Hier pulst der Verkehr jetzt am frühen Nachmittag hektisch. Mehrmals müssen wir uns auf Kommando an die Häuserwände drücken, um ein Lieferauto vorbeizulassen. Manche Häuser sind, ganz in venezianischer Bauweise durch ein gemeinsames Treppenhaus verbunden, dessen hölzerne Aufgänge unter den beiden Dächern verschwinden. An einigen Eck- Balken, die die vorspringenden Obergeschosse stützen, sehe ich wundervolle Schnitzereien. Leider sind sie der Witterung ausgesetzt und arg angegriffen. Das gilt auch für das Balken- oder Mauerwerk der meisten alten Häuser hier. 1957 wurde ein Stadterneuerungsprojekt mit dem Ziel angekurbelt, viele verfallene, unhygienische und baufällige Häuser abzureißen. Aber mit © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 26 Beginn der 60er Jahre begann ein Umdenken. Die Stadtverwaltung ließ ein aktives Restaurierungsprojekt vom Stapel, welches Tours erlaubte, den historischen Stadtkern zu retten. So können wir uns heute an Europas größtem geschütztem Gebiet erfreuen. Dieses Areal des alten Tours ist als „Plumereau“ bekannt. Der Charme dieser bewahrten mittelalterlichen Innenstadt ergreift uns auch bald, doch wieder macht sich, um diesen so recht zu genießen, der Zeitmesser geltend. Plumereau Tours, Tierfigur in einem Dann hatten wir freie Zeit um zu bummeln, aber Kranzgesims über dem Erdgeschoss eines alten wie das so ist, wir hatten Kaffeedurst, und ich Handelshauses erinnere mich, wie wir in der Fußgängerzone ein kleines Café aufsuchten, uns mit den Augen ein Gebäckstück in der neonbeleuchteten Vitrine aussuchten und erschöpft vom Laufen ein Weilchen von dem Gesehenen ausruhten. Ich hatte einen Stadtplan. Kein Problem also, den Weg zur Kathedrale allein zu suchen. Nun befanden uns mitten im Alltag dieser Stadt, ließen uns in den Strom der Fußgänger einfangen, schauten unterwegs in die Auslagen der Läden. Ich buchstabierte eifrig die französischen Wörter und gab der lieben Martina den großen Mann ab, obwohl ich selbst auf sehr wackligen Sprachfüßen stand. In einem ruhigen Park am Place François Sicard, abseits des Verkehrs, im Anblick der mächtigen Türme der Kathedrale Saint Gathien, fanden wir eine freie Bank. Viele Sitze waren von Studenten und jungen Müttern besetzt. Ich wechselte wieder einmal den Chip in der Kamera. Dann standen wir auf dem großen Platz, und vor uns wuchsen die schlanken Türme der Westfassade von Saint-Gathien aus dem Boden. Ihre Türme sind 69 und 70 Meter hoch. Ich bekam kein vollständiges Foto. Wir gingen hinein und bestaunten die wunderbaren Glasfenster, deren ganze Pracht gegen die von Chartres allerdings nicht heranreichte. Immerhin war es die zweite große gotische Kathedrale, von deren imposanten Architektur ich beeindruckt wurde. Ohne Erklärungen ist es schwer, Fakten und Informationen zu bekommen. Ich war auch heute ziemlich geschafft, nach Villandry und Azay-le-Rideau. So ließ ich dieses Kirchenbauwerk nur optisch auf mich wirken. Es gibt eine wunderbare Glasrosette. Wir wollten ins Hotel. Und so suchten wir uns mit dem Stadtplan den Weg. Zunächst liefen wir um das große Bauwerk herum, ich las im Weichbild ein Schild „Musée de Beaux Arts“, dann zogen wir durch trostlose, endlos zugeparkte enge Nebenstraßen. Schließlich stießen wir auf den breiten Boulevard Heurteloup. Den bummelten wir mit Anzeichen von Erschöpfung in Richtung Zentrum entlang, querten einige Hauptstraßen, erkannten plötzlich linker Hand den Vorplatz zum Hauptbahnhof wieder, wo wir unser Hotel wussten. Auf einmal fühlte ich mich in dieser Stadt sicher. Hier konnte ich mich nicht mehr verlaufen. Ich hatte die Grundorientierung gefunden. Ich fragte nach dem Fremdenverkehrsamt, um einen besseren Stadtplan zu bekommen als das Orientierungsblatt von Françoise. Martina zog es zu den Auslagen der Textilgeschäfte, auch sie hatte natürlich ihre Art, mit fremden Städten Bekanntschaft zu schließen. Ich musste mich auch aus diesem Informationspunkt langsam lösen. Heute Abend sollten wir nämlich nicht im Hotel essen, sondern bei Amboise in einem Felsenrestaurant! Umziehen möchten wir uns auch noch. Also bald Schluss mit Stadtgang. Aber hier im Fremdenverkehrsamt oder wie es in Frankreich heißt, im „Office de Tourisme“ stieß ich auch beim Blättern in ausliegenden Büchern auf den Namen Karl Martell, der mit Tours und seiner frühesten Geschichte zu tun hatte. Wer war Karl Martell? © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 27 In dieser Gegend nämlich, bei Tours und Poitiers schlug der fränkische Hausmeier2 Karl Martell am 17. 10. 732 die Araber und vertrieb sie aus Frankreich. Lang, lang ists her. Ich gestehe, die Antwort jetzt beim Schreiben nachzuschlagen, führt sie doch ins dunkle 8. Jahrhundert: Karl Martell, Hausmeier des Frankenreichs 715 - 741, * um 688, † 15. 10. 741 Quierzy; Sohn des Hausmeiers Pippin II. (des Mittleren) und der Chalpaida, besiegte die Neustrier 716, 717 und 719 sowie die Araber 732 bei Tours und 737 bei Narbonne. Nach Theuderichs IV. Tod setzte Karl Martell keinen Merowingerkönig mehr ein und regierte selbst, königlich geehrt. Er erneuerte die Vorherrschaft der Franken, auch in Burgund und in der Provence. Um sich eine stets schlagkräftige Gefolgschaft zu sichern, stattete er seine Anhänger mit Benefizien (Lehen) aus Kirchengut aus. Der legendäre Sieg Karl Martells über die Araber bei Tours und Poitiers im Jahre 732 stoppt das Vordringen der Mauren nach Norden, Kolorierte Kreidelithografie um 1860 Die Mission des Bonifatius im rechtsrheinischen Gebiet schützte er. Bei seinem Tod teilte Karl Martell die Herrschaft unter seine Söhne Karlmann und Pippin dem Jüngeren. Er soll einmal gesagt haben: „Wer andere beherrschen will, muss sich selbst beherrschen.“ Wie wahr. Damit ist fürs Erste der Ausflug in die französische Frühgeschichte beendet. Ich brauchte etwas Geld und suchte einen Bankautomaten. Von Conny hatte ich gelernt, dass ich ohne besondere Gebühren bei einer BNP3- Bank mit meiner Kreditkarte abheben kann. In der Nähe des Rathauses in der Rue nationale fanden wir einen „distributeur de billet“, einen „Verteiler von Geldscheinen“, und ich löste 150 € aus. Welch Unterschied zu früher, als man in die fremde Währung umdenken musste! Martina zog mich in ein Kaufhaus von C&A und kaufte sich einen weißen Pullover. Wir mischten uns unter das Volk. Zurück liefen wir einen anderen Weg, nämlich über die „zone piétonne“, die Fußgängerzone, an deren Ende wir von oben hineinsehen können. Viele kleine Läden finden wir hier, vielfach auf Touristenbedarf und Jugend eingestellt, Schuhe, Kleidung, Modeschmuck, Cafés, hie und da einen Türken oder einen Griechen. Die Fußgängerzone öffnet sich, Gewimmel an einer Kreuzung: Gare Tours. Wir sind wieder im „Grand Hotel“ und haben noch etwas Zeit. Letzter Abend in Tours. Treff soll 19.30 Uhr am Busbahnhof sein. So schlendern wir noch ein wenig über den Bahnhofsvorplatz. Was liegt näher, als auch einmal in den Bahnhof hinein zu schauen? Wir bummeln hinüber und tauchen unter der berühmten Laloux’schen Fassade in die Halle ein. Gusseiserne Säulen im Jugendstil tragen ein Stahlgerüst, das in mehreren kühnen 2 Hausmeier, lateinisch maior domus, ist der höchste Amtsträger am fränkischen Königshof. Im 7. Jahrhundert stand er an der Spitze des Dienstadels, der Hofgerichte und des Heeres, er verwaltete außerdem die Domänen. Den Arnulfingern (Karolingern) gelang es 687, das Amt erblich für das ganze Reich an sich zu bringen. Die Hausmeier wurden zu unabhängigen Regenten des Reiches und drängten die Könige zur Bedeutungslosigkeit herab. 751 übernahm der Hausmeier Pippin der Jüngere selbst das Amt des Königs; die Zeit der großen Hausmeier war damit zu Ende. 3 BNP Banque nationale populaire, etwa: Nationale Volksbank © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 28 Bögen die Bahnhofshalle überspannt. Glaslaternen lassen das schwindende Tageslicht herein. Die Züge, les trains, haben andere Farben als bei uns. Palmen in großen Holzkästen verleihen der Halle fast schon mediterranes Flair. Sauber gehaltene, glatte, dunkelgelbe großplattige Bodenfliesen verleihen dem Gebäudeinneren einen sauberen Eindruck, im Gegensatz zu dem Graphitgrau unserer Bahnhöfe zu Hause. Blechern klingende Lautsprecher und hastende Menschen bilden aber zusammen das vertraute Gepräge - ein Bahnhof wie überall auf der Welt. Dieser Blick genügte uns. Wir wollten auch nicht unsere Bus- Abfahrt verpassen. Draußen fühlte ich mich von der herrlichen Fassade angezogen. Ich lotste Martina durch den dichten Verkehr auf dem Vorplatz zum Busplatz gegenüber. Wir setzten uns auf eine Bank in der kleinen schattigen Anlage. Es war ein wunderbarer Sommerabend. Gegen halb acht noch strahlte die langsam untergehende Sonne die Fassaden der Häuser an und färbte sie in schimmerndes Goldgelb ebenso wie die Vorderansicht des Bahnhofes. Dann trafen nach und nach unsere Mitreisenden ein. Jeder hatte etwas Festliches aus dem Koffer gezaubert. Die Damen waren sicher alle noch einmal mit dem heißen Kamm zugange gewesen. Alle waren wir gespannt. Conny hatte schon ein geheimnisvolles Gesicht gemacht, als sie uns auf den Abend einstimmte. Wir fahren in den Abend und verlassen Tours in Richtung Amboise. Etwa auf halbem Wege biegt der Bus von der Straße ab: Wir stehen vor einer hohen efeubewachsenen Felswand, die hier von der Straße zurückweicht und einem Vorplatz Raum gibt, auf dem Blumenbeete, Rosenhecken und schlanke immergrüne Thujasäulen den Eingang zum „Restaurant La Cave“ verschönern. Der Ort gehört zu Montlouis-sur-Loire. Unsere Gruppe drängt sich wie eine Herde Schafe zur Tränke an das kleine Holztor, das wie ein schwarzes Loch in die Wand hineinführt. Es ist in eine mit HolzFachwerk verstärkte Mauer eingelassen, die den Höhleneingang trapezförmig abschließt. Wir treten ein in das troglodytische4 Restaurant, dessen Räume tief in den weichen Kalktuff eindringen und rund 500 Gästen Platz bieten. Diese uralte Felsenhöhle, eine von vielen hier in der Touraine, hat seit Menschengedenken sicher viele Funktionen erfüllt, ist doch diese Region im Loiretal seit der Steinzeit bevölkert. So bot sie zu allen Zeiten Schutz vor Wetter und Feinden. Später nach der Erfindung der Bierbrauerei und des Weinanbaues hat die gleichmäßige Temperatur im Innern des Berges die kühle Lagerung und Reifung der edlen Getränke ermöglicht, bis heute die Attraktion der Kellergewölbe in Verbindung mit der Gastronomie den größten Nutzen erzielt. Wir bekommen hier ein ausgesuchtes Spezialitätenessen serviert, einen ersten kulinarischen Höhepunkt: 1. Gang: Heiße Käsepastete 2. Gang: Gegrilltes Lachsfilet mit Spinattörtchen und Kartoffelcroissants 3. Gang: Glace à la menthe mit Sauce vanille Wir lernten den hiesigen Wein kennen und bekamen ihn zu kosten, die Hausmarke Vin d’Antier, genannt nach den derzeitigen Besitzern. Wir wählten einen Rosé aus und tranken zu viert eine Flasche. Angepriesen wird besonders der hier hergestellte Schaumwein, der Crémant de Loire. Er ist aber nicht billig, und wir sind nicht sehr alkoholfest, so dass sich eine ganze Flasche nie lohnt zu bestellen. 4 troglo ... [griechisch], Wortbestandteil mit der Bedeutung „Höhle © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 29 Der Crémant wird aus folgenden vier Rebsorten gekeltert: Chenin blanc, ein weiße Traube, aus der süße und trockene Weine stammen, Chardonnay, der weißen Burgundertraube, aus der alle großen weißen Burgunder und hochklassige Champagner, Pinot-Noir, eine rote Traube, die vollmundige Rotweine mit fruchtiger Note und Brombeeraroma und auch Champagner gekeltert werden sowie der Cabernet- Traube, von der es die Arten Cabernet franc und hauptsächlich die bekannte Cabernet sauvignon gibt, die klassische rote Médoc- Traube, aus der hochklassische, langlebige Weine kommen. Es war unsere erste Bekanntschaft mit einem Aspekt unserer Reise, das „Weinland“ Frankreich kennen zu lernen. Hinzu kamen einige Köstlichkeiten für den Gaumen, so dass wir alle hochzufrieden mit diesem herrlichen Tag und gut gelaunt im Finstern in unser Hotel zurückfuhren. Ein letzter Blick aus unserem Fenster im dritten Stock nach rechts hinunter auf das bunte Treiben in der Fußgängerzone, die farbig und hell erleuchteten Lokale, die über die Straße gezogenen Lichterketten und das vielgestaltige Gewimmel der meist jungen Leute, und nach links hinunter auf das jetzt in magischem Dunkel liegende breite Gleisareal des Hauptbahnhofs und, wenn ich mich weit hinaus beuge, das im Scheinwerferlicht prangende Portal, das in die Welt der Schienenstränge führt. Wir schließen die Fenster dicht, um es ruhig zu haben. Ungewohnt sind die Decken. Sie klemmen am Fußende fest und spannen die Zehen krumm… VIII. Cognac Mittwoch, 3. September 2003 espannt wie eine Feder auf die Sehenswürdigkeiten des heutigen Tages bestiegen wir nach ergiebigem „petit déjeuner“ im „Best Western“ 9.00 Uhr unser Gefährt. Ein letzter Blick auf den Hauptbahnhof, dann rollten wir als Teil regen Vormittagverkehrs über den Boulevard Heurteloup, über den wir gestern noch gebummelt sind, umfuhren die herrliche Fontaine auf dem Place Jean Jaurè vor dem Hôtel de Ville von Tours und verließen die Stadt gen Westen. Wenig später Knickte die Route ab und entführte uns stramm nach Südwesten. Bald verließen wir das linke Ufer der Loire, die wegen der Hitze trostlos ausgetrocknet war und als großer Fluss wenig beeindruckte, viele Kiesinseln und ausgebleichtes Ufergestrüpp dort bloßlegte, wo in nassen Zeiten hoher Wasserstand ist. G Wir wechselten in die Region Poitu- Charentes, deren Hauptort Poitiers ist. Die Fahrt ging über Poitiers, mit Karl Martell bereits erwähnt, wir nahmen nur flüchtig von dieser Stadt Kenntnis. An der Autobahn, etwa 10 km nördlich vor Poitiers gelegen, sahen wir im Vorbeifahren den „Futuroscope“, einen Freizeit- und Technikpark mit einer riesigen 600 m2 großen Leinwand, 16 Kinos, 360°-Circorama- Kino, 3D, Cinéma dynamique, das heißt eine Art Simulator, einen Cinemax- Kristallpalast und anderen modernen Sinnesverführern. Auch das Nachbarland lockt die Jugend und die Familien aufs freie Feld, um Geld abzuschöpfen. Blauer Himmel und 27°C. Nach mehrstündiger Fahrt gelangten wir an die Charente nach Cognac. Ankunft 12.30. Bald parken wir vor dem berühmten Unternehmen „Hennessy“ am Ufer der Charente. Diese entspringt bei Rochechouart am Westrand des Limousin und schlängelt sich 360 km weit durch die Landschaften Angoumois und Saintonge und mündet bei La Rochelles in den Atlantik. Zwischen Angoulème und Saintes bildet sie ein etwa 100 km langes, weites, freundliches Tal, gesäumt von den Weinbergen des Cognac sowie reizvollen Städten und Sakralbauten. Im Tal der Charente werden die weißen Trauben angebaut, die –zu Wein gekeltert und zu Weinbrand destilliert- dem Städtchen Cognac Weltruf verschafft haben. Nun schauen wir auf das grüne Wasser dieses Flusses und müssen warten, setzen uns auf eine der zahlreichen Bänke und verzehren etwas Mitgebrachtes. Für 13 Uhr ist eine Führung gebucht. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 30 Die Fabrik dehnt sich von der Charente- Brücke des Ortes flussabwärts an beiden Ufern des Flusses aus. Am linken Ufer, dem Quai Maurice Hennessy, wo wir uns jetzt befinden, bestimmen zwei runde Türme wie eine Festung das Aussehen dieser berühmtesten, aber nicht einzigen Weinbrandfabrik von Cognac. Schwarze Flächen an den Wänden zeugen von der Arbeit der Mikroben, die bei der Lagerung des Weines in den entweichenden Ausdünstungen ihren Nährboden auf dem Beton suchen. Dahinter zieht sich ein lang gestrecktes Verwaltungsgebäude, in das wir nun gleich hinein geführt werden. Auf dem Dach weht die rote Unternehmensfahne mit dem Namenszug „Hennessy“. Alles ist hier auf den Kunden, auf gezielte und allumfassende Werbung eingerichtet und- auf Massenansturm. Wie im Museum bewegen unsichtbare Geister die Türen, Pfeile leiten den Fremden in den nächsten Raum. An den Wänden hängen Plakate, Bilder, Schrifttafeln. In einem Kinoraum kann man die Geschichte des Hauses Hennessy verfolgen, auf Knopfdruck oder Bestellung immer und immer wieder. Sicher kommen in der Saison täglich Dutzende von Bussen und bringen neugierige und am Ende zahlungskräftige Besucher. Sind wir es auch? Im Empfangsbereich begrüßt uns eine elegant gekleidete sehr selbstsichere junge Dame, die sich uns als Madame Claire vorstellt. Sehr impressiv und anschaulich erklärt sie uns in auswendig gelerntem Deutsch zunächst die Hausgeschichte. Sie ist von langer Tradition. Dokumente, Filme und alte Gegenstände aus dem Erbe des Unternehmens erzählen vom Leben des Gründers Richard Hennessy, der 1765 unter Ludwig XIV. aus Irland hierher kam. Nach dieser kurzen Führung erwartet uns ein Erlebnis besonderer Art. Wir werden auf ein firmeneigenes Boot gebeten, alle 50 Leute, fahren ein Stück die Charente hinauf, unter der Brücke durch, wenden, ein Stück zurück und legen am anderen Ufer an. Nun sehen wir die eigentlichen Produktions- und Lagerräume und erfahren hier beeindruckende Details über die Kognak- Herstellung. Wir werden von der dunklen ersten Lagerhalle verschluckt und stehen in einem versenkten Rundteil vor einem riesigen Panorama. Wir sitzen auf Cognac- Kisten und sehen die Weinberge um Cognac im Modell. Um Cognac herum wachsen an beiden Seiten der Charente je nach Lage die vier „Premier Crus“: Grand Champagne, Petite Champagne, Borderies, Fins Bois. Ihre Wärme schöpfen sie aus dem kalkhaltigen Boden, der schnell die milden Sonnenstrahlen aufnimmt. An der Wand sehen wir in Glasvitrinen die einzelnen Vegetationszyklen eines Rebstockes über die Jahreszeiten, die Winzerarbeiten in den einzelnen Monaten, Schnitt, Pflege. Lese. Dann gehen wir in Räume, die an Modellen und glänzenden Laborapparaten erkennen wir die weitere Verarbeitung: Trennen vom Gestrunk, Pressen, Vergären, Aufwärmen, Destillieren. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 31 Dann die Reifung in Eichenholzfässern. Die Herstellung der Fässer wird gezeigt. Alles geschieht hier in diesen Räumen. Sehr altes gelagertes Holz wird verwendet, es entstehen handwerklich sorgfältig handgearbeitete Dauben, mit Feuer ausgebrannt, gespundet und gedichtet. Dann endlich kann und muss der Brand gelagert werden. Wir staunen über die endlosen Stapel von Fässern, die mit Kreide die Jahreszahl tragen, die ältesten von etwa 1930. 200 000 Fässer reifen hier und ruhen. Weichholzreifen, vorsorglich um die Fässer gelegt, lenken den Holzwurm ab. Diese darf er „verspeisen“. Das Eichenholz der Dauben ist für ihn tabu. Fünf Jahre mindestens lagert er hier, eher geht er nicht hinaus zum Genießer. Der Hennessy geht in 148 Länder der Erde, davon 50% in die USA, 25% nach Irland, wo er sich außerordentlicher Beliebtheit erfreut. 1% bleibt in Frankreich. Hier trinkt man Wein! Das Boot bringt uns wieder auf die andere Seite zurück. An einer Bar erleben wir eine Verkostung dieses hochprozentigen Stoffes, natürlich mit dem Hintergrund und dem Zeigefinger auf ein reiches Verkaufsbuffet, wo in wunderbaren Verpackungen das edle Getränk in allen Preislagen präsentiert wird. Die teuerste Geschenkpackung kostet etwa 1200 €. Mit dem Probierglas in der Hand konnte ich nebenbei eine kleine Ausstellung über den französischen Zeichner Jean- Jacques Sempé genießen. Beeindruckend fand ich seine Kohlezeichnungen, die hier im Original hingen. Heute weiß ich erst, was ich da gesehen habe, die Werke des Schöpfers der wunderbaren Zeichnungen von Asterix und Obelix, vom Petit Nicolas und vielem anderen, die ihn zusammen mit dem Autoren René Goscinny weltberühmt gemacht haben. Besonders im Mittelpunkt dieser Ausstellung stand das Missverhältnis zwischen Mensch und Natur und das Missverhältnis des Menschen zu seiner urbanen Umwelt. Sie trug das Motto: „Der Mensch in der Stadt- Paris und New York“. Satire? Abbild der Realität? Ein winziges bisschen benebelt und beschwingt rafften wir uns auf, musste ich Martina bereden, ein kleines Souvenir mitzunehmen. Der Effekt, den sich Madame Claire nach ihren Bemühungen von uns erhoffte, trat also tatsächlich ein. Wir kauften eine 0,2-Liter-Flasche echten Hennessy- Weinbrandes. Mindestalter garantiert 5 Jahre. Jetzt ist er bereits 7 Jahre alt. Dann hatten wir etwas eigene Zeit für einen Stadtbummel. Wir liefen los, bergauf, über Kopfsteinpflaster und durch alte Gassen. Über allem waberte der Geruch vergorenen Mostes, alkoholischen Weindunstes. An vielen Wänden hatte sich Schwarzschimmel festgesetzt. Alte Häuser, die verschwiegen und verschlossen nichts von ihren Bewohnern verrieten. Es war hoher Mittag und sehr warm. Wir verspürten Hunger. Martina hatte noch einiges im Stadtrucksack mit. Wir wollten so viel wie möglich von der Stadt sehen und kehrten nicht ein. Das Südende des kleinen, 19500 Einwohner zählenden Städtchens war schnell erreicht. Wir kehrten um, wollten uns nicht verlaufen. Im Office du Tourisme in der Rue du 14-Juillet erhielt ich einen Stadtplan. Die nette Frau machte ein Kreuz, wo wir jetzt sind. Nun konnte nichts mehr schief gehen. Cognac. Die Stadt macht ihrem Namen alle Ehre. Überall trifft man auf bekannte Namen weltbekannter Weinbrandhersteller, die hier produzieren. Im 17. Jahrhundert entwickelte man hier das Verfahren, aus 10 Litern dünnen Weines dieser Gegend 1 Liter ordentlichen Weinbrand zu machen. Einwanderer der britischen Inseln nahmen © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 32 im 18. Jahrhundert die Sache in die Hand. Jean Martell aus Jersey, der irische Soldat Richard Hennessy, der schottische Baron Otard. Die Firmen Otard, Hennessy, Camus, Rémy Martin und Martell unterhalten große Reifungskeller, zum Teil mit großen Küferwerkstätten, so wie wir sie eben sahen. Wir suchten uns in einem stillen Innenhof ein ruhiges Plätzchen, Martina in der Sonne, ich im Schatten. Dort blies uns ein Schluck Kaffee aus der Thermoskanne wieder neue Lebensgeister ein, die unter Alkohol und Mittagshitze zu schwinden drohten. Bald standen wir auf dem Place François I. Ein heroisches Reiterdenkmal beherrscht den Platz. Foto. Der Boulevard Denfer- Rochereau muss uns wieder zum Parkplatz zurückführen, vorbei an wenig interessanten Ladengeschäften, dem einladend kühlen und schattigen Park, dem Jardin public, in dem das Rathaus steht. Weiter unten, dem Flusse zu, etwas zurückgesetzt, befindet sich die chais1 der Firma Otard, untergebracht seit 1795 im Ancien Château, dem ehemaligen Schloss der Valois (13. und 15./16. Jh.), in dem 1494 der spätere König Franz I. zur Welt kam. Verschwitzt, aber pünktlich 16 Uhr bestiegen wir den wartenden Bus zur Weiterfahrt. Im Tal der Charente geht es ungefähr 30 km westwärts bis nach Saintes, einem Städtchen mit 27500 Einwohnern. Kurz vorher lässt Conny halten, um uns einen ruhigen Blick auf die Attraktion dieses Ortes zu verschaffen. Saintes war im Altertum Hauptort der keltischen Santonen. Das Amphitheater konnte 20 000 Menschen aufnehmen, fast die gesamte heutige Bevölkerung. Im Mittelalter war Saintes eine wichtige Station der Pilger auf dem Jakobsweg. Das stellt in der Ortsmitte auf einer Kreisverkehrsinsel eine bronzene Pilgergruppe dar. Was wir uns aus der Ferne anschauen konnten, war der 72 m hohe, riesige und klotzige Portalturm aus dem 15. Jh. der ehemaligen Kathedrale St-Pierre. Wir passierten den Ort im Schritttempo, konnten ihm aber sonst weiter nichts abgewinnen. Weiter ging es nun direkt nach Süden, die Route knickte ab, und ob wir nun Autobahn oder Landstraße benutzten, ist unbedeutend. Ein Höhepunkt war der Übergang über die Dordogne. Eine stählerne Hängebrücke, Schiffe und Hafenanlagen sind am Horizont zu sehen. Wir verlassen die Region Poitou-Charentes und kommen in die Aquitaine, deren Hauptort unser heutiges Ziel, Bordeaux, ist. Bei Bordeaux fließen Dordogne und Garonne zur Gironde zusammen und bilden eine riesige Trichtermündung, in der am Atlantik ein gewaltiges Gezeitenkraftwerk die Kraft von Ebbe und Flut in Strom umwandelt. Dann überqueren wir auch noch die Garonne. Wir befinden uns nun im berühmtesten Weinanbaugebiet der Welt. Nirgendwo sonst werden auf kleinstem Raum so unterschiedliche, aber gleichermaßen hervorragende Weine gezogen, ein Viertel des gesamten französischen Weinaufkommens, etwa 6 Millionen Hektoliter edelster Tropfen. Der Name Bordeaux hat Klang, und das Dröhnen in meinen Ohren wird lauter, je näher wir dieser Stadt heute kommen. Die Spannung bleibt aber noch über eine Nacht erhalten. Draußen sind 28°C. Viel Grün ist auch hier vertrocknet, meiner Meinung aber weniger als in den nördlichen Regionen, durch die wir kamen. Gewerbeparks. Über Nebenstraßen im nördlichen Vorort Merignac fahren wir das triviale Hôtel Alton an, direkt an einer verkehrsreichen lauten Durchgangsstraße, und wir erhalten auch noch ein Zimmer auf dieser Seite. Ich kratze mein Französisch zusammen und mache der netten Hostess am Tresen klar, dass es für uns zu laut wäre, etwa so: „Le bruit véhiculaire est trop fort. Nous ne pouvons pas dormir. S'il vous plaît donnez-nous une pièce à la cour.“ Wir erhalten ein Zimmer zum Innenhof, das uns für 1 chais, frz. Wein- und Spiritousenlager © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 33 zwei Nächte beherbergen wird. Martina geht es nicht gut. Sie ist schwach und hat Kopfschmerzen. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich sehr umtriebig bin und sie überall mit hinschleppe. Vielleicht ist diese Rundreise für sie auch zu anstrengend? Wir können uns noch so schnell zum Essen umziehen, das Notwendigste aus dem Koffer auspacken- immer sind schon eine Menge Leute vor uns da, wenn es zum Essen geht und rammeln in den kleinen Flachbau im Innenhof des Hotels. Alle schauen uns aus sicherer Sitzposition neugierig an. Nun gut, das muss man eben ertragen. Massentourismus. In drei Tischreihen eng an eng gepresst, bekommen wir unser gebuchtes Essen. Ich mag keinen Fisch und habe hier und da Probleme, aber wegen des Essens verreise ich ja nicht. So will ich denn auch nicht mehr davon berichten. IX. Bordeaux Donnerstag, 4. September 2003 in großes Programm wartet auch heute auf uns. 8.30 Uhr starten wir zur Stadtrundfahrt. In flotter Fahrt bringt uns der Bus in das Zentrum der großen Stadt an der Garonne. Wir können aus dem Auto heraus die kleinen Gewohnheiten der zur Arbeit fahrenden Menschen studieren. Vorwiegend Kleinwagen, vorwiegend Dieselautos sind unterwegs, manche auch auf Motorrädern. Das verrät, dass im Durchschnitt die Menschen hier ärmer als im reichen Deutschland sind. Diesen Trend konnte ich auch in Italien beobachten. Händler packen ihre Auslagen auf die Gestelle am Bordsteig. Schon in zeitiger Frühe haben sie am Großmarkt das Gemüse und Obst herangeholt. Schüler streben ihrer Schule zu. Ich könnte heute nicht mehr sagen, ob wir links oder rechts der Garonne gewohnt haben. Wir fuhren den großen Boulevard Georges Pompidou entlang. Viele neue Arbeiterhäuser sieht man, zweigeschossig, mit hellen Zweizimmerwohnungen. Wenn ich mich recht erinnere, hat der große Architekt Le Corbusier hier die Arbeitersiedlung Cité Frugès gebaut. Die Stadt Frugès ist ein Viertel von Pessac, bei Bordeaux, gebaut durch Le Corbusier 1926, im Auftrag von einem aus Bordeaux stammenden Industriellen Heinrich Frugès, mit dem Ziel, seine Arbeiter menschengerecht unterzubringen. Dabei wollte Le Corbusier (1887 – 1965) die folgenden fünf Aspekte verwirklichen ("Vers une architecture", 1923): E 1. Das Haus auf Säulen Der Stahlbeton schenkt uns die Säulen. Das Haus schwebt nun in der Luft, ist vom Boden getrennt, und der Garten setzt sich unter ihm fort. Auch auf dem Haus, auf dem Dach, befindet sich ein Garten. 2. Der Dachgarten Die bebaute Fläche eines Grundstückes kann durch ein flaches Dach zurück gewonnen werden. Dieses muss einerseits wohnbar gemacht werden, andererseits bedarf das Dach eines Schutzes. Der Dachgarten wird zum bevorzugtesten Aufenthalt des Hauses und bedeutet außerdem für eine Stadt den Wiedergewinn ihrer ganzen bebauten Fläche. 3. Der freie Grundriss Das Säulensystem trägt die Decken aller Stockwerke. Die Trennungswände können in jedem Geschoß beliebig aufgestellt werden, ohne daß die Säulen der freien Grundrissgestaltung hinderlich wären. 4. Die freie Fassade Durch Vorschieben der Decken vor die tragenden Pfeiler, wodurch eine Art rings um das Gebäude führender Balkon entsteht, wird die Fassade von allen tragenden Bauteilen befreit. Die Fenster können beliebig ausgedehnt werden, zum Vorteil der Gliederung im Innern. 5. Das lange Fenster links die von Le Corbusier Zwischen Decken und Säulen entstehen im Fassadenbild vorgeschlagene, rechts die traditionelle rechteckförmige Öffnungen, welche den Räumen eine Lösung vollkommene Beleuchtung ermöglichen. Man erhält von Pfeiler zu Pfeiler lang gezogene Fenster, so dass die Zimmer von Wand zu Wand gleichmäßig beleuchtet werden. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 34 Der neue Aspekt der Häuser aber hat geschockt. Ihre Dachterrassen gaben ihnen ein total ungewöhnliches Aussehen. Man hat die Stadt Frugès die " Marokkaner- Stadt " gerufen. Niemand wollte die Häuser kaufen. Die meisten obdachlosen Familien, denen sie zugeteilt wurden, hatten nicht die Mittel noch die Lust sie zu unterhalten oder die Architektur von Le Corbusier zu respektieren. Sie fanden sie ungünstig oder sie liebten sie nicht. Resultat: Die Häuser sind verkommen, oder sie sind von Hinzufügungen verfälscht worden, die total mit dem anfänglichen Projekt brachen. Heute hat sich natürlich dieses offene naturverbundene Wohnempfinden durchgesetzt. Die Häuser sind modernisiert worden und haben ihre Liebhaber gefunden. Wir passieren schöne Platanenalleen. Sie werden mir in Südfrankreich noch oft ins Auge fallen. Wir nähern uns der Innenstadt: Baustellen, Umleitungen, Staus. Gegenwärtig wird in Bordeaux allgemein ein System von Straßenbahnen eingeführt. Wohl auch zur Reduzierung des Smogs und der Dieselabgase der Busse. Sie soll Ende 2004 fertig sein. Die gesamte Innenstadt ist eine einzige Baustelle, Hauptverkehrsadern sind gesperrt, und so trübt sich der Blick des Fremden auf die Schönheiten der Stadt. Tiefe, abgesteifte, offene Baugruben, Krane, Baustellenfahrzeuge, Bauarbeiter mit farbigen Helmen. Auf dem cours du maréchal juin stoßen wir ins Herz der Stadt. Am cours d’Albert biegen wir rechts ab. Links erheben sich das große Gebäude des tribunal de grande instance und im Anschluss das palais de justice, der Gerichtspalast. Man ahnt, dass hier das Recht verteidigt wird. Das erste Gebäude ist ein ultramoderner Glas- und Stahlbau, das zweite eine altehrwürdige Einrichtung im Stile des Neoklassizismus. Place de république. Gegenüber das wuchtige Massiv des Hospitals St-André. Es lag einst an einer der Stadtmauern, die im 4., 11. und 14. Jahrhundert um Bordeaux gezogen wurden. Im morgendlichen Stauverkehr quälen wir uns nun im Schritttempo über die cours de victor hugo auf die Garonne- Brücke zu, den berühmten pont de pierre, vorbei an der porte de bourgogne, einem der alten Prunkstadttore von Bordeaux, erbaut 1750 -1755, am place de bir hakeim. Es liegt am Jakobsweg, und anstelle eins Tores gestaltete man diesen Eingang zur Stadt wie einen Triumphbogen. Ich kann nur schauen, mache mir Notizen, verdrehe den Kopf auf meinem ungünstigen Sitzplatz im Bus. Die Bedeutung und Hintergründe der Sehenswürdigkeiten erfahre ich erst viel später, zum Teil aus dem Stadtprospekt, das uns Conny am Nachmittag austeilt. Wir überqueren den großen Fluss. Er führt wenig Wasser und ist hier 500 m breit. Die Garonne ist insgesamt 635 km lang. Von hier bis zur Mündung in den Atlantik sind es noch 100 km. Der Blick weitet sich auf das gesamte Ufer. Flussaufwärts ragen Krane und Masten in die Höhe. Schiffe sind zu sehen- immerhin ist Bordeaux der sechstwichtigste Hafen Frankreichs! Links abbiegen, dann halten wir am quai de queyries und dürfen aussteigen: Fotostopp für 20 Minuten. Wir sind auf der Seite La Bastide, schräg hinter uns liegt der ehemalige Bahnhof Ancienne Gare d’Orléans. Vor mir liegt das linke Ufer der Garonne und die wunderschöne alte Brücke. Sie wurde unter der Herrschaft Napoleons von 1810 – 1822 gebaut und schwingt sich in 17 eleganten Bögen über den Fluss. Im Morgenlicht leuchtende, schmiedeeiserne Kandelaber, stehend und hängend, immer im Wechsel auf jedem Pfeiler, begleiten den Brückenzug. Am anderen Ufer breitet sich die Altstadt von Bordeaux. Über der einheitlichen Höhe der Häusermasse ragt wie eine spitze Nadel der 47 m hohe separate Glockenturm Pey- Berland der Kathedrale Saint- André empor. Bordeaux wurde einst auch „Kleines Rom“ genannt. In der Altstadt kreuzten sich Cardo maximus mit Cardo decumanus. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 35 Wir wenden am Brückenkopf, dem Place Stalingrad, und fahren zurück, diesmal nach rechts die Quais am Ufer entlang. Zuerst fällt in Verlängerung der Rue Victor Hugo der klotzige Turmbau des Grosse Cloche2 (13. Jahrhundert) auf. Hier hängen die ehemaligen Sturmglocken des Rathauses und befinden sich Überreste einer der alten Stadtmauern. Wir passieren den Triumphbogen Porte Cailhau am Place du Palais, der zu Ehren Karls VIII. errichtet 1496 anlässlich seines Sieges 1495 bei Fornoue nahe Taro in der Emilia, einem kleinen Flecken in Italien, in der Po- Ebene, als er von Neapel zurückkam und die Truppen der Koalition erfolgreich schlug. Karl VIII., ein Valois, war 1483 – 1498 König von Frankreich. Der Place de la Bourse3 war einst Ludwig XV. als Place Royale gewidmet, der von 1715 bis 1774 Frankreichs König war, er ist von einem monumentalen Gebäudekomplex umschlossen. Er hat, von oben gesehen, die Form eines griechischen Omegas. An der Basis steht ein Brunnen mit den drei Grazien. Wir sehen viele Gebäude, wundervolle Architektur, hören von vielen berühmten Männern, von Frauen weniger, die alle tief in die französische Geschichte führen. Einige Beispiele habe ich schon gegeben. Ein Blick ans Ufer lenkt mich ab. Hier liegt vor Anker, jetzt ein Museumsschiff, der Kriegskreuzer „Le Colbert“, mit dem der frühere französische Präsident Charles de Gaulle während des Weltkrieges als Kommandant gefahren sein soll. Wir parken in der Allées de Bristol und laufen über die Esplanade des Quinconces, dem größten Platz Europas. Er hat 12,6 ha Größe. Bis 1810 stand hier noch das Château Trompette, das Ludwig XIV. gegen die aufmüpfige Bevölkerung errichtet hatte. Während der III. Republik (1892- 1902) wurde zu Ehren der 1793 in Bordeaux hingerichteten Girondisten ein 50 Meter hohes Ehrenmal errichtet. Es ist ein exzellentes Brunnenbauwerk und allegorisches Denkmal. Reptilartige Pferde sind das Meisterstück des Ensembles, die unter tosenden Fontänen jede Menge Symbolik darstellen. Die Säule krönt ganz oben eine Frauengestalt „Die Freiheit zerbricht ihre Ketten“. Unten sind am Fuße in allen Himmelsrichtungen bronzene Figurengruppen gestaltet. Auf der dem Fluss zugewandten Seite sind der gallische Hahn, die Beredsamkeit und die Geschichte die einzigen Anspielungen auf die Girondisten. Leere Podeste künden davon, dass sie nicht mehr da sind. Auf der Stadtseite symbolisieren Frauengestalten die Stadt Bordeaux, die Garonne und die Dordogne. Auf der Theaterseite ehrt eine weitere Figurengruppe „Triumph der Republik“ die Arbeit (Schmied), die Sicherheit und die Kraft (Löwe). Eine von reptilartigen Pferden oder Fischen gezogene Quadriga treibt die maskierte Lüge, das Laster und die spitzohrige Unwissenheit in den Abgrund. Ein junger Kunststudent hat übernommen, uns ein wenig von der Altstadt zu zeigen. Sein Deutsch war mit vielen Äh’s gespickt. 2 3 grosse cloche, frz. dicke Glocke Place de la bourse, frz. Börsenplatz © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 36 Trotzdem bewundere ich jeden, der eine Fremdsprache so gut beherrscht, dass er Menschen dieser Zunge durch seine Stadt führen kann. Zu Fuß gelangen wir nun zum Place de la Comédie. Hier steht das 1773 – 1780 erbaute Theater. Der Platz war voll aufgerissen. Wir stehen auch bald am Kreuzpunkt der alten römischen Straßen. Wir biegen ab und kommen an den verschwiegenen, vom Straßenverkehr verschonten Marché Royal, der nach der Revolution Place Liberté hieß. Hier entließ uns der Führer. Wir kauften etwas Gebäck zur Stärkung. Ich wollte unbedingt ins Office de Tourisme4, um etwas mehr Material über die Stadt zu erlangen. Also eilten wir allein weiter, Martina und ich. Es gelang nicht mehr. Am Place des grands hommes, einem Zeichen der Baukunst zur Zeit der Revolution etwa 1795, sahen wir schon das Büro, doch die Stechuhr lief auf 11.45 Uhr. Wir mussten zum Bus! Abfahrt aus Bordeaux. X. Das Bordelais W Vignoble = Weinberge ir haben keine Zeit für eine Mittagsrast. Alles wird zwischendurch erledigt. Das erste Ziel ist eine Dégustation, eine Weinverkostung im HautMédoc. Wir fahren nicht lange und halten gleich neben der Landstraße. Château ANEY lesen wir. Im Vorraum steht der Winzer, ein wenig erschrocken über die 50 Leute, die sich um ihn und Conny drängen, die fließend seine Erklärungen übersetzt. Der Weinbauer, im weißen T- Shirt, erzählt von seiner Arbeit im kleinen Familienbetrieb,, zeigt uns anschließend sein Flaschenlager, das Fasslager, die Abfülleinrichtung, die Etikettiermaschine und Endabfertigung. Dann dürfen wir – erste Weinprobe dieser Reise – drei rote Weine verkosten, Jahrgänge 1998, 1999, 2000, natürlich in umgekehrter Reihenfolge, in steigender Reife und Güte. Dazu gab es Camembert und Weißbrot. Das war unser Mittagessen. Wer nimmt es übel, wenn wir einmal mehr in das Körbchen langten, als schicklich gewesen wäre, um den Geschmack für den nächsten Schluck zu neutralisieren? Einen 1999er nahm ich mit. Schon des Andenkens wegen liegt diese Flasche heute noch in meinem Keller. Château Aney 1999. Außerdem boten der Winzer und seine Frau noch verschiedene Konfitüren und Pasteten an, die sehr verlockten. Eine Leberpastete ging mit. Dann wenden wir und fuhren nun in die östliche Richtung. Die Anbaugebiete im Bordelais beginnen noch im westlichen und südlichen Teil des Stadtbereiches von Bordeaux; die berühmten Châteaus Haut- Brion sind Flecken in Vorortsiedlungen. Hier sind die wichtigen Hauptbereiche im Bordelais, ihre Weine und Hauptrebsorten. Man trinkt gewöhnlich „einen Bordeaux“ und ahnt nicht, in welcher Vielfalt man sich verfangen kann: 4 Office de Tourisme, frz. Fremdenverkehrsamt, Informationsbüro © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 37 Südliches Gironde- Ufer: Haut-Médoc, Médoc (Rotwein: Cabernet Sauvignon, Cabernet Franc. Sie begegneten uns schon im Felsenkeller bei Tours! Dann der Merlot. Berühmte Marken sind Lafite- Rothschild, Latour, Château Margaux. Hier waren wir heute also und haben einen Wein kennen gelernt. Ich will nur die Rotweine aufzählen: Südliches Garonne- Ufer: Pessac- Léognan, Graves mit den Trauben Cabernet Sauvignon und Cabernet Franc. Berühmt sind Haut- Brion, Domaine de Chevalier, Fleuzal, Rahoul. Nördliches Dordogne- Ufer: Anbauorte sind Fronsac, Pomerol, St-Emilion mit den Rotweinen Merlot, etwas Cabernet Sauvignon und Malbec, auch Cot genannt, in geringen Mengen angebaut. Das ist ein kleiner Einblick in ein Gebiet, in dem vorwiegend die Sinne Geruch und Geschmack, vielleicht noch das Auge herrschen und entscheiden, was uns gut tut. Conny gibt sich Mühe, während der Fahrt nach Saint Emilion uns noch einiges nahe zu bringen. Die besten Weinanbaugebiete haben so genannte Herkunftsbezeichnungen. Derzeit gibt es in Frankreich etwa 250 Appellationen, ihr Anteil macht rund 30% der Weinerzeugung aus. Eine solche Appellation d’origine contrôlée (AOC) stellt die Herkunft, die Erzeugungsmethode, die verwendeten Rebsorten und die Produktionsmengen einer Weinsorte sicher. Dann gibt es noch die uns von zu Hause bekannten Vin de pays, Landweine, die aus bestimmten, auf dem Etikett vermerkten Gebieten kommen und nicht verschnitten werden dürfen. Zuletzt gibt es Vin de table, Tafelwein. Diese dürfen aus verschiedenen Anbaugebieten miteinander verschnitten werden. Dann gibt es noch das kleine Wörtchen „cru“, gesprochen krü. Das heißt eigentlich Gewächs, ursprünglich war es der Name eines einzelnen Weinberges. Heute bezeichnet es einen Wein von besonders guter Lage und gehobenen Qualität. Ein „grand cru“ ist also ein Spitzenwein. Rechts und links aus dem Fenster sehe ich nur Weinfelder, bis an den Horizont, immer einmal ein kleines Gut oder ein stolzes Château dazwischen. XI. Saint Emilion E rsten Sichtkontakt mit diesem berühmten Weinort haben wir zur „Grand Murailles“, der alten sehr hohen Stadt- oder Festungsmauer, von der nur noch ein Rumpf mit vier Stützmauern vorhanden sind. Vielleicht ist es auch eine alte Kirchenruine. In der Nähe fängt uns ein Parkplatz auf. Wir passieren eine kleine Ladenstraße, ähnlich unserem Konsum. Eine Stadtführung ist angesagt. Wir überqueren die Hauptstraße, die Landstraße 932, die nach Bergerac führt. Wir befinden uns etwa 40 km östlich Bordeaux im fruchtbaren Tal der Dordogne, auf deren nördlichen Seite. Ein großes Gewimmel herrscht hier im historischen Teil des Städtchens, das etwa nur 2800 Einwohner hat, es ist ein Anziehungspunkt vieler Individualtouristen, vor allem auch Franzosen, und jetzt ist noch Ferienzeit in Frankreich. Die Führung verzögert sich noch eine halbe Stunde. Wir gehen schon einmal auf Entdeckung, bummeln durch den am Dordogne- Hang gelegenen Ort. Es gibt steile, treppenförmige alte Gassen mit glatt geschliffenem Kopfsteinpflaster, das bei Feuchtigkeit extreme Rutschgefahr birgt. Der Kalkstein wird schnell glatt. Reizvolle Winkel bieten dem Auge immer wieder Überraschungen. Dann winkt uns vor dem Office du Tourisme eine sehr dicke aber bewegliche Frau zusammen und geht mit uns zuerst zu dem Place du Marché. Eine Akazie von 1848 ist hier eine Attraktion, aber das eigentliche Ziel vieler Touristen ist die einzigartige Felsenkirche, die Église Monolithe. Sie entstand zwischen dem 8. und 12. Jahrhundert. Über 300 Jahre bosselten die heiligen Männer aus einer Felsenhöhle in den relativ weichen Kalkstein einen unterirdischen Kirchenraum von 38 x 20 x 11 m3, das sind 8360 m3 Gestein! Dann baute man in den folgenden Jahrhunderten oben drauf einen Kirchturm, erst in romanischem, dann als sich der Geschmack änderte, eine gotische Turmhaube. Heute stellt man durch Messungen fest, dass die große Höhle trotz der stehen gelassenen Stützen den schweren Turm nicht mehr tragen will. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 38 Man umwehrte die Stützen, die ja noch belassenes Gestein sind, nahm schwere Glocken aus dem Turm und lässt Besucher nur in Führungen ein. Das jährliche Wechselspiel des Wassers und die Chemie spielen dabei eine große Rolle. Wir dürfen also hinein. Unsere beleibte Madame, die übrigens ein ganz langes blaues Kleid trägt und darin ihren eigenen Charme ausstrahlt, schließt sorgfältig hinter uns wieder ab. Wir stehen in der dunklen feuchten Kaverne, in der jahrhundertelang Mönche ihre Frömmigkeit lebten. Dann fallen die schweren Stahlträger ins Auge, verderben gleichermaßen die heilige Stimmung, die eine Kirche im Innern aussendet. Die Stützen enden zwar in einer Art Gewölbe, jedoch scheint der Kalkstein porös, und mit dem Wasser nagt der Zahn der Zeit. Technische Gedanken kommen in mir auf: Gesteinsdichte, Masse pro Kubikmeter, Stützlasten pro Quadratzentimeter, Feuchtigkeitsmessungen, Trocknungsmaßnahmen… Es gibt nur wenige Reliefs an den Wänden, die an die sakrale Nutzung dieses Kirchenraumes vor Zeiten erinnern. Wir verlassen den Raum durch einen seitlichen Gang und geraten in ein Höhlensystem mit einem Abfluss der Gebirgswässer, stehen in größerem Hohlraum, die wohl in ihrer Nutzung in die ganz alte Zeit weist. Schächte nach oben bilden eine Art Ventilation. An den Wänden haben sich, wohl auch durch die Scheinwerfer, grünliche feuchttriefende Algenfelder gebildet. Wir gehen immer abwärts. Einige Stufen noch, dann öffnet die Führerin plötzlich eine Holztür. Wir stehen in einem sonnenüberfluteten engen Hof, stellen uns vor einer steilen Stiege an, die uns zu einer Katakombe führt, die unterirdische Klause eines Eremiten. Wir erfahren, während wir auf den nächsten Einlass- Schub warten, etwas Näheres über die Geschichte des Ortes: Sankt- Emilion hat seinen Namen von diesem Benediktinermönch Emilian (lateinisch Aemilianus), der kam, um sich hier in einer dieser Höhlen als Einsiedler niederzulassen. Er installiert seine Einsiedelei in einer Höhle, wo er angeblich 17 Jahre lang gelebt haben soll, von 750 bis 776. Natürlich haben später auch heilige Leute dieses Leben nachgelebt. Emilian kommt aus der galloromanischen Gegend von Ascumbes. Er vereinigte weitere Benediktinermönche, wird ihr Führer und gibt der Stadt seinen Namen. Das Fundament von Sankt- Emilion, einem religiösen Ort, ist errichtet. Vom 9. bis etwa zum 12. Jahrhundert, unter dem Impuls, den der Heilige Einsiedler gab, unternehmen es die Benediktiner Mönche, diesen monumentalen Kirchen- Monolith aus dem Felsen zu graben, die natürlichen Höhlen zu erweitern. Sie werden 3 Jahrhunderte brauchen, ihr von höherem Ruhm gekröntes Werk zu vollenden. Es ist einzigartig. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 39 Im 12. Jahrhundert schon wird die Stadt umgeben sein von der Konstruktion von 2 km langen Festungsmauern, flankiert von 6 Toren, durch die Erbauung eines Zitadelle-Bergfriedes, der Königsturm, geschützt, (Anfang 13. Jahrhundert), und von einem inneren Wall. 1190 gibt eine Charta, die von Jean Ohne Erde unterschrieben wird, Sankt Emilion Offenheit, Privilegien und freie Rechte einer Stadt. Damit war die Macht einer neuen Zivilperson geboren, und politisch die so genannte Jurade. Diese neue Gruppe wird die Stadt und ihre Rechtsprechung verwalten, wird auch für die Produktion und die Qualität der Weine sorgen, bis zur Französischen-Revolution. Die Weine haben schon ein großes Renommee, besonders bei der englischen Krone; ihr Ansehen musste Jahrhundert um Jahrhundert trotz düsterer Perioden gestärkt werden. Vom 13. bis weit ins 16. Jahrhundert leidet Sankt- Emilion unter dem Verlauf von Kriegen. Im 14. Jahrhundert zum Beispiel geht die Stadt mehrmals nacheinander aus den Händen der Engländer in die der Franzosen über und umgekehrt. Im 16. Jahrhundert vollenden die Religionskriege und in ihrem Gefolge Plünderungen die Zerstörung der Stadt und ihrer Denkmäler. Wir dürfen hinunter in die Höhle des Eremiten. Sie hat zwei kleine Kammern. In einer Nische ist eine steinerne Statue aufgestellt. Über ihrem Arm hängt ein Rosenkranz. Sonst ist nichts zu sehen. Einbildung ist alles. Die Kapelle zur Dreieinigkeit, la chapelle de la trinité, mit Genuss zu besichtigen, ist abhängig vom Einfall des richtigen Tageslichts. So ist auch die religiöse Komposition gedacht. Der Chor der Kapelle lebt vom Glanz dreier Bogenfenster, die ihr Licht über die Säulen dazwischen nach oben geben. Über den Kapitellen eilt ein Bündel eleganter Strebebögen, sich im Schlussstein eines gotischen Gewölbes zu vereinigen. Führung beendet. Nun möchte ich noch mit Martina auf den Donjon klettern, den Königsturm, der neben der Église monolithe die Silhouette des Orts bestimmt. Er ist der einzige in der Gironde erhaltene romanische Bergfried und gibt Zeugnis von einem einst wichtigen Bauwerk, einem Königsschloss von großem Ausmaß. Sein Ursprung schwankt zwischen dem 12. und 13. Jh. Errichtet wurde es 1224 im Auftrag Ludwigs VIII. oder 1237 von Heinrich III. von England. Als königliche Festung hat es durch viele Jahrhunderte gedient, zum Schutze der Stadt bis zum Ende des 16. Jh. Im 18. Jahrhundert diente es als Bürgermeisterei. St- Emilion, Donjon de Château du Rois Für 1 Euro dürfen wir aufsteigen. Die Lungen keuchen, das atmen fällt schwer, als wir ganz oben sind. Der sensationelle Rundblick entschädigt für alle Mühe. Weit hinunter ins Dordognetal reicht der Blick, natürlich liegt das Städtchen jetzt voll unter uns. Man muss es selbst erleben. Ein Blättchen in Französisch ergattere ich, ein kleiner gelber Zettel, für den eiligen Touristen. Ich schreibe ihn ab, gebe ihn meiner neuen Software zum Übersetzen, und heraus kommt das: Quadratischer Turm von 9 Metern durch flankiertes Gesicht ebene Pfeiler an den Winkeln, Höhe von 14,50 Metern, Dicke der Mauern 2,25 Meter. Am Inneren der westlichen Festungsmauern, zwischen das trägst Marie und Sankt Martin Heilig, sie legt auf einen Block von allen Seiten isoliertem Felsen, ausgegraben von natürlichen Höhlen und Karrieren, die © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 40 während der Revolution genutzt werden, in den Osten von der Stadt gekräftigte BrückengeländerBreitseiten, Treppen verbergend, durch überlagerte Terrassen hart gebunden hin. Vom Boden von niedrigster Terrasse bis Gipfel des Bergfriedes: 32 m. Erdgeschoß: ein einziges Stück, das in spitzbogiger Wiege gewölbt wird, die allein mörderisches Fenster und eine Tür von einem in vollem Bogen erleuchtet wird; Treppe an Schraube hat den südöstlichen Pfeiler. 1. Etage: einer allein Stück gleicher sehr beleuchteter nicht-bogenförmiger Dimension durch eine doppelte Bai in vollem gebendem Bogen auf der Stadt: westlicher Winkel, vorspringender Halbkreis außen: Latrinen; gerade Treppe in der Dicke des Ostwand. 2. Etage: überlegene Plattform sehr abgerissen und restauriert; früher mit Weg von Runde und kleinen Löchern von Verteidigung gesäumt. Auf dem Platz auf dem Niveau des Bodens bemerken wir mehrere Silos gegraben im Fels und beschichtet von Gittern. Nützten sie der Lagerung von Nahrungen oder Waffen? Wahrscheinlich denn sich Bergfried und die zusätzlichen Konstruktionen, von dem er keine Spur bleibt, begründeten eine ganze defensive Gesamtheit. Um das Schloß des Königs Vergangenheit in seinem ganzen Glanz zu sehen, muß man an den Proklamationen teilnehmen, wäre im Juni vom Urteil des neuen Weines, wäre im September am Beifall der Weinlese durch den Jurats. Im Wesentlichen bin ich informiert. Wir streifen dann noch ein wenig durch die Gassen der Altstadt. Bunte Blumenrabatten erfreuen das Auge auf dem kleinen Platz, dort, wo man in diese hineingeht. Wir kaufen im „Konsum“ am Parkplatz noch Wasser in großen Flaschen und fromage de chèvre, Ziegenkäse, der uns dann irgendwann verschimmelt, weil wir einfach immer satt sind. Dann warten wir auf die Heimfahrt. Eine Nacht noch logieren wir in Bordeaux. Aber morgen früh müssen wir die Koffer wieder gepackt und verschnürt vor die Tür schaffen. XII. Am Atlantik – La Dune du Pylat Freitag, 5. September 2003 ie Nacht verläuft ruhig. Martina fängt sich wieder, obwohl sie immer noch über Kopfschmerzen klagt. Das Frühstück in der „Turnhalle“ mit 44 Personen ist einfach stressig und belastend. Doch Falk, unser Busfahrer, und Conny haben alles im Griff. Pünktlich 8.30 Uhr sind alle Koffer im Bus verstaut, die Plätze eingenommen, und gestärkt und ausgeruht fahren wir neuen Erlebnissen entgegen. D Zuerst fahren wir auf der Nationalstraße N250 etwa 70 km nach Südwesten. Ich bin gespannt auf die größte Wanderdüne Europas, die am Atlantikstrand sich erheben soll. Wir sind westlich der Gascogne, einem Gebiet, das sich hier im Südwesten Frankreichs zwischen dem Atlantik, den Pyrenäen und dem Garonne- Bogen erstreckt. Sprichwörtlich ist der Wagemut der Gascogner. „Die vier Musketiere“ von Alexandre Dumas Vater und dieser selbst waren Gascogner, kam mir in den Sinn. Wir aber fahren in die „Landes5“ hinein, ein waldreiches Gebiet mit teilweisem Heidecharakter. Es erinnert ein wenig an Mecklenburgs Kiefernwälder. Die Atlantikküste, der wir entgegenfahren, bildet von der Mündung der Gironde im Norden bis hinunter nach Bayonne, wo die Adour in den Golf von Biskaya mündet, eine 230 km lange Flachküste, die Côte d’Argent. Breite, weiße Sandstrände, Kiefernwälder und Strandseen im Hinterland prägen diese beliebte Urlaubslandschaft. Geformt wurde sie in Äonen durch riesige Sandablagerungen an der Küste, die die von der See her brausenden Stürme landeinwärts zu riesigen wandernden Dünen trieben. Früher wanderten sie bis zu 25 Meter landwärts. Im 18. Jahrhundert ging man daran, diesen Küstenstreifen zu bepflanzen. An die höchste ihrer Art fuhren wir nun heran. Wir parkten am frühen Vormittag bei Pyla, südwestlich von Arcachon, nahe dem Strand. Schütterer Kiefernwald ringsum, asphaltierte Wege, an den Rändern jede Menge Verkaufsbuden. Es gibt kleine, vorwiegend aus Holz gezimmerte, auf Stelzen gesetzte Podien zur Bewirtung der Touristen und Urlauber. Da es noch früh am Tage war, packten die Souvenirverkäufer gerade 5 lande, Mz. les landes, frz. Heideland, © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 41 erst ihre Sachen aus. Manche frühstückten noch. Die vielen Camper, Zelter und Caravaner machen den Abend lang. Da wird morgens lange geschlafen. Wir haben nun also die große Treppe vor und allein für uns, die auf den Gipfel der Großen Düne hochführt. Viele hundert sandige Plastik- Stufen verlangten von uns Ausdauer und Puste, um auf die Höhe der höchsten Düne Europas zu steigen. Die Dune du Pilat ist 115 Meter hoch und 2,7 km lang. Endlich hörte die Treppe auf, und wir wateten im Sand. Ich wusste nicht, was ich zuerst machen sollte; mir die schon vollgesandeten Schuhe ausziehen, oder um den besten Blick zu bekommen, weiter zu stapfen, ungeachtet der Sandmengen, die sich mit jedem Schritt in den Hosen und in den Schuhen festsetzten. Dann, nachdem ich wieder normal atmen konnte, die Schuhe in der Hand, Martina zur Seite, stieg ein wonniges Hochgefühl in mir auf: Ich stand am Ufer des Atlantischen Ozeans! Golf von Gascogne oder Golf von Biskaya, wie er hier auch heißt, das ist doch jetzt gleich. Ein paar Tausend Kilometer dort hinter dem weiten blassblauen Horizont liegt Amerika! Dazwischen nur Wasser! Ich musste einfach hinunter, es fühlen, mit den Füßen hinein! Auf zum Atlantik! Ich lief los wie ein kleiner Junge, schrie zu Martina „wartet auf mich!“ und ließ mich fallen, watete, stapfte, rutschte im losen, weichen, warmen Sand den seichten Abhang hinunter. Ab und zu schaute ich hoch. Die Menschen, die in kleinen Gruppen standen oder lagerten, wurden immer kleiner. Der Weg wurde länger. Ich hatte ihn ein wenig unterschätzt. Endlich, nachdem es schon etwas beschwerlich wurde, stand ich unten. Ich erinnerte mich an meine Jugend und die vielen Male, wo ich am Ostseestrand ein gleiches Gefühl hatte. Der leichte Wind von der See her vertrieb jedes menschliche Geräusch von da oben hinter mir. Ich war für Sekunden, ja Minuten allein hier mit der Natur. Wie großartig, herausgelöst, frei von Zivilisation. Stille umgab mich, flößte sich mir ein, betörte mich. Ich ging ein paar Schritte ins Wasser, bückte mich, die ganz schwachen Wellen spülten Tangfetzen heran. Das Wasser streichelte und küsste den Strand. Leise klatschend und saugend entlud sich Welle für Welle, in fortwährendem Gleichmaß. Es musste Ebbe sein. Das Meer hatte Zaumzeug angelegt. Ich blickte mich um. In der Ferne sah ich eine kleine Insel, einige Boote, winzig klein, ihre Segel leuchteten in der Morgensonne. Die Luft roch nach Tang und Salz und Meer. Für einen Moment war ich glücklich. Ein Wunsch kam auf, wie so oft, bliebe es doch so, könnte man doch eine Weile hier sein! Nein. Ich musste zurück, wieder hinauf. Zwei Schilder hatte ich beim Herabrennen missachtet: „Zone réglementée“. Reglementierte Zone. Und «Accès de la plage interdit» Zugang zum Strand verboten! Was konnte ich Ameise an diesem Strand kaputt machen? Den Sand in Richtung Meer heruntertreten? Das würde der Wind wieder hinaufschaufeln. Ich sah es nicht ganz ein. Hinten nach dem Kiefernwald zu, der schon langsam vom Sand verschüttet wurde, ist das ein ganz anderes Problem. Da mag ein Verbot richtig sein. Ich stapfte also tapfer wieder bergauf, ohne mich umzuschauen, gewann langsam Höhe. Die Luft wurde knapp beim Atmen. Die hehren Gefühle wichen ganz profanen körperlichen Techniken. Kein Seitenstechen zulassen. Schön ausatmen. Einatmen. Kontinuierlich die Beine bewegen. Nicht zu große, nicht zu kleine Schritte! © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 42 Die Düne sei 115 m hoch. Ich überschlug es im Kopf, zu Hause rechnete ich aus: Der Böschungswinkel losen Sandes ist 32°. 115m/sin32°=217m. Also die doppelte Länge an der Hypotenuse! Die gingen mir jetzt schwer in die Beine, mehr als ich geahnt hätte. Ich beeilte mich, die Zeit im Nacken. Schwer keuchend, schwitzend, Wadenkrämpfen nahe, trat ich den Sand, der mich immer ein wenig zurückrutschen ließ, unter mir weg und stieg und stieg. Es nahm kein Ende. 220 Meter sind lang bei dieser monotonen Steigerei. Von meinen Mitreisenden völlig unverstanden, die schon wieder langsam zur Treppe strebten, kam ich oben an. Ich hatte ihnen ein Erlebnis voraus, das ich mir mit Schweiß und etwas Mühe erkaufte. Ich genoss noch einen letzten Blick auf dieses großartige Panorama. Hinunter auf den Atlantik, der heute und jetzt friedlich ruhte. Wie mag es bei Herbststürmen, zur Flutzeit oder im Winter hier aussehen? Ich schaute entlang der Düne, die einen Anblick wie irgendwo in der Sahara bot. Nach hinten, wo unten ein endloser grüner Gürtel von Nadelwald sich gegen den gelben mörderischen Sand stemmte. Am Fuße der Düne ragen ausgebleichte Baumstämme aus dem Sand wie die mahnenden Arme von Toten. Halt, nicht weiter! Doch die Natur lässt sich davon nicht beeindrucken. Fressen und gefressen werden, Werden und Vergehen, das gilt nicht nur für menschliche oder tierische Lebewesen. Die Luft war raus, das Hohegefühl vorbei. Wir liefen die versandete Kunststofftreppe wieder hinab und ließen uns zwischen den Souvenirständen und Erfrischungskiosken treiben, bummelten, guckten hie und da etwas näher hin. Es roch nach gebratenem Fisch. Was liegt hier näher! Er trieb mich weg, auf ein paar Holzblöcke mit quer gelegtem Brett, wo wir Schuhe und Strümpfe entsandeten und schließlich ein wenig zur Stärkung aßen. Dann waren wir willig bereit weiter zu fahren. Es ging südwärts, auf der Landstraße 652, in der Nähe die Küste. Vorbei an einem großen, abgesperrten Territorium, militärisches Sperrgebiet. Hier liegt das 17 ArtillerieRegiment. Aber wir sehen nur mal einen Mannschaftswagen, sonst hatten wir mit Militär keine Berührung. Seit 2001 gibt es in Frankreich keine Wehrpflicht mehr. Die Fahrt dehnt sich über einige Stunden. Der Sonnenball steht senkrecht. Doch im Bus gibt es die Klimaanlage. Conny teilt unentwegt Getränke aus. XIII. Biarritz W ir fahren auf die Pyrenäen zu. Natürlich fällt mir mein großer Lehrmeister Kurt Tucholsky ein. Ich weiß, dass er auf seiner Reise 1927 im „Pyrenäenbuch“ auch über Biarritz geschrieben hat. Heute bin ich auf seinen Spuren. Er ist damals mit der Bahn gereist, von Paris aus über Bordeaux ist er mit dem Zug nach Bayonne gefahren, hat sich dort einen – spanischen6 - Stierkampf angesehen und ihn ausführlich beschrieben. Dann hat er sich mit dem „Ausflug zu den reichen Leuten“ nach Biarritz begeben. Was hat er damals darüber geschrieben? …Denn weil sich jeder eine Welt macht, in deren Mittelpunkt er selber steht, so verneint er die der andern, deren Weltbild ihn etwa an die Wand klemmen könnte. So lieben denn silbergepunzte Demokratenfrauen die armen Arbeiter, die es nicht besser wissen, und verachten die reichen Milliardäre, die es nicht besser wissen. Reiche Leute haben eine gefügige Presse. Reiche Leute haben keine gute Presse. In Biarritz kommen sie wild vor. Der nach Fischen riechende Winkel, … ist durch den spanischen Adel und vorzüglich durch die Queen, der die englische Aristokratie todesmutig nachfolgte, erst zu dem geworden, was es heute ist. Es liegt entzückend: die silbrig- blaue Küste mit Felsen, die kunstvoll durchbrochen sind, so daß man darin spazieren gehen kann, Blumenanlagen: es wächst da ein niedriger Baum mit hellgrünem, zart gefiedertem Laub, der sieht aus wie ein Mohrrübenbaum, und an bestimmten Stellen zu bestimmten Stunden geht es auch recht elegant her. (Das allgemeine Straßenbild ist es nicht.) Allerdings spielt sich das, was man unter <Biarritz> zu verstehen hat, auf den Besitzungen der reichen Leute ab, in den Klubs, den Parks, den kleinen und großen Villen am Meer und in den Schlössern, die von der Küste entfernt liegen. Will man französische Eleganz beschreiben, so muß man nie vergessen, daß die Begriffe „Kempinski“ und „Esplanade“ deutsche Begriffe sind und daß Frankreich nicht das besitzt, was einmal ein sehr witziger Architekt mit dem Wort «Berlin hat eine Mittel- Volée» bezeichnet hat. Die französische Mitte liegt in der äußern Lebensführung und in den Ansprüchen wesentlich unter der deutschen, aber dafür gehts dann auch 6 In Franreich unterliegt der Stierkampf anderen, unblutigeren Regeln. Das Baskenland nahm sich davon aus. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 43 oben ganz hoch hinauf. Der große Reichtum ... Davon kann ich nun wenig berichten. Nicht etwa aus Verachtung, sondern weil ich diesen Kreis des Lebens nicht abgeschritten habe, weil er mir fremd ist, weil meine finanziellen Mittel nicht ausreichen, ich mir also meine Nase an der Glasscheibe platt drücken müßte. Mir ist es nicht selbstverständlich, im Hôtel du Palace abzusteigen, der Apparat würde auf mir lasten, und ich käme über jene gequälte Ironie nicht hinweg, die der Reporter anwendet, um zu zeigen, daß ihm das alles in keiner Weise imponiert und daß er doch der bessere Mensch ist. Man muss nur die Kostüme wechseln. Die Inhalte stimmen noch heute. Hinsichtlich seines Verhältnisses zum Reichtum kann ich mich ihm anschließen, auch was diesen Ort betrifft. Biarritz hat schon über mehr als 100 Jahre die Reichen angezogen. Man musste dorthin. Die Etikette verlangte es. Nach zwei Weltkriegen hat sich das ein wenig geändert. Sicher ist es ein mondäner Badeort geblieben, doch ich glaube, heute erholen sich dort auch die einfachen Franzosen. Der Hochadel hat sich mittlerweile andere Stellen gesucht, wo er unter sich ist. Wir rollen durch den Ort und sehen das Blau des Meeres. Kleine weiße Gischtkronen schmücken die gegen den Strand anrollenden Wellen. Wir halten unweit des höchsten Punktes, am Leuchtturm und haben, nachdem wir uns vom langen Sitzen gerade gebogen haben, einen berauschenden Blick über die ganze Bucht, hinter der sich Biarritz ausbreitet. Das Licht blendet etwas, weil nun, kurz nach Mittag, die Sonne vom Meer her über das blitzende Wasser flimmert. Die Bucht von Biarritz, von der Terrasse vor dem Leuchtturm gesehen Mit dem ersten Blick von hier oben relativiert sich mein Verhältnis zu dieser Vorstellung „Biarritz“, die ich bisher hatte. Ich weiß, dass ich nur Durchreisender bin. Der Ort wird sich mir in den wenigen Stunden nicht öffnen. Ich will ihm aber so nahe treten und so gut kennen lernen wie möglich. Conny hat ein Problem. Sie verfügt über zu wenige Schlafplätze in dem gebuchten Hotel. Sie verteilt Lose (mit kleinen Tricks, deren Nutznießer auch wir sind. Wahrscheinlich findet sie uns sympathisch). Wer das kleine Kreuzchen hat, darf in das „TONIC- Hôtel ***“. Wir durften. Der Bus brachte uns zu diesem nüchternen unscheinbaren Zweckbau in der belebten Hauptstraße des Ortes, in die 58, Avenue EDOUARD VII. Kofferschleppen. Aufregung. Ärger der Abgewiesenen. Sie hatten das weniger komfortable Quartier, wie sie uns später sagten. Es lag allerdings gleich über die Straße. Ich hatte Badesachen mit, zog mich schnell um. Martina wollte nicht baden, kam aber mit. Mit Badegepäck erster Gang also zum Strand, vorbei an dem Fünf- Sterne- „Hôtel du Palais“ zur „Grand Plage“. Wieder verspürte ich das Hochgefühl in mir jubeln. Du bist in Biarritz! Und jetzt noch am bekanntesten Strand der Reichen! Ich stelze über den relativ steinigen weißen Sand zum Wasser, gründele ein wenig und stürze mich dann hinein. Huh, Hach, ist das herrlich, alles fällt von mir ab, der alte Mann, das Drumherum. Ich tauche, pruste, werfe mich in den Schaum der heranrollenden Wellen, lasse mich treiben, werde wieder jung, kraule kurz ein Stück hinaus, springe hoch, um mich von der Schaumkrone der nächsten Welle schlagen zu lassen, gebe mich ihr hin, trudele und strampele mit Armen und Beinen, tauche wieder unter, mache im trüben Wasser die Augen auf- es ist ganz schön salzig… Zum zweiten Male an diesem Tage spüre ich es über mich rieseln, dieses seltene, kurze und schauerliche Glück. Das Wasser ist warm, bestimmt einige Grade über zwanzig, die Luft auch, die Sonne scheint. Es fehlt nichts, doch: Schade, dass Martina nicht das Gleiche empfindet. Geteiltes Glück ist doppeltes. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 44 Ich wate zum Strand, will dann noch einmal hinein; wie ein Gourmet will ich die Freude verlängern. Da kommen zwei alte Damen in knöcheltiefem Wasser auf mich zu, sie waren beide über siebzig, halten mit ihren Fotoapparat hin und möchten fotografiert werden. Mit einem Schwall Französisch wollen sie mir einiges erklären oder von mir wissen. Theorie und Praxis. Ich konnte ihnen zwar sagen, dass ich Deutscher sei und sie nicht so recht verstünde. Doch da lachten sie, wurden erst recht zutraulich, eine zeigte auf ihr Knie, sie schien daran krank zu sein. Sie waren Freundinnen und wollten nun zusammen aufs Bild. Ich tat ihnen den Gefallen. Danach hingen sie noch enger an mir. Wo ich wohnte, ich solle doch mit ihnen kommen, sie lüden mich ein…Mit wurde schon langsam sonderbar. Sie begleiteten mich den Strand hinauf. Sie hatten ihre Decken in unserer Nähe. Nun kamen sie auch auf Martina zu und plapperten ohne Unterlass. Es waren liebe alte Damen. Was sollte ich machen. Martina zog an mir: „Sag ihnen auf Wiedersehen und dann komm!“ Ihr war es peinlich, und ich bedauerte, noch nicht genügend für eine Konversation gewappnet zu sein. Ich ging unter die Süßwasserdusche, dann gleich noch einmal ins Wasser, wählte den in dieser Situation elegantesten Abgang. Winke, winke zu meinen Freundinnen, Adieu! und im Dauerlauf über den breiten Strand wieder ins erfrischende Nass. Erneutes Tummeln, kein Glücksgefühl mehr, nur noch nass. Martina wartet. Wir wollen noch mehr sehen. Der Nachmittag ist lang, doch die Liste der Sehenswürdigkeiten gewiss auch. Also Süßwasserdusche. Anziehen. Schulter das Gepäck. Ab zum nahen Hotel. Umziehen. Auf zum Stadtbummel! Vom Leuchtturm aus sah man am Horizont, dort wo Biarritz zu Ende zu sein schien, einen Felsen mit einer Statue darauf. Das nahmen wir uns zum Ziel. Dabei hielten wir uns in Strandnähe und beobachteten das Badeleben. Flanierende Badegäste und normale ihren Geschäften nachgehende Bürger mischten sich. An Touristen, deren Kleidung sie in den meisten Fällen gleich ausweist, fehlte es nicht. Über einige schön angelegte Treppen erreichen wir an der Place St-Eugénie die gleichnamige Kirche. Ein Hochzeitszug umschwärmt den Eingang, das Brautpaar erwartend. Wir bleiben auch stehen. Es ist immer wieder hoffnungsvoll zu sehen, wenn sich junge Leute fürs Leben verbinden. Der Brautzug kommt und verteilt sich auf die Fahrzeuge. Weg. Wir gehen hinein in die Église Ste Eugénie. Es ist ein neogotischer Bau, 1898 – 1903 an Stelle einer kleinen Kapelle, die einst der Schutzheiligen Sainte Eugénie7 der französischen Kaiserin, gewidmet war. Noch ist der Gang zum Altar herausgeputzt mit einem mannshohen Girlandenbogen aus Weinlaub und Fuchsienblüten, durch den das Paar hindurchgehen muss. Die Wände und der Chor sind geschmückt mit drei Reihen Friesen und Gesimsreihen, auf denen ich eine ganze Prozession von Heiligen sehe. In dem Gemeindebrief, den ich zu diesen Informationen hinzuziehe, lese ich, dass die ausgesucht sind, die in enger Bindung zu Christus standen oder auf Grund ihrer Tugendhaftigkeit, darunter die Heilige Johanna von Orléans mit ihrem Pagen, „dem Basken“. Es war ein Baske, der in Orléans die Standarte der Johanna nahm und so die Truppen anführte, um die Stadt zu befreien. Sagt das Kirchenblättchen der „Paroisse8 Notre Dame du Rocher Biarritz“. Auch auf französischer Seite fühlen sich die Basken als selbständiges Volk. 7 Die heilige Eugénie lebte in Spanien, das damals unter arabischer Herrschaft war. Sie wurde unter der Regierung von Abderam III. eingekerkert und, da sie ihrem Glauben nicht abschwören wollte, als Märtyrerin 921 enthauptet. Eine im 16. Jahrhundert in Cordoba aufgefundene Inschrift beschreibt ihr Martyrium, die Reliquien und den Heiligenkult. Einer anderen Quelle zufolge wurde sie 258 in Rom enthauptet. 8 Paroisse, frz. Pfarrgemeinde © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 45 Ich kann mich nicht satt sehen an diesem sonnigen Nachmittag, den uns der liebe Gott geschenkt hat, an dem Blick über das blaue Meer, den bizarren orange- gelben Felsenformationen, die die Jahrtausende hier geschaffen haben, den mit weißer Gischt umspülten Felseninseln in der Uferregion, dem sommerlichen Grün und den frischen Farben der blühenden Pflanzen und den bunten Booten im Fischerhafen, der von Ebbe und Flut abhängig ist und der in einer kleinen Felsenbucht liegt. Es führt uns der Weg über schöne Aussichtspunkte, die wir genießen, durch einen Tunnel zum Felsen der heiligen Jungfrau, dem Rocher de la Vierge. Fischereihafen von Biarritz Über eine schmale weiß gestrichene Eisenbrücke, die von dem berühmten Gustave Eiffel konstruiert wurde und mit ihren Kreuzstabgeländer weithin sichtbar ist, gelangen wir zu dem Felsen, auf dessen Spitze eine Marienstatue thront, die noch weiter sichtbar und die Schutzheilige von Biarritz ist. An dem Musée de la Mer gehen wir vorbei, obwohl es mich hinein lockt. Wir bummeln nun am Alten Hafen vorbei, sehen hinunter auf den Strand, wo die Bader die letzten Sonnenstrahlen des Tages erhaschen, dann gehen wir die Esplanade de Vierge hinauf, durch nach Räucherfisch stinkende Altstadtgassen bis auf die breite Rue Gambetta, in der wir nun in der beginnenden Dämmerung wieder zurück marschierten. Zunächst lockte mich ein Schild in die Krypta der Kirche St-Eugénie. Dort sollte nämlich um 19 Uhr eine Goya- Ausstellung eröffnet werden. Allerdings fehlte noch eine Stunde. Ich lotste Martina da hin. Es hatten sich schon Leute in feinem Zwirn eingefunden. Wir sahen durch die Tür den Tisch mit gefüllten Sektgläsern. Am Ende trauten wir uns nicht so recht und hatten den Eindruck, dass wir als Rucksacktouristen nicht so recht dazu gehörten. Außerdem wäre es für unsere warme Abendmahlzeit, von der wir ja auch abhingen, zu spät gewesen. Man kann nicht alles bekommen! Ich suchte noch nach dem Office de Tourisme. Als wir es dann endlich fanden, war es schon geschlossen. Ich bekam von Conny einen Stadtplan. Das Abendessen fand in einem ganz engen kleinen Raum statt. Wir wissen schon: 50 Personen. Es gab Bayonner Schinken und cuisse de poulet1. An diesem Tag lagen 253 km unter den Busrädern. XIV. Saint-Jean-de-Luz Samstag, 6. September 2003 as Wetter hat sich über Nacht gewandelt. Es regnet in Strömen, als wir die Nationalstraße Nummer 10 weiter nach Süden in Richtung spanischer Grenze fahren. Dunkle Wolken jagen über den Himmel und verheißen nichts Gutes. Wir unternehmen vor der Abfahrt noch einen kurzen Gang zum nahen Wasser. Im Vergleich zu gestern völliger Szenenwechsel: Die Strände sind leer. Natur pur. Wie Fremdkörper stehen die hohen Klötze der Hotelbauten und triefen vor Nässe. Möwenschwärme umzetern sie in der Luft, stoßen aufs Wasser im Sturzflug herab und gieren nach Futter. Die Flut hat in der Nacht aus dem Strand, an dem wir gestern noch gebadet hatten, eine lange Sandinsel herausgehoben. Der Rest ist überschwemmt. Wir bangen um den Tag. Immerhin ist schönes Wetter ein guter Bundesgenosse D 1 cuisse de poulet, frz. Hühnchen- Schenkel © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 46 des Reisenden. Die Laune ist nicht rosig, nachdem wir bisher so verwöhnt wurden. Wir kommen nur einmal hierher! Unterwegs erfahren wir einiges über die Geschichte von Saint-Jean-de-Luz. Der alte, 13 000 Einwohner umfassende Fischerort, von dem schon im 13. und 14. Jahrhundert Walfänger nach Neufundland, Grönland oder Spitzbergen in See stachen, ist auch heute noch Standort des Fischfanges, aber auch für viele Hochseesegler. Er verwandelt sich aber in der Hochsaison zu einem mondänen Badeort und steht seiner „Konkurrenz“ Biarritz in nichts nach. Er gilt als Geheimtipp. Es war im Jahre 1659, am 7. November, als hier mit der Grenzziehung auf dem Pyrenäengrat der so genannte „Pyrenäenfrieden“ zwischen Frankreich und Spanien geschlossen wurde. Es war die Zeit, als der 21jährige Ludwig XIV. schon König war. Man kam auf einer Insel im Grenzfluss Bidassoa zusammen. Frankreich gewann unter der Verhandlungsführung seines Gouverneurs Mazarin den Roussillion, Artois und durch Verheiratung Ludwig XIV. mit der Tochter Philipps IV., der in Madrid geborenen Marie- Thérèse von Österreich, die Anwartschaft auf die spanische Erbfolge und wurde so zur ersten Großmacht in Europa. 1660 wurde die spanische Infantin die Frau des späteren Sonnenkönigs. Die Hochzeit fand mit großem Pomp in der Église Saint-Jean Baptist zu Saint-Jean-de-Luz statt. Eigens dazu wurde die Kirche erweitert und ein neuer Eingang in die Mauer gebrochen, durch den das Brautpaar hinauszog. Danach wurde er zugemauert. Das Portal ist noch zu sehen. Seitdem ist diese Kirche die größte und schönste im Baskenland. Es regnete, als wir den Bus zu einem kurzen Stadtrundgang verließen. Unter dem Regenschirm kann man keine Stadt genießen. Der Blick ist eingeschränkt, vor dir beschirmte Leute, an Engstellen Gedränge, man muss die Füße um Pfützen lenken und achten, andere Passanten nicht mit dem Schirm zu belästigen. Wir eilten zur Kirche. Das Innere war duster, als wir eintraten. Logisch, von außen drang nur wenig graues Licht durch die bunten Glasfenster. Nur einmal kurz leuchteten die elektrischen Lichter auf, und das Kircheninnere zeigte sich in seinem Glanz. Die Decke ist als umgekehrter Schiffskiel gestaltet. Dreistufige Pracht und Heiligenvielfalt im reich gegliederten, dem der Saint Eugénie in Biarritz ähnelnden Chor. Zum Hochaltar führten Stufen hinauf. An den Längsseiten prangten mit Säulen gestützte Emporen und verrieten etwas von der gewaltigen Größe und Raumtiefe dieser Kirche. Es roch nach Weihrauch und Kerzenwachs, muffig und dumpf. Die Reisegruppe verkrümelte sich. Martina war schon voraus. Ich blieb noch einen Augenblick stehen, drehte mich um. Ein Moment der Stille, des Verharrens, eine Sekunde Besinnung. Wie wohl das tut! Man braucht Zeit, um sich in der Schweigsamkeit eines Gotteshauses zu besinnen und in sich zu gehen. Die hatten wir jetzt nicht. Ich gab mir einen Ruck. Weiter. Wir bekamen von hier aus ein wenig Freizeit und bummelten auf eigene Faust durch die regennassen Straßen des Ortes. Saint-Jean-de-Luz hat am Meer kilometerlange Strände. Die Grand Plage umrandet eine geschützte Bucht, in die das Flüsschen Nivelle mündet. Der Ortsteil links des Flusses heißt Ciboure. Dort ist im Hause Nr. 12 am Hafenkai Maurice Ravel2 2 Ravel, Maurice, französischer Komponist, * 7. 3. 1875 Ciboure, † 28. 12. 1937 Paris; Schüler von G. Fauré, lebte zurückgezogen, ohne öffentliche Stellungen; mit C. Debussy Hauptvertreter des musikalischen Impressionismus, nahm in seinen „Jeux d'eau“ 1901 bereits alle Errungenschaften des impressionistischen Klavierstils vorweg, war aber stärker als Debussy vom Zeichnerisch-Konstruktiven bestimmt und gelangte in klassizistischen Spätwerken („Sonate für Violine und Cello“ 1920—1922) zu Vereinfachung und Radikalität der Polyphonie. Viele Werke Ravels haben spanischen Einschlag („Alborada del gracioso“ aus dem Klavierzyklus „Miroirs“ 1905; „Rhapsodie espagnole“ 1907; das musikalische Lustspiel „L'heure espagnole“ 1911 und Ravels bekanntestes Werk, der „Boléro“ 1928). Ravel war ein blendender Instrumentator und schuf die viel gespielte Instrumentation der „Bilder einer Ausstellung“ von M. Mussorgskij. Weitere Werke: Ballett „Daphnis et Chloé“ 1912; Ballettoper „L'enfant et les sortilèges“ 1925; Werke für Gesang, zahlreiche Klavierwerke (2 Klavierkonzerte; Sonatine 1905; „Gaspard de la Nuit“ 1908; „Valses nobles et sentimentales“ 1911; „Le Tombeau de Couperin“* 1914—1917), Kammermusik (Streichquartett* 1902/03). © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 47 geboren. Zur Erinnerung: Er hat den weltbekannten Bolero komponiert. Und anderes. Aber die aufreizenden, sich stetig steigernden Stakkati dieses Boléro, die kennt ein jeder. Obwohl sicher noch Saison war, hatten sich die Badegäste in Regensachen gehüllt und streiften ebenfalls wie wir durch die Geschäfte und Kaufläden. Schöne alte Häuser fielen mir auf. Überall vor den französischen Fensteraustritten schmiedeeiserne Ziergitter. Oft waren die, meist grün oder braun gestrichenen Rollläden, ebenfalls für die französischen Städte ein typisches Fassadenelement, noch verschlossen, als wollte man den grauen Tag heute nicht wahrnehmen. Ich kaufte ein paar Ansichtskarten und lenkte unsere Schritte zurück über den breiten verkehrsreichen Boulevard Victor Hugo zur Markthalle, Les Halles. Hier herrschte ein buntes Treiben. Hier pulsierte das Leben der Bewohner, die sich an den Ständen die Ware frisch vom Anbieter empfehlen lassen. Welches herrliche vielfältige und lebhafte Bild! Das machte richtigen Spaß zu schauen: Fromages, Poissonnerie, Traiteur, Rôtisserie, Pâtisserie, Bijoux, Boucherie, Charcuterie, Produits régionale.3 Nicht zu vergessen Obst und Gemüse frisch vom Umland. Laute Rufe der Händler übertönen das Gemurmel. Bleibe ich stehen, werde ich sofort aufs Korn genommen. Oft unterdrücke ich mein Verlangen, näher zu treten, um nicht die eindringlichen Angebote der Händler ablehnen zu müssen. Wir sind ja satt Les Halles in Saint-Jean-de-Luz und brauchen nichts. Dann war die kurze Zeitspanne mal wieder um. Martina suchte nach einem WC, ich wollte das Office de Tourisme suchen. Die gaben uns Auskunft und einen schönen Stadtprospekt, so dass ich mich heute noch einmal in diesen kleinen hübschen Doppelort vertiefen kann. Neben dem Fremdenverkehrsamt liegt auch gleich das Geburtshaus von Ludwig XIV., an der Rue Mazarin Ecke Rue de l’Y. Ich werfe einen letzten Blick auf den Fischerhafen und nach Ciboure hinüber auf den Seglerhafen, den die Nivelle ausbeulen musste, ehe sie von den Menschen in den Ozean entlassen wird. In den Bus und ab. Ich winke im Geheimen ein letztes Mal der Atlantikküste. XV. Pau V on der Küste weg fahren wir westwärts in das Pyrenäenvorland hinein und brauchen nicht lange, bis wir in Pau sind, Hauptstadt des Départements Pyrénées- Atlantique. Seit 1464 ist Pau Hauptort der Grafschaft Béarn gewesen, einer Region, die es nach der Revolution gab und sich als Landschaftsbezeichnung bis heute erhalten hat. Pau liegt auf einem Plateau über dem Gave- Tal und wurde Mitte des 19. Jahrhunderts von den Engländern als klimatisch reizvoller Luftkurort „entdeckt“. Seitdem ist es ein beliebter Sommer- wie auch Winterurlaubsort. Engländer sind hier Stammgäste. Es gibt Golfplätze hier, sogar einen eigenen Rugbyplatz haben sie angelegt. Es ist eine bodenständige Region, ein kleines Weinanbaugebiet. Das Rindvieh auf den Weiden ist beige gefärbt. Die Gave de Pau mündet nach etwa 120 km in die Adour und diese bei Bayonne in den Atlantik. Vor dem Parkplatz im Tal des Flüsschens Gave wächst über ein paar alten Häusern wie eine riesige Mauer der gedrungene Komplex des Stadtschlosses empor. Überhaupt, wir müssen nach oben, um in die Stadt zu gelangen. 3 Käse, Fischwaren, Feinkosthändler, Grillrestaurant; Kuchen, Gebäck; Schmuck, Fleischerei, regionale Produkte © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 48 Wir steigen viele Stufen empor, bis wir auf die Höhe des Plateaus kommen. Von hier soll man die schneebedeckten Gipfel der Hochpyrenäen sehen können. Heute ist es diesig und schwül, und wir sehen kaum die andere Talseite und ahnen nur in der Ferne die mächtige Gebirgskette, die Frankreich von Spanien trennt. Es gibt Industrie hier, Metall-, Leder- und Textilindustrie. Davon sehen wir nichts. Das Gewirr von Gleisanlagen unten im Tal lässt aber einen großen Umschlagsplatz vermuten. Ich will in den wenigen Stunden, die uns hier vergönnt sind, das historische Pau erleben. Ich belese mich: Jeanne III. d’Albret, von 1555 – 1572 Königin von Navarra, lebte hier im Schloss, beherzte Frau des schwachen Antoine de Bourbon und Mutter Heinrichs IV., der hier in Pau 1553 geboren wurde. Dieser ehelichte zwei Monate nach dem Tode seiner Mutter 1572 Marguerite de Valois, die Tochter Heinrichs II. und Schwester des französischen Königs Karl IX. Diese Hochzeit nahmen die Königinmutter Katharina von Medici und König Heinrich III. zum Anlass, die meisten Hugenottenführer ermorden zu lassen. Die hugenottischen Hochzeitsgäste, etwa 2000 in Paris, wurden auf Veranlassung der Brautmutter ermordet. In der Provinz waren es infolge fanatischer Hetze über 30 000 Protestanten, die ums Leben kamen. Diese Bluthochzeit vom 23. zum 24. August 1572 ist als Bartholomäusnacht in die Geschichte eingegangen. Nachzulesen bei Alexandre Dumas in „Die Königin Margot“(La Reine Margot). Heinrich IV.4 entkam den Verfolgungen der Bartholomäusnacht. Er wurde 1589 König von Frankreich, der erste der Bourbonen- Linie. Er schwor 1593 dem protestantischen Glauben ab, wurde Katholik. Sein berühmter Spruch „Paris ist eine Messe wert!“ 1598 gewährt er den Hugenotten politische und religiöse Gleichberechtigung. Er schuf durch Hebung der Königsmacht die Grundlagen für den Absolutismus in Frankreich und durch seine Expansionspolitik gegen das Habsburger Deutschland die Anfänge für das französische Vormachtsstreben in Europa. Am 14. Mai 1610 ist er durch einen Fanatiker namens Ravaillac ermordet worden. Über sein kämpferisches Leben und schaffensreiches Wirken kann man bei Heinrich Mann in „Henri Quatre“ und bei Robert Merle („Fortune de France“)nachlesen. Ich erinnere mich eines Buches, das in meinem Bücherschrank seit über dreißig Jahren steht, „Das Heptameron“ von Margarete von Navarra. Wer war sie, diese Poetin der Liebe? Meine Recherchen ergaben: Sie wurde am 11. April 1492 geboren, ist die Schwester von Franz I. und in zweiter Ehe mit Heinrich d’Albret, König von Navarra, verheiratet. Also ist sie das! Sie gilt als französische Dichterin, ist Schutzherrin der Renaissancedichter und der Protestanten. Ihre Novellensammlung „Heptaméron des nouvelles“ brachte sie 1559 heraus. Ich finde noch eine berühmte Geschichtsperson im Geburtsregister des Ortes: Hier in Pau wurde 1763 Graf Jean Baptist Bernadotte geboren. Er begann mit 17 Jahren als einfacher Soldat, avancierte später bis zum Revolutionsgeneral und Marschall unter Napoléon, wurde 1810 zum schwedischen Kronprinzen ernannt, nahm an der Völkerschlacht 1813 bei Leipzig gegen Napoléon teil und war von 1818 -1844 als Carl XIV. Johann König von Schweden. 1813 führte er den Oberbefehl über die Nordarmee der Verbündeten. Er griff erst am 18. Oktober 1813 in der Entscheidungsschlacht bei Leipzig ein. Mit 95 000 Mann stand er als 4. Kolonne bei Mockau und Taucha und ging in Richtung Paunsdorf – Schönefeld gegen die Franzosen vor. Bei den Kämpfen um Paunsdorf, Sellerhausen und Stünz trugen die Korps der 4 Heinrich IV., Heinrich von Navarra, König von Frankreich 1589—1610, * 13. 12. 1553 Pau, † 14. 5. 1610 Paris (ermordet); erster König aus dem Haus Bourbon, zunächst Hugenottenführer. Die Hochzeit Heinrichs mit Margarete von Valois (1572) nahmen die Königinmutter Katharina von Medici und König Heinrich III. zum Anlass, die meisten Hugenottenführer ermorden zu lassen ( Bartholomäusnacht). Heinrich wurde 1593 Katholik („Paris ist eine Messe wert“) und gewährte im Edikt von Nantes 1598 den Hugenotten politische und religiöse Gleichberechtigung. Er schuf durch Hebung der Königsmacht die Grundlagen für den Absolutismus in Frankreich und durch seine Expansionspolitik gegen Deutschland (Habsburg) die Anfänge für das französische Vorherrschaftsstreben in Europa. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 49 Schlesischen Armee, diesmal unter Bernadotte, entscheidend zum Sieg der Verbündeten bei. Sie erzwangen Napoleons Entschluss zum Rückzug und damit eine Wende in Europa. Ich beschreibe das so genau, weil Leipzig meine Heimat ist. Was es doch für Querverbindungen in der Geschichte gibt! Wir konzentrieren uns zunächst auf das Prunkstück der Stadt, den Boulevard des Pyrénées. Er ist 1 km lang und erstreckt sich vom Schloss bis zum Kurhaus im Park Beaumont, der schon auf Veranlassung Napoleons angelegt wurde und eine grandiose Aussicht auf die Pyrenäen bietet. Palmen stehen hier in großen Kübeln. In Blumenrabatten blühen subtropische Pflanzen. Unter einem Brunnen mit Kinderfiguren setzen wir uns auf eine Bank, ruhen uns aus. Martina ist erschöpft und braucht eine Pause. Dann folgt sie mir willig. Die Kirche St. Martin sehen wir, davor das Monument aux Morts, ein Denkmal für die Gefallenen beider Weltkriege. Überall in Europa haben sie Opfer gefordert. Wir haben die Augen und den Blick nach rechts auf die Berge. Links stehen weiß gestrichene Villen mit protzigen Fassaden. Dann ein Durchblick auf die Stadt, ein wunderschöner Platz öffnet die Sicht zur Stadt, auf das Hôtel de Ville. Am Ende des Boulevards bieten sich dem Auge ein weitläufiger Park und darin das Palais Beaumont, Kurhaus, Kongresszentrum, Spielcasino oder alles gleichzeitig, ein Riesenkomplex in bester Lage. Wie sah das seinerzeit, 1927, Kurt Tucholsky in seinem Pyrenäenbuch? „…Sie haben sich bei der Stadt ein „Palais d’Hiver“ aufgebaut, eine Scheußlichkeit aus Glas und Eisen, ein verstaubter Baccarat- Saal gähnt mit eingemummten Fauteuils, und wer verloren hat, sieht sich die Innenausstattung an und stirbt am Schlag. Das Kurkonzert spielt noch immer wie eine Spieluhr, jetzt haben sie eine Carmenouverture unter, sie hört sich an wie „Schlaf, Kindchen, schlaf…!“ Die Damen wandeln, die Männer trinken Bier und stärkende Limonade, sanfte Winde wehn. Oben steht Heinrich der Vierte und lächelt…“ Keine Zeit, schade, wir kehren um. Wir kommen von der Rue Louis Barthou in die Rue Henri IV. Wir kommen am Rathaus vorbei, es ist fast 13 Uhr. Links von uns dieser wunderschöne Platz., Place Royale, der Platz von vorhin, andere Seite. Es war der Paradeplatz, der den königlichen Absolutismus des 17. Jahrhunderts preisen sollte. Herrliche Schäferhunde spielen mit ihren Herren. Er ist bepflanzt mit hundertjährigen Linden und bietet Schatten und Erholung und den kostenlosen Blick auf die Berge… Wie beschrieb das Tucholsky? Pau, Place Royale, von der Rue Henri IV. gesehen „PAU. Von der Terrasse der Place Royale in Pau über die Ebene zu sehen – auf die Gebirgskette der Pyrenäen, das ist wie eine Symphonie in A- Dur. Man sieht weit an den Bergen entlang – das Mittelstück der großen Wand wird sichtbar. Mit Graten und Spitzen, hohen Nasen und graden Linien, mit den geschwungenen Vorbergen und davor stehen die kerzengraden Pappeln. Vom Gebirge her weht der Wind. Das ist schön… © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 50 Drehe ich mich herum, so steht er da, mit dem Rücken zu mir: Er. „Er“ ist in Pau allemal Heinrich der Vierte. Hier ist er geboren, hier hat er gelebt. Das ist nun nicht einfach, zu einem fremden Fürsten in Beziehung zu treten…“ Wir stehen dann am Schloss der Könige von Navarra. Eine Steinbrücke führt hinein. Ich konnte Tucholsky nicht folgen, als er 1927 hier das Museum besuchte und auf seine unnachahmliche Art schrieb: „…Das Schloß ist restauriert, aber trotzdem gut erhalten. Es hängen da flandrische Gobelins, vor denen man gar nichts mehr sagt…Das hohe holzgeschnitzte Geburtsbett steht noch da, in dem Heinrichs Mutter mit dem Großvater sang, um den Schmerz der Wehen zu übertönen, mit Wein hat man den Kleinen abgerieben und genetzt, als er erschien. Es ist ihm sehr gut bekommen…Neben dem Bett hängt die Totenmaske…“ Man muss Tucholsky lesen und mit ihm fühlen. Ich komme dann nicht mehr von ihm los. Heute gibt es immer noch das Museum. Bis dahin ist der Schlosskomplex natürlich über Jahrhunderte zu dem gewachsen, was er heute darstellt, wurde verändert, zerstört, umgenutzt, Die kleine, von Holzpalisaden umgebene Festung (daher stammt auch der Name der Stadt: „paû“ = Pfahl im Béarner Dialekt) wurde im 12. Jahrhundert erbaut und verwandelte sich im 13. und 14. Jahrhundert auf Grund seiner strategischen Lage und der Schönheit des Ortes zu einer bedeutenden Zitadelle. Zwei Namen, Gaston Phœbus und Gaston IV. stehen für die Entwicklung der Burg und des kleinen Festungslagers zur Hauptstadt des souveränen Staates Béarn. Ich bedaure es sehr, dass wir so wenig vom Schloss sehen dürfen. Die Gruppe formiert sich schon in Richtung Bus auf dem Parkplatz an der Gave. Provisorische Mittagsmahlzeit mit Würstchen und Minutensuppe von Conny. Weiterfahrt. XVI. Lourdes B isher hat uns in Pau die Sonne beschienen. Jetzt, als wir in Richtung Pyrenäen fahren, trübt es sich ein. Wolken bedrohen unseren Aufenthalt. Aber es hält sich, nicht umsonst glaubt man hier besonders an Wunder. Wir fahren in Lourdes ein, neugierig aus dem Fenster äugend. Es scheint eine normale Kleinstadt zu sein. Sie ist alles andere als eine normale Stadt: Sie ist der berühmteste Pilgerort der katholischen Welt, neben der Wohnung des Papstes natürlich. Die Straßen sind voller Menschen, es herrscht Gedränge. Die Straßen sind gestopft voll von Touristen und Pilgern, ich weiß sie noch nicht zu unterscheiden, es fallen schon die Rollstühle und seltsamen Gefährte auf, in denen Behinderte zu den Stätten ihrer Wunder gelangen wollen. Unser Falk hat Mühe, den großen Bus bis vor das Hotel zu lenken, so, dass wir keine großen Wege für die schweren Koffer haben. Im Hôtel Alba, Avenue de Paradis, steigen wir ab. Direkt neben der Straße fließt die Gave de Pau vorbei. Wir kennen sie schon. Im Vestibül sehen wir was los ist. Glitzernde Vitrinen mit Devotionalien jeder Art und Größe, zu jedem Preis, in allen Materialien und in allen denkbaren Varianten; Marienstatuen, Heilige, Papstbilder, natürlich die Bernadette; gedruckt, beklebt, gestickt, bemalt, gepunzt; auf Tassen, Tüchern, T- Shirts, Metalltellern, Flaschen, Fähnchen und Kerzen; für die Armen auf Papier und Plastik, für die Reichen in Gold, Silber und mit Edelstein gefasst. Lourdes ist mit 400 Hotels die drittgrößte Hotelstadt Frankreichs. Welche materielle Basis hat hier der Glaube! Wie beschreibe ich nun meine Gefühle zu dieser Zeit an diesem Ort? Es ist für mich ein großer Moment, da ich ihn, eben über Tucholsky, schon vierzig Jahre kenne. Nun darf ich selbst hier sein! Jedes seiner Worte sind mir im Gedächtnis, als ich mich mit Martina, nachdem wir das Zimmer eingerichtet hatten, der Conny zu einem Stadtgang anschloss. Wie hat es Tucholsky damals, 1927, erlebt? Ich darf ihn zitieren, keiner kann es besser beschreiben als er: „…In den kleinen schmutzigen Straßen ist noch kein rechtes Leben, da gehen und kommen einzelne Leute, die Pilger schlafen wohl noch, denn mitternachts ist eine Messe, und während der ganzen Nacht knien Betende in der Basilika. Jedes Haus ist ein Hotel; vom mittlern Gasthof bis zur Ausspannung sind alle Arten vertreten, und in jedem zweiten Haus ist ein Andenkenladen. Aber alles das will ich jetzt gar nicht sehen. Zur Grotte! Zur Grotte! Nun wird das Gewühl stärker. Wagen quetschen sich zwischen den Leuten hindurch, die elektrische Bahn poltert, noch mehr Läden, noch mehr Straßenverkäufer, die Gruppenaufnahmen, Andenken, Kerzen und Vanille feilhalten - die ganze Luft riecht nach Vanille. Da: die Basilika. Eine moderne hohe graue Kirche, © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 51 rechts und links mit zwei weit ausladenden Rampen, die den Platz wie zwei Arme umfassen. Einzelne Leute gehen durch einen Torbogen der Rampe zur Grotte. Und da sind auch die ersten Kranken. Sie wanken auf Krücken, sie schleppen sich am Stock, sie werden auf Wagen dorthin gebracht, zweirädrige Sitzstühle, an denen vorn ein blaues Schild hängt: „Schenkung von Fräulein M. P. 1904.“ Die Wägelchen werden von Krankenträgern geschoben: das sind Leute, die einen Ledergurt um die Schultern gehängt haben, es ist der Tragriemen, an den sie die Bahren knüpfen. Ich gehe ihnen nach. Rechts ist eine Hügellandschaft, von einem Eisenbahndamm durchzogen, mit einem einsamen Häuschen. Links ragt die Längsseite der Kirche auf, Bäume stehen davor, und unter ihnen schallt es. Da stehen die Leute und beten… 76 Jahre später gehen wir den gleichen Weg, und das Bild hat sich kaum gewandelt. Gut, wir sahen keine Elektrische. Dafür aber Hotel an Hotel, Absteige an Absteige, Brasserien, Cafés, Restaurants, Geschenkeläden en masse, alles dreht sich um einen Gegenstand, in ausgeklügelter Vielfalt: La Boutique de Cadeaux, Café St- André Notre Dame de Lourdes, Au Chapelet de la Vierge, Negozio Italiano, L’Ermitage…Nicht nur die Sinne, auch der Magen… Die Krankenwagen, Rollstühle und Schiebekarren für die, die im Liegen transportiert werden, sind ein wenig moderner geworden. Aber nur wenig, denn ich selbst musste an einer kleinen Steigung mit Schieben helfen und erntete so ein echtes Körnchen von dem Dank im Voraus, der unbeantwortet gegen den Himmel verpufft. Hier im Gewimmel des Vorplatzes der großen neogotischen Basilique Supérieure5 geht es zu wie auf einem Volksfest. Schwerfällig schieben sich Alte, Behinderte durch die Menge. Es wird gerempelt, sich entschuldigt, gedrängt. Was ist eigentlich hier los? Ich weiß es noch nicht. Aufgeregt, lärmend schwirren junge Menschen durcheinander, kleine Pulks von Leuten scharen sich um ein Fähnlein. Sie tragen bunte Halstücher, ihre Führer Schilder in allen Sprachen, meistens englisch, französisch, spanisch, italienisch; auf allen steht dasselbe, jetzt sehen wir auch ein deutsches: „Pilger für einen Tag“. Ein junger Mann hält es hoch, blickt freundlich suchend um sich. Wir sind es, die er treffen will. Er stellt sich kurz vor. Er käme aus einer Gemeinde im Münsterland, er machte das hier freiwillig, gewissermaßen um sein Seelenheil. Er studierte an einem Seminar, wollte später Priester werden. Wir zogen mit ihm los, an die heiligen Stätten. Zuerst führte er uns in die südlich der Esplanade liegende, 1958 geweihte, unterirdische Basilisque Souterraine St-Pie X.6 Es ist ein gewaltiger und nüchterner Betonbau unter der Erde, 80 m breit und 200 m lang, der Platz hat für 20 000 Gläubige. Wir sehen vorn, durch einen Wald von kantigen schräg gestellten Betonsäulen, die den Boden darüber stützen, ganz weit weg, am Altar, eine Gruppe einem Priester zuhören. Wir gehen leise hinten herum den betonierten, rollstuhlgerechten Umgang zum anderen Ende, wie durch ein riesiges nüchternes Garagentor ans Tageslicht, stehen vor dem kleinen Museum Ste. Bernadette. Davor, über immergrünem Efeu kniet sie, im Nonnenschleier, den Blick nach oben, in Marmor, die Heilige Bernadette. Wir gehen hinein. Unser Führer schleust uns in den Menschenstrom, der das kleine Gebäude schier zu sprengen drohte und gibt uns eine halbe Stunde. Hier informiert uns zunächst ein großes Modell über die geografische Lage. Lourdes liegt in einem Bogen der Gave de Pau, die wir schon gesehen haben. Wir erfahren, dass sie sogar umgeleitet wurde, um den Ort an die Erfordernisse der Pilgerzüge anzupassen und die Basiliken zu bauen. Es gibt auch einen Kreuzweg mit vierzehn gusseisernen Figuren, der auf einen Calvarienberg hinaufführt. Dann versuchen wir, auf Zehenspitzen, oder wartend bis ein Blick frei wird, die Erinnerungsstücke zu besichtigen, 5 6 Basilique Supérieure, frz. Obere Basilika Basiliques Souterraine St- Pie X., frz. Die Unterirdische Basilika des Heiligen Pius X. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 52 die noch aus dem kargen Leben der Bernadette Soubirous erhalten sind. Bilder in Glasmaltechnik, Bilder ihres Geburtshauses, wie es einmal aussah, der väterlichen Mühle, ihrer Familie, ihres Paters Peyramale, der ihre Erscheinungen gedeutet hat, sie populär und glaubhaft zu machen half. Einige erleuchtete, in Email gearbeitete Szenen ihrer achtzehn Erscheinungen, die sie hatte. Lassen wir Kurt Tucholsky erzählen. Er hatte schon 1927 eine andere Sicht, als sie heute noch in den offiziellen Hochglanzprospekten an die gläubigen und ungläubigen Massen herangebracht wird. Und hier ist seine Geschichte der – zu seiner Zeit noch – seligen Bernadette: „Vor siebenundsechzig Jahren fing es an. Lourdes war damals "ein Haufe trüber Dächer, von traurigem Bleigrau; so stehen sie da, unterhalb der Straße eng zusammengedrückt". … In Lourdes lebte zu dieser Zeit eine kleine Müllerstochter, Bernadette Soubirous, sie war vierzehn Jahre alt. Das Kind war immer krank, es litt an Asthma, an Atemnot, an schweren Hustenanfällen. Die Alten hatten viele Kinder und wenig Brot, es ging ihnen nicht gut. Im Sommer hütete die Kleine die Schafe in Bartrès, in der Nähe von Lourdes, bei einer Frau, die ihr Kind verloren und die kleine Soubirous genährt hatte. (Diese Frau ist noch am Leben.) Lesen und schreiben konnte sie nicht - aber an kalten Wintertagen, wenn in den Hütten abends kein Feuer brannte, um zu wärmen, und kein Licht, um zu leuchten, versammelten sich die ärmeren Bauernfrauen und ihre Kinder in der kleinen Kirche zu Lourdes, und da erzählte der Curé7 fromme Geschichten, von göttlichen Erscheinungen, wunderbaren Quellen, Segen und Heilungen der Gebenedeiten - - Die Pyrenäen sind reich an solchen Legenden. Ihnen gemeinsam ist stets: die plötzlich auftauchende Erscheinung, meist eine weiße Frau, sie vertraut dem ahnungslosen Hirten ein gutes Geheimnis an, das der nie verraten darf, sie gibt ihm einen Auftrag, sie zeigt ihm eine Quelle, die Quelle heilt Kranke. Um Lourdes wimmelt es: Unsre Liebe Frau in Barbazan, Unsre Liebe Frau von Nestè, Médoux, Bétharram, Garaison, Bourisp - so viel Namen, so viel Wundererscheinungen, weiße Frauen, Heilquellen, Geheimnisse. In der abendlichen Kirche, wohlgeborgen vor den Schneestürmen, im Flimmer der Kerzen, die die Schatten im Halbdunkel auf Goldgrund tanzen ließen, saß die Kleine und sog in sich auf, was es da zu hören gab. Manchmal war sie traurig: in ihrer Atemnot hatte sie husten müssen und das Schönste nicht gehört. Die Mühle von Lacadé (Elternhaus), so wie sie zur Zeit der Erscheinung war Der Bruder ihrer Ziehmutter war ein Priester, er brachte oft bunte Bildchen mit und auch die Bibel und Heiligengeschichten, die das Mädchen nicht lesen konnte ... Aber die Bilder konnte sie betrachten, die schönen Bilder mit der Heiligen Mutter Maria in weißem Gewande, mit den Rosenornamenten als Schmuck, die ihr fromme Maler zu Häupten gesetzt hatten, und sie sah sich diese Bilder gern an. Das, was ihr die Priester an solchen Winterabenden erzählten, war ihr geistiges Leben, denn sie war noch nicht eingesegnet und wußte weiter nichts von Religion als diese vagen und frömmelnden Historien. Da war von Gottvater die Rede, von der Heiligen Jungfrau, von Jesus und von der Dreieinigkeit und wohl auch von der unbefleckten Empfängnis. Denn drei Jahre vorher, am 8. Dezember 1854, war von Pius IX. das Dogma der Conceptio immaculata verkündet worden, das beinahe so viel Aufsehen gemacht hat wie das von der Unfehlbarkeit des Papstes. Diese Tatsache findet sich in der gesamten populären Bernadette-Literatur verschwiegen. Wir werden sehen, warum. Mühle von Boly (Geburtshaus von Bernadette) zur Zeit der Erscheinungen 7 Curé, frz. (katholischer) Pfarrer © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 53 Am Donnerstag, dem 11. Februar 1858, fror es in Lourdes, der Himmel war grau, die Bauern machten, daß sie ihre Arbeit draußen beendigten und beeilten sich, in die Hütten an den Herd zu kommen. Der Müller Soubirous brauchte sich nicht zu beeilen: es war kein Holz im Hause. Die Kinder sollten Holz holen. Bernadette ging in die Kälte hinaus, ihre jüngste Schwester Toinette und eine Freundin, Jeanne Abadie, begleiteten sie. Die drei stiegen an den Abhängen herum, überquerten den Bach, der jetzt abgeleitet, am Eisenbahndamm entlang fließt, und kamen schließlich in die Grotte. Winterstille und Geriesel von trockenem Laub. Da hörte sie ein dumpfes Geräusch. Sie hob den Kopf... "Ich konnte nichts mehr sagen, und ich wußte gar nicht, was ich denken sollte, denn als ich den Kopf zur Grotte wendete, sah ich an der Felsöffnung einen Busch, aber nur einen, hin- und herschwanken, wie wenn großer Wind wäre. Beinah zu gleicher Zeit kam innen aus der Grotte eine goldene Wolke, und danach: eine junge und schöne Dame, so schön, wie ich niemals eine gesehen hatte. Sie stellte sich an der Öffnung auf, oberhalb des Buschs. Sie sah mich an, lächelte und machte mir ein Zeichen, näher zu kommen, grade wie wenn sie meine Mutter wäre!“ Die beiden kleinen Begleiterinnen hatten nichts gesehen, nur allein Bernadette. Erst war es in ihren Berichten "etwas Weißes", dann eine Dame, dann eine wunderschöne Dame, mit weißem Gewand, blauem Gürtel und gelben Rosen zu Füßen - aber die sprach zunächst nicht, sie lächelte. Bernadette ging immer wieder in die Grotte. Die Mutter wollte das nicht. Die Grotte stand in keinem guten Ruf, Liebespaare pflegten sich dort zu verstecken, und wenn man wieder einmal am Morgen leere Flaschen und sonstige schöne Sachen dort gefunden hatte, stießen sich die Bauern in die Rippen und grinsten: "Heute nacht haben sie wieder Dummheiten in der Grotte gemacht!" Aber Bernadette ging wieder und wieder hin. "Sie" erschien ihr achtzehnmal. Beim drittenmal sprach die Dame. Sie bat die Kleine, während vierzehn Tagen in die Grotte zu kommen. Bernadette versprach das. Und dann: "Trink aus der Quelle und wasch dich in dem Wasser!" - Es war aber keine Quelle da, das Kind kratzte die Erde auf, da lief ein dünnes Rinnsal über die Erde. Die Wunderquelle war geboren. Und später: "Sage den Priestern: sie sollen hier eine Kapelle bauen und in Prozessionen hierher kommen!" Und nun auf inständiges Fragen, endlich, endlich: "Ich bin die Conceptio immaculata." Die Dame, die dies gesagt hatte, sprach das bäurische Platt. "Qué soy ér' Immaculada Councepslou." Und da war Bernadette schon nicht mehr allein. Die Sache war durchgesickert, die Polizei mischte sich ein, mißtrauisch, liberal, halb aufgeklärt und durchaus dagegen. Der Priester des Ortes war vorsichtig, skeptisch, außerordentlich klug. "Ein Wunder! Ein Wunder!" verlangte er. Und vor der Namensgebung: "Sage deiner Dame, daß ich sie nicht kenne - sie solle sich vorstellen." Sie stellte sich vor, und nach jeder Halluzination wurde das Publikum größer, der Glaube stärker, die Legendenbildung wilder. Bei alledem hat man sich die kleine Bernadette als ein bescheidnes, artiges, schwächliches Kind zu denken, das kein Wesens aus der Sache machte. Sie hatte einen schweren Stand: der Geistliche wollte nicht heran, die Polizei drohte, sie einzusperren, wenn dieser Unfug nicht aufhörte, und das Dorf verlangte seine Wunder. Ein alter Abbé, der als kleiner Junge sie noch gekannt hat, zeigte mir in Lourdes eine Fotografie, die angeblich an der Grotte während der Ekstase aufgenommen sein soll - ein offenbar gestelltes Bild, ohne jeden visionären Zug in dem kleinen Bauerngesicht. Das arme Ding mit seinen Läusen unter dem Kopftuch, bekam von allen Seiten zugesetzt, es prasselte nur so auf sie herunter: Klagen, Bitten, Beschwörungen, Segenswünsche ... Schon Familie Soubirous. Im Mittelpunkt des Bildes: wollten einige durch Handauflegen von ihr Bernadette mit der weißen pyrenäischen Kapuze geheilt werden. (Foto von 1866) Ein Zug, ein einziger in diesen zahllosen Berichten ist rührend, zeigt, wie tief sich die Halluzination in das Kind eingefressen hat und beweist ihre wirkliche Herzensunschuld. Sie hatte dem Steuereinnehmer Estrade und seiner Schwester ihre Geschichte erzählt: "Also, die Dame bat mich, vierzehn Tage lang in die Grotte zu kommen!“ „Sag mal genau, wie sie gesprochen hat!" sagte der Steuereinnehmer. „Die Dame sagte: Wollen Sie so gut sein...“ Und hier unterbrach sich Bernadette, senkte den Kopf und flüsterte: "Die Madonna hat Sie zu mir gesagt..." Und nun gings los. Die Presse nahm sich der Affäre an, die Artikel für und wider setzten ein ohne Ende, und die Polizei ließ die Grotte mit Brettern versperren. Die Gegend stand auf dem Kopf. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 54 "Ein Wunder! Ein echtes Wunder! Hat sie nicht von der Conceptio immaculata gesprochen? Aber das Kind hat das Wort nie gehört, kann es gar nicht gehört haben!" - Die Bernadette- Literatur legt auf diesen Punkt den allergrößten Wert. Man kann nur Erinnerungen produzieren, während man halluziniert, sagen sie, (was falsch ist) - dieses schwierige Wort und der noch kompliziertere Begriff seien dem Kinde unbekannt gewesen. Nein, sie waren das nicht. Man wird nun verstehen, warum die Bernadette- Traktätchen so ängstlich darüber schweigen, daß das Dogma schon drei Jahre, ex cathedra verkündet, vorlag. Es war also nicht nur möglich, sondern höchst wahrscheinlich, daß das Kind diesen Ausdruck von den Priestern aufgeschnappt hat, ohne zu begreifen. Und man weiß, wie Latein auf die wirkt, die es nicht verstehen. Die Grotte gesperrt? Streik der Bauarbeiter, Rumor unter den Bauern, die Grotte mußte wieder geöffnet werden. Bis zum Kaiser drang der Lärm, denn nun war aus den Halluzinationen eines kranken Kindes eine hochpolitische Affäre geworden. Kulturkampf? Napoleon III. tat das, was er immer getan hatte: er zögerte. Aber die Kaiserin lag ihm in den Ohren, es war das wohl auch kein casus belli8, die innre Politik erheischte Frieden ... Er gab nach. Der Polizeikommissar wurde versetzt, der Präfekt von Tarbes wurde versetzt - das Land hatte sein Wunder. Die Prozesse prasselten. Die ersten Heilungen wurden ausgerufen. Denn die Quelle war da, das war kein Zweifel. Jetzt war es eine große Quelle geworden: sie gab zwölfhundert Hektoliter am Tage her. Nun wollen sogar die orthodoxesten Katholiken nicht, daß Bernadette dieses Wasser aus dem Nichts gerufen habe. Der Abbé Richard hielt schon im Jahre 1879 dafür, daß nicht das Kind die Quelle erschaffen habe, sondern Gott - die Kleine habe nur durch das Wunder eine bestehende Quelle entdeckt. Leute, die mit einer Wünschelrute umgehen, wissen etwas von den Prädispositionen gewisser Personen zu sagen, die auf Wasser, Metalle und Steinarten reagieren. Herr Fabisch aus Lyon setzte der Jungfrau eine Statue, eben jene, die heute noch in der Grotte steht. Er ließ sich von Bernadette die Erscheinung beschreiben, war tief gerührt von der weichen Frömmigkeit der Kleinen und lieferte das Äußerste an Talentlosigkeit. Die Statue hat siebentausend Francs gekostet, genau die gleiche Summe zuviel. Als man Bernadette das Werk zeigte, lief sie zunächst fort, ein beachtliches und gutes Zeichen von Kunstverstand. Dann wurde sie beruhigt, noch einmal an die Figur herangeführt, die aussieht, wie wenn sie aus Seife wäre, und man fragte sie: "Ist das deine Jungfrau, so, wie du sie gesehen hast?" - Und sie: "Keine Spur." Aber Fabisch kassierte ein, und die Priester aus Lourdes stellten auf… …Bernadette blieb bei ihrer Familie, und als sie es dort nicht mehr ertragen konnte vor Besuchen, Fragen, Verhören, Freunden und Feinden, die sie alle, alle sehen wollten, als sie immer und immer wieder ihren Bericht erzählen mußte, brachte man sie ins Hospital. Das hatte noch einen andern guten Grund: das Mädchen kränkelte. Im Krankenhaus wurde sie zunächst gepflegt, die Besucher wurden ferngehalten, später verrichtete sie Arbeiten in der Küche und machte sich auch sonst nützlich. Die Kirche rechnet mit Jahrhunderten und in eiligen Fällen mit Jahren. Erst vier Jahre nach diesen Erscheinungen, am 18. Januar 1862, erschien der große Hirtenbrief des Bischofs von Tarbes, des Monseigneurs Bertrand- Sévère. "Ja", sagte der Brief. Kollekten, Gläubige, Kirchenbauten, Zusammenlauf aus aller Welt. Die Pilgerzüge setzten in voller Stärke ein. Im Jahre 1867 waren es schon 28 000 Menschen, die kamen. Das Wunder war im Gang. Das ging nicht ohne die bösesten Zänkereien ab. Der Curé von Lourdes bekam den Monseigneur- Titel, aber das tröstete ihn wenig, er fühlte sich zurückgesetzt; die Orden bekriegten sich bis aufs Messer, warfen einander Habsucht, Neid, Mißgunst und übergroße Geschäftstüchtigkeit vor, und auch die Einwohner wüteten umher. Die Kirche hatte in kluger Voraussicht die Grundstücke gekauft, die der Grotte gegenüberlagen, um alle neugierige Nachbarschaft zu vermeiden. Welches Geschäft war den Lourdesen da aus der Nase gegangen -! Was wäre das gewesen -! „Hotelzimmer mit direkter Aussicht auf die Wundergrotte und alle Zeremonien! Abends Dancing!" Ein Jammer. Es roch nicht gut zum Himmel, was da aufstieg. Und dann war da diese kleine Bernadette, die der Anstrom der Neugierigen immer noch suchte. Eine unangenehme Konkurrenz, dieses Werkzeug Gottes ... Sie durfte fernerhin nicht mehr in Lourdes leben vor allem: unter gar keinen Umständen durfte sie dort begraben liegen. Nur keine Ablenkung! Sie lebte auch nicht mehr da, sie starb nicht da. Man hat sie nach Nevers gebracht, einer kleinen Stadt südöstlich von Orléans, in das Mutterkloster des Ordens des Sœurs de la Charité de Nevers, und dort erlosch sie im Alter von fünfunddreißig Jahren. Sie hat keine Wunder mehr angezeigt und auch keines tun wollen, sie war eine schwächliche Person, die in Ruhe leben und sterben wollte. Sie ist sehr krank gewesen. Jetzt, zu ihrer Seligsprechung im vorigen Jahr, haben sie sie exhumiert: der Körper war gut erhalten, ihr linkes Auge, das der Erscheinung zugewendet war, soll offen gewesen sein, ihr Grab so nach Blumen geduftet haben, daß - wie in Lourdes erzählt wird - Briefe, die dort gelegen hatten, dufteten ... Man hat sie 8 casus belli, lat. zum Krieg führendes Eriegnis © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 55 in einem Glassarg ausgestellt, es kommen viele Gläubige. Ich habe eine Reliquie geschenkt bekommen, ein Stückchen von ihrem Totengewand. Eine Heilige -? Noch nicht. In Lourdes wird ein alter Mann aufbewahrt, es ist ihr Bruder, der einen Andenken- Laden hatte und sich vorzeitig vom Geschäft zurückgezogen hat. Er empfängt viele Besuche, will aber keine haben - er ist ein stiller und ruhiger, etwas bäurischer Mensch. Nein, ich habe sein Ruhebedürfnis geehrt und ihn in Frieden gelassen. Er weiß auch nicht viel von damals zu vermelden - er war sieben Jahre alt, als Bernadette ihre Erscheinungen hatte. Aber wenn er einmal gestorben sein wird, und wenn alle persönlichen Erinnerungen verflogen sind, wenn die Gestalt der kleinen Bernadette weit, weit hinten im grauen Nebel der Geschichte verschwindet -: dann wird sie heilig gesprochen werden. 9 Die Kirche ist so klug... Denn über Bernadette Soubirous, die Müllerstochter, kann man heute noch kleine persönliche Bemerkungen machen, sie ist zu nah -. Jeanne d'Arc aber ist heilig und entlockt selbst einem so wilden Spötter wie Bernard Shaw - außen Stacheldraht, innen Gummibonbon - ein schönes Pathos. Das ist die Geschichte der seligen Bernadette, zu der Hunderttausende in Lourdes beten. Tagaus, tagein ... Aber immer andre. Denn das ist das Gefährliche an der Sache: tagaus, tagein darf man dergleichen nicht sehen. Der Mechanismus wird sichtbar Jede pèlerinage10 ist höchstens vier, fünf Tage in Lourdes, und das ist sehr gut eingerichtet. Der längere Aufenthalt geht auf Kosten der Intensität. Man sieht zu viel…“ Wir sind „Pilger für einen Tag“, folgen dem rosa Pappschild, das der Junge aus Westfalen hochhält, - die rosa Farbe gibt uns als Deutsche aus - zum Geburtshaus der Bernadette Soubirous, dem maison natale. Eng ist es hier, auch überfüllt mit Menschen. Alles ist schön dekoriert. Man soll glauben, so hätte das alles vor 140 Jahren ausgesehen, als sie am 7. Januar 1844 geboren wurde. Die Familie des Müllers François Soubirous wohnte in der Mühle von Boly, Bernadette bis zu ihrem zehnten Lebensjahr. Aber zunehmend verarmend, musste die Familie mehrmals umziehen. 1857 konnte die Familie keine Miete mehr zahlen. Der Vater geriet unter falschen Verdacht des Mehldiebstahls, wurde eingelocht, aber mangels Beweisen frei gesprochen. Die Soubirous bezogen als neues Quartier, zu sechst, im Erdgeschoss des Hauses Sajous eine miserable Zelle des ehemaligen Gefängnisses von Lourdes, genannt Cachot11. Wir mussten bald eine Viertelstunde draußen in der engen Rue des Petits-Fossés stehen, bis wir uns hineinschieben können, in diesen armseligen Raum. Unvorstellbar, wie sechs Personen hier leben und schlafen konnten! Wirklich unglaublich, dieses Elend. Chronologisch kam danach, als die Kirche der Bernadette ihre Gesichte als Erscheinungen abnahm, für die Familie Besserung ihrer Lebensumstände. Sie zogen in die Mühe von Lacadé. Wir sahen es vorher auf dem Wege zum Cachot. Heute wird den Pilgern und Touristen noch dieses andere Haus gezeigt, das „Maison paternelle de Ste Bernadette“, das Elternhaus der Heiligen. Ursprünglich war es die Mühle von Lacadé. Sie gehörte dem Bürgermeister gleichen Namens in Lourdes. Im Juli 1863 mietete sie der Pfarrer Peyramale, unter dessen sakraler Obhut Bernadette stand, für die Familie Soubirous. Einiges was an diese Zeit erinnert, können wir noch sehen, ein niedriges Holzbett, wurmstichige, an der Wand befestigte Holzkommoden, einen verrußten Kamin, Bilder, alte sepiafarbene Fotografien. Bernadettes Mutter starb dort 1866, ihr Vater 1871. Ich erinnere mich: Deutsch- Französischer Krieg, und ordne diese Ereignisse in mein Geschichtsbild ein. Bis hierher sind wir auf den Spuren der Bernadette in Fleisch und Blut gefolgt, jetzt haben wir noch etwas Freizeit und wollen nun auf den Prozessionsplatz. Die Dämmerung macht sich bemerkbar, das Tageslicht wird schwächer. 9 Sie wird am 18.Februar 1933 heilig gesprochen! pèlerinage, frz. Pilgerschaft, Wallfahrt 11 le cachot, frz. Verlies, Kerker 10 © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 56 Wir haben die tägliche Nachmittagsprozession verpasst, bekamen jetzt nur die sich auflösenden Menschenmassen zu sehen. Gegen den Strom der Menschengruppen, Pilgerscharen und Touristengruppen aus aller Herren Länder, mit uniformierten Halstüchern meist oder mit einem Führer, der seine Schäfchen mit hoch erhobenem Regenschirm oder einer Fahne zusammenhielt. Ich sehe in ihren Augen noch die Erregung, die Emotionen sind noch am Abklingen, Gemurmel wächst zum babylonischen Stimmengewirr. Lange genug hat sich jeder der kanonischen Disziplin untergeordnet. Vor allem Italiener und Spanier fallen mir auf. Jetzt platzt das südländische Temperament hervor. Für uns, die das verpasst haben, etwas beängstigend, ein Tollhaus, etwa wie zu Hause bei uns die Fans eines Fußballvereins heiß um Sieg oder Niederlage diskutieren und man gerät in den Gegenverkehr. Wieder möchte ich K.T. ums Wort bitten, um das was am Nachmittag passiert war zu schildern: „Um drei Uhr nachmittags ist der große Platz gesperrt, die Ränder summen und wimmeln an den langen Leinen, mit denen er abgegrenzt ist. Hier wird nachher die große Prozession entlanggehen, und obgleich es noch lange nicht halb fünf ist, stehen und sitzen da schon viele Frauen mit Kindern und auch Männer. Sie haben sich Klappstühle mitgebracht, die man für drei Francs kaufen kann, und warten da unter den Bäumen. Noch werden viele Kranke an die Grotte gerollt und zum Bad; nachmittags sind es die Schwerkranken, die gebadet werden. Wieder stehen alle dichtgedrängt um den Priester, wieder ruhen die Kranken auf den Stühlen, wieder schallen die Gebete. Lauter, lauter. « Hosanna, hosanna au Fils de David! »12 Erst klingt mir das Wort "Hosianna" in der französischen Version fremd, dann bleibt es haften, sie sprechen es mit vielen n in der Mitte, wiegen sich im Klang. Und nun kommen schon die ersten Fahnenträger, sie stellen sich an der Grotte auf und singen, die Kranken werden einzeln abgefahren, man stellt sie auf den großen Platz in die erste Reihe. Da liegen sie auf Bahren, sitzen auf ihren Stühlen. Hinter ihnen die Masse. Halb vier Uhr. Eine riesige Prozession formt sich, die Spitze steht auf der langen Esplanade, alle haben die Basilika im Rücken - denn sie werden erst den Rasenplatz umschreiten, mit dem Heiligen Sakrament in der Mitte. Oben, die Plattform der Kirche, ist schwarz vor Menschen, die beiden Rampenarme sind frei und leer. Die Träger sperren sie ab. Da kommt die Prozession. Nach der Augenschätzung mögen es vielleicht zehntausend Menschen sein, die Nachprüfung ergibt annähernd die Richtigkeit. Sie schreiten langsam, Gesang schallt, man kann noch nicht hören, was sie singen. In der Mitte des Platzes knien jetzt Priester, sie beten und alle beten nach. "Bienheureuse Bernadette, priez pour nous!"13 alle: "Bienheureuse Bernadette, priez pour nous!" Der Platz braust. Spricht der Priester da vorn auf dem Platz lateinisch, so fallen alle ein, und die langen Sätze schnurren unter den Bäumen. Beginnt er zu singen, so singen sie mit. „Seigneur, nous vous adorons!“14 Das ist ein Franzose. Aber da kniet nun ein paar Meter weiter von ihm, schräg, ein Priester der Pilger, und das ist ein Italiener. Und als der seine Stimme erhebt, da verschwindet alles andere neben ihm. Welch ein Tenor -! "Signore -!" Ah -! Durch Mark und Bein geht diese Stimme, sie peitscht die Leute auf, sie singt ganz allein unter den Tausenden. jetzt ist die Sache in der richtigen Kehle. Da naht die Prozession. Von weitem sieht man die langen Arme schwarzer Priester in der Luft herumfuchteln: sie dirigieren den Gesang, rühren in den Massen. Brennt, Flammen -! Dann kommen sie. Erst die Marienkinder, junge Mädchen in weißen Schleiern, sie singen mit hellen Stimmen. Man dirigiert sie auf die Freitreppe, da bleiben sie eng gedrängt stehen, und ihre weißen Schleier zieren die weiten Linien. Dann die Männer, sie tragen Kerzen in den Händen und singen laut. Das Sakrament. Alles fällt auf die Knie, die Kranken neigen die Köpfe. Der Erzbischof zieht unter dem Baldachin dahin, den ein Mann in Reitstiefeln trägt, davor die Weihrauchkessel, die ununterbrochen geschwungen werden. 12 Hosianna, hosianna dem Sohne Davids ! "Bienheureuse Bernadette, priez pour nous!" „Glückselige Bernadette, bitte für uns!“ 14 „Seigneur, nous vous adorons!“ „Herr, wir beten Dich an!“ 13 © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 57 Nun macht das Sakrament die Runde, und es ist ganz still auf dem großen Platz. Nur zwei Priesterstimmen sprechen ein Gebet. Der goldne Stab wandelt langsam an den Kranken vorüber, zeigt sich, neigt sich ... Nasse Augen, wohin ich sehe. Jetzt steht der Bischof unter seiner Geistlichkeit, grade vor dem Haupteingang der Basilika, da fallen die Geistlichen auf die Knie, er hebt die Hand, das Glöckchen klingt... totenstill ists unter den Bäumen. Und nun kommt der eindrucksvollste Augenblick des Nachmittags. Der Gottesdienst hat geendet. Was nun -? Jetzt brodeln die Leute aufgeregt durcheinander, dies ist der große Moment - hat Maria geholfen -? Sie wollen ihr Wunder, sie suchen danach, sie stecken die Köpfe zusammen, die Luft ist geladen vor Erwartung. Aus einer Ecke springt es auf, wer hat zuerst gerufen "Un miracle! Un miracle!" Alle laufen, da ist kein Halten mehr. Ein Hauchlaut der Verwunderung ertönt, wie beim Chor im Drama, der mit leisem "Ha -" vor einem Helden zurückweicht. . . "Un miracle -! Un miracle -!" Im Nu ist die Tür des "Bureau des Constatations" 15 umlagert. Das liegt in einer Seitenwand der Rampe, die Tür ist zugesperrt, denn die Ärzte drinnen wissen, was sich jetzt ereignet. Die Pilger würden die geheilte Kranke zu Boden reißen, sie betasten wollen, ihren Segen wünschen, sich die Kleider teilen zum Andenken. Warten. Viele Frauen schluchzen…“ Bis zu den Badezellen sind wir nicht gegangen. Irgendwie fand ich das zu intim, den Kranken und Siechen und Behinderten zuzusehen, wie sie verzweifelt als letzte Rettung ihr Heil beim lieben Gott versuchen und sich mit dem heiligen Wasser waschen. Aber auch wir suchten den Weg zur Grotte von Massabielle. Ich schoss mein letztes Foto. Dann hauchten die Batterien ihr Leben aus. Ich unterdrückte einen Fluch. Das wäre es gewesen, an dieser gesegneten Stätte! Ich bediene mich wieder der Worte Kurt Tucholskys: „…Ich drücke mich zur Grotte hindurch. Es ist eine kleine Felsgrotte, ein paar Meter tief, mit einem schmiedeeisernen Gitter", Entrée" und "Sortie" steht daran, auf blauen Emailschildern in weißer Schrift,... Seitlich an der Grotte steht eine Kanzel, auf ihr ein Geistlicher im Ornat, der die Betenden ermahnt, tröstet, anfeuert. Seine Worte hallen über die Köpfe hinweg und zerflattern dann in der Luft. Es ist so schwer, im Freien zu predigen... Langsam, unendlich langsam schiebt sich die Menge an der Kanzel vorbei, in die Grotte. Alle halten Kerzen in den Händen, und da flammt ein großer Lichtständer, das Stearin tropft und bildet merkwürdige Figuren. Zwei Meter vom Boden entfernt, in einer Höhlung oben in den Steinen, steht sie: Notre-Dame de Lourdes, Our Lady of Lourdes, Onze Lieve Vrouw van Lourdes, Gospa od Lourda, Nuestra Seflora de Lourdes, Miesac Mary i Lourdes, Nassa Senhora de Lourdes - die Jungfrau Maria. Hier ist sie der Bernadette, dem kleinen Bauernmädchen aus Lourdes, zum erstenmal erschienen und hat Quelle und Heilung vorausgesagt. Vor ihr bekreuzigen sich alle, dann küssen sie den Stein, auf dem sie steht, der Stein ist glatt und speckig von den vielen Händen, die ihn gestreichelt haben… Nun preßt die Menschenmauer nach vorn. Ein Altar ist aufgerichtet, da brennen die Kerzen, fortwährend klappert Geld in die Kästen, und die Erde ist bedeckt mit Briefen, Kupfermünzen, Bildern, Blumen, Glasperlen, Weihgeschenken. Langsam, langsam werden wir wieder herausgedrückt. Am Ausgang hängen alte Krücken, die haben die Geheilten da aufgehängt, und ein Gipskorsett ist auch dabei. Vor der Grotte, in Wagen und Bahren: die Kranken. Sie sitzen und liegen da, die Augen zum Himmel aufgerichtet, die Träger beten, die sie umgeben - die Verwandten beten, manche sind halb bewußtlos und haben die Augen geschlossen und fiebern. Sie halten Rosenkränze in den Fingern. Viele singen. Neugierige und Touristen stehen unter den Leuten, es wird fotografiert, gesprochen, in Büchern geblättert. Bahren im Getümmel, Krankenwagen, gestützte Kranke - alles geht leise und freundlich vor sich. An der Kirche, an den Plätzen, überall sind im Freien Kanzeln aufgestellt, da predigen die fremden Priester, die mit den Pilgerzügen gekommen sind, in ihren Sprachen. Und nun ist es Mittag, und dann leert sich langsam der Platz. So fängt der erste Tag der Pilger an, die da in den "trains blancs 16" ankommen, den großen Krankenzügen, mit Liegevorrichtungen für die Kranken, gestopft voll, mit Krankenschwestern und Pflegern, mit dem Bischof oder Erzbischof der Diözese, dem weltlichen Leiter, der die ermäßigten Billetts besorgt, und mit einem Arzt. Wenn sie ankommen, verteilen sie sich in der Stadt - die großen Unterkunftsbaracken gibt es nicht mehr. 15 16 „Bureau des Constatations“, frz. Kommission, die die Heilungen registriert und bestätigt. trains blancs, frz. weiße Züge © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 58 Die Frommen gehen gleich nach der Ankunft zum Gottesdienst, zum Quellenbad, zur "piscine"; große Anschläge verkünden überall in der Stadt den Dienst des betreffenden Zugs, alles ist Tradition, vorausgesehen, eingespielt…“ Was soll ich da noch hinzufügen? Das war vor korrekt 76 Jahren. Bis heute hat die Kirche da nichts geändert. Oh ja doch, der Durchsatz ist erhöht worden, die Strukturen verfeinert, zwei neue Kirchen gebaut und Dutzende von Hotels und Herbergen aller Art- für Zuwachs! Der Gegenstand und seine Wunderwirkung sind geblieben. Und vieles Andere. Mit den Wundern geht man strenger um, seit die moderne Medizin Fortschritte gemacht hat. Trotzdem, es ist eine Industrie mit der abstrakten menschlichen Ware „Glauben“ geworden. Wir wollten abends die Lichterprozession erleben. Wir spazierten in der Stadt in Richtung Hotel, gingen über die Gavebrücke ein Stück links die Straße hinauf. Nun war es ganz dunkel. Überall flammten die Lichter wie auf einem riesigen Jahrmarkt. Ich suchte nach einem passenden Andenken, schaute mich um und fand es: Ich kaufte mir ein echtes Béret basque17. Wegen meiner Kopfgröße musste die nach ältlichem Parfüm riechende Verkäuferin auf eine Leiter steigen, einige Kartons vom Regal ganz oben holen und nach Form, Größe und Farbe suchen, wie ich es mir wünschte. Endlich klappte es, auch leidlich mit der Verständigung. Hierauf bummelten wir ins Hotel zurück, aßen zu Abend und marschierten dann gespannt und emotionsgeladen wieder hin zur großen Basilique Supérieure. 21 Uhr sollte es losgehen. Ich lasse noch einmal K.T. für mich sprechen. Es deckt sich so mit dem, was wir erlebten, ich könnte es nicht so anschaulich schildern: „Für den Abend ist die große Fackel- Prozession angesetzt, kurz nach dem Abendbrot schon laufen alle Leute in Lourdes mit kleinen Fackelchen umher, wie man sie uns auf den Kinderfesten in die Hand gesteckt hat. Blaugedruckte Papierschirme mit dem Bildnis der Jungfrau umhüllen die Kerze. Aber bevor das angeht, sehe ich doch noch etwas anderes. Die Kranken können die Hospitäler nicht verlassen, sie können den Fackelzug nicht verstärken -. Wenn der Pilgerzug groß genug ist, dann versammeln sich manchmal die Angehörigen vor dem großen Krankenhaus und bringen ihren Zug den Kranken dar. Und das ist wohl das Erschütterndste, das ich in Lourdes gesehn habe. Zum Fackelzug wird das "Ave Maria" gesungen. Verfasser und Komponist ist Abbé Gaignet, ein Geistlicher aus der Vendée18, er schuf dieses Lied im Jahre 1874. Es hat unzählige Strophen, einfache Vierzeiler aus einer simpeln Melodie, und als Refrain ist ihm das Ave angesetzt, das in der französischen Liedbetonung ungefähr folgendermaßen klingt: Avé Avé Avé Mariaa Es ist so einfach, daß es ein Kind nachsingen kann… … Inzwischen haben sie sich vor der Kirche und um die Kirche versammelt. Auf den Rampen stehen sie Kopf an Kopf, die Plattform ist gedrängt voll, der Platz ist leer, aber weit unten, an der Esplanade, tauchen Feuerfünkchen auf ... Sie fangen an. Und da leuchtet die Basilika, ihre Konturen sind mit Glühlämpchen nachgezogen, ein Scheinwerfer erhellt die Spitze des Turmes, der liegt in bleichem Licht und sieht aus, als verschwinde er in den Wolken, oben auf dem Pic du Jer, einem Berg in der Nähe von Lourdes, blitzt ein Feuerkreuz. Und da setzt sich die Prozession in Bewegung. Hier hört jede Schätzung auf. Es ist einfach ein breiter Lichtstrom, der sich dahinbewegt, die Pünktchen ergießen sich glitzernd über den tiefen Abgrund vor der Kirche. Bevor sie sich auf der Esplanade versammeln, gehen sie über die Plattform, sie ziehen an mir vorbei, und ich höre alle einundfünfzig Strophen des Marienliedes ',Espérance" - und "France" kann ich hören, und auch von der Wahrheit wird gesungen ... La France l'écoute Se lève soudain. Et se met en route 17 Béret basque, frz. Baskenmütze Vendée, [vã'de:], westfranzösisches Département am Atlantischen Ozean, südlich der Mündung der Loire, 6720 km2, 510 000 Einwohner; Hauptstadt La Roche-sur-Yon. - Der Aufstand der konservativen Bevölkerung in der Vendée gegen die Französische Revolution führte 1793-1796, vor allem nach der Hinrichtung Ludwigs XVI., zu einem grausamen Bürgerkrieg. 18 © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 59 Chantant ce refrain : Avé – Avé -Avé Maria - !19 Aber nun sind die letzten hier oben vorüber, und der große Feuerzug ist auf dem Platz angekommen. Sie marschieren in Schlangenlinien, sie nähern sich auf dem gewundnen Lichtpfad immer mehr der Kirche ... Und als sie nun alle, alle vor dem Tor der Kirche stehen, wie um Einlaß singend, da zischen einige: Ssss! es wird einen Augenblick still, und dann steigt das Credo unter den Fackeln zum Himmel. Credo in unum Deum, Patrem omnipotentem ... Sie singen es alle, Männer und Frauen, auswendig, alle die schwierigen lateinischen Worte, die sie französisch aussprechen: Spiritüs sanctüm ... Das steht wie ein Wall da unten. Unerschütterlich, voller Kraft klingt das Credo. Et expecto resurrectinom mortuorum. Et vitam venturi saeculi. Amen. Das ist ein Tag in Lourdes. Wir stehen auch an der seitlichen Rampe, links etwa auf halber Höhe, schon lange vor 21 Uhr. Der Vorplatz füllt sich langsam. Zunächst werden in nicht endender Folge Krankenstühle vorgefahren, in bestimmter Ordnung aufgereiht, zurechtgerückt, fixiert. Ihre Betreuer sammeln sich an der Seite in ebenfalls vorgegebener Sitzformation, mustergültig, diszipliniert. Man d i e n t hier im wahren Wortsinn dem HERRN. Am Ende parken hier zwischen 800 und 1000 Krankenstühle im Carrée. Viele haben einheitliches Aussehen, längliche, blaue, dreirädrige Karren mit blauem Verdeck, sie werden von den örtlichen Häusern gestellt. Es ist ganz dunkel geworden. Jeder hat ein Kerzenlicht bei sich. Dann hören wir Singen ganz rechts im Dunkel, wo von der Esplanade des Processions20 sich nun der Zug der Fackelträger nähert. Die Gläubigen laufen in Mäandern, sie kommen nicht auf direktem Wege. Inzwischen kommen keine Krankenstühle mehr. So können sich nun die Pilger im Fackelzug auf dem Hauptplatz vor der Basilika, der Esplanade du Rosaire21in Reih und Glied aufstellen. Alles geht feierlich, gemessen und ruhig zu, beinahe unheimlich wirkt manchmal die Stille. Irgendwann gegen 21 Uhr, hat sich der Platz gefüllt. Wo kommen die alle her? Ich wage zu schätzen, zwischen zehn- und zwanzigtausend Menschen, ein Vielfaches der Kranken und Siechen, die ich recht gut zählen konnte von hier oben, Reihe um Reihe. Ein grandioses, die Sinne überwältigendes Lichtermeer, eine Messe schon für die Augen. Dann fangen sie an zu singen. Siehe Tucholsky. Benommen und beeindruckt, aber auch etwas verfroren, mit vom verkrampften Stehen steif gewordenen Gliedern gehen wir ins Hotel. Zu später Stunde Menschen, Menschen, Menschen. Die strenge Ordnung löst sich auf. Gedränge. Was hat es ihnen gebracht, dieser heilige Zirkus? Viel gäbe es noch zu erzählen, doch ich will nicht in den Ruch verfallen zu kolportieren. Viel zu viel habe ich schon übernommen. In unserem Zimmer, das zu einem unansehnlichen Hinterhof hinaus lag, stank es nach Bratfisch, als wir das Fenster öffneten. In der Nacht begann es eigentümlich zu rauschen. Wir horchen hinaus: ein wolkenbruchartiger Regen hatte begonnen, unaufhörlich, stundenlang. So viel Wasser! XVII. Toulouse Sonntag, 7. September 2003 Der Tag begann wie es in der Nacht angefangen hatte. Der Regen hörte nicht auf. Der Franzose würde sagen: „Il pleut comme vaches pissent.“22 Koffer packen, zum Aufzug rollen. Routiniertes Gedränge. Warten in der Vorhalle. Einsteigen in den Bus. Abfahrt 8.30 Uhr. Adieu Lourdes! Als wir abfuhren, winken uns drei Hotelangestellte nach. Eine nette, freundliche Geste. Auf unserer Reise war Lourdes der südlichste, den Pyrenäen am nächsten liegende Punkt. Nun rollen wir nach Norden und gleichzeitig nach Westen. Der Wettergott verhüllte uns bisher die Sicht auf die Berge. Bei Tarbes biegen wir auf die Autobahn A64 nach Toulouse ein. Wir schauen aus dem Fenster in die verregnete Landschaft. Tarbes ist bekannt für seine Pferdezucht. 19 La France l'écoute/Se lève soudain./Et se met en route/Chantant ce refrain:/Avé – Avé/Avé Maria -, frz. Frankreich hört sie/erhebt sich plötzlich/und macht sich auf den Weg/Singend diesen Refrain/Ave, Ave… 20 Esplanade des Processions, frz. Prozessionsplatz 21 Esplanade du Rosaire, frz. Rosenkranzplatz 22 Il pleut comme vaches pissent. Frz. wörtl. Es regnet, wie Kühe pissen. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 60 Es gibt ein großes Gestüt. Seit dem 17. Jahrhundert werden hier mit Araberblut vermischte Kavalleriepferde gezüchtet, die heute natürlich anderen Zwecken angepasst werden. Conny verweist auf die Tour de France der Radprofis, die hier in den Bergen ihre schwersten Etappen hat. Fährt man von Tarbes das Adourtal aufwärts, durch Bagnères de Bigorre hindurch, biegt dahinter rechts ab gelangt man zum Col de Tourmalet (2115m), einer Passstraße mit durchschnittlich 9% Steigung am Fuße des Pic du Midi de Bigorre (2877m). Zur Région Midi- Pyrénées gehören die Départements 65- Hautes- Pyrénées mit der Prefektur in Tarbes und 31- Haute- Garonne mit der Hauptstadt Toulouse, die gleichzeitug die „Capitale“, die Hauptstadt der Région Midi- Pyrénées ist. Den Pic du Midi de Ossau (2885m) kann man bei gutem Wetter von Pau aus sehen. Es geht aber noch höher hinauf, wenn man will. Den Grat, das Rückgrat der Pyrenäen gewissermaßen, und oft Grenze zu Spanien, bilden 3000er Berge. Die höchsten Berge der französischen Pyrenäen sind der Pic d’Aneto (3404m), der Mont Perdu (3355m), der Pic de Vignemale (3298m) und der Néouvielle (3092m). Auf spanischer Seite liegen weitere. Leider kommen wir um diese Bilder „Schneebedeckte Bergspitzen im Hintergrund“ herum. Auch als wir von 11.15 – 11.45 an einer Autobahnraststätte die übliche Gesundheitspause halten, regnet es weiter. Wir sind noch in der Région Midi- Pyrénées, aber wechseln unbemerkt in das Département 31 Haute- Garonne hinüber. Diese Region hat noch sechs weitere Départements. Unmerklich langsam komme ich mit dem Verwaltungssystem klar. Es ist nur schwer, die administrativen Regionsnamen und die Landschaften auseinander zu halten, die sich oft überschneiden und manchmal identisch sind. Frankreich überzieht ein Netz von 95 Départements, wie wir bereits seit Paris wissen, aber wieder vergessen haben. Conny erzählte uns, bevor wir in die viertgrößte Stadt Frankreichs einfahren. Vor der Reform der Regionen um 1960 gehörte Toulouse noch zum Languedoc. Die Sprache weicht vom HochFranzösisch ab. Der Name bedeutet: „Die Sprache da unten“ Ihre Entstehung reicht in graue Vorzeit. Volskische Tektosagen, ein keltischer Volksstamm, von den Germanen vertrieben, sollen sich hier 200 v. Chr. angesiedelt haben. Natürlich nahmen auch die Römer hier Platz und nannten ihn Tolosa. Es war ein befestigter Platz an der Straße von Narbonne nach Bordeaux. Im 3. Jahrhundert wurde die Stadt durch den heiligen Saturnin christianisiert. Von 419 bis 506 war Toulouse die Hauptstadt des Königreiches der Westgoten. 720 müssen vor Toulouse arabische Heere gegen fränkische Christen deutliche Niederlagen hinnehmen. (Wir wissen: 732 schlägt sie Karl Martell vor Tours.).Von 845 bis 1249 regierten die Grafen von Toulouse. Sie hielten hier Hof und wurden zu Führern der Katharer oder Albigenser. Über sie werde ich später berichten. Es war eine wilde Zeit, zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert. Graf Raimund von Toulouse brach 1096 zum ersten Kreuzzug gegen die Islamisten auf. 1323 gründete Papst Gregor IX. die Universität. 1324 entstand die „Compagnie du Gay- Savoir“, die Gesellschaft der Heiteren Wissenschaft, die 1694 von Ludwig XIV. zur Académie des Jeux © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 61 Floraux, zur Dichterakademie erhoben wurde. Ab dem 1. Weltkrieg entwickelte sich Toulouse zum Zentrum der französischen Luftfahrt- und Rüstungsindustrie, und ab dem 2. Weltkrieg siedelte sich noch die Raumfahrtindustrie hier an. Inzwischen halten wir am Place Wilson, einem grünen Rondell und steigen aus. Es regnet. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 62 Toulouse unterm Regenschirm. Unfreundlicher Empfang für einen Kurzbesuch. Wir bleiben in der Gruppe zunächst hinter Conny, die uns führt. Wir überqueren die vom Verkehr durchpulste Rue d’Alsace- Lorraine, unter der auch eine U- Bahn fährt, und laufen auf das Capitole zu, das 1753 gebaut und nach den Bürgermeistern der Stadt, den „Capitouls“ benannt wurde. In diesem herrlichen Bauwerk sind das Hôtel de Ville und das Theater untergebracht. Es gibt einen alten Donjon von 1529, in dem über eine kurze steile Treppe eine schwere Tür zum Touristenbüro führt, das ich jetzt leider nicht besuchen kann, um nicht den Anschluss zu verlieren. Das Capitole hat einen offenen Innenhof, durch den wir jetzt gehen, um gleich auf dem großen Place de Capitole zu stehen, den wir überqueren. Der Regen prasselt mit unverminderter Macht auf die Schirme. Es macht keinen Spaß. Wir wollen unter ein Dach! Dann hier die Rue du Taur hinunter. Da sehen wir schon das erste Ziel: Die Basilique de Saint Sernin. Die Rue de Taur ist eng. Taureau heißt Stier. Vielleicht hat sie damit etwas zu tun. Die kleine Kirche Notre Dame de Taur hat hier auf der rechten Seite ihre Westpforte. Es gibt weiter unten das Collège Esquila und mehrere Büchereien oder Leihbibliotheken. Auf der linken Seite kommen wir an winzigen Cafés, Imbissbuden, Souvenirläden vorbei. Es duftet nach Gegrilltem und Gebackenem. Es ist Mittagszeit. Wir haben Hunger. Doch erst die Kunst! Wir müssen kurze Zeit vor der Kirche warten. Wir störten sonst die Sonntags- Messe. Dann dürfen wir durch die kleine Seitenpforte eintreten. Ich habe teils von Conny eine Menge über diesen Toulouse, La Basilique de Saint Sernin einzigartigen romanischen Kirchenbau gehört, teils mich in der Literatur umgesehen. Also? Es gibt wieder eine kleine Entstehungs- Geschichte zu erzählen: Die Basilika Sankt SERNIN von Toulouse ehrt das Gedächtnis von SATURNIN, den ersten Bischof und Märtyrer von Toulouse, der in der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts lebte. Der lateinische Name „Saturnius", ist dann in der hiesigen Sprache des „Oc“ (Languedoc = Sprache des Oc) in „Sarni " umgewandelt worden, später französisiert in „Sernin". Um 250 haben es alle christlichen Bürger abgelehnt, sich den Verpflichtungen, die vom römischen Kaiser Decius1 gemacht wurden, anzupassen und den heidnischen Göttern zu opfern. Saturnin wurde mit den Füßen an einem Stier festgebunden, den man opfern musste, und durch die Straßen der Stadt gezogen, bis sein Tod eintrat. Sein Körper wurde zusammengelesen und in einem Holz- Sarg begraben. Im Verlauf des 4. Jh. ließ der Bischof Hilaire eine kleine Holz-Basilika am Ort des Grabes aufstellen, um das Gedächtnis seines Vorgängers zu ehren. Die exakte Stelle dieses Grabes ist unbekannt. Die Tradition von Toulouse will, daß die gotische Kirche vom TAUR, sicher die, an der wir vorbeikamen, die Erinnerung daran verewigt hat, aber Ausgrabungen in dieser Beziehung haben nichts Abschließendes enthüllt. Von der Wichtigkeit, der Frömmigkeit und der Entwicklung der Nekropole überzeugt, die durch den Ruhm und die Tugenden dieses Märtyrers hervorgerufen wird, unternahm es Bischof Silve, gegen Ende des 4. Jh. eine neue Märtyrer- Basilika zu bauen. Dieses Denkmal wurde unter seinem Nachfolger Exupère fertig, der die Reste von Saturnin dorthin transferierte und sie in einem Marmor- Sarkophag im November in einem der ersten Jahre des 5. Jh. beisetzte. 844 war eine Gemeinschaft von Domherren gegründet worden, um für den Körper des Heiligen zu sorgen und die liturgischen Verrichtungen zu sichern. In der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts besaß das Kapitel der Domherren von Sankt- Sernin schon ansehnlichen Grundbesitz, der es ihnen erlaubte, die antike Basilika durch das gegenwärtige Denkmal zu ersetzen. 1 Decius, Gaius Messius Quintus Traianus, römischer Kaiser 249-251, * zwischen 190 und 200 Budalia oder Sirmium, † 251 bei Abrittus; ein überzeugter Vertreter und Erneuerer altrömischer Tradition; forderte das Kaiseropfer und löste damit seit 249 die erste große Christenverfolgung im ganzen Römischen Reich aus; er fiel im Kampf gegen die Goten. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 62 Mit gemischten Gefühlen gingen wir, ging ich in diese Kirche hinein. Draußen regnete es, und rings um den Kirchenbau lag ein Markt in den letzten Zügen, ein „Marokkanermarkt“. Dutzende Verkaufsbuden und Hunderte Händler und Schaulustige wimmelten in den buntesten Farben, natürlich durch das verwaschene Grau des Regentages gedämpft. Ihre Ware vor dem immer noch aggressiven Regen durch Plastikhüllen und Planen schützend, bauten sie ihre Stände schon langsam ab, bis zum letzten Moment auf einen kleinen Abschluss hoffend. Neugierige gab es genug. Wir waren erst einmal froh, hier trocken ein wenig zu verweilen, hatten also eine recht weltliche Motivation. Conny gab uns auch gleich frei. Wir sollten 14 Uhr wieder am Bus am Place Wilson sein. Ich nahm Martina an die Hand und wandelte den Weg in der Kirche, den seit Jahrhunderten die frommen JakobsPilger getan hatten. Der Jakobsweg. Wir haben in Tours, Saintes mit ihm bereits gedankliche Berührung gehabt (St- Martin in Tours, Kathedrale St- Pierre in Toulouse, Marokkanermarkt am St- Sernin Saintes). Es gab im frühen Mittelalter vier große Jakobswege. Jerusalem, im Lande der islamischen Araber, lag weit weg, unerreichbar für die meisten. Man brauchte in Europa ein Sanktuarium, ein heiliges Ziel, und fand es in Santiago de Compostella. Dorthin sollte, verschiedenen Legenden zufolge, der Leichnam des Apostels Jakobus des Älteren gelangt sein, der als erster Apostel das Martyrium erlangt hat. König Herodes ließ ihn um das Jahr 44 nach Christi enthaupten. Toulouse liegt am so genannten Arles- Weg. Etwa ab dem 11. Jh. führte er von Arles über Toulouse, über den 1562 m hohen Somport- Pass und die Bischofsstadt Jaca nach Puente la Reina, westlich von Pamplona, wo die Wege zusammen kamen, um als „Camino de Santiago“ durch die Provinzen Navarra und Kastilien, durch die alten Königsstädte Burgos und Léon nach Galizien zu führen. Saint- Sernin war eine Hauptetappe auf der Straße der Heiligenwallfahrt geworden, zum Jacques de Compostelle, wie die Franzosen sagen, und die alte Kirche reichte nicht mehr aus, um die Mengen zu empfangen, die sich einfanden. Zwischen 1070 und 1080 begann man, den östlichen Teil der neuen Kirche zu errichten. 1096 folgten der Chorumgang und seine Kapellen, der Chor und sein Umgang, das Querschiff und seine Kapellen werden beendet. Das Dom- Kapitel konnte sich dann auf die Konstruktion des zweiten Teils des Gebäudes einlassen, die das Kirchenschiff und seine Seiten enthält sowie die westliche Fassade mit ihren zwei Türmen. Danach zogen sich die Arbeiten in die Länge. Es gab Modifizierungen der Struktur bis ins 14. Jh. hinein und für gewisse Elemente sogar bis um das 16. Jh. herum. Die westlichen Türme wurden nie vollendet. Dennoch ist dieses Bauwerk mit all seinen Ergänzungen und Restaurationen ein Schlüssel- Denkmal der romanischen Kunst. Die Basilika Sankt -SERNIN von Toulouse ist die berühmteste, die weiteste und die schönste von den romanischen Kirchen des Südens, die reichste von Frankreich an Reliquien. Was bekam ich nun zu sehen? Conny hatte uns als Besonderheit die alten Fresken empfohlen. Ich fand dann auch an der östlichen Nordseite verblasste Wandmalereien, die romanischen © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 63 Ursprung hatten. Sie sind sehr alt und wertvoll. Eines heißt: „Noli me tangere2“, und zeigt die Begegnung Marias mit dem auferstandenen Jesus. Um die Ecke im Querschiff bilden die Fresken einen Zyklus dieser Auferstehung ab. Teile sind nicht mehr erhalten. So altso wertvoll. Das ist die eine Formel. Die andere können wir nicht so recht nachvollziehen, die kirchengeistliche. Sie bedarf auch eines gründlicheren Studiums als wir hier je Zeit dafür hätten. Ein großes Gemälde zeigt den heiligen Augustin, weitere die Kreuzigung Christi. Wir haben keinen rechten Bezug zu diesen Ausstattungen. Was mir noch auffällt, sind die romanischen Kapitelle an den vielen Säulen. Sie erzählen ganze Geschichten. Wir verlassen das große Langhaus und – stehen St- Sernin, Romanisches Kapitell wieder im Regen. Einmal noch laufen wir auf mein Drängen um das beeindruckende Bauwerk herum. Wir beobachten die Marokkaner und ihr gemischtes Publikum beim Abbrechen ihrer Marktstände. Der Fußboden sieht überall aus, als hätte ein Orkan gewütet. Abfälle jeder Art und die Hektik und Turbulenz dieser temperamentvollen Südländer schreckten uns ein bisschen ab. Nächstes Ziel: Das Jakobinerkloster. Es liegt im ältesten Teil der Stadt, Vieux Toulouse, und hat eine wechselvolle Geschichte. Wir laufen die Rue de Taur zurück, kaufen uns jeder ein Gebäckstück oder war es ein Salatteller für jeden? Ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls schenkte uns die freundliche Frau am Stand eine Flasche Wasser dazu. Unablässig strömte der Regen. Die Straßen hier waren leer und ungastlich. Wieder waren wir froh, durch das wieder wunderbar restaurierte Tor ins Trockene zu kommen. Die Architektur des Äußeren ähnelt dem Stil der Norddeutschen Backsteingotik. Es gibt sicher Verwandtschaft. Der erste Blick galt der Kirche selbst. Einzigartig finde ich die Zweiteilung des 28 m hohen Schiffes, das nur von einer Säulenreihe geteilt wird, deren Kapitelle oben in das berühmte Palmenmotiv der Rippenbögen übergehen. Durch die Wahl von gelben Klinkern für die Decke und rot-braun-bunt gebrannten für die Rippen entsteht ein wundervoll filigranes Netzwerk. Das Toulouse, Église des Jacobines, gibt so dem Kirchenraum Eingangspforte eine heitere Leichtigkeit, in die die Wirkung der Glasfenster sich steigernd einfügt. Welche Atmosphäre muss erst einfallendes abendliches Sonnenlicht herbeizaubern! Wie die Blätter einer Palme fächern sich die Rippenbögen um den Pfeiler auf. Toulouse, Église des Jacobines, Palmenbaum- Pfeiler 2 Das Kloster der Jakobiner stammt aus der Zeit von 1229 – 1350. Das gesamte Ensemble ist ein Konvent dieses Unterordens der Dominikaner. Seine Architektur in Ziegelsteinen verwirklicht ein großartiges Beispiel der gotischen Kunst im Languedoc des 14. Jahrhundertes. Noli me tangere, „Rühr mich nicht an!“ sagt der auferstandene Jesus zu Maria, Johannes-Evangelium 20,17 © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 64 Trotz der äußeren Harmonie, die das Bauwerk ausstrahlt, verbirgt sich dahinter eine schwierige Konstruktion, die nur in aufeinanderfolgenden Bauetappen gelöst werden konnte, bis sie den Vorstellungen der Prediger- Brüder im ausgehenden 13. Jahrhundert entsprachen. Wieder drängt sich Geschichte auf, die heftigen Kämpfe in dieser Zeit, die die katholische Kirche gerade hier im Languedoc gegen die Häretiker oder Katharer oder Albigenser führten. Ich werde darauf noch eingehen. Gesamtansicht des Komplexes Jakobinerkloster: Worterklärung (von oben beginnend im Uhrzeigersinn): Glockenturm, Kirche, Kloster, Refektorium, Kapelle Sankt Anton, Kapitelsaal . Ein Verbindungsgang führt in den Kreuzgang. Doppelsäulen tragen ein überspringendes Ziegeldach, von dem jetzt das Regenwasser herabrauscht. Wir blicken in den grünen Hof, in dem ein Labyrinth von militärisch verschnittenen Buchsbaumhecken von Thuja und schlanken Zypressen ergänzt wird. Martina sucht die Toiletten. Ich mache einige Fotos. Die Kapelle sehen wir nicht. Das Refektorium ist noch bewohnt. Auch dieses Kloster hat wertvolle Reliquien. Hier ruhen wieder die Gebeine des heiligen Thomas von Aquin3. Hier wird ein Protokoll der Sitzung vom 21.10.1974 aufbewahrt, die in der Basilika St- Sernin abgehalten wurde. Es ging um die Anerkennung der heiligen Reliquien des Thomas von Aquin anlässlich ihrer Übertragung in die vor kurzem restaurierte Kirche. Seine Gebeine ruhen in einem Kasten. Der Kasten ist aus schwarzem Ebenholz, das mit zwei Schlössern ausgestattet ist. Auf dem Deckel sind die Wappen der Familie der Grafen von Aquin festgemacht. Zwei Doktoren haben damals das Inventar der Gebeine durchgeführt, von dem es unter ihrem Diktat die folgende Aufzählung gibt: - Linkes Schulterblatt - humérus und cubitus links, - sieben Wirbel (nämlich der Atlas, drei zervikal, darunter das Siebte, zwei Brust-, ein Lenden-.) - Os iliaque links - Sacrum, - Linker Oberschenkelknochen und gerader Oberschenkelknochen, - Ein Tibia und ein Wadenbein links. Zusammen sind es neunzehn Gebeine. 3 Thomas von Aquin, Theologe und Philosoph, „Doctor communis“, „Doctor angelicus“ genannt, Heiliger, * um 1225 Roccasecca bei Aquino, † 7. 3. 1274 Fossanova; Grafensohn, Dominikaner, studierte u. a. bei Albertus Magnus in Köln; lehrte 1252-1259 in Paris, 1259-1268 in Italien, 1269-1272 erneut in Paris, seit 1272 in Neapel. Thomas von Aquin war in erster Linie Theologe. In der Bibelerklärung bemühte er sich um ein sachliches Verständnis der Hl. Schrift unter Einbeziehung der Überlieferung der Kirchenväter. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 65 Wir erfuhren noch etwas aus der wechselvollen Geschichte des Jakobiner- Klosters. Das Unglück begann im 18. Jahrhundert. Die Dominikaner veränderten 1770 die Fassade, um ein niedriges Gebäude anzubauen, das danach bis zum Jahre 1964 die kleinen Klassen des Gymnasiums beherbergte. Die Revolution 1789 schloss das Kloster; das Imperium teilte es 1810 der Stadt Toulouse als Eigentum zu; Napoleon Bonaparte quartierte die Armee hier ein, die sofort die Seitenkapellen abriss und begann, ins Schiff und ins Kloster etwa 5.000 Kubikmeter Erde zu transportieren, um es mit den Wohnungen an der Straße in eine Ebene zu stellen. Das Gebäude schien edel genug, um die Pferde aufzunehmen. Die Kapelle Saint-Antonin musste für eine Veterinärambulanz herhalten. Die Paradepferde wurden in den Kapellen eingestellt, und damit sie ihre Bequemlichkeiten hatten, installierte man in halber Höhe einen Boden, nachdem man die Fenster zerstört oder zugemauert hatte. Das Kloster, das die Bewegungen der Pferde behinderte, wurde zu drei Vierteln abgerissen. In 1845 schrieb Mérimée4: „Als ich sah: mehr als fünf hundert Pferde, die ihren Hafer fressen und genau soviel Kanoniere, und anderes, was ich nicht wage, zu sagen. Trotz der Pferde und der Männer ist die ganze Kirche (trotzdem) noch von einer bewundernswerten Konservierung.“ Ich habe diese Infos nur von einer miesen Automatenübersetzung. 1865 stimmte das Kriegsministerium zu, mit der Stadt zu tauschen. Um Kasernen zu bauen, gab es gegen umfangreiche Ländereien die Klostergebäude zurück. Vieles war zerstört und verschwunden, der Boden des Schiffes, die Bögen der Kapellen waren zerstört oder eingemauert, das Gewölbe des Kirchturms war nicht mehr vorhanden. Doch das Gebäude überlebte. Die Ziegel schienen dauerhaft. Man hatte wie für Saint-Sernin und Heilig- Nicolas der Manie Tünche geopfert. Die alten Malereien, die Fresken in der Kapelle Saint-Antonin waren verschwunden. Der Decke drohte Ruin, und die hohen Teile der Strebepfeiler zersplitterten sich; die Möbel waren zerstört oder zerstreut worden; die Kupferbrüstung einer der Kapellen war 1793 geschmolzen worden, der 1795 abgerissene Pfeiler des Kirchturms, die bronzene Grablege des Bischofs Raimond Falgar, die Grabplatte von Jean de Bernuy waren verschwunden. Die Baustelle wurde im Jahre 1920 eröffnet, die Bauarbeiten durften trotz vieler finanzieller Wechselfälle nicht mehr unterbrochen werden. Die Fortschritte zum Beginn waren wie die Mittel bescheiden…Soweit der Bericht der Jakobiner heute im Internet. Was ich selber sah, konnte sich sehen lassen. Wir mussten wieder weiter. Mich drängte es, in der restlichen Zeit den Weg zur Garonne zu suchen. Ein Handzettel mit Plan der Altstadt diente zur Orientierung. Regen immer noch. Ungemütliches Wetter. Keine Stadt der Welt macht da den freundlichsten Eindruck. Dann standen wir auf dem Pont St. Pierre, einer modernen Brücke aus Stahl und Beton mit nüchternem Geländer und schönen Doppel- Kandelabern. Stromaufwärts sahen wir die alten Steinbögen von Pont Neuf. Sie wurde in der Zeit von 1543 – 1614 gebaut und ist die älteste Brücke der Stadt. Nach der anderen Seite sah ich den Pont des Catalans, auch eine Bogenbrücke, aber jüngeren Datums. Vom Canal du Midi, der hier in Toulouse in die Garonne mündet, sehe ich nichts. Dann zwingen uns Zeit und Regen zur Umkehr. Uns fällt auf: Heute ist autofreier Sonntag. Autofreier Sonntag Mérimée, Prosper, Pseudonym: Clara Gazul, französischer Schriftsteller, * 28. 9. 1803 Paris, † 23. 9. 1870 Cannes; er war Inspektor für historische Denkmale unter Napoleon III. 4 © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 66 Unsere Grünen würden jubeln. Polizisten sperren mit Akribie ab: „Rue barrée. Journée sans voiture.5“ Steht auf den Schildern vor den kleinen Straßen, die in die innere Altstadt führen. Auf etwas anderem Wege finden wir wieder durch kleine menschenleere, regennass blinkende Gassen zur Place du Capitole zurück. Es gibt gegenüber dem Kapitol einen wunderbaren Arkadengang mit einem Café neben dem anderen, wo man trocken auch draußen sitzen kann. Hier sitzen sie alle, die sonntäglichen Ausflügler und schauen auf den leeren Platz wie auf eine riesige Arena, in der allerdings jetzt absolut nichts los ist. Schaut man aber in den Arkaden unter die Decke, dann entdecke ich wundervolle Gemälde, Darstellungen moderner Künstler mit den unterschiedlichsten Sujets. Wir gehen durch einen kleinen Park –trotz Regen. Wann kommen wir schon wieder hierher? Am Parkrand, dicht bei einer Haltestelle der Straßenbahn und einem U-Bahn- Niedergang, entdecke ich ein Denkmal aus rötlichem, schwarz gesprenkeltem Granit. Eine runde Bronzeplatte ist eingelassen. Ein Relief zeigt ihn als jungen französischen Offizier: General Charles de Gaulle (1890 – 1970) Libérateur de la France6. Mit goldener Schrift ist in den Granit gemeißelt7: Fondateur de la France libre Chef de la Résistance Président du Gouvernement Provisoire de la République 1943 – 1946 Président de la République 1959 - 1969 Die Besetzung des Landes durch die Hitlerdiktatur kommt mir in den Sinn. Was hat das französische Volk unter den Deutschen leiden müssen. Unsere Väter und Großväter mussten es als Feinde betrachten. Heute dürfen wir, die Söhne und Enkel, in diesem Lande zu Gast sein. Ich werde immer daran denken, wie meine Großmutter von dem französischen Kriegsgefangenen in ihrem Dorfe gesprochen hat. „Die fressen bei uns die ganzen Katzen weg!“, hieß es, und mir lief als kleiner Junge ein Schauer über den Rücken. Ich muss an die Deportation der Juden aus Frankreich denken, über die ich aus ungezählten Romanen und Filmen erfahren habe. Über die Verfolgung der Widerstandskämpfer, eben jener Angehörigen der Résistance, die gegen Hitler und seine regulären Truppen kämpften und von den Deutschen gnadenlos verfolgt und getötet wurden. Ich denke auch an die zahllosen „Kolporteure“, wie es damals hieß, die sich mit Hitlerdeutschland im besetzten Gebiet arrangierten, ums Überleben arrangieren mussten. Wie sie durch die eigenen Leute nach Kriegsende in Frankreich verfolgt und massakriert wurden. Heute bewundere ich dieses großartige Land und kann mir nicht vorstellen, wie und mit welcher Berechtigung die Deutschen hier gehaust haben. Ich fürchte nur, die Jungen heute haben das alles vergessen oder sich überhaupt nicht dafür interessiert. So vergehen zwei, drei Generationen, und dann ziehen sie wieder mit Gebrüll in neue Kriege und verbluten für andere. Oder was noch viel schlimmer ist, für bloßes Geld. Um nicht gleich wieder am Bus zu sein, riskieren wir in Eile einen Umweg, ein Stück die Rue d’Asace-Lorraine hinunter. Herrliche Bürgerhäuser beeindrucken mich durch ihre fast durchgehenden schmiedeeisernen Balkonreihen. An einer 5 Rue barrée. Journée sans voiture. Straße gesperrt. Autofreier Tag. Libérateur de la France, frz. Befreier Frankreichs 7 Fondateur…frz. Gründer des freien Frankreich, Führer der Widerstandsbewegung, Präsident der provisorischen französischen Republik 1943-1946, Präsident der Republik Frankreich 1959-1969 6 © Rolf Bührend, Februar 2005 13.40 Uhr Seite 67 Straßenecke prangt ein Turm über der Ecke, halb von einer seltsamen 24- Stunden- Uhr verdeckt, wie ich sie noch nicht sah. Wunderbare Architektur. Sie fällt wahrscheinlich auch in die Gründerzeit um die Jahrhundertwende zum 20. Jh. Am Sammelplatz waren noch 10 Minuten Zeit. Die Place Wilson ist von einem grünen Rondell geschmückt, an dessen Rand im Grün der Anlage ein weißer Gedenkstein steht. Er ist einem Armand Silvestre gewidmet, einem – wie man so sagt – großen Sohn der Stadt Toulouse. Er steht nicht in meinem „Nouveau Petit Larousse8“. Also eine Provinzgröße, ein Stadtvater, ein Geldgeber oder Stifter. Wer weiß es. In der Mitte plätschert ein Brunnen mit einem Denkmal aus weißem Marmor: Auf einem Felsen ruht sich ein Mann aus, den einen Unterarm locker aufs rechte Knie gelegt. Mit der linken Hand stützt er sich auf ein Buch und den Stein ab. Zu seinen Füßen ruht ein Knabe oder ein Mädchen, das in manieristischer Haltung mit dem Kopf auf einem Tonkrug liegt, den Arm über den Kopf. Sein breitrandiger Hut liegt neben ihm. Sein Gewand weist ihn mindestens zurück ins 17. oder 18. Jahrhundert. Sein aufgeknöpftes Wams hat einen breiten Schulterkoller. Er trägt unter dem Knie gebundene Pluderhosen. Alles an ihm ist entspannt. Es ist ein Moment festgehalten, in dem er eine Idee hat, einen guten Gedanken. Sein Gesichtsausdruck über seinem gezwirbeltem Henri- QuatreSchnurrbart ist fast freundlich zu nennen, abwesend, versonnen, versunken. Auf Hut und Kopf sitzt je eine Krähe, Ausdruck der Negation. Stein ist Stein, wie er auch geformt ist. Die Natur geht über Toulouse, Denkmal an der Place Wilson Menschenwerk hinweg, als wäre es ein Dreck. Das gibt mir alles zu denken. Ich überlege, wer es sein könnte. Der Maler Toulouse- Lautrec ist in Albi geboren, hat hier nur gelebt und ist verkrüppelt gewesen. Wer war es? Irgendein Wilson? Indessen muss ich mir noch ein 50- Cent- Stück besorgen, um in eine automatische Toilette zu gelangen, die mir ein menschliches Rühren erleichtern hilft. Die Leute im Bus sind alle schon versammelt, schauen undurchdringlich, als ich als Letzter einsteige. Es regnet immer noch. XVIII. Carcassonne E ine langweilige Autobahnfahrt auf der A61 Toulouse- Narbonne ist zu absolvieren. Conny erzählt uns vom „Land der Katharer“. Sie will uns auf einen weiteren Höhepunkt unserer Reise vorbereiten – auf Carcassonne. Was ist das für ein Ort? Natürlich bin ich wieder auf französischen Internetseiten gewesen und habe in der Geschichte gegraben. Es regnet ganz fein, als wir an einem Autobahnhaltepunkt parken und unsere Gesundheitspause halten. Ich steige den 8 Nouveau Petit LAROUSSE, französisches Wörterbuch und Lexikon für alle, Librairie Larousse Paris, 1968 Carcassonne im Regendunst, von der Autobahn gesehen © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 68 kleinen Hügel hinauf und sehe in der Ferne, schemenhaft, im Dunstschleier dieses trüben, verregneten Nachmittages die Altstadt von Carcassonne liegen. Zauber des ersten Eindruckes: Wie eine verwunschene Welt, so drängen sich hinter riesigen Mauern Turmblöcke, Dach- und Kirchenspitzen ins milchige Grau, unwirklich. Vor uns, auf Schildern, typografisch wetterfest in Aluminiumtafeln geprägt, erfahre ich die ersten Informationen, in der fremden Sprache natürlich, über die Geschichte von Carcassonne. Ich habe sie fotografiert und zu Hause übersetzt: Die Stadt Carcassonne ist konserviert. Lese ich. Später sehe ich es. Es heißt: Mit seinen konzentrischen Einfriedungen, gespickt mit Türmen, dieser eines Feenmärchens würdigen Zierde, ist Carcassonne das präzise Zeugnis von zwanzig Jahrhunderten Geschichte des Languedoc. Hier muss ich einfügen, dass wir uns nun in der Région Languedoc- Roussillon befinden, und zwar im Département Aude. Die Aude entspringt in den Pyrenäen, an den Flanken des Pic Carlit (2921 m), unschiffbar und wild, durchfließt Limoux und Carcassonne und mündet nach genau 223 km bei Narbonne im Mittelmeer. Sitz der Präfektur des Departements ist Carcassonne. Ein weiteres Schild: Ein strategischer Platz. Die Stadt beherrscht das Terrain von Carcassonne, das zwischen den Pyrenäen und dem Zentralmassiv sowie der mediterranen Welt und der Welt am Atlantik die Verbindung herstellt. Diese strategische Position machte Carcassonne zu einem der wichtigsten Siedlungsplätze im Gau Narbonne. Die Belagerung von 1209: Eine Episode, die die entscheidende in der Geschichte der Stadt darstellt, war die Belagerung von 1209. Erfüllt von jugendlicher Kühnheit, engagierte sich Raymond Roger Trencavel auf Seiten der Lehnsherren, die sich gegen die Kreuzritter stellten, im Kreuzzug gegen die katharischen Ketzer. Erschrocken über das Vorrücken einer Expedition, welche immer in Massakern und Plünderungen ausartete, waren die Bauern der Umgebung mir ihrem Vieh gekommen, um sich in die Stadt zu flüchten. Am 1. August näherten sich die Kreuzritter der Stadt zu Fuß und schnitten alle Möglichkeiten der Lebensmittelversorgung ab. Die Bevölkerung wurde nun durch Durst dezimiert. Nach 14tägiger Belagerung verließen die Bewohner die Stadt, all ihre Habe zurücklassend. Trencavel wird in das Gefängnis gesperrt und stirbt einige Monate später, in seinem eigenen Schloss. Simon de Montfort, Anführer der Kreuzritter, nimmt von nun an Carcassonne in seinen Besitz und verfolgt Vertreibung der Albigenser aus Carcassonne, weiterhin die Ketzer… Miniatur aus dem 14. Jh. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 69 Auf dem nächsten Schild werde ich weiter eingeführt: Carcassonne in der Art, wie wir es heute sehen, ist die gigantische Festung, wie sie königlich im 13. Jahrhundert vollendet wird, zur Kontrolle einer Region und aller, die kommen werden, sie sich einzuverleiben. Enorme Festungsanlagen sind realisiert worden: Die einfachen Einfriedungen wurden aufgestockt und durch einen zweiten Mauerring von über einen Kilometer Länge ergänzt. Der Abschnitt am Narbonner Tor, am sanften Abhang und andere verwundbaren Stellen wurden teilweise verstärkt. Die sich an den Burgwall drängenden Marktflecken wurden geschleift und eine Unterstadt am anderen Ufer der Aude gegründet. Ironie der Geschichte: Die Wirksamkeit der Festung ist nie auf den Prüfstein gestellt worden. Das letzte Schild spricht: Die Hauptwerke wurden bis zum 19. Jahrhundert lückenhaft und abgerissen. Die Stadt spielte keine militärische Rolle mehr. Fehler der Instandhaltung waren auf die Nutzung als Steinbruch zum Bauen zurückzuführen. Es ist Prosper Mérimée (s.S. 66), Generalinspekteur für Denkmale, zu verdanken, dass Carcassonne gerettet wurde. Sein Freund, der Architekt Viollet-le-Duc (1814 – 1879) hat die Restauration dieses Flächendenkmals begonnen und arbeitete daran bis zu seinem Tode. Heute kann man diese Stätte von der Autobahn aus bewundern, wenn sie am Horizont erscheint. Wir parken unterhalb der Mauer, spannen unsere Regenschirme auf und steigen den Hügel hinan zum Narbonner Tor, das von zwei mächtigen Rundtürmen flankiert wird. Ohne Führung beginnen wir nun von hier in dem mittelalterlichen Städtchen, das noch heute von etwas über 150 Leuten bewohnt ist, den Entdeckungsrundgang. Ich werde meine wenigen Eindrücke noch schildern, doch man erlaube mir, hier einen Bericht einzuschieben, der uns diesen Mauern und ihrer Geschichte schnell viel näher bringt: Die Altstadt Carcassonne Eine Festungsstadt aus dem Mittelalter. Nach einer Stunde Fahrt vom Mittelmeer her in der Provinz Aude wird der Besucher, der sich auf der 9 Autobahn der «Deux Mers » befindet, nach dem Verlassen eines kleinen Tals, plötzlich die kolossale Festung aus dem Mittelalter auftauchen sehen: die Stadtburg Carcassonne streckt hoch über den Weinbergen ihre Türme und hohen Mauern, sowie tausend Jahre Wehrbaukunst empor. Die mittelalterliche, immer noch bewohnte Stadt wird von zwei konzentrischen Festungswerken in Ovalform eingeschlossen: 1650 Meter in äußerem Umkreis, 1250 Meter innere Festungsmauern. In der Stadt selbst erhebt sich die herrschaftliche Burg, das Grafenschloss (Château Comtal) in einem Quadrat 2 von 80 x 40 m . Die Gesamtheit der Festung besteht somit aus 3 km Mauern, die mit 52 Türmen und vielen Schießscharten versehen sind. Die Stadt öffnet sich zum Lande hin durch vier Tore, die wie in einem römischen Lager in den vier 10 Himmelsrichtungen liegen. Dem Haupttor im Osten (Porte Narbonnaise ), von zwei großen Zwillingstürmen beschützt, geht ein Graben voraus, der vor der äußeren Mauer verwirklicht wurde. Der Graben ohne Wasser kann heute mit Hilfe einer doppelten Zugbrücke überschritten werden. Dies ist der zugänglichste Teil der Stadt; für den Rest des Umkreises bietet der Steilhang der Hügel einen ersten natürlichen Schutz. Von der Höhe ihres Hügels überragt die Stadt das Tal der Aude über dem Punkt, wo der Fluss von der natürlichen Linie überquert wird, die den Atlantik mit dem Mittelmeer verbindet. Die «Celtibères» (Iberischen Kelten), seit dem 6. Jh. vor unserer Ära, sowie die «Volques Tectosages» (Bevölkerung des Alten Roms und Gallobevölkerung der Gegend von Narbonne) seit dem 4.Jh. v. Chr. haben hier an diesem strategischen Punkt eine Zitadelle errichtet und entwickelt, um die Furt über den Fluss zu beherrschen. Im ersten Jahrhundert verstärken dann auch die Römer den Hügel, der eine Zeitlang ein Festungsvorposten des Landes um Narbonne sein wird. Von diesen ersten Befestigungen sind nur noch wenige Spuren vorhanden. Die Geschichte, die wir in diesem herrlichen „Steinbuch“ lesen können, beginnt erst im 4.Jh. Tausend Jahre Wehr- und Ordensbau 9 Deux Mers, frz. zwei Meere, gemeint sind das Mittelmeer und der Atlantik La Porte Narbonnaise, frz. Narbonner Tor 10 © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 70 Vier bedeutende Entwicklungsperioden, die sich über tausend Jahre erstreckten - vom 4. bis zum 14. Jh. - haben diese Stadt geprägt, die wir heute entdecken. Während des Spät- Empire, im 4. Jh., bauten die römischen Gallier eine Festungsmauer, die so ungefähr dem Umriss der heutigen inneren Stadtmauer entsprach; diese Stadtmauer mit einigen ihrer Türme ist teilweise bis heute erhalten geblieben (beinahe 1/3 der ehemaligen Länge). Das galloromanische Festungswerk wird durch Verwendung eines Mauerverbandes in kleinem Ausmaß und durch Mauerausgleichsschichten aus rotem Backstein charakterisiert. Die Türme im Abstand von je 15 Metern sind flach gegen die innere Seite des Platzes und abgerundet gegen das offene Gelände, die Wölbungen der Fenster und Türen sind aus Backstein. Während der Feudalzeit, im 12. Jh. und ganz zu Beginn des 13. Jh., baute die mächtige Familie der Vizegrafen Trencavel, Gutsherren von Béziers und Carcassonne, das Schloss in der Stadt an der höchsten Stelle des Hügels, ließ die damals einzige Stadtmauer ausbessern, die Festungsmauer, die von den römischen Galliern stammt. 2 Die herrschaftliche Festung, ein großes Viereck von 80 x 40 m , beherbergt den Grafenpalast und wird von der Innenseite der Stadt durch einen Graben abgetrennt. In der Mitte des 13.Jh., nach dem blutigen Kreuzzug gegen die Albigenser (1209) und dem Anschluss der 11 Vizegrafschaft von Carcassonne (1226), bauen Blanche de Castille und der Hl. Ludwig die äußere Stadtmauer; dieses neue Schutzwerk wird nun völlig die galloromanische Festungsmauer einschließen, um sie zu schützen und die Instandsetzung dieser alten Festungswerke aus dem 4. Jh., die baufällig geworden waren und den Anforderungen der Verteidigung des 13.Jh. nicht mehr genügten, zu ermöglichen. Am Ende des 13. Jh. unternimmt Philippe III., genannt 12 der Kühne , im Schutz der äußeren Stadtmauer, die sein Vater kaum beendet hatte, den Wiederaufbau des galloromanischen Festungswerks, die von da an innere Mauer. Der Sohn von Ludwig IX. wird daher mehr als zwei Drittel des Bollwerks des 4.Jh. abreißen und wiederaufbauen lassen. Dieser herrliche Bau mit den Türmen und furchterregenden Festungsmauern wird durch Verwendung von Vorsprungssteinen charakterisiert. Die Wehrkunst dieser Epoche erreicht die Vollendung, und jeder Turm bildet ein Zu Anfang des 14. Jh. ist die Stadt Carcassonne beendet: Nichts Beträchtliches wird nach dieser Epoche zu ihrer Verteidigung hinzugefügt. Seither hat die Stadt Carcassonne außer einigen Einzelheiten das Aussehen von heute. Aus diesem von der Sonne bestrahlten herrlichen Schmuckkästchen, das von den Festungswerken der Stadt gebildet wird, erhebt sich ein von Edelsteinen erleuchtetes Juwel: die Basilika St. Nazaire, ehemalige Kathedrale von Carcassonne. Das romanische Kirchenschiff aus dem 12.Jh. mit wuchtigen Säulen passt sich in schöner Harmonie einem Chor und Querschiff im gotischen Stil an und wird von Carcassonne. In der Basilika Saint Nazaire wunderbar bemalten Kirchenfenstern aus dem 14. und 16.Jh. erleuchtet. Die Apsis von St. Nazaire, die mit ihren vielfarbigen Lichtern die mit kompakten Statuen verzierten Säulen beleuchtet; erinnert an den Chor der Sainte Chapelle in Paris. Ab 1844 beschäftigen sich Cros- Mayrevieille und Viollet-le-Duc mit der Rettung und Restaurierung dieser Kathedrale, die durch die Darstellung des romanischen und gotischen Stils in solch harmonischer Einheit eine der sonderbarsten von Südfrankreich ist. Die geschichtlichen Ereignisse 11 Louis IX. oder Saint Louis, der Heilige Ludwig, König von Frankreich von 1226-1270, Sohn von Ludwig VIII. und Blanche von Kastilien 12 Philippe III. le Hardi (1245-1285), Philipp der Kühne, König von Frankreich 1270-1285 und Nachfolger von Ludwig IX. Er holte mit seiner Krönung die Grafschaft von Toulouse zur Krone. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 71 Im Verlauf der Jahrhunderte, während die Bauformen das Aussehen der Landschaft prägte, haben die geschichtlichen Ereignisse die Menschen und ihre Kultur geformt. Die Stadt wurde auf einem ähnlichen Hügel wie dem heutigen im 8. oder 7. Jh. vor unserer Zeit gegründet und lag 2 km im SW über dem Fluss Aude (auf der Höhe von Mayrevieille). Es handelte sich damals um eine Zitadelle, die von einer Erdmauer umgeben war, der am zugänglichsten Teil ein Graben vorlag. Diese bedeutende «Siedlung» sollte die Furt über die Aude überwachen: Ihr Name: Karsac. Im 6. Jh. v. Chr.: Das Siedlungsgebiet wird auf den heutigen Hügel «versetzt», vielleicht wegen der Verschiebung der Furt. Diese neue Stellung wird nun auch verstärkt, während die alte Zitadelle als Viehpferch benützt wird. Im 4. Jh. v. Chr.: stammen die Menschen, die dort leben, vom keltischen Stamm der «Volques Tectosages» (Bevölkerung des Alten Roms und Gallobevölkerung der Gegend von Narbonne) ab; die Stadt heißt nun Carcasso. 118 v. Chr.: Die Römer gründen die Provinz der Narbonnaise, wozu auch Carcasso gehört. Im 1. Jahrhundert: Bau eines römischen Castellums (?) Ende des 3. und 4. Jh. : Bau des galloromanischen Festungswerks (teilweise heute noch sichtbar) Im 5. Jh.: Die Westgoten dringen in die romanische Provinz der Narbonnaise ein und ergreifen Besitz von der Stadt, über welche sie drei Jahrhunderte lang Herrscher bleiben. Gegen 725: Jetzt besetzen die Araber das Land 34 Jahre lang (siehe: Dame Carcas) Gegen 759: Die Franken von Pippin dem Kurzen erobern Carcassonne; ein fränkischer Graf wird zur Verwaltung der Gegend beauftragt. Aus der Zerstückelung des fränkischen Reichs entsteht der Feudalismus, wo drei Grafendynastien an der Spitze der Grafschaft folgen werden. 1.August 1209 - 15.August 1209: Belagerung der Stadt Carcassonne durch die Armee der Kreuzfahrer gegen die Albigenser. Trotz des heroischen Widerstandes des Raymond-Roger Trencavel, Vizegraf von Béziers und Carcassonne, wird die Stadt besetzt und der junge Prinz gefangen genommen. Simon de Montfort wird zum Grafen von Carcassonne proklamiert 10. November 1209: Raymond-Roger Trencavel stirbt in seinem eigenen Schloss als Gefangener des Simon de Montfort. 1226: Die Vizegrafschaft von Carcassonne- Béziers- Albi- Razès wird faktisch der Krone von Frankreich angeschlossen, nach dem Abtreten des Amaury de Montfort (Sohn des Simon) 1240: Belagerung der Stadt durch Raymond Trencavel (Sohn des Raymond-Roger), um die Wiedereroberung des Landbodens seiner Ahnen zu wagen, Misserfolg 1246: Raymond Trencavel tritt öffentlich von der Vizegrafschaft zurück zugunsten Louis’ IX., des Königs von Frankreich 1247 - 1260: Gründung der unteren Stadt, wohin sich die Handwerker- und Handelsaktivität verlegt... und später die politische, wirtschaftliche und ordensgeistliche Aktivität. 1335: Zu Beginn des Hundertjährigen Krieges zerstört Edward, Prinz von Gallien, der Schwarze Prinz genannt, die untere Stadt, greift aber die Altstadt nicht an. 16. und 17.Jh.: Die Religionskriege verursachen etliche Unruhen, wirken sich aber kaum auf Carcassonne aus, das trotz allem dem König und der katholischen Kirche treu bleibt ... bis zur Revolution!! 1793: Die Revolution verbrennt die Archive, beseitigt die Schlosskapelle, vernichtet die Kirche der Pfarrgemeinde St. Sernin und die Abtei der Domherren von St. Nazaire. Die Kathedrale wird verschont, da sie von der Armee als Viehfutterscheune benutzt wird. 1844 : Beginn der Restauration von St. Nazaire durch Viollet-le-Duc auf Anregung von Jean-Pierre CrosMayrevieille hin. 1852 : Beginn der Restauration der Stadt Carcassonne durch Viollet-le-Duc nach der positiven Aktion von Cros- Mayrevieille und Prosper Mérimée. Verfall und Restauration Bis zum 17. Jh. wird Carcassonne eine Furcht erregende und gefürchtete Festung bleiben bis zum Anschluss des Roussillon an Frankreich im Jahre 1659. Bis dahin ist Carcassonne die Grenzstadt des Königreiches Frankreich gegen Aragonien und dann gegen Spanien. Da sich durch den Vertrag der Pyrenäen die Grenze verschiebt und sich die Artillerie verbessert, verlieren daher die Festungsmauern ihre Bedeutung und deren Vernachlässigung ist in Gang. Schon im 18. Jh. reißen die Bewohner der Stadt Steine aus den Schießscharten, um ihre Häuser damit zu bauen. Im 19. Jh. wäre die Stadt langsam verschwunden, weil Turm um Turm und Mauer um Mauer als Steinbruch verkauft wurde (daher wurde auch die Schießscharte der Aude im Jahre 1816 abgerissen). Es gelingt einem lokalen Historiker Jean-Pierre Cros-Mayrevieille und Prosper Mérimée durch ihr persönliches Einschreiten beim Parlament und bei Prinz Louis Napoleon Bonaparte, die Stadt zu retten, und man gewährt ihnen Kredite für die Restauration. Dem berühmten Architekten Viollet-le-Duc (1814 - 1879) wird diese Rettungsarbeit anvertraut, die fast ohne Unterbrechung von 1852 - 1910 fortgesetzt wird. Diese Arbeiten betrafen hauptsächlich die Wiederinstandsetzung der Schießscharten, der Spitzen einiger Türme und der Dächer, ungefähr 10% des Totalvolumens der Maurerarbeiten; es heißt, daß diese Restauration gerade in dem Augenblick © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 72 ausgeführt wurde, wo noch alles gerettet werden konnte, ohne daß es nötig war, einen Wiederaufbau durchzuführen und neue Ideen zu suchen. Heute sehen wir daher Festungswerke aus dem Mittelalter, die, wenn auch nicht in der ganzen Welt, so doch zumindest in Westeuropa, einzigartig sind. Mich hat die Geschichte dieser Region in seinem Bann. Sie greift hinein in die bewegte Zeit der Kreuzzüge, die oft nur aus deutscher Sicht eingehender dargestellt werden. Hier in diesem Gebiet entstand eine neue Religion, der Katharismus. Hier kämpften Christen gegen Christen, Christen gegen Mauren und Araber. Dem interessierten Leser seien jetzt zunächst vorgestellt die Hauptpersonen in den überlieferten Dramen: Herrscherhäuser der Grafen und Vizegrafen von Carcassonne (vereinfachte Darstellung) Nach dem Tode von Karl dem Großen 814 werden sich die Lehens- Grafen nach und nach von der königlichen Autorität loslösen und sich das von ihnen verwaltete Gebiet aneignen, um somit selbständig zu werden: Titel und Ländereien werden erblich. Es entsteht das Feudalsystem. 1. Dynastie Oliba Graf gegen 820, scheint der 1. Erb- Graf von Carcassonne zu sein. gegen 943: Gräfin von Carcassonne, heiratet Arnaud de Comminges et Cousserans 2. Dynastie Arnaud Graf von Carcassonne Comminges et Cousserans. Roger Le Vieux (949 - 1012), Graf von Carcassonne, Comminges et Cousserans. Raymond-Roger: Graf von Carcassonne, heiratet Rangarde, Erbin von Béziers. Ermengarde: Erbin von Carcassonne und Béziers (verstorben 1105) heiratet Raymond Trencavel, Graf von Albi. 1067 – 1083 Interregnum der Grafen von Barcelona, an die Ermengarde Carcassonne verkauft hatte 3. Dynastie Bernard-Aton Trencavel (Sohn der Ermengarde), Vizegraf von Carcassonne, Béziers, Albi und Razès (gewinnt Carcassonne im Jahre 1083 wieder zurück). Raymond-RogerTrencavel (Urenkel von Bernard): 1185 - 1209, Der unglückliche Held des Kreuzzuges. Raymond Trencavel 1207 - 1263: Urheber des Versuches der Wiedereroberung 1240. Nachdem der Asche der Besitzer Carcassonnes gedacht wurde, die dort über 450 Jahre Provinzgewalt ausübten, müssen nun auch einige Zusammenhänge beleuchtet und ins grelle Licht gerückt werden. Es ist spannend wie ein Krimi! Man darf dabei nie das leidende Volk vergessen! Der Katharismus und der Kreuzzug Im Laufe des 11. und 12. Jh. entwickelte sich im Süden Frankreichs eine neue Religion, der Katharismus. Diese Religion ist für die römische Kirche eine Irrlehre. Die Katharer und Albigenser halten sich an zwei wesentliche Prinzipien: Gott und Satan, aus denen der Mensch hervorgeht: Der Geist des Menschen ist das Werk Gottes; der Körper, wie jede Materie, ist das Werk Satans. Die Erde, das Reich Satans. ist daher die Hölle, aber nur vorübergehend, da sie am Ende der Welt vernichtet wird. Der Mensch kann durch mehrere Reinkarnationen gerettet werden. die ihn nach und nach zur Vollkommenheit und zum ewigen Leben führen. Zu Beginn des 13.J h. ist der Süden Frankreichs auf dem Weg einer progressiven allgemeinen Bekehrung zum Katharismus; alle sozialen Schichten sind von dieser Irrlehre betroffen. Die katharischen Prinzipien dringen allmählich sogar in die Gewissen der Katholiken und gewisser Priester ein. Nach dem Versagen der Ermahnungen, vor allem denen des HL Dominikus und der Ermordung des päpstlichen Legats Pierre de Castelnau durch einen Mann der Grafschaft von Toulouse, brach der Kreuzzug aus. Nach dem Aufruf des Papstes Innozenz III. bilden die Herrscher des Nordens eine Armee, die den Süden überfällt. Die Vizegrafschaft von Carcassonne- Béziers erhält den ersten Schlag des Kreuzzuges: das Blutbad von Béziers und die Eroberung von Carcassonne (1209) stellten die ersten blutigen Episoden dieses Religionskrieges dar, der zwanzig Jahre dauerte und der schnell zu einem Eroberungskrieg wurde... Die Ermordung 1208 von Castelnau, Archidiakon von Fontfroide, hier liegend, wird der Vorwand des Kreuzzuges sein. St. Dominique, rechts, segnet die Leiche von Pierre von Castelnau, an seiner linken Seite der Bischof von Toulouse und, © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 73 mit dem Kreuz, Simon von Montfort. Das Ergebnis daraus wird der endgültige Anschluss der Vizegrafschaft von Carcassonne 1246 an die Krone Frankreichs und 1271 der Anschluss der Grafschaft von Toulouse. Diese Religion hat ihre weiten Ursprünge im Orient, in Persien, während des 6. Jh. v. Chr.: Der «Mazdeismus» lehrt die Existenz von zwei Göttern: der Gott des Lichtes oder Gott des Guten - Mazda und der Gott der Nacht oder des Bösen - Abrimen. Im 3.Jh. unserer Ära verfasst Manès, ein persischer Philosoph, eine Synthese vom Mazdeismus und vom Christentum: der Manichäismus». Diese Religion wird sich ausbreiten und weiter entwickeln, und nach einer gewissen Zeit entsteht der Katharismus. Die Rituale der Katharer im 11. – 13. Jahrhundert Das Wunder des Feuers. Wenn schon nicht die Gewohnheiten aus der Epoche, man wird im Gedächtnis behalten, wenn man ein Bild aus dieser Zeit sieht: Der Heilige Dominique13 von den Albigensern14 widersteht der Prüfung durch das Feuer. Der entscheidende Moment für einen Katharer ist die „Heilige Tröstung“, mit der ihm das ewige Heil zugesichert wird. Dieses Ritual wurde durch die Vollkommenen an den Getreuen als bewussten Beistand zum Tode praktiziert. Diese Heilige Tröstung ersetzt also die Sakramente der Katholiken. Die katharischen Priester sind leicht an den langen Haaren und am Bart wiederzuerkennen. Sie waren dunkel bekleidet und trugen eine Art Toga oder die Rundhaube. Die katharische Lehre befürwortet die Zurückholung des feudalen Systems, die Zahlung von Steuern, die landesherrliche oder königliche Justiz. Die Katharer hatten keinen (festen) Ort für den Kult, wenig Sakramente und lehnten Eucharistie ab. Es war eine wandernde Geistlichkeit, die die Sakramente aushändigte und die Texte vorlas, in den Häusern, den Schlössern und auf den Plätzen der Siedlungen. Die rituellen Enthaltsamkeiten Enthaltsamkeit, vegetarische Kost, Gewaltlosigkeit, Armut, geübt an der öffentlichen Rede, in der Predigt. Instruiert von den heiligen Texten, geben die Katharer die Regeln vor. Der Vollkommene muss die Enthaltsamkeit von Fleisch respektieren, sich jeden Geschlechtsverkehres enthalten, nur Eier und Milchprodukte konsumieren. Der Fisch wird erlaubt. Er muss jedes Jahr drei Fasten von vierzig Tagen absolvieren, an denen nur Brot und Wasser erlaubt sind, und Fasten auch an bestimmten Tagen respektieren. Die Vollkommenen müssen zu zweit leben und arbeiten und müssen sich fünfmal täglich waschen. Es ist ihnen verboten, den Eid weiterzugeben. Die Metapsychose Die Katharer glauben an die Metapsychose, Wiedergeburt der Seele nach dem Tod in einem humanen Körper oder dem eines Tieres. Die Männer, die nicht getröstet worden waren, sahen also ihre Seele umherirren. Sie glaubten sich nach ihrem Tode bis zu 9mal verwandeln zu können und in einem anderen Mann, einer Frau oder einem Tier weiter zu leben. So war es also verboten zu töten, denn in jeder Seele konnten sie sich wiederbefinden. 13 Dominikus, Heiliger, * um 1170 Caleruega, Spanien, † 6. 8. 1221 Bologna; gründete 1215 in Toulouse eine Predigervereinigung, aus der der 1216 approbierte Orden der Dominikaner hervorging; wirkte besonders für die Bekehrung der Albigenser in Südfrankreich. Heiligsprechung 1234 (Fest: 7.8.). 14 Albigenser, [nach der südfranzösischen Stadt Albi], südfranzösische Sekte, Gruppe der Katharer; übten im inneren Gemeindekreis Geistestaufe (consolamentum) und strengste Askese, verwarfen die kirchlichen Sakramente, Altäre, Kreuze und Bilder, Heiligen- und Reliquienverehrung. Die mit blutiger Grausamkeit geführten Albigenserkriege (1209—1229), zu denen Papst Innozenz III. aufgerufen hatte, konnten sie nicht für die Kirche zurückgewinnen. Erst das Eingreifen des französischen Königs brach die politische Macht und die religiöse Kraft der Albigenser; die Bewegung wurde um 1330 durch die Inquisition ausgerottet. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 74 Der Weltuntergang war nicht katastrophal, aber es gab ein progressives Verlöschen. Die geretteten Seelen verließen die Erde und alle übrigen verblieben beim Satan im Nichts... Nun muss ich mich endlich wieder weltlichen Dingen zu wenden, nämlich der Dame Carcas, deren Geschichte zu kennen Pflicht ist für jeden Besucher von Carcassonne: Die Legende der Dame Carcas Im 8.Jh., während der Besetzung der Stadt durch die Araber, soll die Dama Carcas, sarazenische Prinzessin, Carcassonne (das damals noch nicht diesen Namen trug) gegen die Belagerung von Karl dem Großen verteidigt haben. Diese Belagerung hat angeblich 5 Jahre gedauert. Nach dieser langen Zeit wurde in der Festung die Nahrung knapp. Die Dame Carcas veranlasste eine Durchsuchung aller Häuser, um sämtliche Nahrungsmittel zu sammeln, die noch bei den Bewohnern sein könnten, bevor sie eine Entscheidung traf. Die Soldaten brachten nur einen Sack Getreide und ... ein Schwein, das eine alte Frau in ihrem Keller versteckt hatte, Die Prinzessin stellte sofort fest, daß es zwecklos sei, Besen- Proviant an die Bewohner der Stadt und die Garnison zu verteilen; es gäbe nicht einen Bissen für jeden und zudem würden die islamischen Soldaten kein Schweinefleisch essen. Die Dame Carcas mästete das Schwein mit dem Sack Getreide und warf es danach über die Schießscharte: Das Tier landete zu Füßen Karls des Großen, wobei das ganze Getreide, mit dem es gemästet worden war, aus seinem Bauch herausplatzte. Karl der Große war entsetzt: «Wenn es sich die Araber leisten können, die Nahrung ans dem Fenster zu werfen, dann muss wohl die Stadt reichlich versorgt sein und es wird somit unnötig, die Belagerung hinauszuziehen, die zumal schon zu lange gedauert hat». Und sofort wurde der Befehl gegeben, die Belagerung aufzuheben und ins sanfte Frankreich zurückzukehren. Aber wenn man eine Frau ist, selbst eine Mohammedanerin, gelingt es einem besser, einer Belagerung als dem Charme des Kaisers mit seinem gelockten Bart zu widerstehen!! Sicher ist, dass die Dame Carcas, als sie sah, dass sich Karl der Große entfernte, von einer großen Traurigkeit überfallen wurde, denn sie befürchtete, ihn nie mehr wiederzusehen; sie rief ihn zurück, übergab ihm ihre Stadt, und alle Glocken läuteten in vollem Schwung. Seit dieser Zeit stammt der Name: «Carcas - sonne» = „Carcas – läutet“, nämlich Karl dem Großen. Die Legende fügt noch hinzu, daß der Große Kaiser die Dame Carcas Roger, einem seiner treuen Gefährten zur Frau gab; aus dieser Ehe soll die Dynastie der Trencavel entstanden sein. Es gibt noch eine spannende Geschichte, die ich in diesem Zusammenhang loswerden muss. Zum Teil stand sie auf dem Schild an der Autobahn, doch hier sind noch interessante Details: Die Belagerung der Stadt Carcassonne vom Kreuzzug gegen die Albigenser 1. August 1209 -15. August 1209 Nachdem sie am 22. Juli 1209 die Stadt Béziers verwüstet und deren Bewohner ermordet hatten, kamen die Kreuzfahrer am 1. August vor Carcassonne an. Die Stadt und Umgebung sind auf dem Kriegsfuß, und die Festungswerke werden verstärkt, unter anderem mit den Steinen des Speisesaals und den Chorstühlen des Klosters St. Nazaire. Als Raymond-Roger vom hohen Pinte- Turm aus sah, daß sich die Kreuzfahrer niederließen, unternimmt er einen Ausbruchsversuch, wird aber von Pierre-Roger de Cabaret, einem Leutnant, Gutsherr von Lastours, daran gehindert: „Wir werden nichts tun und warten, bis sie unser Wasser angreifen.“ Am 3. August bestürmen die Kreuzfahrer den Marktflecken St. Vincent im Norden mit dem „Der Kreuzzug gegen die Albigenser“, illustriert von Moretti unter den Arkaden am Place de Capitole von Toulouse. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 75 Gesang: «Veni sancte spiritus.“ Nach einem heroischen Kampf Trencavels und seiner Treuen bleibt diese Siedlung in Händen der Angreifer, die dort ein Feuer legen. Die Kreuzfahrer ziehen gegen Südwesten vorwärts, zu Füßen des Hügels und lassen sich zwischen der Aude und der Stadt nieder, indem sie den Belagerten jeglichen Zugang zum Wasser des Flusses verwehren. Am 6. August versucht König Pierre von Aragonien, der sich als Oberherr der Trencavels betrachtete, eine Vermittlung einzuleiten: umsonst.... die Bedingungen der Kreuzfahrer waren zu hart. Am 7. August greifen die Belagerer die Schlossumgebung, die Vorstadt St. Michel an, werden aber von der entschlossenen Widerstandskraft der Carcassonner angehalten. Der Name von Simon de Montfort wird wegen einer heroischen Tat zitiert: Unter einem Hagel von Pfeilen rettete er einen seiner Männer, der verletzt im Graben zurückgeblieben war. Am 8. August wird eine Bresche in die Festungsmauer geschlagen, die den Kreuzfahrern die Eroberung der Stadt ermöglicht. In der Nacht stecken die Soldaten des Vizegrafs das Schlossviertel in Brand, damit die Franzosen sich nicht mit Steinen, Holz und Nahrungsmitteln versorgen können... Nach diesen schweren Kämpfen sind die Verteidiger erschöpft und leiden daher bei der starken Augusthitze schnell an furchtbarem Durst und Ruhr. Raymond-Roger Trencavel muss sich zu einer Kapitulationsverhandlung entschließen, die er noch für angemessen hält. Er begibt sich zum Lager der Kreuzfahrer, wo er als Gefangener zurückgehalten wird. Nach dem Verlust ihres Gutsherrn öffnen die Bewohner den Franzosen ihre Tore, diese werfen die Bewohner hinaus und ergreifen Besitz von «maßlosen Reichtümern». Eine andere Version behauptet, daß die Kreuzfahrer in die Stadt eingedrungen wären, deren Bewohner und Verteidiger sie verlassen hätten, indem sie durch die unterirdischen Gewölbe im Schloss Cabaret entflohen wären. Das war am 15. August 1209. Simon de Montfort wird durch den Legat des Papstes Arnaud Amalric zum Grafen von Carcassonne proklamiert, nachdem der Herzog von Bourgogne und der Graf von Nevers diesen Titel verweigert hatten. Simon von Montfort, der 1215 zum Grafen von Toulouse ernannt wird. Er wird getötet am 25. Juni 1218, unter einer von Frauen geschleuderten Kugel eines Katapultes. Der unglückliche Vizegraf Raymond-RogerTrencavel stirbt am 10. November 1209 als Gefangener von Simon, in seinem eigenen Schloss . Innerhalb von zwei Jahren wird Simon de Montfort die ganze Vizegrafschaft erobern und nachher die Grafschaft von Toulouse angreifen. Es folgen, man muss konsequent nun auch das noch nachlesen, weitere Kämpfe. Ich lasse noch einen zeitgenössischen Bericht hier herein, der zeigt, wie es drei Jahrzehnte unter dem Sohn von später weiterging: Belagerung der Stadt anno 1240 durch Raymond Trencavel, dem Sohn Raymond-Rogers Auszüge des Berichtes von Seneschall Guillaume des Ormes, Befehlshaber der Stadt, an die Königin Blanche de Castille. «An die Exzellenz und sehr edle Dame Blanche, durch Gottes Gnaden Königin der Franzosen, ihr demütiger, ergebener und treuer Diener, Guillaume des Ormes, Seneschall von Carcassonne, grüßt! Daß Ihre Excellenz hiermit erfahre, daß der Vizegraf (Trencavel) Carcassonne am 17. September 1240 belagert hat... wir nahmen Holz in der Vorsiedlung Gravellant (das Viertel der Schießscharte), was uns sehr wohl tat. An demselben Tag nahmen uns die Feinde eine Mühle (die Mühle des Königs, die immer noch existiert) ... An einer anderen Seite; zwischen der Brücke und der Schießscharte des Schlosses (die Schießscharte der Aude wurde im Jahre 1816 zerstört) waren viele Feinde mit derart vielen Armbrustschützen eingedrungen, daß somit niemand mehr aus der Stadt heraus konnte... Sie montierten ihre Kriegsmaschine gegen die Schießscharte und wir bauten in die Schießscharte eine türkische Steinritine (es entstand ein Artillerieduell)... Danach begannen sie, einen Schacht gegen die Porte Narbonnaise zu graben, wir bauten dann einen Gegenschacht und errichteten in der Schießscharte eine große und starke Mauer aus trockenen Steinen derart, daß die Hälfte der Schießscharte erhalten blieb und der vordere Teil einstürzte (die Mauer aus trockenen Steinen sollte den Angriff, der durch die geöffnete Bresche verursacht wurde, bremsen). © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 76 Woanders ergreifen die Belagerten Besitz von einem Schachtloch, das unter einem Türmchen gegraben worden war. ... Danach minierten sie die Ecke des Platzes Richtung Bischofshaus; durch das viele Graben kamen sie unter eine gewisse sarazenische Mauer (vorgerückte galloromanische Verteidigung?) bis zur Mauer des Turnierplatzes. Aber sobald wir dies bemerkten, bauten wir ein wenig höher im Turnierplatz einen guten und starken Schanzpfahl zwischen uns und ihnen und einen anderen Gegenschacht. Danach steckten sie ihren Schacht in Brand und warfen dabei ungefähr zehn Faden unserer Zinnen um (16 bis 18m). ..(die Palisade, die wir in aller Eile an der hinteren Seite des Einsturzes bauten, ermöglichte uns, den Angriff zu bremsen). Sie bauten dann auch, Madame, einen Schacht gegen die Schießscharte des Tores von Razès. Sie bauten einen wunderbaren (unterirdischen) Weg... wir bauten einen Schanzpfahl; wir bauten einen Gegenschacht und nachdem wir auf sie gestoßen sind, haben wir ihr Schachtloch eingenommen... Eines Sonntags versammelten sie all' ihre Kriegsmänner, Armbrustschützen und andere und alle zusammen bestürmten die Schießscharte über dem Schloss (wiedermals die Schießscharte der Aude)... Wir gingen (durch den gefestigten Weg vom Schloss her) zur Schießscharte hinunter und warfen und schleuderten eine solche Menge von Steinen, so daß es gelang, daß sie die Bestürmung aufgaben. (Nach einer letzten verzweifelten Bestürmung)... am Montag, den 11. Oktober gegen Abend haben sie dann davon gehört; daß Ihre Leute, Madame, uns zu Hilfe kämen; sie legten dann Brand an die Häuser der Vorsiedlung ... all'diejenigen, die an dieser Belagerung teilgenommen hatten, verließen sie heimlich in der Nacht, sogar die der Vorsiedlung ... Während der Belagerung fehlte es keinem unserer Leute an Nahrung, wir hatten Getreide und Fleisch in Überfülle und hätten daher noch lange warten können. Sie sollen wissen, daß diese Übeltäter am zweiten Tag ihrer Ankunft 33 Priester und Geistliche, die sie in der Siedlung auffinden konnten, ermordet haben... Sie haben uns an 7 verschiedenen Stellen miniert ... ab der Häuser (der Vorsiedlung, die sich am Hügel hochziehen bis zur Stadtmauer), auf diese Weise wussten wir nichts, bis sie am Turnierplatz ankamen. Ausgeführt in Carcassonne am 13. Oktober 1240» Raymond Trencavel wird von der königlichen Hilfsarmee bis nach Montra verfolgt, wo er gezwungen wird zu kapitulieren. Freigelassen, kehrt er nach Katalonien zurück. von wo er abmarschiert war. In der Stadt Carcassonne wurden seit alters her bestimmte Dienste gepflegt, die zur Sicherheit der Stadt jahrhundertelang treu eingehalten wurden: Die Wache der Stadt: die «Mortes-Payes» Ab 1124 hatte der Vizegraf Bernard Aton seinen Lehnsmännern eine Verpflichtung auferlegt und je nach Umfang ihrer Besitze folgende Bedingungen angeordet: - einige Soldaten der Stadtwache auf ihre Kosten zu verpflegen, - dort persönlich mit Familie mindestens 4 bis 8 Monate jährlich zu leben. Der Hl. Ludwig nimmt sich diese Sitte zum Vorbild, als er die «Mortes-Payes» einführt, «um die Stadt Tag und Nacht zu bewachen ... wegen ihrer grenzlichen Bedeutung mit Spanien in Richtung Roussillon». Die Belastung der «Mortes-Payes» ist erblich, abgabenfrei, mit dem Vorteil einer vorbehaltenen Gerichtsbarkeit und der Pflicht, in der Stadt mit seiner Familie zu wohnen. Die Kompagnie bestand ursprünglich aus 220 Männern, Sergeanten, Offizieren und Trompetern; der Lohn betrug 1 Sou pro Tag für die Sergeanten. Im Jahre 1418 wurde die Zahl der Wächter auf 120 herabgesetzt. Der Dienst war schwierig; hier der Nachtdienst: 40 Männer, davon 6 Trompeter, führen ihren Nachtdienst einmal alle drei Nächte aus. 2 Trompeter stellen sich an der Porte Narbonnaise auf für die Trompetensignale. 18 Männer und 4 Trompeter stellen sich in den Umkreis der inneren Stadtmauer, mit Degen und Armbrust bewaffnet (9 Posten pro 2 Mann), ein Trompeter stellt sich an je eine der vier Himmelsrichtungen. Die Wache dauerte die ganze Nacht ohne Ablösung. Die anderen Männer machten Runden pro acht Mann im Turnierplatz und auf der hohen Stadtmauer: 12 Runden im Winter, 6 Runden im Sommer. Die Trompeter an den vier Himmelsrichtungen bliesen viermal nachts im Winter, dreimal im Sommer. Der Dienst war anstrengend und die Disziplin von äußerster Strenge: jeder Sergeant, der seinen Posten verließ, und sei es selbst, um den Brand seines Hauses zu löschen, war der Todesstrafe ausgesetzt. Die Kompanie wurde während der Revolution 1793 aufgelöst. Nun bin ich alles das losgeworden, was ich über die Stadt erfahren konnte. Martina und ich bummelten indessen durch die engen Gassen. Trotz des Regens waren sie mit ungezählten Touristen überfüllt. Diese drängten natürlich in die winzigen Souvenirläden, um einen Moment im Trockenen zu sein, oder sie saßen in den kleinen Cafés wie angenagelt, kein Stuhl war frei. Es roch an jeder Ecke anders, nach Backwerk, nach Gewürzen, nach Kaffee. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 77 Ich schwankte lange, ob wir noch das Château Comtal, das Grafenschloss, das extra Eintritt und sicher auch etwas mehr Zeit verlangte, besuchen sollten. Ich schlug dann die Gelegenheit aus, um noch einen Blick in die Basilika St- Nazaire zu werfen und einen generellen Überblick über die Stadt zu gewinnen. Viel Leben herrschte an der Place du Grand Puits, dem Großen Brunnenplatz. Mittelalterlich eng ist er, eher ein winziges Plätzchen. Man denkt an Spitzweg. In der Basilika ist es dunkel. Kerzen brennen und schwängern den riesigen Raum mit Wachsgeruch, der sich mit dem von der letzten Messe noch hängenden Weihrauchduft mischt und so diesen typischen heiligen Odeur erzeugt, der dann die religiösen Reflexe hervorruft. Ich kann mich jetzt nicht mit dem Inneren beschäftigen. Am Ausgang nimmt uns ein armer Mann eine Spende ab. Auf einem weit vorspringenden Wasserspeier sitzt eine Krähe und schaut zu uns herunter. Neben der Basilika führen Stufen hoch auf die innere Stadtmauer am Aude- Tor. Von dort kann man auf die neue Stadt Carcassonne blicken. Der Regen nahm mir den Unternehmungsgeist. Wir lenkten unsere Schritte an einer kleinen Schule vorbei an der Place du Petit Puits, dem Kleinen Brunnenplatz bis zur Place Marcou. Dort ist geschmückt wie zum bayrischen Oktoberfest. Die Freisitze füllen fast den ganzen Platz, doch niemand sitzt hier; der Regen tropft unablässig von den Schirmen und verwandelt diesen Gang in Tristesse. Ich ziehe Martina zu einem Tor in der inneren Mauer. Wieder ein Freisitz. Der Regen platscht auf die breiten Fliesen. Schnell wieder zurück. Weiter. Es ist alles eng hier. Eilige Touristen schieben sich durch die Gassen. Wir fliehen hinter den inneren Mauerring und schauen uns die gewaltigen Befestigungen an. Von der äußeren Mauer kann man weit ins Land blicken. Es macht aber alles keinen richtigen Spaß. Also wieder zurück. An einem kleinen Bistro lese ich „Maison du Cassoulet de Castelnaudary“. Das muss ich erklären. Ein Kursteilnehmer in der Volkshochschule, wo ich ein wenig Französisch lerne, gab mir im Vorfeld der Reise den Tipp, genau hier einzukehren und diese regionale Spezialität zu kosten. Das ist nämlich ein opulentes Essen, das uns die Conny für heute Abend versprochen hatte. Wir verließen dieses mittelalterliche Städtchen mit dem Gefühl, etwas ganz Besonderes erlebt zu haben. Ich nahm mir vor, mich zu Hause eingehend mit der Historie zu beschäftigen. Aber nun mussten wir loslassen, der Bus wartete und brachte uns in die untere Stadt Carcassonne, die in Sichtweite der © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 78 historischen an der Aude liegt. Im Hotel Bristol stiegen wir ab, einem kleinen feinen Haus in englischem Stil. In den Fluren dämpften dicke Teppiche den Schritt. Wunderschöne Möbel, herrliche Einzelstücke, ergänzten das Interieur und vermittelten Atmosphäre. Die Zimmer waren klein, die sanitären Anlagen ließen zu wünschen übrig. Aber es gab einen winzigen Austritt, ein französisches Fenster, wenn man den widerspenstigen Fensterladen zurückdrehte, und wir konnten hinuntersehen auf den Canal du Midi und eine seiner Schleusen und den Hauptbahnhof. Ich war glücklich, ihn einmal sehen zu können, diesen Kanal! Seit Jahren träume ich mich in ein Hausboot hinein, mit dem ich diese Wasserstraße einmal vom Mittelmeer bis Toulouse befahren möchte. Es ist möglich, ohne Bootsschein ein Boot zu mieten. Martina traut nicht recht und fürchtet sich. Ich stelle mir einen Urlaub auf dem Wasser ungeheuer entspannend und erholsam vor… Canal du Midi! Ich muss ein wenig darüber berichten. Es gibt wieder einen spannenden Ausflug in die Geschichte, etwa in das 17. Jahrhundert und sie ist verbunden mit einem Manne, nämlich Pierre-Paul Riquet (1609 – 1680) Er wurde vermutlich am 29. Juni 1609 in Béziers geboren Von seiner Jugend weiß man, dass er sich nur für Naturwissenschaften und Mathematik interessierte und dass er lieber Okzitanisch als Französisch sprach. Sein Vater, Staatsanwalt des Königs und cleverer Geschäftsmann, bewegte ihn dazu, in den Verwaltungsapparat einzutreten, der sich um die Eintreibung der Salzsteuer kümmerte. Im Jahr 1630 wird er Steuerpächter. 1637 heiratet er Catherine de Milhau, die aus einer reichen Familie aus Béziers stammt. Gemeinsam haben sie fünf Kinder. Die gesamte Familie siedelt nach Revel über, wo Pierre-Paul Riquet 20 Jahre das lukrative Amt des Steuerpächters ausübt und zu großem Reichtum gelangt. Im Jahr 1651 ist er Untersteuerpächter der Provinz Languedoc, im Jahr 1660 wird er Generalsteuerpächter des Languedoc und der Cerdagne, und er ist ebenfalls Kriegslieferant des katalonischen Heeres. Im Jahr 1661 wird er Baron von Bonrepos, in der Nähe von Verfeil, er besitzt ein Haus in Toulouse und zahlreiche Güter und Rechte in Revel, wo er das Amt des Königlichen Richters ausübt. Er ist ein unermüdlicher Arbeiter und besitzt herausragende Qualitäten: Er ist einfallsreich, enthusiastisch, mutig, ein guter Beobachter, ihm wird eine große Urteilsfähigkeit nachgesagt, ein Unternehmensgeist in Verbindung mit einer großen Gabe, Menschen wie Geschäfte lenken und leiten zu können. Er wird ebenfalls als vorausschauend, gesetzestreu, ausdauernd (sogar dickköpfig), manchmal ungesellig beschrieben. Dabei er ist überaus menschlich, wie seine Beziehung zu seinen Arbeitern beweist, denen er für die damalige Zeit hervorragende Arbeitsbedingungen und Löhne anbietet. Um 1662, Riquet ist mittlerweile 53 Jahre alt, möchte er sich seinen Kindheitstraum erfüllen und so beginnt er das Projekt eines Kanalbaus, der das Mittelmeer mit dem Atlantik verbinden soll. Sein gesamtes restliches Leben wird er von nun an dieser Sache widmen. Als er am 1. Oktober 1680 in Toulouse stirbt, sind die Arbeiten fast beendet, das Mittelmeer ist nur mehr eine Meile von der Baustelle des Kanals entfernt... Aber erst im folgenden Jahr wird anlässlich der Einweihungsfeierlichkeiten durch die Vertreter des Königs der Kanal vollständig "unter Wasser gesetzt". Ursprünge des Projekts Schon als Kind kommen Pierre-Paul Riquet die Ideen für einen Kanal zu Gehör, der die Verbindung zwischen den beiden Meeren herstellen soll, und diese Idee sollte ihn sein Leben lang begleiten. Dieses Projekt, das der Versammlung der Provinzstände vorgestellt wurde, war keine Neuheit: Schon zur Zeit der Römer, unter der Herrschaft von Kaiser Augustus und Nero, kam die Idee auf, eine direkte Wasserstrasse zwischen dem Mittelmeer und dem Atlantik zu erbauen. Das Interesse an so einem Bau lag auf der Hand: Die Verbindung des Aude- Beckens und des GaronneBeckens konnte Waren direkt an die Atlantikküste bringen, ohne den langen Umweg (mehr als 3000 km) über die iberische Halbinsel in Kauf nehmen zu müssen. Verschiedene andere Projekte wurden später von den Königen Frankreichs anvisiert, aber keines hatte die Probleme der Wasserhaltung und des Wassereinzuggebiets des zukünftigen Kanals lösen können. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 79 In der Tat bestand die große Schwierigkeit des Projekts darin, schwer beladene Schiffe über die Wasserscheide zwischen Mittelmeer und Atlantik zu befördern. Vom Meeresspiegel aus gesehen muss der Kanal eine Schwelle von 190 m überwinden, und nur eine regelmäßige Wasserversorgung und eine gleichmäßige Fliessgeschwindigkeit zwischen den zukünftigen Schleusen der beiden Wassereinzugsgebiete konnte dies erreichen. Die erste Aufgabe, der sich Pierre-Paul Riquet annahm, bestand darin, die Wasserversorgung des Kanals sicher zu stellen. Zu diesem Zwecke durchstreifte er in Begleitung des Wünschelrutengängers Pierre Campmas aus Revel das Bergmassiv der Montagne Noire und stellte fest, dass hier Wasser im Überfluss vorhanden war. Aber noch ein Problem war zu lösen: Wie konnte man die Wasser dazu bringen, sich einerseits zum Mittelmeer und andererseits zum Atlantik hin zu ergießen? Die Geschichte erzählt, wie er eines Abends die Erleuchtung bekam: Als er über die Möglichkeit nachdachte, die Wasser auf der Mittelmeerseite in den Sor fließen zu lassen, der in den Ozean mündet, wurde ihm plötzlich klar, dass er eine Wasserrinne in den Berghang graben musste. Die im Bergmassiv der Montagne Noire aufgefangenen Wasser konnten nach Conquet geleitet werden und sich dort mit den Wassern des Sor vereinen, dann müsste diese Wasserrinne nur bis in die Ebene fortgesetzt werden, um den Kanal mit Wasser zu versorgen... Die so gefundene Lösung musste jetzt nur noch durchgesetzt werden. Riquet nahm die Hilfe eines seiner Freunde in Anspruch, Monseigneur d'Anglure de Bourmelon, Erzbischof von Toulouse, der von den Projekt überzeugt war und sich anbot, sich bei Colbert für das Projekt einzusetzen. Am 15. November 1662 schrieb Riquet seinen berühmten Bericht an Colbert, Oberintendant der königlichen Bauwerke, und hier sollte die Errichtung des Canal du Midi ihren Anfang nehmen. Man verzeihe mir die Ausführlichkeit. Ich glaube, dass gerade die näheren Umstände dieses Kanalbaues die interessantesten Aspekte liefern: Ein Wegbereiter Pierre-Paul Riquet kann als Wegbereiter für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen betrachtet werden, die zur damaligen Zeit herrschten. So erhielten seine Arbeiter 10 Pfund Lohn pro Monat, was im Vergleich zu den gängigen Bezahlungen ein sehr gutes Gehalt war. Außerdem wurden den Arbeitern Ruhetage gegönnt (Sonntage, Feiertage oder Regentage), die nicht von ihrem Gehalt abgezogen wurden. Wohnraum wurde zu einem geringen Preis zur Verfügung gestellt. Die Arbeiter erhielten ihre Werkzeuge am Tag ihrer Anwerbung und mussten sich dann für die Dauer der Arbeiten um Pflege und Wartung der Werkzeuge kümmern. Noch erstaunlicher aber war die Tatsache, dass das Gehalt im Krankheitsfall weiter ausbezahlt wurde. Hier könnte man von einem Vorläufer der Krankenversicherung sprechen, einer Idee, die im 17. Jh. völlig unbekannt war. Die einzelnen Etappen des Kanalbaus 1662 stellte Pierre-Paul Riquet sein Projekt dem Oberintendanten für Finanzen und Bauwerke des Sonnenkönigs Ludwig XIV., Jean-Baptiste Colbert, vor. Dieser erkannte sofort die wirtschaftliche, politische und militärische Bedeutung eines solchen Bauwerks. Aber die Verhandlungen ziehen sich in die Länge, der König wünscht eine finanzielle Beteiligung seitens Riquets, und dieser muss schließlich sein privates Vermögen in die Waagschale werfen. Colbert wiederum möchte, dass die "Etats du Languedoc", Amtsbezirke der Seneschalls des Languedoc, sich an der Finanzierung des Kanals beteiligen. So sind denn die Verhandlungen zäh und langwierig und schließlich muss Riquet der eifersüchtigen Gegnerschaft des Commissaire Général aux Fortifications de France, M. de Clerville, Oberaufseher der Befestigungsanlagen Frankreichs, standhalten, der auch an dem Projekt gearbeitet hatte, ohne jedoch eine befriedigende Antwort auf die offenen Fragen zu finden. Erst 1666, vier Jahre nach Verhandlungsbeginn, ordnet das königliche Edikt den Beginn des Kanalbaus an. Das Bauwerk wird den Namen Canal Royal tragen. Riquet finanziert die Ausgrabung der 34 km langen Wasserrinne, die die Wasser der Montagne Noire zur Schwelle von Naurouze, der Wasserscheide zwischen Mittelmeer und Atlantik, bringen. Nach erfolgreicher Überzeugungsarbeit der königlichen Vertreter beginnen 1667 die Grabungsarbeiten des Beckens von St Férréol, denn zunächst muss die Wasserversorgung des zukünftigen Kanals 3 sichergestellt werden. Dieses Reservoir hat eine Speicherkapazität von 3.600.000 m und wird erst 1672 fertig gestellt. Die an mehreren Stellen gleichzeitig begonnen Arbeiten werden von nun an in drei Abschnitten verlaufen. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 80 Ein erster Abschnitt, der vollständig von Riquet finanziert wird, erstreckt sich von Toulouse nach Trèbes (in der Nähe von Carcassonne). Sobald dieser Abschnitt unter Wasser gesetzt wurde, begann zwischen Castelnaudary und Toulouse der Postverkehr. Die Arbeiten am zweiten, vom Staat finanzierten Abschnitt begannen am 30. Juni 1668. Auf dieser Strecke, die Trèbes mit dem Etang de Thau verbindet, findet man wichtige Bauwerke wie die Schleusen von Fonséranne bei Béziers und den Tunnel von Malpas bei Ensérune. Der dritte Abschnitt bestand im Bau des Hafens von Sète (damals schrieb man "Cette"). Dieser kleine Hafen an der Mündung des Kanals wird wichtigste Stadt und wichtigster Hafen der Region. Am 1. Oktober 1680, zum Ende der 14 Jahre dauernden Bauzeit, stirbt Pierre-Paul Riquet in Toulouse, geadelt, aber fast verarmt. Der Canal Royal wird am 24. Mai 1681 eingeweiht, nachdem er einer fast 30 Tage dauernden Inspektion standhalten musste, die von Daguesseau, Intendant des Königs im Languedoc durchgeführt wurde. Die Arbeiter und ihre Arbeitsbedingungen In den 14 Jahren, die die Arbeiten am Canal du Midi dauern, werden auf der Baustelle beständig mindestens eintausend Leute, Männer und Frauen, arbeiten. Für bestimmte Bauabschnitte, wie z.B. der Ausgrabung des Kanals zwischen Trèbes und Sète werden sogar bis zu 10.000 Arbeiter die Baustelle bevölkern. Für den Bau des Hafens von Sète steigt die Anzahl der beschäftigten Arbeiter auf 12.000. Die Arbeit ist strengstens hierarchisch organisiert: Inspektoren kontrollieren Vorarbeiter, die Mannschaften von 40 Leuten beaufsichtigen, die wiederum in Werkstätten von 200 Leuten zusammengeschlossen sind. Die Männer sind mit den schweren Erdarbeiten betraut, die Frauen transportieren die Erde weg. Die Arbeitsbedingungen sind für die damaligen Verhältnisse einmalig, aber als Gegenleistung dafür wird ein zügiges Arbeiten verlangt, damit der Bau so schnell wie möglich vorankommt. Ist die Behandlung der Arbeiter auch für die damalige Zeit vortrefflich, so werden die Zulieferer von Riquet nicht mit der gleichen Achtung behandelt: Fuhrunternehmer, Hufschmiede, Maurerbetriebe und Steinbruchbesitzer müssen sich unter Bußandrohung mit Hungerlöhnen zufrieden geben. Vom Canal Royal zum Canal du Midi Zwischen dem 17. und 19. Jh. wurden verschiedene Arbeiten und Änderungen durchgeführt, so die Überquerung des Flusses Cesse (Vauban 1689-1690), das Aquädukt von Fresquel in Carcassonne (18021810) oder die Kanalbrücke über den Orb in Béziers (1857-1858). Insgesamt wurden 65 Schleusenanlagen gebaut, die zusammen über 130 Schleusenbecken verfügen. Längs des Kanals wurden 45.000 Bäume gepflanzt, die zur Uferbefestigung beitragen und Reisenden und Waren Schutz vor der Sonne gewähren. Nach dem Tode von Paul Riquet setzten sein Sohn und anschließend der französische Meisterarchitekt Vauban die Arbeiten fort. Die Erben von Riquet konnten sich erst 1784 von den Schulden befreien, die seit dem Bau des Kanals auf ihnen lasteten. Während der französischen Revolution 1789 emigrierten die Nachkommen von Riquet, ihr Wohnsitz wurde zerstört und der Canal Royal wurde auf den Namen Canal du Midi umgetauft. Von der Revolution bis heute Im 19. Jh. wird endlich die Verbindung Sète - Bordeaux hergestellt und ein reger Warenverkehr kommt auf: Baumaterialien, Holz, Steinkohle, Ziegel, Steine, Getreide, Wein... Die Kanäle werden pachtweise dem Eisenbahnunternehmen La Compagnie des Chemins de Fer du Midi übergeben, und dies ist der Anfang eines ersten Niedergangs. 1898 nimmt der Staat wieder verschiedene Kanäle in seinen Besitz und schließt sie unter der Bezeichnung Canal des Deux Mers zusammen. Der Niedergang der Transportaktivitäten hält an, die Beförderung von Getreide und Wein, die das Leben des Kanals seit fast dreihundert Jahren bestimmt, steht stark mit dem Schienenverkehr in Konkurrenz, das Aufkommen der ersten motorbetriebenen Lastkähne um 1925 ändert an dieser Tendenz auch nichts mehr. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 81 Heute wird der Kanal von den "Voies Navigables de France" verwaltet und lebt hauptsächlich vom Flusstourismus. Viele Unternehmen bieten dem Reisenden Pauschalangebote für Schiffstouren, um den Kanal und seine Umgebung kennen zu lernen. Seit seiner Erbauung ist der Kanal für die Region eine nicht zu unterschätzende Quelle der Arbeitsplatzbeschaffung. Die regelmäßige Instandhaltung der Bauten und die manuelle Bedienung der Schleusen haben die Schaffung von Stellen nötig gemacht, um Wartung und Sicherheit der gesamten Anlage zu gewährleisten. Die Entwicklung des Personen- und Warentransports hat auch zur Entstehung einer für den Kanal spezifischen Wirtschaft geführt. Wenngleich der Warentransport fast vollständig erloschen ist, so ist mit dem Aufkommen des Flusstourismus wieder viel Bewegung auf dem Kanal zu verzeichnen, und die Männer des Kanals gehen weiterhin ihrer Arbeit nach. 1994 schlug die Verwaltung der Voies Navigables de France, die sich um die Bewirtschaftung des Kanals kümmern, den Canal du Midi für die Aufnahme in das Weltkulturerbe vor. 1995 taten sich der frz. Kulturminister und die Regionen Languedoc-Roussillon, Midi-Pyrénées und Aquitaine zusammen, um den Canal du Midi für die Aufnahme in das Weltkulturerbe anzumelden. Nach Prüfung durch die 21 Mitglieder der aus 147 Ländern bestehenden Kommission der UNESCO beschloss die Sitzung vom 6. Dezember 1996 die Aufnahme von 33 Stätten in die Liste des Weltkulturerbes, darunter der Canal du Midi. Aufgenommen wurden: Die Kanalstrecke zwischen Toulouse und dem Thau- Becken, die Schwelle von Naurouze und das Wasserversorgungssystem der Montagne Noire sowie alle Bauten, die aus der ersten Bauperiode stammen, die noch von Pierre-Paul Riquet durchgeführt wurde. Schleusenwärter und Wartungspersonal Heute arbeiten 350 Leute das ganze Jahr über an der Wartung und Bedienung der Bauten des Canal du Midi. In der Hauptsaison von Mai bis Oktober sind die Schleusenwärter und das Wartungspersonal eifrig bei der Arbeit und stehen den Bootstouristen mit Rat und Tat bei der Schleusendurchfahrt zur Seite. Sie gewährleisten das Funktionieren der Anlagen und sind jeden Tag 11 Stunden lang bei der Arbeit. Manche Schleusenwärter wohnen kostenlos in den kleinen Häusern neben den Schleusen, die dem Staat gehören. Als Gegenleistung müssen sie 120 Stunden pro Woche zur Verfügung stehen. Von November bis Januar werden am Kanal große Wartungsarbeiten durchgeführt: Säubern der Schleusenbecken, Reparatur der Schleusentore, Dichtungsarbeiten. Hierzu werden die Schleusen durch den Einsatz von Holzwänden in die dafür vorgesehenen Einkerbungen vor der Schleuse vom Kanal abgetrennt. Sind die Dichtungsarbeiten auf diesem Niveau abgeschlossen, kann die Schleuse geleert werden und die Arbeiten können beginnen. Die meisten Schleusen sind heute motorbetrieben, aber manche werden weiterhin manuell geschlossen und geöffnet, wie z.B. die Dreifachschleuse von Laurens. Nichtsdestoweniger bleibt der Einsatz von Personal unabdingbar, um den Verkehr zu regeln, die Wasserhöhe zu kontrollieren und bei Unwetter die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen. Eine wichtige Rolle der Schleusenwärter ist die Gewährleistung der Sicherheit der Bootsführer und Passagiere, die oftmals bei der Schleusendurchfahrt unvorsichtig oder ungeschickt sind. Schließlich sind die Schleusenwärter das verbindende Element, das dem Urlauber auf seiner Reise mit Herzlichkeit und Zwischenmenschlichkeit begegnet. Die Kunstbauten Vom 17. bis 19. Jh. entwickelt sich rund um den Kanal ein lebhaftes Treiben. In den Häfen des Kanals findet man eine Menge Leute, deren Tätigkeit an den Transport von Waren geknüpft ist: Träger, Zimmerleute, Fassmacher, Fuhrmänner, Händler. Der Transport der Post und der Reisenden wird zunächst einmal per Postkahn, "La Barque de Poste" durchgeführt. Die Verbindung Sète Toulouse dauerte damals 36 Stunden, Anschlussverbindungen mit anderen Transportmitteln sind an den jeweiligen Haltestätten vorgesehen. Später dann, im Jahr 1834, werden die "Schnellboote" ins Leben gerufen, die sowohl Personen als auch Waren transportieren (bis zu 60 Tonnen) und die Verbindung Toulouse - Beaucaire in 115 Stunden schaffen. Dieser Schiffsverkehr wird nach und nach durch das Aufkommen der Eisenbahn am Ende des 19. Jh. verdrängt. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 82 Der Canal du Midi dehnt seine 240 km lange Wasserstrasse quer durch die Ebene des Languedoc. Mehr als 350 Bauwerke, von denen einige bereits 300 Jahre alt sind, waren nötig, um die Probleme zu lösen, denen sich Riquet und seine Ingenieure gegenüber sahen. In Anbetracht der damaligen technischen Möglichkeiten empfahl es sich, diese Hindernisse so weit wie möglich zu umgehen. Und so ist denn auch der Verlauf des Kanals nur selten geradlinig, er folgt eher den Höhenlinien und bietet so eine ruhige, zauberhafte Bootsfahrt. Jedes Mal, wenn ein Berg, ein Wasserlauf, eine Strasse oder eine Steigung den Weg des Kanals kreuzten, musste ein neues Bauwerk errichtet werden. So wurden 130 Straßenbrücken neu gebaut oder umgestaltet sowie Schleusen, Aquädukte (insgesamt heute 49 Kanalbrücken), Überlaufvorrichtungen und sogar Tunnel errichtet. Wichtigste Voraussetzung Alle diejenigen, die vor Paul Riquet an einem Projekt für einen Kanal arbeiteten, der Mittelmeer und Ozean miteinander verbindet, sind zu diesem magischen Ort vorgedrungen. Hier liegt das Herzstück des von Riquet erdachten Systems, denn hier liegt die Wasserscheide, der Punkt, wo das Wasser zögernd nach Westen zum Ozean oder zögernd nach Osten zum Mittelmeer fließt. An dieser Stelle ließ Riquet ein großes, achteckiges Becken errichten, in das über eine Rinne die Wasser des Staubeckens von Saint Ferréol fließen, das seinerseits durch die in der Montagne Noire gefassten Quellen gespeist wird. Dieses Becken fungiert als Reservoir, das den Wasserfluss des Kanals nach Osten und nach Westen hin kontrollieren und regulieren soll. Die Kanalbrücke über den Orb Das Aquädukt von Répudre In Béziers, Geburtsstadt von Riquet, hatte die Überquerung des Orb lange Zeit ein ernsthaftes Problem aufgeworfen. Dieses kleine Flüsschen hat einen sehr unregelmäßigen Wasserlauf: Im Sommer herrscht Trockenheit, und der Winter ist die Zeit der Hochwasser. Dieses Problem wurde zunächst durch den Bau von Überlaufbecken umgangen, die einen kleinen Kanal, Schleusen und ein Wasserauffangsystem speisen und so die Kontinuität des Wasserlaufs gewährleisten. Aber die starken Hochwasser des Orb beschädigten regelmäßig diese Konstruktionen. Angesichts dieser Schwierigkeiten wurde von 1854 bis 1858 die Errichtung einer Kanalbrücke über den Orb in Angriff genommen. Diese 12 m hohe und 28 m breite Konstruktion erstreckt sich auf einer Länge von 240 m. Es handelt sich hier um eins der spektakulärsten Bauwerke des Canal du Midi. Sie ist die bedeutendste Kanalbrücke der Welt und die einzige, die von Paul Riquet erbaut wurde, dem Erfinder dieser Technologie. Sie befindet sich in der Nähe des Dorfes Paraza im Herzen einer wunderschönen Landschaft. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 83 Ihr Bau geht auf das Jahr 1676 zurück. Infolge des schweren Hochwassers im Jahr 1999 wurde sie kürzlich einigen Renovierungsarbeiten unterzogen. Das Aquädukt von Fresquel Mit diesem Bauwerk können Strasse und Kanal Seite an Seite das Flussbett des Fresquel in der Nähe von Carcassonne überqueren. Diese Kanalbrücke besitzt drei Bögen, ihr Bau wurde 1802 begonnen und 1810 beendet. Die drei Schleusen von Fresquel werden von einem Schleusenwärter bedient, der auf einem Aussichtsturm sitzt. Die Überquerung der Cesse Die Cesse ist ein Fluss mit Wildbachcharakter. Ursprünglich wurde eine Strasse gebaut, um sie zu überqueren, aber diese Strasse wurde nach kurzer Zeit schon von den Überläufen des Flusses beschädigt und dann durch eine Kanalbrücke ersetzt, die Vauban 1689-1690 errichtete. Um die überschüssigen Wasser abzuleiten wurde das Überlaufbecken, l'Épanchoir des Patiasses. errichtet. Dieses 8 m hohe Bauwerk wird immer noch manuell betrieben. Die Schleusen von Fonsérannes Die acht Schleusen von Fontsérannes bilden ein spektakuläres Gesamtwerk, das 1697 errichtet wurde. Es wird ein Höhenunterschied von 21,50 m auf einer Länge von 300 Metern überwunden. Die letzte Schleuse (die unterste) ist nicht mehr in Betrieb, sie gab einst Zugang zum Fluss Orb. Es handelt sich hier um eine der Attraktionen des Canal du Midi mit dieser treppenartigen Aneinanderreihung von Schleusen und dem einzigartigen Panoramablick auf Béziers. Agde und das Rundbecken Diese runde Schleuse ist einzigartig in ihrer Form. Sie ist gleichzeitig Schleuse und Rundverkehr. Sie wurde 1679-1680 errichtet und kürzlich vergrößert. Sie reguliert den Wasserzulauf des Flusses Hérault. Ein kleiner Kanal schafft die Verbindung zum Hafen von Agde und zum Meer. Die mobile Brücke über den Libron In der Nähe von Vias ermöglicht eine mobile Brücke die Überquerung des Libron, einem kleinen Flüsschen, das aber für seine spektakulären und zerstörerischen Hochwasser bekannt ist. Die ersten Bauten erwiesen sich als unzulänglich und die vom Libron herangeschwemmten Schlammmassen drohten den Kanal zu verschlicken. Da die Konstruktion eines Aquädukts (Kanalbrücke) wegen des geringen © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 84 Höhenunterschieds nicht möglich war, wurde 1858 ein einzigartiges Bauwerk errichtet. Es handelt sich gleichzeitig um ein Schleusensystem und eine mobile Brücke mit Verdeck. Eine eindrucksvolle metallene Maschinenanlage und die Trennung des Libron in zwei Flussarme ermöglicht es, einerseits die Wasser des Libron zum Meer hin abfließen zu lassen und andererseits den zweiten Flussarm als Schleuse für die Durchfahrt der Boote zu nutzen. Der Tunnel von Malpas Der Malpas- Kanal ist ein einzigartiges Bauwerk, dank dessen der Kanal einen scheinbar unumgänglichen Hügel bezwingt. Der Tunnel wurde 1679-1680 in den Tuffstein des Berges von Ensérune gegraben. Pierre-Paul Riquet, der zu dieser Zeit in starkem Gegensatz zu Colbert, Daguesseau und Clerville bezüglich des Kanalverlaufs an dieser Stelle stand, ließ schnell und heimlich diesen Durchganggraben, um die Richtigkeit seiner Überlegungen zu beweisen. Der Tunnel von Malpas ist 6 m hoch, 8,5 m breit und erstreckt sich auf einer Länge von 173 m. Heute stehen an dieser Stelle drei Tunnel: Der Abflusstunnel für den See von Montady, der Eisenbahntunnel und der Canal du Midi. In nächster Umgebung kann die antike Ausgrabungsstätte des vorrömischen Ensérune besichtigt werden. Rund herum liegen die Dörfer Capestang (Stiftskirche und Befestigungsanlagen) und Poilhes (der 600 Jahre alte Baum von Sully). Le Somail Le Somail ist ein großes Dorf, das seine Entwicklung dem Verkehr des Postschiffes verdankt, das hier einen Zwischenstopp einlegte. Le Somail zählt ungefähr 200 Einwohner und wird von drei verschiedenen Gemeinden verwaltet. Die Brücke Le Pont Neuf, die 1773 errichtet wurde, zeichnet sich durch die Verarbeitung dreier Gesteinsarten, Basalt, Sand- und Kalkstein aus. Die Brückenkapelle sowie das Hutmuseum runden die Besichtigung von Somail ab. Das nahe gelegene mittelalterliche Dörfchen Mirepeisset lohnt den Besuch. Dieses zauberhafte Plätzchen ist im Sommer einer der beliebtesten und belebtesten Orte am Kanal. Colombiers Unweit von Béziers liegt das Dörfchen Colombiers, dessen schöne Architektur einen Besuch wert ist. Fernab vom Trubel des Kanals kann man Ruhe und Frieden dieses herrlichen Fleckchens Erde genießen. La Pointe des Onglous © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 85 Die Pointe des Onglous markiert Anfang und Ende der Fahrt auf dem Canal du Midi. Diese Landzunge befindet sich im äußersten Westen des Étang de Thau. Hier befindet sich ein Hafen für Schiffe und Hausboote. Das Süßwasser des Kanals vermischt sich hier mit den brackigen Wassern des Teichs. In das 20 km entfernt gelegene Sète gelangt man über einen Kanal, der durch die Mitte des Teichs verläuft. Nachts ist diese Teichdurchquerung nicht ratsam, da der Kanal eng ist und man sich in den Schlammmassen des Teichs verfangen könnte. Das ist die Geschichte des Canal du Midi, eines der berühmtesten Bauwerke Frankreichs. Man wird beim Lesen der Beschreibungen hineingezogen in diese Landschaft, und wen wundert es, wenn ich in mir den Wunsch nähre, einmal, einmal ein Stückchen davon selbst zu befahren und diese kleinen dreihundertjährigen Wunderwerke zu besichtigen, zu erleben. Bis zum Abendessen ist noch eine Stunde Zeit. Ich nehme meine Digitalkamera und tigere los. Zuerst fotografiere ich die Hausboote an den Anlegestellen, trete neugierig näher, luge hinein. Die Frauen sind bei der Zubereitung des Abendbrotes. Ich sehe die Fahrräder an Deck. Einige Familien sitzen in der engen Kajüte beim Essen zusammen. Es sind schwimmende Wohnungen. An Land gibt es Steckdosen für Strom, Wasserzapfstellen für Trinkwasser, alles kostet natürlich Gebühren, auch der Liegeplatz, und die sind nicht gering. Ich konnte mich nicht satt sehen. Sicher wirkte das schräg einfallende warme Abendlicht mit und die Erfüllung eines ersten Wunsches: Ich stand am Canal du Midi. Der Regen war wie weggeblasen. Mild und weich roch hier die Luft nach dem Brackwasser des Kanals und dem frischen nassen Laub der Bäume, die den Kanal wie ein Halbdach überschatteten. Lange stand ich und träumte mit offenen Augen. Doch ich hatte noch ein anderes Ziel. Ich wollte ein Bild von der Altstadt Carcassonne, ich nahm es vorhin im Vorbeifahren in mich auf, musste es jetzt festhalten. Das konnte nur von der Brücke über die Aude gelingen. Da hatte ich zu laufen, den ganzen Boulevard Jean Jaurès hinunter, über den Square Gambetta bis zum Pont Neuf. Ich kam ins Schwitzen, wurde aber durch ein wundervolles Licht belohnt und konnte so einige prächtige Bilder aufnehmen. Zurück galoppierte ich im Schweinstrab, um 19 Uhr sollte es das Abendessen geben: Cassoulet! Ich übertreibe nicht. Der Inhalt dieser anspruchslosen, eher rustikalen Tonschüssel, war einer der kulinarischen Höhepunkte der Reise. Ein simples Bohnengericht mit mehrerlei Wurst, Geflügelund Fleischarten. Traditionell ragen die zwei Hühnchenschenkel aus der gebräunten Oberfläche heraus. Auf dem Tisch stehen noch Weißbrot und eine Karaffe Wasser. Ich esse bis ich nicht mehr kann. Nicht jeder verträgt weiße Bohnen, aber sie wurden ja schonend vorbehandelt. Und die herrliche Fleischbrühe! Dieser Geschmack. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 86 Wen es interessiert, ich habe hier das Rezept übersetzt. Ob man hierzulande aber Wurst vom Toulouser Schwein bekommt, ist fraglich: Rezeptur des Cassoulets der Großen Bruderschaft vom Cassoulet von Castelnaudary Für 4 Personen: 350 g bis 400 g trockene Blöcke weiße Bohnen 2 Lenden von der Ente oder einer Gans (die je in zwei Teile geschnitten werden) 4 Stücke von 80 g Würste vom reinen Toulouser Schwein 4 Stücke von 50 g Fleisch vom Schwein; Kniekehle, Schulter oder Brust wenigstens 250 g von Schwarte von Schwein, deren Hälfte nach Kochen für die " Montage " des Cassoulets angewandt werden wird, ein bißchen salziger Speck, und nach Geschmack, ein Löffel einer Suppe von Tomatenkonzentrat für die Bouillon: ein Geflügel- Panzer, wenn man ihn im Voraus hat, einige Knochen von Schwein, wir salben es ein, Karotten. Der Vorabend: die Bohnen eine Nacht im kalten Wasser wässern lassen. Nächsten Tag, dieses Wasser wegwerfen und die Bohnen in eine Pfanne mit 3 Litern von kaltem Wasser legen. Während 5 Minuten zum Aufkochen zu bringen. Feuer zurückzuziehen und das Wasser wegwerfen. Die Bouillon vorzubereiten: Geben Sie 3 Liter von nicht-kalkhaltigem Wasser in eine Pfanne, die geschnittenen Schwarten in breitem Riemen, der Geflügel-Panzer, die Knochen von Schwein, die Zwiebeln und die Karotten. Salzen und pfeffern. Während einer Stunde zu kochen. Diese Bouillon filtrieren und die Schwarten zurückzuholen. In diese filtrierte Bouillon die Bohnen legen, kochen, bis sie biegsam werden, aber ganz bleiben, ungefähr 1 Stunde. Während des Kochens der Bohnen, die Fleischteile vorbereiten. In einer dicken Schmorpfanne-, dann die Stücke von eingemachtem Fett befreien, sie zu reservieren an kleinem Feuer lassen. Im übrigen Fett dann die Stücke Würste braten, sie zu reservieren zu lassen. Danach die Stücke Schwein braten lassen, bis sie gut goldbraun werden und sie mit den anderen Fleischteilen reservieren. Das Fett bewahren, das im Innern der Pfanne ist. Die Bohnen trockenlegen, aber die kochende Bouillon warm halten. Zusammen einige Knoblauch-Schoten und den zerkleinerten Speck den Bohnen hinzufügen. In diesem Stadium einen Löffel Suppe von Tomaten- Püree hinzufügen. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 87 Dann das Cassoulet hinaufbringen. In einer Tonschüssel den Boden mit Stücken der Schwarte belegen, hinzufügen der Bohnen, oben die Fleische anordnen, und noch am Sopran der Rest der Bohnen. Danach die Stücke Würste in den Bohnen eindrücken. In Abhang in der Pfanne der warmen Bouillon zu vervollständigen, die richtig die Bohnen bedecken muss. Mit der Mühle die Oberfläche pfeffern und einen Löffel der Suppe des Fetts, die dazu gedient hat, die Fleischstücke zu braten)) hinzufügen. In den Ofen bei 150°/160° legen, Stufe 5 oder 6, und 2 bis 3 Stunden kochen lassen. Während des Kochens wird sich eine goldbraune Kruste oben bilden. Man muss sie mehrmals eindrücken, 7 Mal sagten die Fachleute. Wenn die Bohnen hochkommen zu trocknen, fügt man einige Löffel Bouillon hinzu. Wenn das Cassoulet am Vorabend vorbereitet worden ist, muss es im Ofen ungefähr bei 150° während 1½ Stunden aufgewärmt werden. Nicht zu vergessen, ein bißchen Bouillon hinzuzufügen, (falls nicht) einige Löffel Wasser…. Wer im Internet ein wenig sucht, kann dazu noch einige Abwandlungen finden, für zwei Personen, für acht bis zehn Personen, mit etwas anderen Fleischzutaten oder etwas mehr oder weniger Karotten, Pilzen und Zwiebeln, aber immer mit weißen Bohnen und Wurst und Geflügel. Es war früher ein Arme-Leute-Essen… © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 88 Ich schaue in mein Notizbuch nach Eintragungen von diesem Aufenthalt in Carcassonne: „Martina, die nicht Cassoulet essen will, bekommt Kalbfleisch mit Pommes frites. Besonderheit im Bad: 2 Waschbecken, ein beleuchteter Hohlspiegel. Abends: Kurzer Rundgang zum Bahnhof, zurück über Schleusenbrücke. Sehnsucht nach Bootsurlaub wächst. Martina ist noch zu überzeugen.“ Kein Kommentar. An diesem Tage legten wir 286 Bus- km zurück. XIX. Château de Flaugergues in Montpellier Montag, 8. September 2003 bschied von Carcassonne um 8.45 Uhr. Ein letzter Blick auf die Festung der Altstadt, dann lenken wir den Blick nach vorn und bewegen uns auf der „Autoroute des Deux Mers“ A61 in Richtung Narbonne. Etwa 60 km sind es bis dahin. Unterwegs sehen wir aus dem Fenster. Conny nimmt ab und zu, ihre Versorgungsgänge im Mittelgang unterbrechend, das Mikrophon in die Hand und zeigt auf die Sehenswürdigkeiten und die Landschaft, die ich auch nur kurz streifen will. A Links bilden die Ausläufer einiger Mittelgebirgsformationen den Hintergrund. Es ist das größte zusammenhängende Weinanbaugebiet Europas, erzählt sie uns, das Minervois, mit dem alten Dorf Minerve, das einst eine zerstörte Katharerfestung war und 1210 von Simon de Montfort erobert wurde. 180 Katharer, die ihrem Glauben nicht abschwören wollten, wurden hier verbrannt. Hier hat sich die Cesse ihren Weg durch das Kalkgebirge gegraben und fließt dem Mittelmeer zu. Windmühlen reihen sich auf den mit Weinfeldern dicht überzogenen Hängen, die im 17. und 18. Jahrhundert weitgehend abgeholzt wurden, wie ja überhaupt mit dem Raubbau an der Natur ein dem Menschen innewohnender Vernichtungswille über alle Zeiten hinweg zu beobachten ist. Natürlich lässt er sich mit dem Überlebenswillen dieser höchsten Tiergattung erklären. Leider ist der Mensch bis heute nicht so klug zu erkennen, wie die Natur zurückschlägt, automatisch, konsequent. Hier waren es Glasbläser, die Holz brauchten. Der Wein musste in Gefäße aus Glas. Der karge Boden nimmt zum Aufforsten nur spezielle Pflanzen an. Man hat hier die Seidenraupenzucht angefangen. Sie war über viele Jahrzehnte Haupteinnahmequelle. Erst gab man den Raupen die Blätter der Esskastanie, dann hat man den Maulbeerbaum aus dem fernen Osten geholt. Die Fäden der Seidenraupe verhalfen in den Städten Nîmes, Tours, Lyon einer aufblühenden Textilindustrie, wo sie zu edlen Stoffen verwebt werden, zu einiger Prosperität. Wir erreichen das Autobahnkreuz Narbonne. Nach Süden geht es über Perpignan zur nahen spanischen Grenze. Wir fahren aber nach Nordosten auf der A9, die bei Orange auf die A7 Lyon- Marseille stößt. Wir sehen die Türme von Narbonne, genauer die der Kathedrale St-Just, die nur aus dem Chor besteht und mit 41 m einen der höchsten Kirchtürme Frankreichs hat, die weit ins Land zeigen. Ich versuche bei 100 km/h ein Foto zu schießen. Drei Betonelemente stellen symbolisch Katharer in Ritterrüstungen dar. Wir sind im Katharerland. Überrascht hat mich die Information, dass Narbonne, 16 km von der Küste entfernt, seit römischer Zeit bis zur Versandung des Hafens im 14. Jahrhundert ein wichtiger Handelspunkt am Mittelmeer war. Narbonne wird vom Canal de la Robin durchquert, der die Aude mit dem Mittelmeer verbindet. Dann nähern wir uns Béziers, das links von uns vorbeigleitet. Der Bus hält konstant 100 km/h Geschwindigkeit. Es liegt auf einem Hügel, 12 km vom Meer entfernt, am Orb. Ich erwähnte es schon. Hier wurden 1209 in den Albigenserkriegen, im Namen Gottes, 15 000 Menschen abgeschlachtet. Das Wahrzeichen, die Kathedrale St-Nazaire, ist weithin sichtbar. Nun hat sich auch, nach langer Zeit- es ist wie eine Begrüßung vom ganz nahen Mittelmeer - die Sonne herausgewagt. Sie bringt die sommerlich grüne Landschaft zum Leuchten und erweckt Sehnsucht, aus diesem Busgefängnis auszubrechen. Wir überqueren den Canal du Midi, von dem ich schon so viel berichtet habe. Wieder und immer wieder dehnen sich riesige Weinfelder. © Rolf Bührend, Februar 2003 Seite 88 Der Küstenstreifen rechts in Fahrtrichtung, von der Rhônemündung bis etwa zur Narbonne Plage, das sind gut 30 km, ist seit den 60er Jahren als Touristengebiet erschlossen worden. Die Strände sind gesäubert und zur diesbezüglichen Nutzung bebaut worden. Eine Vielzahl Campingplätze für mobile Urlauber und Hotels sind entstanden. Sie werden von Otto Normalverbraucher gern angenommen, sind preiswerter und bilden so den modernen Gegensatz zur Haute Volée1 an der Côte d’Azur „nebenan“. Zentrum ist die Ferienanlage Cape d’Agde mit über 100 000 Gästebetten, mehreren Jachthäfen und jeder Menge Vergnügungsbetriebe. Von Agde bis Sète erstreckt sich das Bassin de Thau, ein seichtes, vom Meer durch einen angeschwemmten oder künstlichen(?) Damm abgetrenntes Becken von fast 15 km Länge, das wir jetzt eine Weile rechts von uns sehen. Hier werden im großen Stil Austern gezüchtet. In langen Reihen liegen die Podeste im Wasser. Am Fuße des 175 m hohen Hügels Mont St Clair liegt die bis Marseille größte Stadt am Mittelmeer, Sète. Sie hat 45 000 Einwohner, ist nach dem Versanden von Narbonne nach Marseille zweitwichtigster Brückenkopf des Nordafrikahandels und großer Fischereihafen. Der alte Hafen wurde 1666 im Zusammenhang mit dem Bau des Canal du Midi angelegt. Wir wissen, wie schwer es Riquet hatte, Monsieur Colbert (s. Seite 80) zu überzeugen, dass diese Wasserstraße angelegt werden muss oder besser, dass der Staat Geld dafür opfern soll. Riquet hat dann auch sein ganzes Kapital in dieses Projekt stecken müssen, als Initialzündung gewissermaßen. Viele Marokkaner kommen zur Weinlese mit der Fähre (14 Stunden) aus Marokko hierher, um sich Geld zu verdienen. Wir sehen Sète als riesiges flaches Häusermeer, überragt von einem ebenso riesigen Wasserturm, der auf drei mächtigen Betonsäulen ruht. Wieder folgen kleinere Etangs2, die nur durch schmale Nehrungen vom Meer getrennt sind. Dann nach einer kleinen halben Stunde sehen wir rechts den Airport de Montpellier. Hier gibt es eine Autobahnrast von 10.14 – 10.45 Uhr. Ich habe sie noch in Erinnerung, da ich mir hier eine Ansichtskarte mit dem Rezept für Ratatouille3 kaufte, das ich oft angewendet habe. Die ausgiebige Rast war meiner Meinung nicht nötig, doch auch der Fahrer braucht Erholungszeit. Nicht lange danach erblicken wir die ersten Häuser von Montpellier. Wir fahren von der Autobahn ab und durchqueren diese große Stadt, die Hauptstadt des Départements Hérault in der Région Languedoc- Roussillon. Unser erstes Ziel heute Vormittag ist ein Weingut am Ostrande von Montpellier, das Château de Flaugergues. Weinprobe. Wir wurden in einem Nebengebäude zusammengenommen, sammelten uns. Es schien mir, als wären die Führungen, die uns bevorstand, ein wesentlicher Teil seines Einkommens, so routiniert war alles aufbereitet: ein Fernseher mit Lautsprechern, Prospekte, eine Empfangsdame in flammend rotem Kleid, die uns angestrengt anlächelte. Wir lächelten angestrengt und erwartungsvoll zurück. 1 Haute volée, frz. ironisch für: „Höhere Gesellschaft“, haut= hoch, voler= fliegen Etang, frz. Teich 3 Ratatouille, frz. provenzalischer Gemüseeintopf 2 © Rolf Bührend, Februar 2003 Seite 89 Dann kam er, der Comte, Monsieur Henri de Colbert, begrüßte uns kurz in schnell dahin genuscheltem Französisch, als interessiere es ihn nicht, ob wir das nun verstehen oder nicht. Routine. Es gab erst eine kurze Führung durchs gesamte Weingut, um einen Überblick zu gewinnen. Das kleine Schlösschen lag idyllisch in einem gepflegten Park. Niedrige, geometrisch exakt verschnittene Buchsbaumhecken umsäumten Rasenflächen, die rechts und links von hohen Zypressen begrenzt sind. Am Eingang zu diesem kleinen Schlossgarten plätscherte eine Fontäne ihren dünnen Strahl in ein rundes Wasserbecken. Rötlich- braune Kieswege führten zu einer Mauer, die rechts und links einen Treppenaufgang zu einer Terrasse verbarg, hinter der ein recht anspruchsloser dreigeschossiger Bau aufragte. Ein längerer Mittelkörper wird von zwei Risaliten gerahmt, das Dach mit rotbrauner Mönch und Nonne gedeckt, Montpellier, Château de Flaugergues wie es in ganz Südfrankreich üblich ist. Das Château gehört der Familie Colbert seit 1696. Im Innern soll es sehr schöne Möbel, Gemälde und eine alte Bibliothek geben. Ich gehe die Außentreppe hinauf und genieße den Blick zurück in den gepflegten Garten. Dann folgten wir Monsieur in den mit subtropischen und tropischen Pflanzen besetzten Park. Am Eingang dazu verwettete er eine Flasche Wein, wer diese Hecke beim Namen nennen könne: Ich schämte mich meiner mangelnden Kenntnisse – ich hatte sie zuhause im Topf – eine Hecke aus Myrthen! Er hatte wirklich erstaunliche Vielfalt zusammengetragen, Kokos- und Dattelpalmen, Bambussträucher, einen Teich mit Lotusblumen, dann wieder in rotem Sand Agaven, Wüstengräser, in Rindenmulch Zitronen- und Apfelsinenbäume…Es hatte ja auch hier geregnet, und jetzt zu Mittag brannte die Sonne, und alles duftete, die blühenden Oleander übertrafen sich gegenseitig, seltene Blüten überraschten uns aus dem Grün, kurz mochte man bleiben, sich erholen, die Seele baumeln lassen. Doch dazu waren wir nicht unterwegs. Bisher hörten wir die Erläuterungen des begnadeten Landschaftsgärtners Colbert, nun führte uns der Viticulteur und Agriculteur4 Colbert. Wir gingen hinten hinaus. Direkt hinter dem Schloss begannen seine umfangreichen Weinfelder. Das Meer ist nahe. Die Sonne des Südens wärmt, die von den rollkieseligen Ton- und Kalkböden des Rhônedeltas tagsüber gespeichert und nachts langsam abgegeben wird. Alles das lässt hier Trauben reifen, deren Weine seit 1985 in die Klasse A.O.C. (s. Seite 38) eingestuft sind. Was mich erstaunte: die Rebstöcke lagen niedrig am Boden. Der Grund: Sie werden maschinell geerntet. Er zeigte uns stolz seine Traktoren. Dann versammelten wir uns zur Weinprobe. Fünf Sorten standen bereit. Etwa 20 Flaschen standen auf einem Tisch. Zunächst erfolgte seine Einführung. Conny übersetzte brav. Wir hielten jeder ein Glas in der Hand, das Mädchen mit dem roten Kleid und eine ganz schwarzhäutige Schönheit gossen ein. Mr. De Colbert schaute stolz in unsere Reihen. Er wollte nun unsere 4 Viticulteur, Agriculteur: frz. Weinbauer und Landwirt © Rolf Bührend, Februar 2003 Seite 90 Geschmacksknospen prüfen. Wonach schmeckt dieser- und dieser? Wir hatten erfahren, welche Traubensorten er anbaut, für mich zum Teil noch nie gehörte Namen: Der 35 ha große Weingarten besteht aus den roten Rebsorten: 47% Grenache, 30% Syrah, 15% Mourvèdre, 5% Carignan, 3% Cinsault. Colbert stellt aber auch Weiß- und Roséweine her. Die Weißweine setzen sich zu 80% aus Rolle(Vermentino), 10% Grenache und 10% Marsanne &Roussanne zusammen. Nun hatten wir das alles am Gaumen, auf der Zunge, zutzschelten es im Mund hin und her, hoben die Gläser mit Kennerschaft gegen das Licht, steckten die Nasen in die Gläser, schwenkten und beobachteten. Ein Weinkenner sagte einmal bei einer Probe: Wenn Sie ihn hinunter schlucken, dann ist er weg!“ Weiter, eine neue Probe. „Rolf, willst du meins trinken, ich kann nicht so viel!“ Das sind etwa zwei volle Gläser in 20 Minuten! Wir hatten seit dem Frühstück nichts gegessen. Das Weißbrotkörbchen wurde dem Vordermann förmlich aus der Hand gerissen. Die Welt wurde schöner. Eine angenehme Schwerkraft senkte sich auf die Körper, verbreitete dumpfe Wohligkeit… Nun aber wurden Preislisten, Angebotslisten ausgeteilt, herumgereicht, die Sache wurde kommerziell. So schnell konnte ich gar nicht umschalten. Wir mussten aufstehen, wurden in die Verkaufsräume geführt, wo es noch allerlei andere Sachen gab aus der Provence, Pasteten, Käse, Souvenirs und natürlich Weine in allen Preislagen, vom Tafelwein bis zu den großen Grand cru mit fünfjähriger Lagergarantie, verpackt in repräsentativen Holzkisten. Ich erstand auch eine Flasche, auf die ich persönlich achte, dass sie ihren Platz im Weinregal nicht verlässt, bis… Wir waren entlassen, durften auf dem Vorplatz eine Mittagsrast halten. Ein großer pechschwarzer Hund, lieb und zahm wie ein Lämmchen, schaute uns gelangweilt hinterher und döste auf den schattigen Fliesen vor den Türen, so dass man fast über ihn hinwegsteigen musste. Bei laufendem Dieselmotor, Gott weiß warum das sein muss, holten wir uns von der Marketenderin Conny jeder eine Bockwurst aus ihrem reichen Reservoir und vertraten uns danach noch ein wenig die Beine. Beeindruckt haben mich der üppige Wuchs und die übermannshohen, im leichten Wind wehenden Wedel des Pampasgrases. Nun frisch gestärkt, aber etwas weinmüde, da wirkten die warmen Sitzpolster und das gleichmäßige Motorengeräusch des Reisebusses wie Ammen, so dass nach kurzer Fahrt bald alle in Schlaf gefallen waren. Es ging hinunter ins Rhônedelta in XX. Die Camargue N un kamen wir dem Meere ziemlich nahe. Über Landstraßen niederer Ordnung erreichen wir La Grand Motte, einen etwas anderen Ferienort, mit niedrigen kleinen neuen Häuschen. Rechts und links und vor uns die flachen Etangs. Schon jetzt erblicken wir, allerdings noch entfernt, Herden von Flamingos, ab und an steht ein Pferd im Pferch, Conny weiht uns ein in die Sehenswürdigkeiten dieser in Europa ganz einzigartigen FlussdeltaLandschaft. Da sehen wir, es muss am Meer sein, den Leuchtturm von Aigues de Mortes, ein gängiges Postkartenmotiv, das wir noch oft auf Bildern sehen werden. Eintritt Camargue. © Rolf Bührend, Februar 2003 Seite 91 Auf meiner Karte liegt der Ort im Landesinnern. Meine Frage „Warum Leuchtturm?“ ist mit folgender Geschichte beantwortet: König Ludwig IX. von Frankreich (Saint Louis IX.), dem Tugendhaftigkeit und Sittenstrenge den Beinamen „der Heilige“ einbrachten, gelobte im Jahr 1244, nach Genesung von einer schweren Malaria, einen Kreuzzug einzuberufen. Da er an der Mittelmeerküste keinen eigenen, unabhängigen Kriegshafen besaß, umwarb er den Abt der nahen, längst verfallenen Benediktinerabtei Psalmodi, ihm westlich des Rhonedeltas ein Territorium abzutreten. Noch bevor das Abkommen perfekt war, ließ der König eine Stadt aus dem Boden stampfen, in der er sich 1248 zum siebten und 1270 zum achten, für ihn tödlichen Kreuzzug einschiffte: dies die Entstehungsgeschichte von Aigues-Mortes, der „Stadt der toten Wasser“. Man braucht heute, angesichts der sehr stillen, abgelegenen Stadt, einige Phantasie, um sich das hektische Getümmel vorzustellen, das hier in Aigues-Mortes beim Aufbruch der glaubensund kampfbeflissenen Pilger und Kreuzfahrer ins Aigues-Mortes mit Tour de Constance Heilige Land geherrscht haben mochte. Wie eine Fatamorgana ragte die Stadt mit ihren von Steuerfreiheiten und Privilegien angelockten 15.000 Einwohnern (heute sind es knapp 4 000) aus Sand, Sümpfen und Lagunen auf, einzig von der runden Tour de Constance geschützt. Das also ist der sagenhafte „Leuchtturm“. Er sieht aus unserer Busperspektive aus wie ein übergroßer Holzzuber mit einseitigem Henkel. Die 1.700 Meter lange, perfekt rechteckige Stadtmauer, die heute die Hauptsehenswürdigkeit von Aigues-Mortes ausmacht, wurde dann zwischen 1270 und 1314 von Ludwigs Nachfolgern, dem "kühnen" und dem "schönen" Philipp, angelegt. Katholischer Glaubenseifer also als Anstoß zur Gründung einer Stadt, in der besonders die Hugenotten für ihre religiöse Überzeugung leiden sollten. Die Tour de Constance mit dem sanften Namen wurde vom 16. bis zum 18. Jahrhundert zum düsteren Kerker für glaubensfeste Protestanten. Von trister Berühmtheit ist die Geschichte um Marie Durand, deren Gottesglaube trotz 38jähriger Haft nicht gebrochen werden konnte: Sie war als 15jähriges Mädchen in diesem Turm eingekerkert worden und verließ ihn 1768 als 53jährige Frau. Als der Hafen jedoch verschlammte und schließlich austrocknete, zerrann auch der Wohlstand. Heute liegt der Ort 5 km vom Meer entfernt, und die Bevölkerung ist auf ein Drittel von damals geschrumpft. Was aus den glorreichen Tagen blieb, soll jedoch äußerst eindrucksvoll ein. Also ein lohnendes Reiseziel nahe der Camargue! Wir aber halten heute in Les-Saintes-Maries-de-la-Mer, Capitale de la Camargue. Natürlich habe ich mir auch einiges zur Historie dieses Ortes zusammengetragen und schicke es meinen persönlichen Erlebnissen vorneweg: In dem malerischen Fischerdorf Les-Saintes-Maries-de-la-Mer in der Camargue befindet sich die bedeutendste Wallfahrtskirche Südfrankreichs. Folgt man der aus dem 13. Jahrhundert in einem Breviarium der Diözese Aix überlieferten Wallfahrtslegende, so sind 45 n. Chr. die beiden Schwestern der Gottesmutter Maria Kleophas, Mutter der Apostel Jakobus d. J. und Simon Zelotes, sowie Maria Salome, zusammen mit Maria Magdalena, Martha und Lazarus von © Rolf Bührend, Februar 2003 Seite 92 Juden in Palästina auf einem segellosen Schiff ausgesetzt worden, das nach langer Irrfahrt bei Marseille gelandet ist. Sie wurden gerettet und haben die Provence christlich missioniert. Zentrum ihres Kultes wurde diese 542 bei Caesarius von Arles erwähnte Kirche Notre-Damedu-Radeau; seit 1838 heißt sie Notre Dames de la Mer. Im 10. Jahrhundert hat hier vermutlich Graf Guillaume nach der Vertreibung der Sarazenen eine befestigte Kirche errichtet. 1078 gründete die Abtei Montmajour ein Priorat. Um 1170/80 entstand der einschiffige Kirchenbau mit seiner halbrunden Apsis, dem um 1200 Zinnenkranz und Wehrgang als Schutz gegen Seeräuber ein bastionartiges Aussehen verliehen. 1448 hat König Rene I. d'Anjou die Reliquien der Heiligen wieder aufgefunden. Dabei befand sich auch der Leichnam der schwarzen Sara, die der Legende nach die drei Marien im Boot gerettet hatte. Daraufhin wurde die Kirche umgebaut. Ihr Festungscharakter war überflüssig geworden, so dass man den aufragenden Wachturm für die Seebeobachtung mit einer Michaelskapelle in eine Hochkapelle umwandelte, wo man die Reliquien aufstellte. Außerdem ließ Rene eine Krypta hinzufügen, das östliche Langhaus erhöhen und den Eingang nach Westen verlegen. Die Krypta ist der Verehrung der schwarzen Sara gewidmet, deren Kult kirchlich nicht anerkannt ist, die aber wegen ihrer Die Schwarze Sara dunklen Hautfarbe zur Patronin der Zigeuner wurde. Angehörige der Sinti und Roma treffen aus allen europäischen Ländern am 24. Mai in großer Zahl in dem Ort ein und veranstalten am Vorabend des Hauptfestes ohne kirchliche Beteiligung eine Prozession zu Ehren ihrer Patronin, bei der die Figur von in langen, ungegürteten Alben gekleideten Kirchendienern aufs Meer hinausgetragen wird. Beim Hauptfest am 25. Mai, dem Gedächtnistag der Maria Kleophas, nimmt meist der Diözesanbischof an der Wallfahrt teil. Seit 1862 beginnt das Fest mit einer Vesper am Vorabend; dabei wird der Schrein an einer Winde aus der Hochkapelle herabgesenkt und von den unten in der Kirche weilenden Pilgern mit dem Ruf »Vivent les Saintes Maries« freudig begrüßt. Um Mitternacht wird der Kreuzweg gebetet, von drei Uhr früh an werden Messen zelebriert; für die Zigeuner finden sie in der Krypta statt. Nach dem Hochamt um 10 Uhr wird eine Prozession veranstaltet, in der die Segnung des Meeres durch den Bischof von einem Boot aus im Mittelpunkt steht. Die Figuren der Marien werden von Reitern umgeben aufs Meer hinaus getragen. Die Bevölkerung schürzt ihre Gewänder und schreitet ebenfalls ein paar Schritte ins Wasser hinaus. Wenn der Bischof den Segen erteilt, tauchen die Sinti und Roma ihre Kinder in die Flut, die dann ihrer Meinung nach segenskräftig ist. Bei dem Fest am 22. Oktober, dem Gedächtnis Maria Salomes, findet eine Wallfahrt ohne Zigeuner statt. Am letzten Sonntag im Juli werden die Schimmel der Gardiens5 des Courses provencales auf dem Kirchplatz gesegnet. Anschließend erhalten auch die Stiere in der Arena den kirchlichen Segen. Hier wird deutlich, dass die Camargue Weideland für die berühmten Stiere der Arena von Arles ist. 5 Gardian, frz. berittener Viehhüter in der Camargue, entweder der weißen Pferde oder der schwarzen Stiere © Rolf Bührend, Februar 2003 Seite 93 So oder so ähnlich hatte uns Conny auf der Fahrt hierher eingestimmt, wobei nach und nach sich jeder im Bus aus der bleiernen Umarmung der fünf Weine des Monsieur Colberts befreite. Wir bekamen noch einige Tipps und etwas Zeit, bis wir uns 14.30 Uhr am Bootshafen treffen. Vom Busparkplatz zum Meer waren es nur wenige Schritte. Dann überwältigte mich wie ein Hammer die Sicht auf das blaue Mittelmeer und den Mastenwald der Segler, die sich leicht im Wasser wiegten. Die Takelage und die Segel spielten ihre geheimnisvollen Klimpermelodien miteinander, die Rümpfe schepperten müde an den Gummipuffern, Wasser klatschte an den Betonpier. Das Meer lag ruhig und bewegte sich nur ganz leicht. Vor uns lag der Port Gardian. Hier sollten wir bald zu einer Schiffstour zum Die grüne Fläche ist die Camargue Kleinen Rhône starten. Ich habe mich erkundigt: Der Rhône ist für die Franzosen männlich, sowohl der Kleine (Le Petit Rhône) als auch der Große (Le Grand Rhône). Da es für uns ungewohnt ist, werde ich sie feminin behandeln. Wir folgten der Hafenstraße, der Rue Théodore Aubanel, die erst einem kleinen Platz wich, dem Square Baroncelli. Die Namen Aubanel und Baroncelli haben auch eine Geschichte, die ich mir aus dem alles wissenden Internet geholt habe. Sie weckt das Verständnis für diese Landschaft und bringt Vieles näher, was an heutiger Ausstrahlung auf mich Fremden einwirkt. Hier ist sie: Folco de Baroncelli, Der Marquis - "Lou Marqués" Er lebte von 1869 bis 1943. Er kam in Avignon auf die Welt als Marie-Lucien-Gabrile-Folco de Baroncelli-de Javon. Seine Mutter war Marie-Caroline-Henriette-Thérèse-Marguerite-ElisabethLouise de Chazelles-Lunac, Patentochter der Herzogin von Berry und sein Vater ihr Ehemann Raymond de Baroncelli. Doch später als Erwachsener verzichtete er auf Ruhm, Wohlstand und ein bequemes Leben und wohnte in einer Hütte oder in seinem kleinen weißen Haus von Cailar an der Grenze zwischen der Camargue und dem Languedoc. Im Rhonedelta wollte er leben und dereinst auch begraben werden, zutiefst in jenem seltsamen Land, das die Welt nie ganz verstehen kann. Die ersten Kinderjahre verlebte er im Palast seiner Ahnen in Avignon. Es kam jedoch, dass er mehr und mehr bei seiner Großmutter zuhause war, bei der Comtesse de Chazelles in Bellecôte oder Mas de Laïau nicht weit von Nîmes. Sie lehrte ihn das Provenzalische und achtete darauf, dass er Bräuche und Menschen respektierte. Sie legte in ihm den Grund für seine Liebe zu der Camargue. Er war auf der Mas meist mit den Gardians und mit den Tieren zusammen und fühlte sich zu ihnen hingezogen. Sie nahm ihn auch auf die Wallfahrt nach Saintes-Maries mit, wo er die Zigeuner, die Fahrenden kennen lernte und sie gleich mochte. Und sie mochten ihn und daraus wurde eine tiefe Freundschaft. Während seines ganzen Lebens bewahrte er seine sanfte Geduld gegenüber diesem Volk, das ihn als Kind unter sich geduldet hatte. Er war den Menschen, die von so vielen verachtet wurden, immer wohlgesinnt. 6 Schließlich lebte er wieder in Avignon, traf da mit den bedeutenden Leuten der Félibrige zusammen, den Vorkämpfern für die provenzalische Kultur, darunter Frédéric Mistral. Er schrieb 7 Prosa und Gedichte und begann doch auch, seine Manade aufzubauen. Um die Zeit 1890/1900 war eigentlich alles, was mit Traditionen zu tun hatte, beinahe ausgestorben oder es wurde als nicht viel wert angesehen. In der Camargue gab es immer mehr Kreuzungen zwischen den Camargue- Tieren und anderen Rassen. Er selber sah es für wichtig an, die reinen Tiere zu züchten, um die Art zu erhalten, die auch am besten in diesem Land überleben konnte. 1904 wurde die "Nacioun Gardiano", die Bruderschaft der Gardians gegründet, sowie die später mit ähnlichen Zielen geschaffene Gesellschaft "Lou Riban de Prouvènço" (Band der Provence). 6 Félibrige, Literarische Schule, gegründet 1854 von einer Gruppe von Schriftstellern (Mistral, Roumanille, Aubanel), mit dem Ziel, die provenzalische Sprache in den Rang einer Literatursprache zu erheben, benannt nach Félibre, einem Poeten und Prosadichter in der Sprache des Langue d’oc 7 Manade, span. Manada = Herde von weißen Pferden oder schwarzen Stieren in der Camargue © Rolf Bührend, Februar 2003 Seite 94 Seit 1912 führte Baroncelli das Spiel der vier Reiter durch, das er "L'Espervier" (der Sperber) nannte. So baute er schließlich seine Zucht auf und bewahrte die Traditionen und die Kultur und begeisterte mit der Zeit auch andere dafür. Aber es gab immer wieder Rückschläge, und es war alles andere als ein einfacher Kampf. Er wurde oft belächelt, oft nicht ernst genommen, oft sah es so aus, als könnte es nicht gelingen. Der erste Weltkrieg machte wieder alles zunichte, und er musste ganz von vorne beginnen, was bis dahin immerhin schon aufgebaut worden war. Damals wurde davon gesprochen, die Abrivaden und andere Bräuche ganz fallen zu lassen. Aber er kämpfte weiter dafür. Er lebte mit den Gardians und nicht als adeliger Herr. Er gehörte ganz zu ihnen und eroberte auf diese Weise ihren Respekt und ihre Achtung. Als ihn einmal ein reicher Bankier fragte, was er mit Reichtum anfangen würde, antwortete er: "Ich würde die Camargue für meine Freunde in den Saintes-Maries-de-la-Mer kaufen und den Leuten von Cailar alle Weideplätze an den Ufern des Vistre schenken." Der Mann wollte wissen, was denn für ihn selber. Darauf kam die Antwort: "Ich hätte gar keine Wünsche mehr, wenn meine Tiere wohlgenährt und meine Freunde zufrieden wären. Was ich selber brauche, mein Herr, lässt sich nicht mit Geld kaufen." Seine Haltung rechnete ihm das Volk der Camargue hoch an. Er führte auch viele schon vergessene Bräuche und Feste wieder ein, weil sie wichtig für das Land waren. Nach dem ersten Weltkrieg folgten viele festliche Veranstaltungen in der Provence und im Languedoc, die Baroncellis Land und ihn selber in aller Welt berühmt machten. Damals hatten seine Stiere die größten Erfolge in der Arena, und nach einigen Jahren des Erlahmens weckten die Stierspiele wieder die frühere Begeisterung der Volksmenge. Seine berühmtesten Stiere: Provence und Vovo. 1930, als man den hundertsten Geburtstag von Frédéric Mistral festlich beging, war eine Zeit des wirklichen Hochs auch für Baroncelli und seine Anliegen. Er zeigte vor vielen wichtigen Leuten die Pferde- und Stierspiele der Provence. Eine Zeit des größten Triumphes. Dann kam die Zeit des Alterns. Schwere Unfälle, eine Lungenentzündung, von der er sich einigermaßen wieder erholte, aber am meisten zu schaffen machten ihm die Schändlichkeiten der Welt. Der zweite Weltkrieg kam. Baroncellis Gesundheit litt auch sehr unter dem Entsetzen über das Weltgeschehen. Und außerdem drangen fremde Truppen in die Camargue ein, sein Mas wurde besetzt, er verlor dabei viele wertvolle Schriftstücke. Man schlachtete täglich Tiere aus seiner Herde und aus der seines Schwiegersohnes Henry Aubanel. Es war ein qualvolles langsames Sterben. Doch er blieb ein Kämpfer und starb als solcher. Er fasste den Plan, mit den übrig gebliebenen Tieren ein Spiel vor den Kriegsgefangenen zu veranstalten. Er ritt also zum letzten Mal nach Toulon. Seine Pferde liebte er so sehr, dass er sie bei Transporten in Eisenbahnwaggons immer selber begleitete. Nun geschah bei Rognac ein Zusammenstoss. Er wurde zu Boden geworfen und von einem Pferd am Bein verletzt. In Toulon sagte er aber niemanden etwas von der Verletzung. Die tiefe, bis auf die Knochen reichende Wunde infizierte und entzündete sich. Nach der Rückkehr von diesem letzten Reiterspiel musste er das Bett hüten. Er starb am 15. Dezember 1943. Unter den Trauernden waren alle Schichten des Volkes vertreten: Arme und Reiche, Niedere und Adelige, Zigeuner und Gardians und sogar Offiziere in Uniformen. Obgleich das Tragen von Uniformen von der Besatzungsmacht verboten war, kümmerte sich an diesem Tag niemand darum. Sein Heim, der "Simbèu" war nicht mehr. Schwer getroffen litt die Camargue unter der Besetzung. Als endlich der Krieg ein Ende nahm, blutete sie aus vielen Wunden: Minenfelder, Gräben, Stacheldraht, Fußangeln, Zerstörung. Die Stiere waren in die Crau geflohen, wo auch die letzten Pferde ein klägliches Dasein fristeten. Von der ganzen Herde überlebten nur einige wenige Tiere. Doch eines Tages gab es den Simbèu wieder, nicht genau an der gleichen Stelle, an der der alte gestanden hatte, aber genau nach dessen Art wieder gebaut. Die Stiere und Pferde kehrten zurück. Und als man die erste Abrivade durchführte, schöpften alle neue Hoffnung, die gemeint hatten, dies alles nie mehr zu sehen. Und dann ging man daran, Baroncellis letzte Ruhestätte dort zu bauen, wo er bestattet sein wollte 8 - inmitten seiner Herden im Frieden der Sansourïs . Es ist die letzte Wohnung dessen, der schon 8 Sansouïr, frz. Salzsteppe © Rolf Bührend, Februar 2003 Seite 95 als Kind die Sonne mit fröhlichem Lächeln begrüßte, und es soll ihr deshalb nichts Trauriges anhaften. An einem schönen Julimorgen des Jahres 1951, am Tag vor dem Vierginenco- Fest, schmückt sich Arles zum Empfang ihres Meisters. Sechzig Reiter, mehr als hundert Gardians und fünfzig Razeteurs begleiten den Kondukt, der die Rhone überschreitet und seinen Weg durch die Camargue nimmt. Nun ist Baroncelli wieder in seinem Reich. Die Zigeuner erwarten den Zug. Diese Nacht wird Baroncelli wieder unter ihnen sein in der Krypta der heiligen Sara, wie das erste Mal vor unzähligen Jahren. Am nächsten Morgen drängt sich die Menge zur Kirche. Überall sieht man die Dreizacke der Gardians und die Trachtenhauben der provenzalischen Mädchen. Aus aller Welt sind alte Freunde und Verehrer Baroncellis gekommen. Das Heimatlied "Coupo Santo" erklingt. Unter der Eskorte von hundert Gardians und vieler Camargesen und Zigeuner tragen sieben Gardians - die letzten sieben, die Baroncelli gedient hatten - den silberbeschlagenen Sarg auf ihren Schultern zur Grabstätte, die im Abendsonnenschein leuchtet. Seinen letzten Willen hat Baroncelli zwei befreundeten Zigeunerführern anvertraut: "Wenn die Zeit gekommen sein wird, sollt ihr meinen Leib in der Erde der Saintes-Maries begraben, den Kopf gegen die Herdstelle gelehnt, die das Symbol meines glühenden Lebens ist, und die Füße gegen die Kirche der heiligen Frauen gerichtet. Denn dort will ich ruhen." Ein Sonnenstrahl trifft den Stein und lässt das Wappen Baroncellis golden aufleuchten. Es trägt in provenzalischer Sprache den Spruch: "RACO D'O, TANT QUE T'A JOUNENCO AU TAU GARDARA SA CRESENCO, IEU PROCUMENTE, SARAI TOUN BREU E TOUN BLOUQUIE" "Geschlecht von Oc, solange deine jungen Männer ihren Glauben an die Stiere bewahren, will ich dein Schild und Talisman sein". Das ist die rührende Geschichte eines großen Sohnes der Camargue, Folco de Baroncelli, der dieses Stück Natur mit seinen charakteristischen Tieren, den weißen Pferden und den schwarzen Stieren und seinen Bräuchen, Traditionen und Festen zu dem gemacht hat, was wir heute vorfinden. Ich müsste, als wir unmittelbar neben der Stierkampfarena eine öffentliche Toilette suchen, auch noch etwas zu den Stierkämpfen sagen. Ich erwähnte schon, die französischen sind anders als die spanischen, aber ich war nicht dabei, also lasse ich es. Wir besteigen also das Schiff, „Les Quatre Maries“, und voll gespannter Erwartung verlassen wir den von einer Molenzunge geschützten Hafen. Wir schwammen auf dem Mittelmeer! Was für ein Gedanke. Ein winziges Stück auf offenem Mittelmeer. Wir tuckerten westwärts, das Boot begann etwas zu schaukeln, auf die Mündung des Kleinen Rhône zu. Am Fuße der mächtigen Felsblöcke, die die Hafenmauer bilden, warfen Angler ihre weiten Angeln aus. Ich sah an den weißen Knöcheln einiger Fäuste, die sich um die Reeling oder andere Stangen klammerten, dass der Wellengang des offenen wenn auch küstennahen Meeres nicht jedermanns Geschmack war. Ich schaute besorgt auf Martina. Ihr schien es noch zu bekommen. Die Schaukelei hörte auf, als wir plötzlich nach Norden abbogen und rechts und links die Ufer der kleinen Rhône auf uns zukamen. Nun begann das einzigartige Naturschauspiel, dem allerdings hier am Tage viele Dutzend Male auf vielen Booten Zuschauer zugeführt werden. Die Folge ist, dass man die eigentlichen Akteure, die vielen Vertreter der Tierwelt, nur versteckt sieht. Die Vögel kennen die Menschen. Sie haben ihre Fluchtdistanz. Was kann ich bei dieser Fahrt flussaufwärts nu beobachten? Monoton klingt das Geräusch des Schiffsdiesels. Wir sitzen vorn. Vor uns rauscht das grünliche Wasser des Flusses, teilt sich am Bug und hinterlässt hinter © Rolf Bührend, Februar 2003 Seite 96 uns beträchtliche Wirbel, die schnell die Ufer erreichen und die dortigen Wasservögel in ihrer Ruhe aufscheuchen oder überhaupt nicht stören. Ich nahm mein Fernglas und suche die Randzonen des Ufers ab. Achtung dort, ein Fischreiher! Der erhebt sich und entschwebt mit zwei drei mächtigen Flügelschlägen ins nahe Gebüsch. Routine für ihn. Möwen schwärmen aufgeregt um unser Boot. Für sie sind wir interessante Abwechselung für ihre karge Flussnahrung. Vielleicht, ja eigentlich immer fällt für sie etwas menschliches Futter ab. Auf einem ausgebleichten Baumstamm, sicher vom letzten Hochwasser hier angespült und Teil des Ufers geworden, steht stolz, den Kopf uns abgewandt, ein Silberreiher. Wir gleiten vorbei in kurzer Distance. Er zögert, bleibt dann aber stehen, hält ein Auffliegen für zu energieaufwendig. Ein erfahrener Vogel. Hier kann ihm nichts passieren. Da am linken Ufer plötzlich sehen wir ihn, den Taureau, den ersten schwarzen Stier! Er guckt zu uns, nicht sonderlich beeindruckt. Schiffe sind für ihn ebenso gewohnte Begegnung wie vorhin dem Vogel. Aufgeregt fotografiere ich was das Zeug hält. Zuerst sehe ich nur den Stierkopf aus dem dichten hohen Gebüsch herausragen. Unbeweglich wie eine in die Natur eingefügte Trophäe sieht er aus, wie ein Denkmal. Dann tritt er heraus und zeigt sich in seiner ganzen Größe. Er weidet das Gras am Ufer, das besonders fett ist. Aufmerksam beobachtet ihn ein Kuhreiher. Symbiose oder Zufall, dass sie so nahe beieinander sind? Das dichte Ufergebüsch lichtet sich zeitweise. Wir können nun weiter landein eine ganze Herde der schwarzen Stiere sehen. Alle tragen sie die Hörner nach vorn und oben gebogen, vorn gefährlich spitz zulaufend. Übrigens, ganz schwarz sind sie nicht, eher ins dunkle rötlichbraun gehend. Sie tragen jetzt Sommerfell. Nun muss man nicht glauben, dass sich zum Wohle und Attraktion der Touristen alle wilden Tiere hier bei jedem vorbeifahrenden Schiff am Ufer wie zur Parade zeigen. Die höher gelegenen Salzsteppen sind durchweg trockener als die Uferzonen hier und tragen einen kargen Bewuchs. Hier wird der größte Teil der berühmten Camargue- Stiere und der halbwilden Pferde gezüchtet. In den Steppen wird teilweise auch Reis, Mais, Weizen und Wein angebaut, und an einigen Stellen finden sich Salzpfannen und Salzwasserlagunen, auf denen viele seltene Vogelarten brüten: Flamingos, Dünnschnabelmöwen, Lachseeschwalben, Tafelenten, Stelzenläufer und Säbelschnäbler. Der Fluss zieht viele an, doch in der großen Fläche dieses großen Naturparks Camargue leben noch viele Vogelarten, die bei uns fast schon als ausgestorben gelten: Sperber, Milan, Seeadler, aber auch Kormorane, die die Fischer nicht so lieb haben, weil sie ihre Konkurrenten sind, Löffelreiher, Schmuck- und Brautenten, Bekassinen mit ihren langen Schnäbeln und viele andere. Die Sumpf- und Seenlandschaft der Camargue im Delta der Rhone gehört zu den drei bedeutendsten Feuchtgebieten Europas. Es ist ein Gebiet von außerordentlichem botanischem und zoologischem Interesse - allein über 300 Zugvogelarten sind hier schon belegt. In den Süßwassersümpfen leben Rohrdommeln, Zwergdommeln, Purpur-, Nacht-, Rallen-, Kuhund Seidenreiher sowie Rohrweihen. Weitere Brutvögel sind die Bienenfresser, die Blauracken und die Häherkuckucke. Steht in der Literatur über die Camargue und gehört gewusst. Und noch: © Rolf Bührend, Februar 2003 Seite 97 Die Camargue, zweifellos eines der wichtigsten Vogelschutzgebiete in ganz Europa, besitzt zudem eine faszinierende Amphibien-; Schlangen und Echsenfauna und eine Fülle von Insekten und anderen Wirbellosen. Es gibt verschiedene Eulenarten, unsere heimatlichen Störche halten hier ihr Winterquartier Auf den Etangs halten sich Hunderte, ja Tausende von rosa Flamingos auf, die in dem salzigen Wasser gründeln und das Plankton herausseihen. Der Ornithologe findet hier 60 ha geschützte Fläche und kann hier seine Beobachtungen anstellen. Uns begegnen andere Ausflugsboote, die zurückkommen. Die Fahrt dauert etwa eineinhalb Stunden. Das ist ganz ordentlich lang. Wir gewöhnen uns an die schöne Landschaft. Wieder ein paar Stiere, direkt am Ufer. Der Fluss führt wenig Wasser, Folge des trockenen heißen Sommers. An seinen Flanken künden eingestürzte Hochufer und angespülte Baumstämme von der reißenden Kraft des Wassers bei Hochstand. Dann gelangen wir zum Umkehrpunkt unserer Fahrt. Das Boot legt an und macht an einer Reihe in den Fluss getriebener Baumstämme fest. Wir dürfen aber nicht von Bord. Direkt vor uns liegt die Koppel einer größeren Herde, nun sehen wir auch die berühmten weißen Pferde. Es sind auch Stiere dabei. Man sagt, die unterschiedliche Intelligenz lässt sie gute Kameradschaft halten. Wovor nun die eine Art die andere bewahrt, ist mir entfallen. Jetzt zaubern warmherzige Frauen Brot und Brötchen herbei und locken so die Tiere direkt ans Ufer. Ob es ihnen gut tut? Es sieht hier alles sehr schmutzig aus. Pfützen vom letzten Regen verschlammen den Boden, in den die Tiere ihren Kot getreten haben. Ihre Felle sind ruppig und räudig. Ich bin ein wenig enttäuscht. Ich muss bedenken, dass sie bei Wind und Wetter hier draußen sind. Nach dem Fotogewitter entspanne ich mich. Wir haben die Attraktionen der Camargue gesehen, ihre Aushängeschilder, einige Vogelarten, die Pferde und die Toreaus, die Stiere. Nach einer kurzen Pause legt unser Boot wieder ab und tuckert, nun mit halber Kraft, die Strömung nutzend, wieder zurück. Naturschutzgebiet Camargue © Rolf Bührend, Februar 2003 Seite 98 Der Regionalpark umfasst das gesamte Gebiet südlich der Stadt Arles zwischen der Petit und der Grand Rhone. In seinem Zentrum liegt der große Etang de Vaccarès, der zusammen mit den Seen und Sümpfen südlich des Etang das staatliche Naturreservat bildet. Die ökologischen Verhältnisse der Camargue sind sehr vielgestaltig, denn der Park umschließt Brackwasserseen, Uferwälder, Dünen, Küstengebiete und Salzsteppen (Sansouire), und dazu kommen noch vereinzelte brackige Tümpel und Sümpfe. Zwei weitere wichtige Reservate liegen in dieser Region: Das so genannte Kaiserliche Reservat ist im Westen des staatlichen Reservats gelegen; es besteht vorwiegend aus Wasser und wird von der Stadtverwaltung von Les-Saintes-Maries-de-la-Mer unterhalten; das andere befindet sich im Osten und beherbergt die Biologische Station Tour du Valat unweit von Le Sambuc. Die Station ist Privateigentum und zuständig für die Erforschung der Biologie der Camargue, vor allem des interessanten Vogellebens. Eine für Mensch und Tier sehr wichtige Pflanze ist das Schilfrohr. Es ist im Süßwasser fast überall dominant, dient als Versteck, Lebensraum und Nistplatz für Vögel, als Futterpflanze für Pferde und Rinder sowie zum Decken der traditionellen weiß gekalkten Häuser der Gardians. Schilfdächer finden sich allerdings mittlerweile vor allem auf den touristisch genutzten Cabanes9. Manche Besucher, die die Camargue nur aus der Bildbandperspektive kennen, sind enttäuscht, nicht mehr Vögel zu sehen. Wir bekamen aber relativ viel zu sehen. Ich war begeistert von der Fahrt, sie vermittelte einen ersten Eindruck und stellte eben diese Bilderbuchwerbung ins rechte Licht. Die Pferde sind nicht ganz weiß, die Stiere nicht ganz schwarz. Und dennoch ist die Camargue eines der letzten Refugien – wenn auch nicht unberührter – Natur. Auf der Rückfahrt konnte ich die seltsame und ehemals sehr wehrhafte Kirche in voller Breite bewundern. Dort mussten wir hin! Wir legten an und bekamen Freizeit. Die Stadt war sehr belebt. Martina zog es in den engen Straßen in die Boutiquen mit Kleidung, ich zog den köstlichen Duft frischer Backwaren in die Nase und rang mit meinem Appetit. Letztendlich trennten wir uns, nachdem ein genauer Treffpunkt ausgemacht war. Etwa an der Post, am Kreisverkehr, steht ein Denkmal, charakteristisch für die Region: Ein Lanze tragender, überlebensgroßer Gardian treibt einen Camargue- Stier. In doppeltem Sinne herausragend sind die langen spitzen, nach oben zeigenden Hörner. Ich löse ein Ticket für 2 Euro und steige hinauf auf das Kirchendach. Saint-Maries-de-la-Mer liegt mir zu Füßen. Ich blicke hinunter in das Gewimmel der engen Gassen, der Blick schweift dann über die roten Dächer, über den Mastenwald im Seglerhafen unendlich weit hinaus auf das in der späten Nachmittagsstunde silbern glitzernde Mittelmeer. Ich steige über den Dachgrat – man muss Acht geben, dass man nicht abrutscht - blicke mich auf der Landseite um. Es ist unbeschreiblich, dieser Blick über das flache Land der Camargue bis zum Horizont. Belohnung für den Aufstieg und weiterer Höhepunkt des Tages. Martina winkt mir von unten. Ich steige ab. Nun will ich in die Kirche hinein. 9 Cabane, frz.Hütte, Baude, Häuschen, Bude; in der Camargue typisches, schilfgedecktes, weiß getünchtes Wohnhaus © Rolf Bührend, Februar 2003 Seite 99 Was mich in dieser Kirche beeindruckt sind Bilder, Bilder unter Glas, die alle einen einzigen Inhalt haben: Die wundersame Errettung der vier Marien durch die schwarze Sara. Man sieht in schäumende Gischt gehüllte Boote mit händeringenden Frauen, umgeben von seltsamen aber hilfreichen Wundererscheinungen am Himmel, geflügelte Frauen. Der Marienkult ist in der christlichen katholischen Kirche weit verbreitet. Dann die Krypta. Man sieht sie im Altarraum, geht ein Paar Stufen hinunter und – fängt an zu schwitzen. Hier sind tropische Temperaturen durch die unzähligen Kerzen, zu denen jeder gläubige Besucher mindestens eine hinzufügt. Der Sauerstoff ist knapp. Man ringt bald nach Atem und muss wieder hoch, hinaus, an die frische Luft. Am Ausgang grüßt noch ein Heiliger in frommer brauner Kutte mit Kapuze. Ist es der Heilige Franziskus? Er trug jedenfalls ein Franziskaner- Habit, aber einen weißen Strick. Hier trägt er ein schwarzes Band um die Hüften. Sein Geheimnis bleibt mir verborgen. Wir versammeln uns alle wieder und werden nun noch etwa 70 km bis nach Nîmes fahren. Wir tangieren Arles, halten aber nicht an. Arles, das Herz der Provence. Vincent van Gogh. Stierkampf. Ich muss meine Gedanken ordnen. Von wo sind wir heute eigentlich gestartet? Von Carcassonne! Es waren 289 km, drei Stunden reine Fahrzeit, aber wie viel Erlebnisse lagen dazwischen! Wir steuerten in Nîmes in einem Gewerbegebiet einen nüchternen Zweckbau an. Billig- Quartiere. Unterbringung mit Massencharakter. „Nîmotel la brandade“. Kofferschleppen. Zimmerbezug. Einige Hundert Leute in einem gepresst vollem Speisesaal. Massenabspeisung, die man schnell vergessen möchte. Bettgang. Augen zu: Bilderparade des Tages. XXI. Nîmes Dienstag, 9. September 2003 er Nîmes kennen lernen will, muss sich einige Tage hier aufhalten. Und wer einen Ort so richtig in seiner Lebensart erfahren möchte, muss Kontakt zu seinen Bewohnern haben, und das nicht nur für kurze Zeit. Das blieb uns auf dieser Reise für alle Orte versagt, die wir berührten. Berührung ist wohl ein zutreffender Begriff, der unser Erleben veranschaulicht. Wir durften die Orte nur sehen, berühren, mit den Füßen ertasten. Erleben ist etwas viel Intensiveres. Da kommt die Sprache hinzu, mit der ich vertraut werden möchte. Ich durfte mich orientieren, ein erstes Bild aufnehmen, meine bisherigen Vorstellungen von diesen Orten damit verquicken. Das ist schon viel, ein guter Anfang. Etwas bleibt dann haften. Die großen Klischees ordnen sich ein. Die kleinen persönlichen Erlebnisse fügen sich hinzu. „Weißt du noch? Du musstest damals so dringend, wie lange wir gesucht haben…?“ Das macht es auch aus, das Reisen. Nîmes ist Hauptstadt des Départements Gard im Languedoc-Roussillon. Nîmes ist eine 2000 Jahre alte Römerstadt, eine der wenigen Städte Frankreichs mit dem Zirkumflexzeichen über dem i, dem „accent circumflexe“. Antike Bauwerke aus dieser Zeit sind noch heute erhalten: Das Amphitheater, das Maison Carrée, der Tempel der Diana, ein Stück römische Stadtmauer und vor allem der Aquädukt Pont du Gard. In Nîmes sagen sie von sich selbst: W " Nîmes est posée sur un carrefour d'Histoire et d'échanges humains… Passage obligé du Rhône vers l'Espagne, de l'Espagne vers l'Italie, de l'Océan à Rome ou à Venise, Nîmes a bien été obligée d'épouser l'histoire de l'Europe : tous les pèlerinages, toutes les guerres, toutes les invasions, tous les commerces sont passés dans sa plaine (...)" Christian Liger (Nîmes sans visa) " Nîmes liegt auf einer Straßenkreuzung von Geschichte und Menschenströmen… Die Passage führte von der Rhone gegen Spanien, von Spanien gegen Italien, vom Ozean in Rom oder Venedig; Nîmes ist immer verpflichtet gewesen, sich an die Geschichte Europas zu binden: alle Wallfahrten, alle Kriege, alle Invasionen, aller Handel sind in seiner Ebene vorbeigegangen...“ Christian Liger (Nîmes ohne Visum) © Rolf Bührend, Februar 2003 Seite 100 Eine Stadtführerin geleitete uns ein knappes Stündchen in der Römerstadt Nîmes, dem antiken Nemausus, um uns einen Hauch davon zu zeigen. Es war noch früh, gegen 9 Uhr. Leider gingen wir vorbei an dem mächtigen Kolosseum. Es ist 133 m lang und 101 m breit. Die zweistöckige Fassade mit 60 Arkaden ist 21 m hoch und trägt Traversen, die insgesamt 20 000 Menschen Platz boten. Jagdspiel, Tierund Gladiatorenkämpfe fanden hier statt. Es ist gut erhalten, war in der Antike durch Zelte, die an Seilen über das Oval gezogen wurden, überdacht. Heute wird es im Winter ähnlich mit einem mobilen Überbau geschützt. Bei Veranstaltungen fasst es heute noch etwa bis 7000 Personen. Im Nîmes, Amphitheater Vorbeigehen höre ich das imaginäre Brausen des Schreis, wenn der Stier besiegt ist. Von der Place des Arènes treten wir in den historischen Stadtkern ein. Wir gehen nicht den breiten Boulevard Victor Hugo, sondern entlang der Rue de l’Etoile, die Sternstraße. Die Gewerbetreibenden begannen gerade ihre Läden zu öffnen, die Auslagen davor zu ordnen, herauszuräumen. Ein blauer Himmel strahlte über der Stadt. Ein herrlicher Tag stieg herauf. Noch frisch vom Besprengen mit Wasser glänzte das glatte Pflaster in den Gassen, durch die wir geführt wurden. Auf dem Place du Marché fasziniert mich ein Brunnen, an dem wir kurzen Halt machen. Aus dem geborstenen Stumpf einer römischen Säule quillt Wasser. Ein mächtiges Krokodil liegt in der Lauer. Zwei tropische Wasservögel stehen am Rande des kleinen Beckens. Eine Fächerpalme vervollständigt die Illusion an Ursprünge, an die erinnert wird. Es stellt die Wappenbilder der Stadt Nîmes dar: das Krokodil und die Palme. Die Gasse öffnet sich zu einem kleinen Platz. Wir stehen vor dem Maison Carrée, einem gut erhaltenen korinthischen Tempel aus der Römerzeit, erbaut etwa im 1. Jahrhundert und zwar zu Ehren Gaius und Lucius Caesar, der Enkel- und Adoptivsöhne des Kaisers Augustus. Er ist der einzige heute noch vollständig erhaltene Tempel der Antike. Auf seinem erhöhten Fundament beherrschte er einst das Forum der antiken Stadt, das von einem großen Säulengang umgeben war. Wir steigen die Stufen hinauf und treten ein. Ein großes Bild erinnert an den damaligen Zustand, wie es hätte aussehen können unter den Römern. 1992 wurde mit originalen „Leistenziegeln“ das Dach wieder antik nachgebildet, es entstand eine getreue Reproduktion mit Falz- oder Hohlziegeln, handgefertigt. Wir machten einen kurzen Rundgang im Innern. Museale Stücke aus der Römerzeit wurden bewahrt, Nachbildungen, echte Säulenreste, Bruchstücke, Marmorköpfe, Schrifttafeln in Französisch und Englisch. Die nähere Beschäftigung bedarf der Kenntnisse der Römerzeit. Schon hier war die Führung zu Ende. Mit Stadtplan, den Conny jeder Familie in die Hand drückte, war es kein Problem sich zurecht zu finden und auch erleichternd, allein noch ein wenig die Stadt zu erkunden. © Rolf Bührend, Februar 2003 Seite 101 Wasser zieht immer an, auch diesmal mich. Martina überließ mir die Wahl des nächsten Zieles. Die nahen Gärten verhießen Schatten und Sehenswürdigkeiten. Wir strebten zum Park. Entlang der kleinen Rue de Auguste gelangten wir zu einem grün bepflanzten Rondell, dem Square Antonin, das eine Statue des Kaisers Antoninus10 zierte. Ein künstlicher Wassergraben lenkt uns eine lange schattige Allee hinter zu den Jardins de la Fontaine. Vorn lese ich an einem Pfeiler unter dem sich um die Palme windenden Krokodils eine Gedenkschrift, die den Opfern einer Überschwemmung vom 3. Oktober 1988 gewidmet ist: « En Hommage aux victimes et sinistres des inondations de 3 octobre 1988.“11 Welches Wasser, bleibt mir unklar. Es ist wochentags am Vormittag gegen 10 Uhr. Die Gärten sind leer. Ein weiträumiges Parkgelände mit Wassergräben, Brunnen und steinernen Balustraden öffnet sich. Das Gelände steigt an. Hinter hohen Bäumen steigen Wege steil an, die zum höchsten Punkt führen, den wir leider nicht aufsuchen können: Den Tempel der Diana. Es ist das romantischste und gleichzeitig rätselhafteste Bauwerk des römischen Nîmes. Es gehörte zum kaiserlichen Heiligtum. Seine Funktion ist nicht bekannt. Uns sitzt wieder einmal die Zeit im Nacken. Wir wollen noch etwas von der Innenstadt sehen. Nochweiter oben hätten wir den höchsten Punkt von Nîmes entdecken können, die Tour Magne. Er ist der mächtigste und prachtvollste Turm der alten Stadtmauer, 32 m hoch, dreistöckig, wobei das letzte Geschoss nicht mehr existiert. Er verspricht – für spätere Besucher – eine Aussicht ersten Ranges. Wir eilen im Park zurück, noch einen letzten Blick die enorm breite Achse der Avenue Jean Jaurès werfend, die sich kilometerweit bis an den Sichthorizont hinzieht, eine Pracht- Allee, die einer Großstadt würdig wäre. Wir kommen an einem schattigen kleinen Platz vorbei, wo ich eine Gruppe Männer beim Boulespiel beobachten kann. Mit großem Ernst und Eifer stehen sie, in der linken Hand, Handfläche nach vorn, die schwere Kugel, mit der rechten gestikulierend, mit dem Partner die Chancen diskutierend. Es geht gemessen zu. Dann holt der eine aus, schwingt einige Male vor und zurück und wirft das runde Eisen in den festgestampften Sand, trifft oder trifft nicht. Es gilt ja, die gegnerischen Kugeln wegzutreiben und die eigenen nach vorn ins Ziel zu bringen. Ich bleibe eine kleine Weile stehen. Boule ist von Südfrankreich bis nach Spanien hinunter Volkssport im schönen Sinne. Ich habe noch nie Frauen dabei beobachtet. Es ist eine Männerdomäne, es verbindet, ist geruhsam, lässt Zeit zum Schwatzen, weil es ohne den Faktor Zeit gespielt wird und unterhaltsam. Ob es dabei um Geld geht, konnte ich dort nicht in Erfahrung bringen. Nun habe ich mich aber um fachlichen Rat gekümmert, den ich hier weitergeben möchte. Der uninteressierte Leser mag es übergehen. Für mich war es neu: Boule oder Pétanque? Boule heißt auf Deutsch schlicht und einfach "Kugel". Im Laufe der Zeit entwickelten sich vor allem in Frankreich verschiedene Kugelspiele. Die populärste Variante dieser "Jeux de Boules" ist Pétanque, das auch in Deutschland gespielt wird. Zur Geschichte der Boule-Spiele Die Entwicklung der Boule-Spiele reicht Jahrhunderte zurück. Ihren Anfang nahmen sie in Form unterschiedlicher Kugelspiele, die in zahlreichen Ländern von allen Schichten der Bevölkerung ausgeübt wurden. Schon im 13. Jahrhundert wurde in Frankreich mit Holzkugeln Boule gespielt. Hierbei ging es darum, die Kugel möglichst nahe an ein Ziel zu platzieren, entsprach also in etwa den heutigen Versionen. 10 T. Aelius Hadrianus Antoninus Pius, geboren 86 bei Lanuvium in Latium , stammt aus einem Geschlecht, das in Nîmes zu Hause war, römischer Kaiser von 138 – 161. Er heiratete 110 Faustina die Ältere. Nach Hadrians Tod 138 übernahm er dessen Herrschaft, wurde römischer Kaiser, vergöttlichte Hadrian und erhob Marc Aurel zum Cäsar. Er erhielt den Beinamen „Pius“(der Fromme). 141 verlor er seine Gattin. Er verschob den Limes in Britannien und Germanien nordwärts, kämpfte gegen Britannier, Alanen und Parther, schlug Aufstände in Numidien und Mauretanien nieder, förderte die Reichsverwaltung, ordnete das Rechtswesen, kümmerte sich um Finanzen und Steuern und unterstützte die von Katastrophen heimgesuchten Städte wie z.B. Ephesus. Mit einer Alimentenstiftung für Mädchen ehrte er Faustina. Am Forum Romanum entstand der Tempel des Antoninus und der Faustina. Er starb im Jahre 161. Seine Portraits beherrschte im Antlitz die aequanimitas, die Gleichmut. Das war des Herrschers letzte Parole vor seinem Tode. Man möge sie in dem Standbild am Square Antonin suchen und – finden! 11 En Hommage …, frz. In Ehrung der Opfer und Verunglückten der Überschwemmungen von 3.Oktober 1988 ". © Rolf Bührend, Februar 2003 Seite 102 1369 verbot Karl V. dieses Spiel, weil er die Staatssicherheit gefährdet sah, da die Soldaten anstatt Bogenschießen zu üben, ihre Freizeit dem Boule-Spiel widmeten. Die Pariser Synode von 1697 untersagte allen Geistlichen, in der Öffentlichkeit Boule zu spielen. Genauso wie das Spiel verfolgt wurde, gab es andererseits auch öffentliche Unterstützung. Die berühmte Fakultät von Montpellier bestätigte im 16. Jahrhundert den Wert des Boule-Spiels für die Gesundheit: "Es gibt keinen Rheumatismus oder andere ähnliche Leiden, die nicht durch dieses Spiel vereitelt werden können, es ist für jede Altersstufe geeignet:" Ludwig XI. wusste das auch und spielte häufig Boule, und der bekannte Generalfeldmarschall Turenne galt als unschlagbar. Die Popularität des Spiels stieg im 19. Jahrhundert stark an. Es wurde nicht mehr nur auf Wiesen außerhalb der Stadt gespielt, sondern überall, wo Platz war, in den Straßen und auf den Marktplätzen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann man in Lyon das "Boule Lyonnaise" zu spielen. 1894 wurde dort auch der erste Wettbewerb veranstaltet, bei dem über 1000 Spieler drei Tage lang um die Plätze rangen. 1906 wurde der erste Verband gegründet. In Italien entwickelte sich eine weitere Version, das "Boccia". Gespielt wird auf 4,50 m breiten und 28 m langen, speziell präparierten Plätzen. Die Kugeln sind aus Holz und haben unterschiedliche Farben, um sie auseinander halten zu können. Im Jahre 1898 wurde in Turin der erste Boccia-Verband gegründet. In Frankreich gibt es heute einige unbekannte regionale Spiele sowie das bereits erwähnte "Boule Lyonnaise", das "Jeu Provençal" und das jüngste, aber heute populärste aller Boule-Spiele: "Pétanque". Die Spielidee ist immer die gleiche, es wird versucht eine oder mehrere Kugeln näher an eine Zielkugel zu platzieren als der Gegner. Unterschiedlich sind die Spielregeln, das Gewicht der Kugeln und die Abmessungen des Spielfeldes. Die bekanntesten Boule-Spiele Das Boule Lyonnaise Das Ende des 19. Jahrhunderts aufgekommene Spiel wird heute in großen Teilen Frankreichs praktiziert. Es ist jedoch nicht so populär wie Pétanque, u.a. weil für Boule Lyonnaise ein großer, besonders präparierter Spieluntergrund benötigt wird. Man spielte zu Beginn - wie schon im Mittelalter- mit Holzkugeln. Diese waren, um eine höhere Widerstandsfähigkeit zu erhalten sowie um rund zu laufen, mit Nägel beschlagen. Ab 1923 wurden die Kugeln aus einer Bronze-Aluminium-Legierung hergestellt, heute sind sie hauptsächlich aus Stahl. Ihr Durchmesser muss zwischen 9 und 11 cm liegen, und sie müssen ein Gewicht zwischen 900 und 1400 g aufweisen. Die Zielkugel muss innerhalb einer Zone zwischen 12,5 und 19,5 m zum Liegen kommen. Für die Ausführung des Wurfes hat der Spieler 7 m zur Verfügung, in denen er Anlauf nehmen kann. Das Boule Lyonnaise ist eine sehr sportliche Form des Boule-Spiels. Es gehört viel Training dazu, eine knapp 1,5 kg schwere Kugel über eine Distanz von bis zu 19,5 m zu werfen und damit noch eine gegnerische Kugel zu treffen. Das Jeu Provençal Das Boule Lyonnaise wurde immer bekannter, machte sich auf den Weg die Rhône abwärts und erreichte schließlich das Mittelmeer. Dort angekommen, wurde dem Reglement erst einmal die Strenge genommen, und die Kugeln wurden kleiner und leichter (zwischen 600 und 900 g). So entstand ein neues Kugelspiel in der Provence und wurde deshalb "Jeu Provençal" genannt. Auch hier ist viel Bewegung mit im Spiel. Beim Punktieren macht der Spieler aus einem Abwurfkreis heraus einen großen Ausfallschritt nach rechts oder links und zieht das andere Bein nach. Die Kugel muss gespielt werden, bevor das Nachziehbein den Boden berührt, es wird also auf einem Bein stehend geworfen. Man muss gleichzeitig ein Gleichgewicht finden und die Kugel bis zu 22 m Nîmes, Männer beim Jeu Provençal weit gezielt werfen. Beim Schießen nimmt der Spieler drei Schritte Anlauf aus dem Kreis und schießt die Kugel auf einem Bein stehend ins Ziel. Diese Art des Boule-Spiels ist wie seine Lyoner Variante sehr anspruchsvoll. Das Pétanque Das Spiel entstand im Jahre 1910 in La Ciotat, einem kleinen Städtchen an der Côte d´Azur. Ein sehr guter, schon etwas älterer Spieler des Jeu Provençal musste zuschauen. Sein Rheuma plagte ihn, und er konnte weder den Ausfallschritt vollziehen noch konnte er die drei Schritte Anlauf zum Schuss nehmen, zu stark waren seine Schmerzen. Dennoch wollte er seinen Sport nicht aufgeben, und es kam ihm die Idee, die Wurfdistanz um einiges zu verkürzen und zudem ohne Anlauf im Stehen zu spielen. Man stand in einem Abwurfkreis und spielte auf eine Entfernung von 6 bis 10 m. Von der Abwurfposition - man musste mit geschlossenen Füßen im Kreis stehen - leitete sich auch der Name des Spiels ab. Die Bezeichnung für "geschlossene Füße" heißt auf französisch "pieds tanqués", auf © Rolf Bührend, Februar 2003 Seite 103 provenzalisch hieß es "ped tanco". Diese beiden Wörter sind schon bald zu einem verschmolzen: Pétanque. Da das Spielfeld keinen strengen Regeln unterzogen wurde, eröffneten sich große Möglichkeiten, dieses Spiel auszuüben. Man war nicht mehr beschränkt auf ein genau eingeteiltes Spielfeld auf einem bestimmten Platz, sondern man spielte auf Plätzen vor Kirchen, in Parks und auf ungepflasterten Dorfstraßen Als ich den Regelkatalog mit 39 Artikeln sah, verzichtete ich auf das nähere Studium, stellte aber fest, dass ich die Franzosen um diese Leidenschaft etwas beneide. Wir kegeln dafür wettergeschützt. Martina lässt nicht locker. Nun möchte sie ihren Interessen folgen, was ja nur gerecht ist. So folgten wir dem Quai de la Fontaine in seiner Verlängerung und gerieten in die belebte Altstadt. Am modern gestalteten „Centre Commercial“, einer Kaufpassage, zog sie mich die Treppe hinauf und hinein. Wie ein Raubtier seine Beute, witterte sie Boutiquen. Hier war es die Marke Camaieu, die sie mit einem Pullover beglückte. Ich musste etwas dolmetschen, was wiederum mich etwas erfreute und nützlich machte. Als Mann ist man ja in einer Boutique hilflos und verloren. Allein würde ich mich da nie hin verirren. Martina war noch nicht ganz zufrieden. Wir zogen jetzt mit ihren Augen weiter. Ein Schuhgeschäft musste genau gemustert werden. Doch halt, da wieder: Camaieu. Ich konnte ihr gerade noch androhend – wir mussten zum Treff! zurufen. „10 Minuten, dann bin ich weg.“ Ich blieb auf einer Bank vor dem Geschäft sitzen, das Laufen strengte an. Wir hatten bis zum Bustreff genau noch 20 Minuten. Die Hälfte davon war großzügig. Dann waren 10 Minuten um. Martina war nicht zu sehen. Ich ging in den Laden hinein. Unten niemand. Ich stieg die Treppe hoch, schaute, suchte. Keine Martina. Während ich im Laden suchte, war sie aber aus dem Laden geschossen, wollte mich holen- und sah mich nicht. Jetzt brach bei ihr die Panik aus: Allein in Frankreich ohne zu wissen, wie sie zum Bus findet, ohne ein Wort Französisch. Wo war ich? Fast weinend kam sie in den Laden zurück, wo sie durch Zufall auf mich traf…Erlösung. Beinahe Zusammenbruch. Dennoch Kauf. Hektik. Wir müssen los! Fast im Laufschritt pesten wir los, ich wollte nun noch die Kathedrale sehen. Mein Plan führte mich hin. Ich kaufte in einem kleinen Schreibwarenladen zwei Ansichtskarten. Blick zur Kathedrale. Foto. Weiter, den breiten Boulevard Amirtal Courbert hinunter, vorbei am Archäologischen Museum und Museum für Naturgeschichte, von deren Fassade mich zwei Musen grüßten. Die eine hielt eine Mandoline in der einen und grüßte gewinnend mit der anderen Hand: „La Musique“ . Eine Taube schwebte über ihr. Die andere hielt eine Palette und schaute prüfend in die Ferne: „La Peinture“, die Malerei. Fotos. Weiter. Es war unbefriedigend, beinahe kulturlos. Dann konnten unseren Bus schon sehen, an der breiten Esplanade Charles de Gaulle. Hier stand ein mächtiges Denkmal, nach vier Seiten sitzende Gestalten, die die vier großen Flüsse Frankreichs verkörpern, die Garonne, die Seine, der Rhône, die Loire, drei Frauen, ein Mann. Über allen stand stolz eine römische Frauengestalt, als Krone das Maison Carrée. In der rechten Hand stützt sie ein Schild mit den Wappenbildern Nîmes, des Krokodils und der Palme. Ich wusste, dass wir jetzt nun den Pont du Gard aufsuchen würden und freute mich darauf. Ich wusste aber nicht, wie weit weg er von Nîmes liegt und dass wir über eine halbe Stunde fahren mussten, um dorthin zu gelangen. © Rolf Bührend, Februar 2003 Seite 104 Erst auf der Karte habe ich mir die Entfernung verinnerlicht: 25 km nordöstlich von Nîmes liegt dieses wohl bekannteste und besterhaltene Bauwerk seiner Art, der Aquädukt Pont du Gard. Er brachte in römischer Zeit Quellwasser der Eure bei Uzès in einer 50 km langen Leitung nach Nîmes. Der Pont überspannt das weite Tal des Gard oder Gardon mit einer 275 m langen Steinbrücke aus drei übereinander liegenden Bogenreihen, die von Flussniveau bis oben 49 m hoch ist. Wir fuhren auf einen Parkplatz, wurden erst einmal aufgefordert, unsere Mittagsmahlzeit einzunehmen. Damit wuchs die Spannung. Noch hatten wir nichts gesehen. Die Sonne schien. Wir saßen auf einem Stein und löffelten eine Tomatensuppe, dazu Bockwurst mit Weißbrot, Notverpflegung aus dem Bus, aber preiswert und zeitsparend, ganz in meinem Sinne. Dann durften wir. Der Weg führte vom Parkplatz am linken Ufer durch eine Touristenfalle: Gaststätten, Museum, Toilettenanlagen, Kino, Ausstellungen…Dann kamen wir in die Natur und dann sahen wir ihn, den Pont du Gard. Seit meiner Jugend wusste ich davon, kannte sein „Hochzeitsbild“. Jetzt durfte ich näher treten, ihm „unter den Rock schauen“. Zunächst liefen wir auf der Straße Pont du Gard, vom rechten Ufer gesehen über der ersten Bogenreihe, und ich war enttäuscht, dass wir nicht höher hinauf durften. Ich hörte Leute sagen, dass man früher auch ganz oben die Brücke überqueren konnte. Die Touristen, zu denen ich mich ja nun selber zählen muss, haben aber zu viel zerstört. Der Wasserkanal ist ja teilweise noch ausgekleidet und mit Platten abgedeckt. Ich kann es mir lebhaft vorstellen: Wo Touristen sind, bleibt Müll und Zerstörung zurück, mindestens Abnutzung, Abrasion. Der Massentourismus hat schon ganz andere Kunstwerke zerstört, abgesehen davon, was die lieben Mitmenschen, diese Bestien, im Kriege vernichten oder aus religiösem Wahn oder aus Gewinnsucht oder aus Dummheit… Einen Trost gab es, einen Aussichtspunkt am rechten Ufer, den man ersteigen konnte. Ich begeisterte Martina, die mir willig und ergeben folgte. Durch dichtes Gebüsch, über Stock und Stein führte der noch vom letzten Regen schlammige Weg steil nach oben. In Gänsereihe kletterten wir geduldig die 50 Meter aufwärts. Endlich oben. Verschnaufen. Wir hatten ja wieder keine Zeit, denn eine Reihe unserer Mitfahrer blieben unten und waren schon wieder auf dem Rückweg. Dann übersahen wir das ganze Flusstal, jetzt auf ausgetrocknetem Tiefstand. Die weiß gewaschenen Uferzonen ließen aber erkennen, dass der Gardon bei Hochwasser sehr gefährlich werden konnte. Der Blick reichte weit hinein ins Land des Languedoc. Ich versuche, einen Moment abzuschalten, schließe die Augen, ziehe tief die Luft ein, versenke mich, schaue noch einmal ins Rund, über die herbe Mittelmeerlandschaft der Garrigue, verabschiede mich gewissermaßen. Ein Ruck…Zurück. Weiter. Abgehakt. Was soll man machen? Gar nicht oder so? Ich hole mir noch einen Prospekt. Mehr Werbung als Information. So viel finde ich noch: Auf der Baustelle (38 – 52 n. Chr.) waren 1000 Männer beschäftigt. Mehr als 50 000 Tonnen Steine wurden verarbeitet. Bis zum 3. Jahrhundert wurden die Thermen von Nîmes täglich über diese 50 km lange Fernleitung mit 35 000 m3 frischem reinem Quellwasser versorgt. Schon im 4. Jahrhundert wurde der große Aquädukt in der Gegend des Flusses Lône dann teilweise zerstört. Zu Anfang des 6. Jahrhunderts wurde er endgültig außer Betrieb genommen. Heute zählt er zum unverzichtbaren Weltkulturerbe. Wir steigen in den Bus und richten unser Augenmerk auf das Nachmittagsprogramm. © Rolf Bührend, Februar 2003 Seite 105 XXIII. Avignon – Palais du Papes V om Pont du Gard bis nach Avignon hinüber waren es vielleicht 25 km, ein Katzensprung, aber wir wechselten in eine andere Region, die Verwaltungseinheit Provence-Alpes-Côte d’Azur und erreichten mit der Stadt Avignon am Rhône die Hauptstadt des Départements Vaucluse. Die große ewig junge Dame mit dem schwarzen Bubischnitt taucht auf, Mireille Matthieu, der Spatz von Avignon: Ihre Musik klingt unmerklich in deinen Gedanken auf, man ertappt An einem Sonntag in Avignon der Musiker in Avignon. sich beim Summen, das erste Klischee, als wir die lange spielt Da brennen tausend Laternen am Fluß Platanenallee zum Parkplatz hinter der langen Stadtmauer entlang und alle Mädchen, die träumen heut' fahren. In Deutschland ist die Stadt wohl am ehesten über dieses von einem Kuß. Lied bekannt, das von der Liebe träumt, das einen Sonntag An einem Sonntag in Avignon, kommt die Liebe nach Avignon, beschwört, mit Musik und die Traurigkeit vertreibt mit der da da ist die Einsamkeit vorbei. Verheißung, endlich die Liebe zu finden. Und natürlich vor allem O c'est si bon, o c'est si bon, und es geschieht so allerlei, auch „Sur le pont d’Avignon…“ an einem Sonntag in Avignon. Es ist beeindruckend, dass die gesamte Altstadt noch mit einer bist nie mehr so jung wie heut, völlig intakten Stadtmauer (4 km) umzogen ist. Viele Tore führen Du bleib nicht allein, nimm Dir die Zeit hinein. und komm mit mir, es ist nicht weit, und komm mit mir nach Avignon. An einem Sonntag in Avignon, spielt der Musiker in Avignon. Dazu im Kreis dreht sich das Karussell; bist Du noch traurig, steig ein, und das ändert sich schnell. An einem Sonntag in Avignon, da kommt die Liebe nach Avignon. Da ist die Einsamkeit vorbei O c'est si bon, o c'est si bon, und es geschieht so allerlei, an einem Sonntag in Avignon. Du bist nie mehr so jung wie heut, bleib nicht allein, nimm Dir die Zeit, und komm mit mir, es ist nicht weit, und komm mit mir nach Avignon. Da ist die Einsamkeit vorbei, O c'est si bon, o c'est si bon, und es geschieht so allerlei, An einem Sonntag in Avignon … Avignon, Papstpalast, Hauptfassade mit Porte des Champeaux Sur le pont d'Avignon, 67 Jahre war die Stadt Sitz des Heiligen Stuhls und Zentrum der L'on y danse, l'on y danse, Christenheit. Avignon wurde zum magischen und kulturellen Sur le pont d'Avignon Mittelpunkt Europas. Mitte des 14. Jahrhunderts stieg die L'on y danse tout en rond. Les beaux messieurs font comme ça Et puis encore comme ça. Sur le pont d'Avignon,… Les belles dames font comme ça Et puis encore comme ça. Sur le pont d'Avignon,… Les officiers [ou les soldats] font comme ça... Les bébés font comme ça ... Les bons amis font comme ça... Les musiciens font comme ça ... © Rolf Bührend, Februar 2003 Einwohnerzahl innerhalb von 35 Jahren von etwa 6000 auf 30.000. In der Zeit wirtschaftlicher und kultureller Blüte, zeigte sich aber auch die Vergänglichkeit des Reichtums. Die Verschwendungssucht der Päpste, Korruption und Ämterschacher, beschleunigten den Autoritätsverlust des "Heiligen Stuhls" von Avignon. 1309 siedelte sich der Papst Klemens V. hier an. Wir haben von 13.30 – 16.00 Zeit. Zweieinhalb Stunden für eine solche Stadt! Vor dem Palast der Päpste bietet eine kleine Diesel- Eisenbahn auf Gummirädern eine Stadtrundfahrt an. Wir tuckern über die Place d’Horloge, den Uhrmacherplatz in die Rue de la République, kehren dann in einem engen Gassengewirr, über winzige Plätze, wo den Verkehr hindernde Seite 106 Säulen- Poller vom Fahrer mit E- Karte wie durch Zauberhand für uns in die Erde versenkt werden, vorbei an Hunderten Besuchern auf den mit bunten Standschirmen überschatteten Freisitzen, nach 20 Minuten zum Palaisplatz zurück. © Rolf Bührend, Februar 2003 Seite 107 Wenigstens ein kurzer Überblick! Vorher musste ich Martina das Zugeständnis machen, bei „Camaieu“ einzutreten, um – endlich, welche Freude, welcher Stolz! – als Dolmetscher tätig, mit ihr den roten Pulli zu erwerben, den sie in Nîmes vergeblich gesucht hatte. Dann standen wir vor dem Wahrzeichen von Avignon. Der Palast der Päpste wurde im 14. Jahrhundert ein Symbol der Ausstrahlung der Kirche auf den christlichen Westen. Wie begann seine Geschichte? Vom alten bischöflichen Wohnsitz Jean XII. auf dem Domfelsen über der Rhône ist nichts geblieben als ein Plan. Die Arbeiten am „alten“ Palast von Benedikt XII. begannen 1335 mit der Konstruktion eines Bergfriedes außerhalb des Palastes, dem „Turm der Engel“(la Tour des Anges), um den man Privatwohnungen flankierte, und der durch einen Wall geschützt war, dann erbaute man die Große Kapelle (la Grande Chapelle), parallel zum Dom (la Cathédrale Notre-Dame des Doms). Von 1338 bis zu 1342 reißt man wieder Teile ab und baut die verschiedenen Flügel des alten bischöflichen Palastes um ein Kloster wieder auf, das von zwei starken Türmen flankiert wird, die dem Palast das Aussehen einer strengen und starken Festung verleihen. Danach behält der Bau sein Gesicht bis heute. Ab 1335, in weniger als zwanzig Jahren erbaut, ist der Papstpalast hauptsächlich das Werk von zwei Erbauer-Päpsten, Benedikt XII. und seinem Nachfolger Clemens VI. Das heutige UNESCO- Denkmal begründete den wichtigsten gotischen Palast der Welt, schon von den Dimensionen her: 15 000 m2 Bodenfläche, er enthielt im Volumen 4 gotische Dome! Sieben Päpste und mehrere Gegenpäpste haben in Avignon residiert: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. Clemens V. (1305 - 1314) (seit 1309 in Avignon) Johannes XXII. (1316 - 1334) (in Avignon) Benedikt XII. (1334 - 1342) (in Avignon) Nikolaus V. (1328 - 1330) (Gegenpapst in Avignon) Clemens VI. (1342 - 1352) (in Avignon) Innozenz VI. (1352 - 1362) (in Avignon) Urban V. der Glückliche (1362 - 1370) (in Avignon) Gregor XI. (1370 - 1378) (in Avignon) Clemens VII. (1378 - 1394) (Gegenpapst in Avignon) Benedikt XIII. (1394 - 1409 und 1417) (Gegenpapst in Avignon) Clemens VIII. (1423 - 1429) (Gegenpapst in Avignon) Benedikt XIV. (1425 - 1430) (Gegenpapst in Avignon Das Kloster Benedikt XII. Die sogenannte "Babylonische Gefangenschaft" endete 1376. Das Große Abendländische Schisma12 (1378—1417), während dessen zeitweise drei rivalisierende Päpste einander gegenüberstanden, erschütterte die päpstliche Autorität vollständig. Die Reaktion hierauf war das Vordringen des Konziliarismus13. Seine Anhänger vertraten die Oberhoheit des Konzils über den Papst. Das vom deutschen Kaiser Sigismund einberufene Reformkonzil von Konstanz (1414— 1418) schien den Sieg des Konzilsgedankens zu bedeuten… Wie man aus der Tabelle und den Jahreszahlen sieht, wollten einige kirchliche Würdenträger ihre Pfründe in Avignon nicht aufgeben. Eine verworrene Geschichte um Macht und Einfluss in Kirche und weltlicher Politik…Damals war der Buchdruck noch nicht erfunden. Man schrieb alles noch von Hand. Das Schießpulver, angeblich vom Franziskanermönch Berthold Schwartz erfunden, kannte man schon. 12 Schisma, [das, griechisch, „Spaltung“], kirchliche und rechtliche, aber nicht lehrmäßige Trennung und Bildung selbständiger Teile in einer Kirchengemeinschaft. Besonders bekannt sind: 1. Morgenländisches Schisma, erfolgte zwischen der morgenländischen und der abendländischen Kirche 867, endgültig 1054. 2. Abendländisches oder Großes Schisma (1378-1417), als 2 bzw. 3 Päpste gleichzeitig den Primat beanspruchten. 13 Konziliarismus, die Lehre, daß die allgemeinen Konzile über dem Papst stehen; praktisch angewandt vom Konstanzer Konzil. Das 5. Laterankonzil 1516 entschied gegen die konziliare Theorie zugunsten des Papsttums. © Rolf Bührend, Februar 2003 Seite 108 Für ein horrendes Eintrittsgeld verschafften wir uns Eintritt. Nicht alle unsere Mitreisenden wollten das ausgeben. Wir bekamen einen „Murmler“ mit, der an Hand der Raumnummer uns Erklärungen in deutscher Sprache lieferte. Vorausgesetzt, man hat Zeit, ist er sehr nützlich. Wir standen wie üblich aber wieder unter Druck, daher hielt er uns nur auf. Also touchierten wir nur die riesigen Räume, die Hallen, Korridore, Kabinette, Säle, Vorhöfe, Kapellen, blieben mal hier, mal da stehen stiegen Stufen hinauf und hinab und schauten. Dieser Palast ist äußerst spärlich möbliert, ja fast ohne Mobiliar. Er besticht durch seine Monumentalität, seine Wucht, seine für den ersten Besuch unübersehbare Größe. Wir tappten, geführt und gelenkt durch Pfeile, Seile und Zahlen, durch die alten Gemäuer und ließen unseren Emotionen freien Lauf. Ich weiß nicht was Martina empfand. Es war alles leer, groß, mächtig und unpersönlich. Ungewöhnlich. Zunächst beeindruckte uns der Konsistoriensaal, 34 Meter lang und 10 Meter breit, einer der wichtigsten Säle des Palastes. Hier tagte im 14. Jahrhundert das Konsistorium, einst Oberster Rat und höchstes Tribunal der Christenwelt. Hier wurden Könige und Fürsten empfangen, vom Pontifex neue Kardinäle ernannt, Urteile gesprochen. Der Saal brannte 1413 völlig aus, so dass die Fresken an den Wänden ausgemerzt sind. Dafür hängen jetzt dort wertvolle Gobelins. Die Stirnseite zieren Papstportraits. Die schwere Holzbalkendecke – man bedenke die Spannweite! – und das durch die hohen Bogenfenster einfallende Licht schmücken den leeren Saal. Eine Seitentür führt in die berühmte Kapelle St-Jean, deren fast quadratischer Grundriss von einem hohen gotischen Gewölbe überspannt ist. Die Flächen zwischen den bemalten Rippenbögen und die Wände sind mit wunderschönen, gut erhaltenen Fresken aus der christlichen Heilsgeschichte überzogen, ein frappierender Kontrast zu dem leeren Saal. Nun führten uns Treppen hinaus und nach oben. Wir blickten in den Innenhof des Klosters von Benedikt XII. Hier ruhten wir auf einer Bank etwas aus, tranken einen Schluck und kauten einen Bissen. Von hier tritt man nun in den Großen Speisesaal, den Grand Tinel, den „magnum tinellum“. Er ist mit 48 Meter noch länger als der darunter liegende Konsistoriensaal, ebenfalls seinerzeit ausgebrannt und völlig leer. An der Stirnseite zeugt noch ein Kamin von seiner Bestimmung. Hier wurden die Speisen gewärmt, bevor sie zur päpstlichen Gasttafel gereicht wurden. Von einem Balkon führt ein Gang zur Haute Cuisine, der Oberen Küche. In dieser päpstlichen Küche, die Klemens VI. bauen ließ, imponierte mir der hohe Kamin. Er hat die Form eines riesigen umgestülpten Trichters. Die gewaltigen Ausmaße entsprachen dem uneinnehmbaren Charakter der Papstfestung. Der „Murmler“ erklärte uns: ‚Einmal aber, während der Belagerung 1398, diente eben dieser Kaminschacht einer Handvoll feindlicher Soldaten unter Führung eines gewissen Geoffry Boucicaut als Durchschlupf in das Innere des Gebäudes. Das Geräusch einer zu Boden fallenden Leiter erregte die Aufmerksamkeit der Palastwache, die nach kurzem Gefecht die kleine Schar der Avignon, Pferde im Papstpalast Eindringlinge gefangen nahm.’ Über der Kapelle St-Jean liegt die Kapelle St-Martial. Sie überraschte uns wieder mit herrlichen Fresken und einem gotischen Fenster. Seine tiefe Leibung ließ die über einen Meter dicken Mauern erkennen. Durch verschiedene Zimmer, ein Prunkzimmer, das mit fünf großen Wandteppichen geschmückt ist, das päpstliche Schlafzimmer sowie ein mit Jagdmotiven an Wand und Decke bemaltes Hirschzimmer gelangten wir in die leere Große Kapelle, la Grand Chapelle. Hier wirkt nur die Architektur. Sie besticht mit reiner südländischer Gotik. Sieben © Rolf Bührend, Februar 2003 Seite 109 Joche mit Spitzbogengewölben führen ihre Rippenbögen in Bündelpfeiler, die mit der kahlen Mauerwand verschmelzen. Wir traten durch das Portal der Großen Kapelle auf eine Art Loggia heraus und sahen durch ein offenes Fenster, das so genannte Vergebungsfenster nach unten. Von hier sprachen die Päpste zu der im Ehrenhof versammelten Gemeinde ihren Segen. Sicher waren da auch weltliche Würdenträger bei ihm. Die breite Treppe mit ganz flacher Steigung und zurzeit dort hingestellte Pferdemodelle lassen vermuten, dass diese hoch zu Ross hinaufritten. Oder waren es Wächter oder noch ganz andere. Seltsam und geheimnisvoll. Ich habe bis heute den Sinn dieser Pferde an diesem Ort noch nicht herausgefunden. Wir gingen diese breite Treppe hinab und gelangten schließlich in den Großen Audienzsaal. Er ist 52 m lang, 15,80 m breit und 11 m hoch. Eine aus 5 Bündelpfeilern bestehende Säulenreihe trägt ein klassisches gotisches Rippengewölbe. Die Seitenschübe der Gewölbe enden in Übermannshöhe in schönen Kapitellen mit Tiermotiven in der dicken Wand, die den Druck aufnimmt. Es ist duster und es gab noch verblasste Fresken an den Decken, eine Art Sternenhimmel, und ich erinnere mich vage, dass man mich auf Teile originalen Fliesenfußbodens hinwies. Hier fanden die großen Prozesse statt, versammelten sich die dreizehn Kirchenrichter, die das Tribunal der „Sacra Romana Rota14“ bildeten. Wir traten ans Tageslicht und stehen wieder auf dem riesigen, von Treppenabsätzen geteilten Palaisplatz. Gegenüber dem Papstpalais steht ein wunderschöner Barockbau. Es ist das Hôtel des Monnaies, heute Sitz des Konservatoriums, erbaut 1619 als Logis für die päpstliche Gesandtschaft des Kardinals Scipione Borghese, dessen Wappen mit Adler und Drachen noch gut zu erkennen ist. In der Folge diente es als Kaserne der Kavallerie und während der französischen Revolution als Hauptquartier der Gendarmerie. Ich wollte den schäbigen Rest unserer verbleibenden Zeit verwenden, wenigstens noch ein Foto vom Pont de Bénezet einfangen. Dazu mussten wir unter der dicken Stadtmauer durch. Wir sahen schon den wartenden Bus. Moment, wir kommen! Schnell das Bild geschossen. Leider war es uns nicht vergönnt, uns näher mit diesem nach dem Papstpalast bekanntesten Bauwerk Avignons zu beschäftigen. Aber ein winziges Stück seiner Geschichte und seine Avignon, Le Pont Bénezet Legende und will ich hier einfügen. Es sind die Rudimente eines im Mittelalter gewaltigen Brückenbaues über die Rhône. Sie ersetzte einen Flussübergang aus Holz. Diese erste Brücke der romanischen Zeit des 12. Jh. ist bis an den vierten Bogen während der Albigenserkriege 1226 von Ludwig VIII. zerstört worden. Sie war die natürliche Grenze zwischen Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und der einzige Übergang über die Rhône. Im 13. Jh. wurde sie aus Stein wieder erbaut. Von ehemals 22 Bogen existieren nur noch vier. Hochwasserfluten haben sie oft beschädigt. Im 18. Jh. wird der Verkehr über die Brücke eingestellt. Die kleine Kapelle erinnert an die Legende, die diesem steinernen Zeugnis der Geschichte seinen Namen gab: 15 Ein junger Hirte mit Namen Bénezet kam 1177 von den Bergen des Ardèche herunter. Er sah sich als Abgesandter Gottes, um eine Brücke in Avignon zu bauen. Im Anfang hielt man ihn für einen Narren, aber er hatte eine vom Himmel herab gekommene Stimme gehört, die ihm diktierte: „Bénezet, nimmt deinen Bischofsstab und gehe bis Avignon hinunter, die Hauptstadt am Rand des Wassers. Du wirst mit den Einwohnern sprechen, und du wirst ihnen sagen, daß man eine Brücke bauen muss.“ 14 Sacra Romana Rota, lat. Heilige Römische Runde, kurz genannt die Rota; Tribunal aus der Zeit des Pontifikats Johannes XXII. (1331) 15 Ardêche, hier südöstl. Ausläufer des Cevennen- Gebirges; heute Département, Hptst. Privas, Reg. Rhône-Alpes © Rolf Bührend, Februar 2003 Seite 110 An einem Fest- Sonntag, während der Bischof von Avignon seine Segnung auf dem Vorhof von Notre Dame gibt, befragt ihn Bénezet: „Bischof, Herr, ich werde vom Allmächtigen angewiesen, um eine Brücke auf der Rhone " zu bauen...“ Von den Einwohnern verspottet, wird der Hirte vom Prälaten vor die Herausforderung gestellt, einen enormen Stein auf seine Schultern zu laden und ihn in die Rhone zu werfen. Bénezet zögert keinen Augenblick, und unter dem Blick der verblüfften Menge hebt er den Steinblock auf, bevor er ihn ins Wasser wirft. ‚Geholfen, sagt man seitdem, hat ihm eine göttliche Eingebung, und ein in goldenes Licht getauchter Engel.’ Diese schöne Sage von Sankt Bénezet ist in der volkstümlichen Inbrunst aufgegangen. Die Konstruktion der Brücke hat eine ganz andere Herausforderung an die Elemente gestellt. Die Reste dieser Brücke St Bénezet sind das älteste Bauwerk des 12. Jahrhunderts an der Rhone zwischen Lyon und dem Mittelmeer. Wir hetzen zurück. Adieu, Avignon! Aufsitzen. Die Tour de France rollte weiter. Ich verdrehte lange noch den Hals, um von dieser wundervollen Stadt noch einen Zipfel zu erhaschen. Nun hatten wir eine lange Fahrt vor uns, die uns auf der A7 nach Norden bringen soll. Das Wetter hatte sich gebessert. Als wir ankamen, drohte Regen. Ich drehe mich um, blicke zurück. Weit im Hintergrund grüßen noch einmal die Pyrenäen. Rechts auf hohem Fels türmen sich alte Festungen. Ich will noch erwähnen, dass gegenüber Avignon auf der linken Rhôneseite Villeneuve-lezAvignon mit dem Fort St-André, dem Kartäuserkloster Val de Bénédiction, der Tour Philippe le Bel und der Stiftskirche Notre-Dame mit Kloster ein Tagesprogramm für weitere Besuche winkt. Dank der Brücke St-Bénezet ließen sich die Kardinäle und Mitglieder des päpstlichen Hofes bevorzugt hier drüben nieder und bauen hier ihre Residenzen und Paläste. Fort André diente zur Grenzbefestigung, und das „Val de Bénédiction“ wurde das größte Kartäuserkloster Europas. Unterwegs: Orange wird passiert, bleibt zurück. Wir verließen die Region Provence-Alpes-Côte d’Azur und fuhren hinein in die Region Rhônes-Alpes. Oranges ist bekannt durch seine Namen gebenden ockerfarbenen Felsen. Die nächstgrößere Stadt, die wir durchfahren, ist Montélimar. Schon aus der Ferne sieht man die riesenhohen, dampfenden, Angst machenden Kühltürme des Atomkraftwerkes Cruas im Norden der Stadt. Montélimar ist bekannt für seinen Nougat, der aus Honig und Pistazien gemacht wird, eine Spezialität. Rechts kann man in weiter Ferne die Voralpen ahnen. Hinter Valence biegt die A49 nach Grenoble ab. Ab hier etwa rechts der Rhône dehnt sich die Dauphiné16, eine geschichtsträchtige Landschaft. Wir haben die Rhône immer links von uns, bis wir sie bei Vienne auf beeindruckenden Brücken einige Male kreuzen. Nach drei Stunden etwa landeten wir in der Hauptstadt des Départements Rhône und zweitgrößten Stadt Frankreichs, in Lyon. Sie ist fortwährend in Konkurrenz mit Marseille. XXIV. Lyon D ie große Stadt Lyon erreichen wir in der beginnenden Dämmerung. Es ist noch hell genug zu sehen von den zwei Flüssen, die sich hier vereinigen; die Saône mündet in Lyon in die Rhône, Wir unter- oder überqueren ihre Brücken, werden vom riesigen Häusermeer verschlungen. Bevor wir das Stadtgebiet erreichen, tangieren wir einen der größten Chemiestandorte Frankreichs. Erdölraffinerie, Frankreichs größtes Zentraltanklager, hochstrebende Destillationskolonnen, Rohrbrücken, Bürogebäude, Forschungseinrichtungen der Petrolchemie, Schienen, Behälterwaggons. Eisenbahnbrücken, Straßenbrücken, Viadukte, Steigungen. Conny zeigt uns schnell noch im Fahren oben auf dem Berg die Basilika Notre16 Dauphiné, historische Landschaft im südöstlichen Frankreich, zwischen Rhône und italienischer Grenze; 2 Hauptlandschaften: 1. Oberdauphiné, von den Zentralalpen (im Pelvoux-Massiv 4103 m) bis zu den westlichen Kalkalpen; 2. Niederdauphiné Schotterflächen des Alpenvorlands mit fruchtbaren Tälern (Getreide-, Wein- und Olivenbau, Seidenraupenzucht). Geschichte: Die Dauphiné wurde im frühen Mittelalter Lehnsfürstentum des Königreichs Burgund. Die seit 1163 dort herrschende Familie Albon nannte sich im 12. Jahrhundert Dauphin von Viennois. 1349 wurde sie mit kaiserlicher Zustimmung an Frankreich verkauft unter der Bedingung, daß jeder französische Thronerbe Titel und Wappen der Dauphiné tragen und dass das Land seine Grenzen behalten solle. © Rolf Bührend, Februar 2003 Seite 111 Dame-de-la-Fourvière von Lyon. Und sie beginnt ihr Wissen über diese Stadt auszukramen. Wir erfahren, dass der erste Webstuhl zwar in Tours, der zweite aber dann in Lyon stand. Wir wissen ja schon, dass die Seidenraupenzucht in der Provence die traditionsreiche Seidenindustrie nach sich zog. Lyon ist heute noch Hochburg der Seidenweberei. Davon erzählt das Museum „Maison de Canuts“. Das Wort „Canuts“ ist schwer zu übersetzen, zusammengesetzt aus Canne und Use, das bedeutet so viel wie Stock benutzen. Gemeint sind wahrscheinlich die Weberschiffchen oder andere „Stöcke“, die beim Seidenweben benutzt werden. Canuts weben noch heute von Hand an den Prestige- Stoffen, sie haben die Benutzung, die Gewohnheiten und die Gesten der Handwerker von früher gespeichert. Einen vornehmen Stoff erkennt man an den schillernden Reflexen. Die Seide wird mit den zartesten Farben und den lebhaftesten Tönen einer üppigen pastellfarbenen Palette gefärbt. Gedruckt oder mit der Hand gemalt, werden die edlen Stoffe mit reichen Motiven oder künstlerischen Gemälden geschmückt. Vom Kokon bis zum Velours aus Genua oder Damaskus, im Labyrinth der Seidenfabrik, das Haus der Canuts ist dem Faden der Seide gewidmet und führt den Besucher durch die Geschichte und die Techniken dieser wunderbaren Faser, die vor 4500 Jahren von einer chinesischer Prinzessin entdeckt wurde17. Conny nennt berühmte Namen wie die der Brüder Lumière18, Erfinder der Cinematographie. Es gibt ein Museum, in dem seltene Vorführgeräte gezeigt werden, unter anderem den Cinématographe No. 1. Oder sie nennt Ampére19, dessen Namen jeder kennt und von dem alle nichts wissen, ich eingeschlossen. Sie erwähnt Antoine de Saint- Exupéry20, dessen „Kleiner Prinz“ nun jeder kennt. Er ist ein Sohn der Stadt. Dann geraten wir oben am Berg schon in Vorortstraßen und landen bald im „Hôtel TULIP INN“ unweit der Metrostation „Gorge de Loup“. Es ist dunkel. Wir verzichten auf einen Spaziergang im Finstern in der fremden Stadt, bleiben im Hotel und gehen nach dem Abendessen zeitig schlafen. Mittwoch, 10. September 2003 Voller Spannung auf die neuen Entdeckungen in Lyon besteigen wir gegen 9 Uhr den Bus, der uns hinunter ans Ufer der Saône und dann über eine steile Straße, die durch einen langen Tunnel führt, hinauf auf die Höhe, wo weit über der Stadt die Basilique Notre-Dame-de-Fourvière thront. Wir gehen an die Balustrade und schauen im Gegenlicht der Sonne nach Osten auf die Altstadt, die sich vor grauer Zeit zwischen die beiden Flüsse gedrängt hat. In der Ferne verliert sich der Blick im Dunst des frühen Tages. Es blendet, ich muss die Augen mit der Hand schützen. In der Basilika- es ist ja ein katholisches Haus – staune ich über den reichen Schmuck an Malereien und Mosaiken. Die Ausstattung der Kirche ist prächtig. Erbaut wurde sie von 1872 – 1896 auf dem ältesten Siedlungskern der Stadt, dem 130 m hohen Hügel von Fauvière. 17 Seide: Im Jahr 1958 gruben Archäologen Teile eines Bambuskorbes aus, in dem sich die ältesten bekannten Überreste von Seidenstoff befanden. Die Datierung der Entstehungszeit ist unsicher, sie liegt möglicherweise zwischen 2850 und 2650 v. Chr. Die Funde stammen aus Qian Shanyang im Südosten des heutigen China; hergestellt wurde das Gewebe von Menschen, die vor den Chinesen dort lebten. Der Stoff ist fein gewebt, mit 72 Fäden pro Zentimeter, und das Garn wurde von domestizierten Seidenraupen gewonnen. Bei diesem handwerklichen Niveau muss die Kunst der Seidenweberei in dieser Region zwischen 3000 und 2500 v. Chr. entstanden sein. 18 Lumière, Gebrüder Auguste (* 19. 10. 1862 Besançon, † 10. 4. 1954 Lyon) und Louis (* 5. 10. 1864 Besançon, † 6. 6. 1948 Bandon, Var); französischer Erfinder photographischer Produkte und des Kinematographen (13. 2. 1895 patentiert). Mit diesem Apparat, der gleichzeitig Filmkamera, Kopiergerät und Projektor war, führten die Gebrüder Lumière am 28. 12. 1895 in Paris erstmalig öffentlich Filme vor. 19 Ampère, André Marie, französischer Mathematiker und Physiker, * 22. 1. 1775 Polcymieux (Lyon), † 10. 6. 1836 Marseille; entdeckte die magnetischen Wirkungen in der Umgebung stromdurchflossener Drähte, erklärte den Magnetismus durch Molekularströme, unterschied zwischen Elektrostatik und Elektrodynamik. 20 Saint- Exupéry, Antoine de, französischer Schriftsteller und Flieger, * 29. 6. 1900 Lyon, † 31. 7. 1944 (bei einem Aufklärungsflug über Korsika); heroischer, brüderlich empfindender Humanist, der die Technik als Mittel ansah, „Welt, Mensch und Freundschaft zu entdecken“: „Südkurier“ 1929, deutsch 1949; „Nachtflug“ 1931, deutsch 1932; „Wind, Sand und Sterne“ 1939, deutsch 1939; „Der kleine Prinz“ 1943, deutsch 1950; „Brief an einen Ausgelieferten“ 1944, deutsch 1948; „Die Stadt in der Wüste“ (posthum) 1948, deutsch 1951. © Rolf Bührend, Februar 2003 Seite 112 Beim Stöbern habe ich noch einen berühmten Namen gefunden, den man mit dieser Stadt in Verbindung bringen kann: François Rabelais. Dieser Mann ist mit seinem barocken Spott- und Schelmenroman „Gargantua & Pantagruel“ als großer Dichter bekannt geworden. Dieses Buch steht schon seit 35 Jahren in meiner Bibliothek. Jetzt lese ich noch einmal nach, dass Rabelais nach seinem Medizinstudium 1532 von Montpellier nach Lyon ging und dort das Amt eines städtischen Hospitalarztes übernahm. Neben lateinisch-medizinischen Schriften veröffentlichte er im gleichen Jahr das erste Buch seines berühmten Romans „Die schrecklichen und erstaunlichen Taten und Abenteuer des hochberühmten Pantagruel, Königs der Dipsoden und Sohnes des mächtigen Riesen Gargantua“. Mit dieser köstlichen Satire hat er sich ein ewiges Denkmal gesetzt- nicht nur für Lyon! Wenn nicht alles chronologisch exakt nacherzählt ist, möge man es mir nachsehen. Über Lyon gibt es viel zu berichten. Jeder Reiseleiter fängt in der grauen Vorzeit an. Die beginnt in den meisten französischen Städten in der römischen Ära. So auch hier. Ehemals befanden sich an der Saônemündung zwei keltische Siedlungen – bis die Römer kamen: 43 vor Chr. gründete ein gewisser Munatius Plancus am Zusammenfluss von Rhône und Saône die römische Kolonie Lugdunum. Irgendwie davon leitet sich der heutige Name Lyon ab. Sie war Hauptstadt von Gallien unter dem Römischen Reich. Oberhalb der Altstadt, auf den Hügeln von Fourvière, haben die Römer ihre Spuren hinterlassen. Lugdunum wurde nach dem Modell Roms erbaut. Es gab eine Basilika, zwei Theater, ein Circus, Bäder und Thermen, einen Kaiserpalast, ein Forum und ein komplettes Netz von Aquädukten, das im 4. Jahrhundert von Räubern zerstört wurde, die die Bleiröhren stahlen. Das Amphitheater von "Lugdunum" stammt aus dem 2. Jahrhundert nach Christi und ist erstaunlich gut erhalten. Es hatte 11000 Sitzplätze. Jetzt fasst es noch 5000. Früher führten römische Dichter und Denker hier ihre Dramen auf, heute dient das Amphitheater im Sommer als Open-Air-Bühne für Konzerte und Aufführungen. Wir haben es nur im Vorbeifahren von außen ahnen können. Unterhalb der Ruinen von Lugdunum fließt die Saône. Lyon ist eines der ältesten Zentren der französischen Fayence-Herstellung; seit 1512 wird hier Fayence gefertigt, anfangs wohl von italienischen Einwanderern. Die Erzeugnisse des späten 16. Jahrhunderts erinnern an zeitgenössische Majolica aus Urbino. Nach der Aufhebung des Ediktes von Nantes1 musste die Mehrzahl der protestantischen Seidenfabrikanten Lyon verlassen. Mit einer furchtbaren Strafaktion endete ein versuchter Aufstand gegen die revolutionären Jakobiner. Als Vergeltung ordnete der Konvent 1793 die Zerstörung großer Teile von Lyon sowie Massenhinrichtungen an. 6000 Bürger kamen dabei ums Leben. Seit dem 17. Jahrhundert wurde der Hügel Fourvière zu einem viel besuchten Marien- Pilgerort. Im späten Mittelalter entwickelte sich Lyon zu einem der wichtigsten Handels- und Bankenplätze in Europa, im 19. Jahrhundert zum Zentrum der industriellen Explosion im französischen Südosten, zum Beispiel mit der Textilindustrie. Während des Zweiten Weltkrieges wurde von Lyon aus die gesamte Résistance organisiert, heute liegt die Bedeutung der Lyon- Agglomeration als zweitgrößtem Stadtverband Frankreichs (Einwohner: Stadtzentrum ca. 445.500, im Ballungsraum ca. 1.349.000) vor allem in der nationalen Wirtschaft. Von da an wird die Stadt in ihrer wechselvollen Geschichte geprägt durch ihre wirtschaftliche Dynamik und die strategische Lage im europäischen Verkehrssystem. Das bekannteste Unternehmen aus Lyon dürfte die Großbank Credit Lyonnais sein, deren Hauptsitz sich in einem markanten Hochhaus im Osten der Stadt befindet, das seiner Form wegen Crayon (Bleistift) genannt wird. Daneben ist Lyon ein wichtiger Standort des Pharma-Unternehmens Aventis, dessen Vorläufer Rhône-Poulenc seinen Hauptsitz in Lyon hatte. 1 Das Edikt von Nantes, erlassen am 13. 4. 1598 von Heinrich IV., gab den Hugenotten volles Bürgerrecht und beendete die Hugenottenkriege; der Katholizismus wurde Staatsreligion. Das Edikt wurde 1685 von Ludwig XIV. aufgehoben. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 113 Lyon ist Sitz der internationalen Polizeibehörde Interpol. Heute wird Lyon von der UNESCO als ein Schatz der Menschheit betrachtet. Es steht auf dem gleichen Rang namhafter Städte wie Venedig, Prag oder St. Petersburg. Die zwei Jahrtausende, die zwischen dem römischen Lugdunum und der heutigen Stadt liegen, haben einen außergewöhnlichen architektonischen Schatz am Zusammenfluss der Saône und der Rhône gestaltet. Fourvière, die Basilika und der gallisch-römische Park, das Renaissance-Viertel des alten Lyon um die Kathedrale Saint-Jean, die Halbinsel, die sich in der Zeit der großen klassischen und kaiserlichen Epoche gebildet hat, die Abhänge der Croix-Rousse, die für die Seidenverarbeitung entworfen wurden. La Croix-Rousse ist eine hoch gelegene Arbeitervorstadt, die Anfang des 19. Jahrhunderts für die Canuts, die Seidenweber, erbaut wurde. Sie hatten hier ihre sperrigen Webstühle im Hause, für die eigens die Zimmerdecken und Eingangstüren erhöht gebaut wurden. Bis zu 60 000 Webstühle fertigten hier einen großen Teil der Lyoner Seide, die in alle Welt ging. Das alte Lyon, Vieux Lyon, zog uns nun in seinen Bann. Eine nette Stadtführerin in weißen Hosen und roter Jacke, mit kurzem Haarschnitt, die schwarze Tasche salopp über die Schulter geworfen, zeigte uns die nach Venedig zweitgrößte Renaissance- Altstadt Europas. St. Petersburg oder Prag mögen noch den gleichen Rang haben. Sie schmiegt sich unterhalb des Hügels Fourvière rings um die Kathedrale St-Jean und liegt auf der Saône- Halbinsel, die sich in der Zeit der großen klassischen und kaiserlichen Epoche im 19. Jahrhundert gebildet hat. Die Kathedrale Saint Jean ist gotischen Ursprungs. 1220 wurde mit dem Bau begonnen, Ende des 14. Jahrhunderts wurde die Kirche fertig gestellt. In den Gassen reiht sich ein Restaurant an das andere. Jetzt am Morgen haben noch die wenigsten geöffnet. Die Gassen sind relativ leer. Außer den 50 Menschen unserer Gruppe, und das ist schon schlimm trüben keine größeren Menschenmassen unsere Entdeckerfreude. Die beginnt bei mir an den Fassaden, die mit Lyon, Kathedrale Saint Jean und Basilika Notre-Dame-de-la-Fourvière Konsollaternen, schmiedeeisernen Gaststubenschildern und natürlich mit wundervollen Fenstern sich schmücken. Das Pflaster ist alt und aus Kopfsteinen. Öffnet sich die Gasse auf einen kleinen Platz, flutet Licht, erzeugt Grün Kontraste zur rötlichen Farbe der Häuser. Wir treten in einen engen Hauseingang und erleben einen der Traboules, Verbindungsgänge von einer Straße zur anderen, überdachte schmale Durchgänge, die das ganze Stadtviertel durchzogen und damals die trockene Lagerung der Seidenballen ermöglichten. Die Eingänge der Traboules liegen oft versteckt hinter Hofeingangstüren und waren für Außenstehende nicht leicht zu finden. Man kann sich gut vorstellen, dass sich hier der französische Widerstand gegen die deutschen Besatzer versteckte. Wir finden in den Höfen Treppentürme mit offenen Fenstern im italienischen Stil, gotische Bögen, Rippengewölbe mit reich verzierten Schlusssteinen, heute noch selten erhaltene Kreuzfenster, italienische Laubengänge. Ich bin verzaubert und bedaure, dass ich über kein Weitwinkelobjektiv verfüge. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 114 Beeindruckend ist die Rue de la Juiverie, die Judenstraße. Spielten die Juden auch eine Rolle in der Vergangenheit? Sicher waren sie als Händler hier dominant. Wir bekommen eineinhalb Stunden freie Zeit, lösen uns von der Gruppe und bummeln bei schönstem Sonnenschein über den Pont Bonaparte hinüber in die zwischen den zwei Flüssen liegende Altstadt. Am Quai des Célestins war Wochenmarkt. Schatten spendende Platanen und die bunte Vielfalt der Gemüse- und Obststände, das kaufende und schauende Publikum, das flirrende und wirrende Licht unter den Bäumen, der Blick hinüber über die Saône auf St-Jean und den Hügel Fourvière, strahlten einen Zauber aus, der nicht zu beschreiben ist. Auf Rohrstühlen saßen junge Leute, tranken ihren Kaffee, plauderten, es spielte sich das heitere französische Leben ab, für das ich mir gerne selbst die Zeit nehmen möchte, daran teilzunehmen. Ich zog Martina weiter. Interessiert schaute auch ich auf die vielen fremden Gemüsesorten, Kohl, Knollen, Wurzeln und bunten Früchte, das Obst und die Südfrüchte, die es hier nicht so weit wie bis zu uns haben, die herrlichen Blumen, die uni oder in allen Farben des Regenbogens gebunden grelle Farbkleckse in das Grün der Gemüsekisten setzten. Da gab es Stände mit Gewürzen, mit Fisch, Muscheln, Krabben und Austern. Da verkaufte einer nur Nüsse jeder Art, Pistazien; Maronen brutzelten auf einem Grill, ein anderer bot Pilze an. Hier stellen aber auch Handwerker, Buchhändler, Antiquare, Künstler ihre Werke zum Verkauf. Wer hat nicht schon einmal einem Maler über die Schulter geschaut, wenn er auf der Straße eine schöne Frau konterfeit, hat mit naivem Laienverstand verglichen, ob Ähnlichkeit erzeugt wird? Und hat nicht dabei die Zeit vergessen? Wer geriet nicht schon einmal in Versuchung, einen größeren Betrag auszugeben, um ein handgemaltes Bild, dessen Farben noch nicht trocken sind, zu erstehen? Ich musste mich mit Gewalt losreißen, denn der Verstand sagte mir: Wochenmärkte kannst du woanders auch sehen. Hier solltest du dich um anderes kümmern. Wir lenkten unsere Schritte in Richtung Rathaus, ein erster Orientierungspunkt. Wir verfolgten das Saône- Ufer weiter über den Quai St-Antoine, den Quai de la Pêcherie bis zum Pont Feuillée, über den – meinen Augen entwöhnt – umweltfreundliche O- Busse rollten. Hier bogen wir rechts ab, überquerten den Quai und befanden uns binnen kurzem auf dem Hauptplatz vor dem Hôtel de Ville, der Place de Terreaux. Rechts steht das wuchtige Museum der Schönen Künste. Geradeaus erhebt sich das monumentale Rathaus, es beherrscht die "Place des Terreaux". 1672 wurde es – kurz vor der Fertigstellung – von einem verheerenden Feuer zerstört. Erst dreißig Jahre später wurde das "Hôtel de Ville" wieder aufgebaut. Seine kuppelbekrönte Fassade wurde im Jahre 1700 vom großen Baumeister Mansart2, der Gottfried Semper Frankreichs, entscheidend verändert. Unterhalb der Kuppel wendet sich Henry IV., stolz zu Pferde sitzend, im Relief, dem Volke zu. Lyon, Hôtel de Ville, Kuppel mit Henry IV. 2 Mansart, Hardouin-Mansart, Jules, französischer Baumeister, *16. 4. 1646 Paris, †11. 5. 1708 Marly; Großneffe und Schüler von François Mansart; seit 1685 erster Hofbaumeister Ludwigs XIV., leitete seit 1679 den Bau des Schlosses in Versailles, entwarf u.a. den Invalidendom in Paris (1693-1706); führte als erster das Mansardendach ein. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 115 Hinter dem Zentralkörper befindet sich ein Ehrenhof, den wir aber nicht besuchen. Mehr interessiert mich auf der linken Seite des Platzes der Vierflüssebrunnen. Auf einem Felsen, die (französische) Erde darstellend, thront Mutter Frankreich, ein Kind an ihrer Seite. Sie hält die Zügel von vier Pferden, die aus diesem Felsen herausbrechen und wild schnaubend mit weit ausgreifenden Hufen nach allen Seiten in das Wasser des Brunnens springen. Dazu hier diese kleine Historie: Die Gemeinde Lyon beschließt 1889, die Aufstellung eines neuen Brunnens auszuschreiben. Sie nimmt Bartholdi3 in Anspruch - dessen berühmtes Kind nichts weniger als die Freiheitsstatue in New York ist. Der Brunnen, den der Lyoner Magistrat bei ihm bestellt, wird zuerst aber für die Stadt Bordeaux verwirklicht, die dann aber das Projekt wegen seines Preises ablehnte. Auch "Panzer der Freiheit" genannt, symbolisiert der Brunnen daher die Garonne und ihre 4 Zuflüsse (la Pique, la Neste, le Salat, l’Ariège) die sich vereint als Garonne in den Ozean werfen. Nach einem Übergang durch die Weltausstellung von Paris wird er auseinander genommen, um schließlich 1892 für Lyon zusammengesetzt und im Westen der Place des Terreaux errichtet zu werden. Nun steht er zwischen Rhône und Saône und begeistert hier die Besucher und die Lyoner. Und über die Symbolik denkt kaum einer lange nach. Ich hatte gedacht, es waren die vier großen Flüsse Frankreichs gemeint, etwa so wie in Nîmes. Nun wollten wir noch etwas von der Stadt sehen. Ich konnte Martina überreden, zur Oper zu gelangen. Dann mussten wir auch die Grundrichtung zur Place Bellecour halten, denn die ihn tangierende Rue Col. Chambonnet führte wieder direkt zum Pont Bonaparte, unserem Ausgangspunkt. Also marschierten wir auf der sehr belebten Rue du Président Herriot. Ich vermutete die Oper irgendwo links, also bogen wir links ab, suchten, standen vor der Industrieund Handelskammer, keine Oper. 1756 beginnt die Geschichte des Lyoner Opernhauses. Das heutige Theater verbindet neoklassizistische Elemente mit zeitgenössischer Architektur. Atemberaubend die Dachkonstruktion. Heute weiß ich: Sie befindet sich genau in Verlängerung des Rathauses. Und wir hätten auf kürzestem Wege das Ufer und sehenswerte Blicke auf die Rhône erreicht! Die Rhône ist im Bereich der Stadt nicht schiffbar. Es gibt aber sehr interessante Brücken in Stahl oder Beton. So aber endeten die letzten Stunden in Lyon mit einem nicht minder interessanten Blick auf Lyon vom Hügel Fourvière Ladenbummel und einem Salat an der Place Die Tonne rechts vom Rathaus ist die Oper Bellecourt. Zur festgesetzten Zeit erreichten wir wieder unseren Eberhardt- Bus. XXV. Die Abtei Cluny S eitenweise könnte ich noch Fakten über Lyon zusammentragen und auch noch einige persönliche Eindrücke. Dabei fällt mir jetzt ein, dass das Trennungs- Erlebnis von Martina in der Boutique Camaïeu nicht in Nîmes, sondern hier in Lyon passierte. Dichterische Freiheit. Es gibt derzeit etwa 400 Boutiquen dieser Mode- Kette in Frankreich. Und Martina war auf sie aufmerksam geworden und hatte bereits einige Stücke erworben. 3 Bartholdi, Frédéric Auguste, französischer Bildhauer, *2. 4. 1834 Colmar, †4. 10. 1904 Paris; monumentale Brunnen und Denkmäler in Colmar, Paris, Bordeaux u.a.; Hauptwerk: Freiheitsstatue im Hafen von New York, 1886 aufgestellt. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 116 Unsere Tagesreise sollte noch einen Höhepunkt für mich bieten. Auf unserem Weg nach dem heutigen Nachtlager in Dijon stand der Besuch in der Abtei Cluny auf dem Programm. Wie viel hatte ich davon schon gelesen! Wie heftig drängten sich mir dazu alle Querverbindungen wieder auf, solche Namen wie Bernard von Clairvaux, Abaelard und Heloise, Cluniazenser und Zisterzienser Mönche, Architektur der Romanik. Cluny liegt im südlichen Burgund, etwa 15 km von der großen Saône- Rhône- Achse entfernt, in dem kleinen nord- südlich verlaufenden Tal der Grosne, einem Nebenflusse der Saône. Wir fuhren von Lyon aus auf der A7 nach Norden über Villefranche-sur-Saône bis Mâcon und bogen dort nach Nordwesten ab. Von Mâcon waren es noch 20 km. Wir hielten auf einem großen Parkplatz. Der Himmel war verhangen. Durch ein Tor in einer alten Mauer gelangten wir in ein weitläufiges Terrain, der Weg stieg etwas an, bis wir an einem Museum Halt machten. Ich war anfangs enttäuscht. Ich hatte mir mächtige Klostergebäude vorgestellt. Ich erblickte ein Gemenge von alten Häusern und Ruinen, im Mittelgrund einen hohen und einen weniger Hohen Turm. Das sollte das mächtige Cluny sein, das mir immer vorgegaukelt war? Conny stand auf der Treppe vor dem Museum, sammelte unsere Schar und fragte, wer einen Rundgang und demzufolge Eintritt bezahlen möchte. Sofort spaltete sich der Haufen. Es waren nur wenige, die spontan ja sagten. Zauderer, Uninteressierte, Sparer und Banausen erklärten, dass sie die zwei Stunden einen Rundgang durch das Städtchen machen wollten. Selbst Martina wollte sich von mir trennen. Ich ließ das aber nicht zu. Solch einmalige Gelegenheit, auf den Spuren der Geschichte zu wandeln. Nach entrichtetem Obolus betraten wir das Klostergelände. Wir stiegen einige Stufen hinab und wurden auf die Stümpfe von mächtigen Säulen aufmerksam. Sie gehörten zur Vorkirche, deren Türme sich dahinten am Blickhorizont erhoben. Unvorstellbare Größenordnungen ließen sich erahnen. Trotzdem erschloss sich mir kein Grundrisskonzept für diesen Komplex, weder für die Kirche noch für die Unvorstellbare Anordnung von Gebäuden. Zu wenig war noch Größenordnungen… kompakt erhalten. Ich schaute mir einzelne Rudimente an. Viele Namen sind mir fremd, zum Beispiel gelangten wir als nächstes zum Gelasius- Palast. Seine Fassade besticht uns heutige, die nur noch hässliche Glas- Beton- Fassaden sehen müssen, mit seiner stolzen Reihe von Maßwerksfenstern. Dann tauchten wir in das Dunkel dieser Räume, standen vor Vitrinen, die als Holzmodell den Korpus des ehemaligen Klosterkomplexes zeigten. Hier erfuhr ich, dass es Cluny in drei Epochen oder Stufen gegeben hat. Dann gelangten wir in die Reste der Kirche, sahen die ungeheuren Dimensionen von Höhe und Breite der Abmessungen, und nur an Hand von Modellen oder Zeichnungen ließ sich noch erkennen, was hier einmal gestanden und die religiöse Welt des Mittelalters beherrscht hat. Ich habe mich zu Hause eingehend über die Geschichte von Cluny informiert und möchte nun einiges hier wiedergeben, zunächst zu meiner Erinnerung und auch der des geneigten Lesers. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 117 In einem bewaldeten Tal der Grafschaft Mâcon wurde am 11. September 910 die Abtei Cluny gegründet. Neunhundert Jahre später, fast auf den Tag genau, wurde die majestätische Kirche in die Luft gesprengt - Größe und Zerfall eines Klosters, dem man den Beinamen Zentrum der Welt oder das zweite Rom verliehen hatte, Herrlichkeit und Zerstörung einer Abteikirche, die bis zum Wiederaufbau von Sankt-Peter im Vatikan die größte Kirche der Christenheit war. Ein Grund für die enorme Machtausdehnung des Klosters war die Gründungscharta, die der Abtei Cluny außergewöhnliche Garantien zugestand; hinzu kam das politisch-religiöse Umfeld, das seine Blüte begünstigte. Der Abt, der im 12. Jahrhundert wie ein Monarch über ungefähr 10.000 Mönche herrschte, war sein eigener Herr. Er musste sich niemandem unterwerfen, weder dem Bischof noch dem König, denn das Kloster und seine Güter standen unter dem Schutz des Papstes. Diese Güter brachten beträchtliche Einnahmen, denn die Wüste, die dem Kloster zu Anbauzwecken geschenkt worden war, war in Wirklichkeit ein ehemaliges Landgut mit einigen Bauernhütten. Das Gebiet, das von einem Fluss durchzogen wurde, umfasste Felder, Weinberge, Gemüsebeete, Wald und Mühlen. Da die Mönche nicht zu harter Feldarbeit herangezogen wurden, konnten sie umso besser der Reform des Benedikt von Aniane folgen, der das Gebet wieder in den Mittelpunkt gestellt hatte. Die Charta verpflichtete die Mönche, Bedürftige und Pilger täglich zu unterstützen, eine Arbeit, die sich schnell zur wichtigsten Aktivität des Ordens entwickelte. Im 11. Jahrhundert vervielfältigte die Abtei an den Pilgerstraßen und -orten ihre Priorate mit Nachtquartier, um so den Gotteswanderern den ohnehin beschwerlichen Weg zu erleichtern und gleichzeitig die wachsende Religiosität im Abendland zu fördern. Der Orden dehnte sich polypenartig bis nach Nordspanien aus, drängte spirituell und ökonomisch die muslimische Bevölkerung in den Süden zurück und half beim Neuaufbau der kirchlichen Strukturen. Cluny passte sich im religiösen und wirtschaftlichen Leben dem entstehenden Feudalismus an. Das verhalf dem Orden zu seiner raschen Blüte, besiegelte allerdings auch später seinen Untergang. Mit diplomatischem Geschick gelang es den Mönchen, Vertrauensbeziehungen zu den Adeligen der Provinzen und den Großen des Abendlandes zu entwickeln und aufrecht zu erhalten. Diese schätzten die Neutralität des Klosters und bewiesen dies mit großzügigen Spenden. In den Konflikten, die das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das Königreich Frankreich, das Papsttum und die Lehnsherren miteinander austrugen, wurden die Äbte von Cluny als Schiedsmänner berufen, deren Leben und Ansehen eng mit dem Orden verknüpft war. Von 954 bis 1109 führten die Äbte Mayeul, Odilo und Hugo - jeder von ihnen war ein halbes Jahrhundert im Amt - die Kongregation zu ihrem Höhepunkt. Cluny besaß das bedeutendste Geldvermögen in Europa und herrschte über 2.000 Besitztümer, die sich von der Lombardei bis nach Schottland erstreckten. Es besaß auch einen unermesslichen Schatz sakraler Goldschmiedearbeiten. Als die Umstände es erforderten, zögerte man nicht, daraus Münzen zu gießen. Das unglaublich hohe Lösegeld, das von den Sarazenen für Abt Mayeul gefordert wurde, ist zum Beispiel so aufgebracht worden. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 118 Clunys Macht bewies sich nicht zuletzt in der unvergleichlichen intellektuellen Neugier, die diese Elitegemeinschaft beseelte. Dort wurden die Erneuerungen der Wissenschaften, das Studium der antiken Kulturen und die Übersetzung des Korans in die lateinische Sprache toleriert und gefördert. Seinen Einfluss auf die romanische Welt beweist das Kloster auch im Bereich der Architektur und Plastik. Der Stil der Abteikirchen Cluny II und Cluny III, wie sie der Architekt und Archäologe K. Conant nannte, der ihre Überreste über Jahrzehnte studierte, ist fast nur in der näheren Umgebung wieder zu finden. Das majestätische Cluny III, das 187 Meter lang war, umfasste fünf Schiffe und zwei Querschiffe, von denen heute nur noch letztere teilweise und als kümmerliche Überreste erhalten sind. Nur der majestätische achteckige Glockenturm, der auch Weihwasserturm - Eau-Benite genannt wird, erhebt sich noch stolz und erinnert an die vergangene Pracht. Cluny wurde mit Urkunde vom 11. September 910 durch Herzog Wilhelm III. von Aquitanien als Benediktinerkloster gegründet. Dabei verzichtete Herzog Wilhelm auf jede Gewalt über das Kloster und schloss jegliche Einmischung weltlicher oder geistlicher Gewalt in die internen Angelegenheiten des Klosters aus (Exemption). Für die Verhältnisse des 10. Jahrhunderts war dies eine enorme Neuerung. Er ernannte lediglich den ersten Abt und erlaubte dem Konvent danach eine freie Abtswahl. Diese beiden Kriterien, Exemption und freie Abtswahl, trugen wesentlich zur Entfaltung Clunys bei. Diese Neuerungen sowie eine strenge Auslegung der Benediktusregel machten Cluny zum Ausgangsund Mittelpunkt der cluniazensischen Reform, in deren Blütezeit etwa 1.200 Klöster mit rund 20.000 Mönchen zu Cluny gehörten. Von 927 bis 1157 wurde Cluny von fünf einflussreichen Äbten regiert, die zugleich Freunde und Ratgeber von Kaisern, Königen, Fürsten und Päpsten waren: 919-927 Berno von Baume 927-942 Odo von Cluny 942-964 (948) Aymardus 964-994 Maiolus 994-1049 Odilo 1049-1109 Hugo von Cluny 1109-1122 Pontius 1122-1156 Petrus Venerabilis Bereits der erste Abt, Berno, brachte Reformideen aus seinem vorherigen Kloster mit. Unter ihm entstand der Cluniazensische Verband. Sein Nachfolger, Odo, baute den Verband aus. Dabei wurden entweder neue Priorate von Cluny aus gegründet oder die Kommunität einer bereits bestehenden Abtei schloss sich Cluny an. Auch wurden Bitten von adeligen Klosterherren an Odo herangetragen, in ihren Klöstern Reformen nach dem Vorbild Clunys durchzuführen. Dafür verzichteten die Adeligen auf ihren Einfluss auf diese Klöster. Im Cluniazensischen Verband gab es vier Stufen von eingegliederten Klöstern: In Prioraten war der Abt von Cluny direkter Oberer. Geleitet wurden diese Priorate von einem Prior, der dem Abt von Cluny gegenüber ein Treuegelöbnis ablegen musste. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 119 Die nächste Stufe war die der inkorporierten Abteien. Die Abteien dieser Stufen unterschieden sich von Prioraten dadurch, dass sie einen eigenen Abt hatten, der aber dem Abt von Cluny unterstand und diesem ein Treuegelöbnis leisten musste. Die dritte Stufe war die der abhängigen, von Cluny kontrollierten Abteien. Dies waren in der Regel große Abteien mit intaktem Wirtschaftsbetrieb, die vorher dem Papst unterstellt waren und die dieser zu Reformen Cluny übergab und dabei die je eigene Rechtsstellung einer Abtei zu Cluny festlegte. So ernannte etwa der Abt von Cluny den Abt einer solchen Abtei oder war doch bei seiner Ernennung wesentlich beteiligt. Die vierte Stufe war die der Abteien, die die Lebensgewohnheiten von Cluny übernahmen, aber selbständig blieben. Die klösterliche Disziplin im Verband wurde durch die Kontrolle der eingegliederten Klöster durch den Abt von Cluny aufrechterhalten. Die Liturgie stand in Cluny im Vordergrund. Mit der Zeit wurde das Chorgebet immer umfangreicher. So betete jeder Mönch unter Abt Hugo täglich 215 Psalmen, gegenüber den von Benedikt in seiner Regel vorgesehenen 37 Psalmen täglich. So wurde wegen des umfangreichen liturgischen Dienstes insbesondere die Handarbeit von den Mönchen vernachlässigt, die sich dazu Konversen ins Kloster holten. Bei der Liturgie stand das Totengedenken weit oben an. Abt Hugo führte als allgemeinen Gedächtnistag für alle Verstorbenen den Allerseelentag ein, der später auch in der Weltkirche begangen wurde und bis heute begangen wird. Auch die Abteikirche von Cluny (I)wurde den Anforderungen des vermehrten liturgischen Dienstes angepasst und zweimal umgebaut, einmal unter Abt Odilo (981) (Cluny II) und ein weiteres Mal unter Abt Hugo (1089) (Cluny III). Dieser dritte Bau, war bis zum Wiederaufbau von Sankt-Peter im Vatikan der größte Kirchenbau der Christenheit mit einem fünfschiffigem Langhaus und zwei Querschiffen, von denen heute nur noch letztere teilweise erhalten sind. Ihre Entwicklung verdankt die Abtei in besonderer Form den ersten 6 Äbten. Abt Hugo (der 6. der eben genannten) vergrößerte die Kirche (bis ins 16. Jh. war sie die größte der Christenheit) um ein Vielfaches. Durch seine Prachtentfaltung übte Cluny auch eine hohe Anziehung auf Adelige aus, sodass das Kloster reiche Schenkungen von Vermögenden bekam. Jedoch wurde trotz der äußeren Pracht immer Wert auf strenge Askese gelegt. Der Abt beispielsweise hatte nicht, wie Benedikt in seiner Regel erlaubt und es auch sonst praktiziert wurde, eine eigene Wohnung im Klosterbereich, sondern lebte mit den Mönchen. Unter Abt Petrus Venerabilis begann der Niedergang Clunys. Es setzte eine Phase der Stagnation in der Ausbreitung des Cluniazensischen Verbandes ein. Außerdem zeigten einige Klöster des Verbandes Verselbständigungstendenzen. Hinzu kam die Auseinandersetzung mit Bernhard von Clairvaux und den späteren Zisterziensern. Bei diesem Bernhard von Clairvaux4 möchte ich gern noch verweilen, zumal er mir bei meinem Besuch im Stift Heiligenkreuz bei Wien und im Kloster Altzella bei Nossen ins Gedächtnis gerufen wurde, natürlich auch in Verbindung mit dem damals weit verbreiteten 4 Bernhard von Clairvaux, Heiliger, * um 1090 Fontaines bei Dijon, † 20. 8. 1153 Clairvaux; 1115 erster Abt des Zisterzienserklosters Clairvaux-sur-Aube, gründete 68 neue Klöster seines Ordens; Gegner Abaelards, bedeutender Theologe und berühmter Prediger; übte durch die Erneuerung des kirchlichen Geistes bei Adel, Klerus und Volk großen Einfluss auf seine Zeit aus; Begründer der mittelalterlichen Mystik; gewann 1146 König Konrad III. zur Teilnahme am 2. Kreuzzug. Heiligsprechung 1174 (Fest: 20. 8.), Erhebung zum Kirchenlehrer 1830. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 120 Orden der Zisterzienser5. Bernhard war ein Reformer, auch des Kirchenbaus selbst. Er sah die kreuzförmige Basilika mit einschiffigem Chor und Querschiffskapellen, aber ohne Westturm vor. Ordenskirchen mussten anders aufgebaut sein als Bischofskirchen. Darüber schrieb er: „Die Kirche glänzt in ihren Bauten und darbt in ihren Armen; sie überzieht ihre Mauern mit Gold und lässt ihre Kinder nackend davongehen. Die Scherflein der Bedürftigen werden genommen, um den Reichen einen Augenschmaus zu bereiten… Was soll das bei Armen, bei Mönchen, bei Männern des Geistes?“ Cluny hieß das Mutterkloster, wo sich dieser Reformwille entzündet hatte, der einen neuen Aufschwung in Citeaux (davon abgeleitet Zisterzienser) auslöste. Seit 1122 nahm die CiteauxBewegung selbständige Formen an und Bernhard setzte sich maßgeblich dafür ein. Was hat es nun mit Abaelard6 auf sich? Ich nannte ihn als den Namen, der mir im Zusammenhang mit Cluny auffiel. Ich kannte seine Geschichte aus einem Buch von Luise Rinser „Abaelards Liebe“7. Er war Zeitgenosse Bernhards, kollidierte in einigen seiner theologischen Schriften mit dessen Auffassungen. Sein Hauptvergehen war die fleischliche Liebe zu Heloise. Ich zitiere dazu seine Geschichte, der Verfasser möge es verzeihen, aus dem Internet, weil sie ein beredtes Beispiel unglücklicher Liebe zweier Menschen ist und, wenn man sie liest, 900 Jahre weggewischt sind wie mit einem Tuch: Abaelard und Heloise Sie gehören zu den bekanntesten Liebespaaren des Mittelalters. Heloise ist um 1100 wahrscheinlich in Paris geboren. Bewundert wegen ihrer Liebe zu den Wissenschaften, wuchs sie bei ihrem Onkel Fulbert in Paris auf traf dort 1117 Abaelard, wurde von ihm schwanger und heiratete ihn heimlich. Nach dem tragischen Ende ihrer Beziehung zog sie sich 1118 auf seinen Wunsch in die Abtei Argenteuil zurück und wechselte später mit dem ganzen Konvent in das - von Abaelard gegründete - Kloster Paraklet über, das sie als Äbtissin zu einem vitalen geistlichen Zentrum machte. 1164 starb sie dort. Abaelard kam 1079 in Le Pallet bei Nantes in der Bretagne als Sohn eines Ritters zur Welt. Er stieg zu einem der berühmtesten theologischen Lehrer seiner Zeit auf verehrt und verfolgt wegen seiner Bemühungen um eine vernunftorientierte Begründung des Glaubens. 5 Zisterzienser, auch Bernhardiner, katholischer Mönchsorden, als Reformbewegung aus dem Benediktinerorden hervorgegangen, 1098 von Robert von Molesme im Stammkloster Cîteaux gegründet; durch Bernhard von Clairvaux wesentlich gefördert; päpstliche Approbation 1119. Der Zisterzienserorden zeichnete sich anfangs durch besondere Strenge und Einfachheit in der Lebensweise aus; vorbildliche Bodenbewirtschaftung führte bald zu großem Reichtum. Die Zisterzienser waren maßgebend an der Kultivierung und Christianisierung der Slawenländer östlich der Elbe beteiligt, verloren aber bis zum 19. Jahrhundert den größten Teil ihres Besitzes. Heute hauptsächlich in Seelsorge und Unterricht tätig. An der Spitze des Ordens steht der Generalabt, Sitz: Rom. Zu den bekanntesten deutschen Zisterzienserklöstern gehören das Priorat Birnau und die Abteien Marienstatt im Westerwald und Himmerod. - Ordenskleid: weiß mit schwarzem Skapulier und Cingulum. Weiblicher Ordenszweig: Zisterzienserinnen, seit etwa 1125. Aus einer Reformbewegung im Zisterzienserorden gingen die Trappisten hervor. 6 Abälard, [abe'lar] Abélard, Abaelard, Abaillard, Peter, Philosoph und Theologe der Frühscholastik, * 1079 Palais bei Nantes, † 21. 4. 1142 Kloster St.-Marcel (Saône); vermittelte durch den Konzeptualismus im Universalienstreit; wurde mit seiner Schrift „Sic et non“ beispielgebend für die scholastische Methode; der Ethik gab Abälard neue Maßstäbe, indem er Gesinnung und Gewissen als die ausschlaggebenden Kriterien bezeichnete. Einige seiner theologischen Lehren wurden kirchlich verurteilt (1121, 1141). Abälard führte ein unstetes Wanderleben und wurde auch durch seine Liebschaft mit Héloise (* 1101, † 1164) bekannt. 7 Luise Rinser „Abaelards Liebe“, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt/M. 1993, auch im Original: „Abaelard, Die Leidensgeschichte und der Briefwechsel mit Heloisa“, Verlag Lambert Schneider, Gerlingen © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 121 Seine Affäre mit Heloise endete mit seiner Entmannung durch Gewalttäter, die ihr Onkel Fulbert gedungen hatte. Nach einigen Jahren des Exils in der Abtei St. Denis, im Paraklet und im bretonischen Kloster St. Gildas de Rhuys kehrte Abaelard 1135/36 auf seinen Pariser Lehrstuhl zurück. Seine Werke wurden jedoch von den Synoden zu Soissons 1121 und Sens 1140 verurteilt, ohne daß er sich verteidigen konnte. Als ihn der Papst vorübergehend zum Schweigen verdammte, flüchtete er sich in die Abtei Cluny und starb dort am 21. April 1142. Nach der Verurteilung seiner Schriften durch das Konzil von Sens am 25. Mai 1141 und seiner endgültigen Verurteilung zu Klosterhaft und ewigem Schweigen durch den Papst am 16. Juli 1141 wurde Peter Abaelard überraschend von Großabt Petrus Venerabilis in Cluny aufgenommen und stand fortan - bis zu seinem Tode - unter dessen Schutz. Heloise bestattete ihn in ihrem Kloster Paraklet, wo sie selbst ihre Ruhestätte fand. Während der Französischen Revolution wurde das gemeinsame Grab verwüstet. Heute ruhen beide auf dem Pariser Friedhof Pere Lachaise. »Vergiss nicht, daß ich dir gehöre!« Abaelard und Heloise (von Christian Feldmann) Paris zu Anfang des 12. Jahrhunderts: Unter den mächtig aufblühenden Städten Europas ist die französische Metropole wohl die interessanteste. Wimmelndes Leben überall, Kaufleute und Troubadoure, Marktweiber und Musikanten, Professoren und Straßenmädchen. Mitten aus überschäumender Lebenslust flackern abergläubische Ängste auf. Mondäne Vergnügungen locken Tür an Tür mit den Hochschulen und Klöstern, die Paris zu einer Drehbühne europäischen Geistes machen. Doch in diesem Jahr 1117 hat Paris seinen Skandal, der die scheinbar durch nichts zu erschütternde Weltstadt aufwühlt wie ein verzehrendes Feuer: die Liebesgeschichte zwischen dem knapp vierzigjährigen prominenten Theologen Petrus Abaelardus und der sechzehnjährigen Heloise, Nichte eines Domherrn von Notre-Dame. Natürlich machen bald die wildesten Gerüchte die Runde, doch das ungleiche Paar schert sich überhaupt nicht um den Tratsch. Im Gegenteil, Abaelard nutzt seine brillante Formulierungsgabe dazu, glühende Liebeslieder auf Heloise zu texten, die bald auf allen Pariser Gassen und Plätzen gesungen werden. Seine Studenten grinsen über den kindisch gewordenen Professor, der seine Vorlesungen über die Logik plötzlich mit anstößigen Beispielsätzen zu würzen beginnt. Die tragische Liebesgeschichte von Abaelard und Heloise ist von Jahrhundert zu Jahrhundert immer wieder neu erzählt worden. Der Zyniker Voltaire ließ sich von ihr erschüttern, die Literaten der Romantik erfanden zahllose Variationen für das alte Motiv. Denn welches Menschenschicksal aus dem Mittelalter wäre geeigneter, die Phantasie zu beflügeln? Heloise soll ebenso schön wie intelligent gewesen sein; der Abt von Cluny bescheinigte ihr später einen »leidenschaftlichen Hang zu echter Bildung«, Disziplin beim Studium und ein umfangreiches Wissen. Abaelard ist jedoch offenbar nicht bloß wegen seiner Redegabe und Gelehrsamkeit attraktiv für sie gewesen: »Welche Frau, welches Mädchen sehnte sich nicht nach dir, wenn du fort warst, entbrannte nicht für dich, wenn du in ihre Nähe kamst?« Natürlich war es Heloise, die ihn so anhimmelte: »Welche Königin hätte mich nicht um mein Glück, um das Lager meiner Liebe beneidet?« Abaelard war der Sohn eines Ritters aus der Bretagne. Die Wissenschaften fesselten ihn so, daß er auf sein Erbe verzichtete, um sich nur noch Studium zu widmen. Ein glänzender Denker mit einer Vorliebe für Spekulationen und neue Wege, aber arrogant und unduldsam, überwarf er sich mit all seinen Lehrern. Früh schon zur lebenden Legende geworden, geschätzt wegen seiner Geistesgaben, gefürchtet wegen seines Charakters, musste er seine erste Schule am Seine-Ufer außerhalb von Paris gründen. Erst später erhielt er einen Lehrstuhl in Paris, wo ihn der Domherr Fulbert in sein Haus holte - als Erzieher für seine liebreizende Nichte Heloise. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 122 »Die Bücher lagen aufgeschlagen vor uns«, wird er sich als alter Mann an die knisternde Erotik dieser Schulstunden erinnern, »doch unser Gespräch bewegte sich mehr um die Liebe als um die Philosophie, und es kam schließlich mehr zum Austausch von Küssen als von Worten der Weisheit. Immer öfter strebten meine Hände zu ihrem Busen hin statt zu den Buchseiten. Und weit mehr als in den Schriften lasen wir eins in des anderen Augen.« Die Beziehung zwischen dem alternden, umschwärmten Gelehrten und dem aufblühenden Mädchen mit seiner kultivierten Intelligenz muss von eigenem Reiz gewesen sein. Beide waren sie intellektuell neugierig, nicht bereit, sich bürgerlichen Moralvorstellungen anzupassen, aber absolut erfahren in der erotischen Praxis. Abaelard: »Die Wonnen, die wir erfuhren, waren um so gewaltiger, als wir sie beide noch nie gekannt hatten und gar nicht müde werden konnten.« Und an diesem amourösen Glück lässt der Verseschmied Abaelard in seinem verliebten Stolz ganz Paris teilhaben. Als der würdige Fulbert endlich entdeckt, was sich da hinter seinem Rücken angebahnt hat, nimmt die Geschichte die Züge eines Melodrams irgendwo zwischen Shakespeare und Bauerntheater an: Der Professor Abaelard entführt seine als Nonne verkleidete Heloise bei Nacht und Nebel zu seiner Schwester in die Bretagne. Dort bringt sie einen Sohn zur Welt, dem die glücklichen Eltern den Namen Astrolabius geben: »der nach den Sternen greift«. Abaelard willigt in eine heimliche Eheschließung ein, um den wütenden Fulbert zu besänftigen. Doch da sperrt sich plötzlich die bisher so fügsame Heloise. Nein, sie will diese Heirat nicht. Zur damaligen Zeit war es einem Kleriker und Kanoniker zwar durchaus noch nicht verboten zu heiraten. Aber einem so erleuchteten Philosophen, umschmeichelt sie den Geliebten, könne man die »Belästigungen« des Ehestandes doch nicht zumuten: »Bedenke doch, wie leicht es dann geschehen kann, daß du, gerade ganz versunken in deine Studien, durch das Quengeln kleiner Kinder gestört wirst!« Ein richtiger Philosoph, da ist sie ganz hartnäckig, muss die Dinge dieser Welt fliehen. Ob sich hinter soviel selbstloser Demut nicht eine massive Kritik an der Institution Ehe verbirgt (die damals gar nicht so selten war und viele Frauen zur Flucht vor einer Dienstbotenexistenz im Haushalt ins Kloster trieb)? Sie wäre viel lieber seine Geliebte als seine Gattin, hat Heloise ihrem ratlosen Bräutigam gestanden. Und als der sich endlich doch mit seinem Heiratswunsch durchsetzt, schreit sie unter Tränen ihre Enttäuschung heraus: »So bleibt es uns denn nicht erspart, uns zu verlieren! Und vielleicht unseliger zu werden, als wir selig miteinander waren!« Sie behält leider Recht. Denn während der erleichterte Fulbert überall die Nachricht von der endlich in Ordnung gebrachten Verbindung ausstreut, leugnet das Liebespaar die Eheschließung standhaft ab. Als Abaelard seine Braut auch noch im Kloster Argenteuil versteckt, wird es ihrem Onkel dann doch zuviel, und die romantische Liebesgeschichte nimmt ein schreckliches Ende: Abaelard wird nachts in seinem Haus überfallen und bei vollem Bewusstsein entmannt. Ein im 12. Jahrhundert gar nicht so ungewöhnlicher Racheakt. Gedemütigt zwar, in seiner Männlichkeit für immer zerbrochen, unterwirft der autoritäre Liebhaber Heloise noch einmal seinem Willen: So wie er sich verstört in die Abtei St. Denis bei Paris flüchtet, muss Heloise in Argenteuil den Nonnenschleier nehmen. Bitter weinend, aber entschlossen schreitet sie dem Altar zu, trotzig ein Klagelied des heidnischen Dichters Lukian zitierend: Jahre später wird sie Abaelard ihre grausame Enttäuschung gestehen: »Ich hätte doch keinen Augenblick gezögert, dir selbst in die Hölle vorauszugehen oder nachzueilen ... Meine Seele war ja nicht mehr bei mir, allein nur bei dir.« Doch nun wächst die kaum 20jährige Heloise weit über sich hinaus. Sie wird eine vorbildliche Ordensfrau, später sogar Äbtissin. Aus den Jahren 1134/35 ist uns ein erschütternder Briefwechsel mit Abaelard erhalten, der zeigt, wie überlegen sie dem einstigen Lehrer im bewussten Durchleben ihrer Liebe ist. Abaelard nämlich verdrängt, vergisst und verrät, was ihnen so teuer gewesen war. Er passt sich den neuen Verhältnissen an, macht das gemeinsam genossene Glück als »unreine Begierde« und »widerwärtigste Wollust« herunter, liefert seinen © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 123 Sittenrichtern eifrig Selbstkritik und peinlich anmutende Reue, wobei er sogar seiner Kastration einen Sinn als »Beweis ausgleichender Gerechtigkeit schon auf Erden« abgewinnt: Die Gnade Gottes, so schreibt er, »heilte mich von der Sinnlichkeit, indem sie mich dessen beraubte, mit dem ich ihr frönte«. Ganz anders Heloise. Während er zu Kreuze kriecht, lässt sie sich ihre Gefühle nicht verbieten. Während er sich kalt von dem so schnell vergangenen Jahr voller Zärtlichkeit und Leidenschaft distanziert, erhält sie Erinnerung daran ein Leben lang als kostbares Geschenk: »Die Liebesfreuden, die wir zusammen genossen, waren so beseligend süß für mich, daß ich sie nicht verurteilen noch aus meinen Gedanken vertreiben kann. Wohin ich auch gehe, sie drängen sich mir in den Sinn, die flüchtigen Erinnerungsbilder, sie schüren mein Verlangen, verfolgen mich noch im Schlaf ... Und statt voll Reue zu beweinen, was ich getan, kann ich nur seufzen um das, was ich verlor.« Sie akzeptiert ihr Schicksal, das Leben im Kloster betrachtet sie nicht als lästige Pflicht, sondern als Chance, Gott nahe zu kommen. Aber sie ist bereit zu falscher Reue. Statt ihre Erinnerungen durch geheuchelten Abscheu zu beschmutzen, legt sie die ganz unbändige Zuneigung ihrer Seele zu Abaelard in die Hände Gottes: »Es ist einzig und allein die Liebe« stellt sie kategorisch fest, »durch die sich die Kinder Gottes von denen des Teufels unterscheiden!« Dabei ist sie in ihrer Wahrnehmung ebenso kritisch (Abaelard habe ihr wohl eher Sinnlichkeit als Herzensneigung entgegengebracht, stellt sie bitter fest) wie nüchtern und fair: »In der Sünde waren wir zu zweit gewesen, aber du allein hast dafür gezahlt«, merkt sie zu seiner Kastration an. »Es Alltag der Mönche in Cluny, war wirklich nicht gerecht, daß du als schuldig Miniatur aus dem Miroir historial von Vincent de Beauvais, dastandest vor wem auch immer, vor Gott wie 15. Jh., Chantilly, Musée Condé vor jenen Verrätern.« Aber gleichzeitig ist die junge Ordensfrau souverän genug, ihre Gefühle zuzulassen und den Gefährten von einst um Zeichen der Liebe zu bitten - »auch wenn du nur noch mit Worten bei mir sein kannst statt leibhaftig«. Rührend, wie sie ihn erinnert: »Vergiss nicht, daß ich dir gehöre!« und verschämt wie ein Schulmädchen gesteht, sie habe stets mehr Angst davor gehabt, ihm zu missfallen als Gott. Tatsächlich gelingt es der ebenso sanften wie selbstbewussten Heloise, den sich an seine Führungsrolle klammernden, in seiner Männlichkeit zutiefst unsicher gewordenen Abaelard zu einer erstaunlich reifen, seiner Zeit weit vorauseilenden Anerkennung weiblicher Würde zu führen! Selbstkritisch erinnert er an das tapfere Ausharren der Frauen unter dem Kreuz, wo die Jünger erschrocken auseinander gestoben seien. Abaelards überraschende Erklärung dafür: Die Frauen seien eben mehr der Wirklichkeit zugewandt, während es die Spezialität der Männer sei, endlos über die Realität zu debattieren... Zwingt ihn die Trennung von der Geliebten dazu, sich ganz in die Welt der philosophischtheologischen Ideen zurückzuziehen? Oder ist es nicht auch der Ermutigung durch Heloise und dem fruchtbaren Briefkontakt der beiden Querdenker zuzuschreiben, daß Petrus Abaelardus jetzt im Exil zur Höchstform aufläuft? Seine »Ethik«, Bibelkommentare, eine Fragment gebliebene »Theologie«, eine Einführung in die wissenschaftlichen Methoden - sie alle zeigen Abaelard klarer, kompromissloser, strahlender denn je als einen, der selber denkt, statt die klassischen © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 124 Autoritäten nachzubeten. Konsequent wie kaum ein Theologe vor ihm bringt er die Vernunft im Nachdenken über Gott und die Bestimmung des Menschen zu Ehren. Habe doch Christus selber gesagt: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben«, und nicht »Ich bin das, was einmal für immer festgeschrieben wurde«! Dass der Startheologe aus Paris freilich Elemente der Wahrheit auch in außerchristlichen Denkansätzen findet, verzeihen ihm seine missgünstigen Kollegen ebenso wenig wie seine Überzeugung, für die Erbsünde sei nicht der einzelne Mensch verantwortlich zu machen, sondern nur Adam. Zu gefährlich scheint Abaelards Dialogfreudigkeit (in seinem letzten Buch lässt er doch tatsächlich einen Juden, einen Christen und einen muslimischen Philosophen miteinander diskutieren); zu ungewohnt seine Ansicht, in der antiken Philosophie gebe es schon Bilder und Vorahnungen, die später im Christentum ihre endgültige Klärung und Erfüllung gefunden hätten; zu verdächtig sein Wunsch, Ungläubige lieber mit Vernunftargumenten zu überzeugen statt mit dem Schwert zu missionieren. Anstoß erregt auch seine - von Heloise geteilte - Gesinnungsethik: Nicht nur auf die Tat an sich kommt es an, sondern auch auf die innere Einstellung, auf die dahinter stehende Absicht mehr als auf das äußere Verhalten. So gesehen, kann dieselbe Handlung gut sein oder auch schlecht, je nachdem, in welcher Gesinnung sie ausgeführt wird. Abaelard: »Gott achtet nicht auf das, was wir tun, sondern auf den Geist, in dem wir es tun.« Sie werfen ihm wieder einmal Arroganz und Eigensinn vor. Sie pochen auf die gewiss vorhandenen Schattenseiten seiner schillernden Persönlichkeit, denen sich jetzt im Alter auch noch ein richtiggehender Verfolgungswahn beigesellt. Die Bescheidenheit, die sich in seinen Schriften oft genug auch zeigt, fällt da leicht unter den Tisch: Wie der kleine David gegen den ungeschlachten Goliath ziehe er mit dem Schwert der Logik los, hat er geschrieben. »Wir maßen uns nicht an, die ganze Wahrheit zu lehren, sondern allenfalls den Schatten, den die Wahrheit wirft, ja fast nur ein Gleichnis für sie.« Umsonst. Ohne ihm Gelegenheit zur Verteidigung zu geben, hat eine Synode in Soissons sein Buch über die Dreieinigkeit verdammt: Der Legat des Papstes hat es unbesehen verbrennen lassen. An treuen Schülern hat es ihm freilich nie gefehlt, und auch Heloise sieht er wieder, als ihre Nonnengemeinschaft in die von ihm gegründete Einsiedelei Paraklet in der Champagne einzieht. Heloise wird Äbtissin und macht den Ort zu einem Zentrum geistlichen Lebens; ihre Beziehung zu Abaelard beschränkt sich darauf, ihn für Vorträge und als Hymnendichter anzuwerben. Denn der rastlose Gelehrte hält sich schon wieder woanders auf. Er ist Abt von St. Gildas de Rhuys geworden, einsam an der wildzerklüfteten bretonischen Küste gelegen. Den derben, verlotterten Mönchen fällt er mit seinen Moralpredigten so auf die Nerven, daß sie ihm Gift in den Messkelch mischen - Gott sei Dank ohne Erfolg. Nein, so hat er sich das Leben in idyllischer Einsamkeit nicht vorgestellt. Erleichtert Kapelle von Jean de Bourbon, entstanden nimmt er das Angebot an, wieder in Paris zu lehren 1460, Haus- und Grabkapelle des Erbauers wo freilich die alten Rivalen schon auf ihn lauern. Ihre Reihen führt jetzt Bernhard von Clairvaux an, eine der faszinierendsten Gestalten des Mittelalters, radikaler Bußprediger und glühender Mystiker, kraftvoller Denker und Anreger © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 125 schlichter Volksfrömmigkeit in einem, Verteidiger der Meinungsfreiheit und fanatischer Kreuzzugsprediger gegen Ketzer und Muslime. Genauso kompliziert wie Petrus Abaelardus, wird er zu dessen unversöhnlichem Gegner. Er sendet eine Liste von Abaelards Irrlehren an den Papst, der den unbequemen Franzosen auch zu ewigem Schweigen verurteilt - und dieses Urteil später auf die Fürsprache des Abtes von Cluny, wo Abaelard Zuflucht gefunden hat, wieder aufhebt. Ein Jahr später ist Petrus Abaelardus tot. Heloise überlebt ihren geliebten Freund und Lehrer um 22 Jahre. Der großherzige Abt Petrus Venerabilis von Cluny ist von ihrer Anhänglichkeit so erschüttert, daß er Abaelards Leichnam heimlich in Heloises Kloster Paraklet überführen und dort bestatten lässt: »Nun hat Gott ihn vor dir zu sich genommen«, tröstet er die Äbtissin, »und wird ihn in seiner Güte bewahren, bis ihr einst wiedervereint seid.« 1164 ist es soweit: Heloise findet ihre letzte Ruhestätte neben dem so lange Betrauerten. Mehr als die dürre Chronik weiß eine wunderschöne Legende: Als die tote Heloise neben Petrus ins Grab gelegt wurde, soll dieser seine Arme weit geöffnet und die endlich wiedergefundene Geliebte in seliger Freude an sich gezogen haben. Ausschnitte aus ihren Briefen Zweiter Brief: Heloise an Abaelard: (...)Aber noch nicht genug, ich traue mich kaum es zu sagen, meine Liebe schlug um in Wahnsinn; sie opferte in hoffnungslosem Verzweifeln das eine einzige Ziel ihrer Sehnsucht. Ohne Zaudern - Du, Du gabst ja den Befehl - brachte ich mein altes Gewand und mein altes Herz zum Opfer, um aller Welt zu zeigen, wie ich Dein eigen sei mit Leib und Seele. Gott ist mein Zeuge, ich habe je und je in Dir nur Dich gesucht, Dich schlechthin, nicht das Deine, nicht Hab und Gut. Ein festes Eheband, eine Morgengabe - habe ich je danach gefragt? Du bist mein Zeuge, nicht meine Lust, nicht mein Wille war je mein Ziel, nein, nur Deine volle Befriedigung. In dem Namen 'Gattin' hören andere vielleicht das Hehre, das Dauernde; mir war es immer der Inbegriff aller Süße, Deine Geliebte zu heißen, ja - bitte zürne nicht! - Deine Schlafbuhle, Deine Dirne. Die tiefste Erniedrigung vor Dir versprach die höchste Huld bei Dir, und ich brauchte so in meiner Niedrigkeit Deinen Ruhmesglanz auch nicht zu trüben. In dem Trostbrief an den Freund hast Du meines Herzens wahres Wollen nicht ganz verschwiegen, um Deinetwillen; es war Dir da nicht zu wenig, den und jenen der Gründe zu nennen, die mich den Ehebund bekämpfen hießen, um den Liebesbund zu retten. Herr Gott, sei Du mein Zeuge, wenn der Kaiser käme, der Beherrscher der ganzen Welt sich herabließe, mich zu ehelichen, wenn er mir dabei die ganze Erde verschriebe und verbriefte zum ewigen Besitz: ich möchte doch lieber Deine Dirne heißen - und wäre noch stolz darauf - als seine Kaiserin. (...) (...) Als Du zu Gott Zuflucht nahmst und zu seinem Dienst, da tat ich, wie Du getan, nein, ich nahm den Schleier vor Dir. Als hättest Du an Lots Weib, das rückwärts schaute, denken wollen erst brachtest Du unserem Gott in mir ein Opfer, ich musste zuerst den Schleier nehmen und das klösterliche Gelübde ablegen, ehe Du Dich selber Gott weihen mochtest. Ich will es Dir offen sagen, es tat mir bitter weh, ich wurde über und über rot vor Scham, daß ich darin so wenig Vertrauen bei Dir fand. Ich wäre doch, weiß Gott, ohne Zaudern auf Dein Geheiß in die Hölle Dir sogar vorausgeeilt oder doch nachgestürzt. Ich war doch nicht mehr Herr meiner Selbst, in Dir, nur noch in Dir war es und ist es, ist es jetzt mehr als je! Ist mein Selbst nicht bei Dir, so ist es nirgends, und ohne Dich hat es kein Sein und Wesen. Lass mein Herz doch bei Dir sein, bitte, bitte, und bei Dir behütet sein! Es fühlst sich schon behütet, wenn Du ihm ein freundliches Gesicht machst, wenn Du Liebe mit Liebe vergelten magst, mein Großes mit Deinem Geringen, mit Deinem schönen Wort mein opfervolles Tun. (...) (Aus: Abaelard Die Leidensgeschichte und der Briefwechsel mit Heloisa. Verlag Lambert Schneider Heidelberg 1979. Übertragen von Eberhard Brost) © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 126 Cluny I Cluny II Wer in Cluny sich eine Vorstellung erarbeiten will, wie es einmal ausgesehen hat, kommt um die Modellbetrachtung nicht herum. In neuerer Zeit gibt es Computergrafiken, virtuelle Darstellungen, die natürlich archäologisch fundiert sind, die die räumliche Vorstellung ungemein unterstützen. Die Skizzen sind unterschiedlich im Maßstab. Jedoch sieht man, wie eng sich anfangs die Bauern und Handwerker um das schützende Kloster geschart haben und wie später das Kloster diese unter seinen Schutz hinter seine Mauern nahm. Erst Cluny III mit der 187 m langen Abteikirche wird den Aufbau der Gesamtanlage abschließen. Ich habe mich wieder hinreißen lassen, einen tiefen Blick ins Mittelalter zu tun. Es ist so spannend nachzuforschen, wie Menschen sich um Erkenntnis bemüht und um Wahrheit gerungen haben. Wir Heutigen sind auch nur ein winziger Bruchteil der Menschheitsgeschichte und keinen Deut klüger als die vor 1000 Jahren, wenn es uns nicht gelingt, Frieden zu halten und uns auf das Wesentliche zu konzentrieren, nämlich allen Menschen auf dem Erdball ein würdiges Leben zu sichern. Ich habe in meinem Leben wenig Anzeichen dafür entdecken können. Zu wenig. Dummheit, Kleingeist, Egoismus, Machtgier, Habsucht, Neid, Gewinnstreben, Gewalt, Hoffart und Mordlust, die ganze Büchse der Pandora8. Kein Licht am Ende des Tunnels? Doch und doch! 13 km nördlich von Cluny liegt das Dorf Taizé. Dieser Name gewinnt seit dem Ende des Weltkrieges an Bedeutung, wenn es um die Hoffnung um Völkerverständigung geht. Ich hörte das erste Mal davon beim Kirchengesang und von meinem Neffen Andreas, dem Pfarrer. Er erzählte mir von Taizé. Auch Conny erwähnte es. Darf ich noch davon erzählen? In Taizé gründete Frère9 Roger 1940 eine internationale ökumenische Communauté 10. Die Brüder engagieren sich, ein Leben lang materielle und spirituelle Güter zu teilen, in Ehelosigkeit zu leben und einen schlichten Lebensstil zu führen. Heute gehören zur Communauté an die hundert Brüder aus über 25 Nationen, Katholiken und aus verschiedenen evangelischen Kirchen. Kern des täglichen Lebens in Taizé bilden drei gemeinsame Gebete. Die Brüder leben von ihrer Arbeit. Sie nehmen für sich selber keine Spenden, keine Geschenke an. Einige von ihnen leben in kleinen Fraternitäten 11 mitten unter den Armen. Seit Ende der fünfziger Jahre kommen zunehmend Jugendliche nach Taizé. Zu Tausenden nehmen sie an den wöchentlichen Jugendtreffen mit Gebeten und Gesprächsgruppen teil. Die Brüder von Taizé unternehmen auch 8 Pandora, [griechisch, „Allgeberin“], nach Hesiod die erste Frau. Hephaistos erschuf sie im Auftrag des Zeus und stattete sie mit den Gaben aller Götter aus. Epimetheus heiratete sie gegen den Rat seines Bruders Prometheus. Einem Gefäß („Büchse der Pandora“), das Pandora öffnete, entwichen alle Übel und überkamen die Menschen. Im Gefäß blieb die Hoffnung zurück. 9 Frère, frz. Bruder 10 Communauté, frz. Gemeinschaft 11 Fraternitäten, frz. Bruderschaften © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 127 Besuchsreisen und bereiten kleinere oder größere Jugendtreffen in Afrika, Süd- und Nordamerika, Asien und in Europa vor. Sie sind Teil eines „Pilgerwegs des Vertrauens auf der Erde“. Alles begann 1940, als Frère Roger mit fünfundzwanzig Jahren sein Geburtsland Schweiz verließ und nach Frankreich zog, in das Land seiner Mutter. Viele Jahre hindurch hatte eine Lungentuberkulose sein Leben beeinträchtigt. Während der langen Krankheit reifte in ihm die Eingebung, eine Gemeinschaft ins Leben zu rufen, in der täglich Einfachheit und Güte des Herzens gelebt werden. Beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hatte er die Gewissheit, daß er – wie seine Großmutter es während des ersten Weltkriegs getan hatte – ohne zu zögern Menschen zu Hilfe kommen müsste, die Schweres durchzumachen haben. Er ließ sich im Dorf Taizé nieder, das unweit der Demarkationslinie lag, die Frankreich teilte: eine gute Lage, um Menschen aufzunehmen, die vor dem Krieg flüchteten. Freunde in Lyon gaben die Adresse von Taizé an Menschen, die Zuflucht suchten, weiter. In Taizé hatte Frère Roger mit einer bescheidenen Anleihe ein Haus mit Nebengebäuden gekauft, das seit Jahren leer stand. Einer seiner Schwestern, Geneviève, schlug er vor, ihm bei der Betreuung zu helfen. Unter den Flüchtlingen, die sie beherbergten, waren auch Juden. Es gab kaum etwas, auch kein fließendes Wasser, weshalb sie das Trinkwasser vom Dorfbrunnen holten. Das Essen war mager und bestand unter anderem in Suppen aus Maismehl, das bei der benachbarten Mühle billig zu haben war. Aus Rücksicht auf die Gäste betete Frère Roger allein; oft sang er fern des Hauses im Wald. Um bestimmte Flüchtlinge, Juden oder Agnostiker 12, nicht in Verlegenheit zu bringen, erklärte Geneviève jedem einzelnen, daß er gegebenenfalls lieber allein in seinem Zimmer beten sollte. Frère Rogers Eltern wussten, daß seine Schwester und er in Gefahr waren, und baten einen Freund der Familie, einen französischen Offizier im Ruhestand, ein Auge auf sie zu haben. Er kam dieser Bitte gewissenhaft nach und teilte ihnen 1942 mit, daß sie entdeckt worden seien und unverzüglich abreisen müssten. Frère Roger konnte 1944 zurückkehren. Er war nun nicht mehr allein; zwischenzeitlich hatten sich ihm die ersten Brüder angeschlossen und mit ihm ein gemeinsames Leben begonnen, das nun in Taizé fortgeführt wurde. 1945 baute in der Gegend ein junger Mann einen Verein auf, der sich um Kinder kümmerte, die ihre Familie im Krieg verloren hatten. Er ersuchte die Brüder, eine bestimmte Zahl von ihnen in Taizé aufzunehmen. Eine Gemeinschaft von Männern konnte aber keine Kinder betreuen. Deshalb bat Frère Roger seine Schwester Geneviève, erneut nach Taizé zu kommen und den Kindern Mutter zu sein. Die Brüder luden sonntags auch deutsche Kriegsgefangene aus einem in der Nähe errichteten Lager ein. Allmählich schlossen sich weitere junge Männer den ersten Brüdern an. Ostern 1949 banden sie sich endgültig zum gemeinsamen Leben, in Ehelosigkeit und großer Einfachheit. Heute zählt die Communauté de Taizé an die hundert Brüder, Katholiken und aus verschiedenen evangelischen Kirchen. Sie stammen aus über fünfundzwanzig Ländern. Durch ihr einfaches Dasein ist die Communauté ein konkretes Zeichen der Versöhnung unter gespaltenen Christen und getrennten Völkern. Die Brüder der Communauté de Taizé bestreiten ihren Lebensunterhalt ausschließlich mit dem Erlös ihrer Arbeit. Sie nehmen keine Spenden an. Ihre persönlichen Erbschaften behalten sie nicht, sondern sie werden durch die Communauté den Armen gegeben. Seit den fünfziger Jahren leben einige Brüder an benachteiligten Orten der Erde und sind dort Zeugen des Friedens, an der Seite von Menschen, die leiden. Derzeit wohnen Brüder in Armenvierteln von Asien, Afrika und Südamerika. Sie leben in den Verhältnissen der Bewohner mit und versuchen unter den Ärmsten als ein Zeichen der Liebe zu leben, mit Straßenkindern, Gefangenen, Sterbenden und Menschen, die von zerbrochenen Beziehungen und Verlassenheit gezeichnet sind. Auch Kirchenverantwortliche kommen nach Taizé. Papst Johannes-Paul II., drei Erzbischöfe von Canterbury, orthodoxe Metropoliten, viele Bischöfe, unter anderem die 14 lutherischen aus Schweden, und andere Verantwortliche waren bei der Communauté zu Gast. Mit den Jahren nahm die Zahl der Besucher in Taizé zu. Seit Ende der fünfziger Jahre kamen immer mehr junge Menschen nach Taizé. Seit 1966 wohnen im Nachbardorf Schwestern von St. André, eine vor über siebenhundert Jahren gegründete katholische Gemeinschaft. Sie übernahmen einen Teil der Aufgaben bei den Treffen. Seit einigen Jahren arbeiten auch polnische Ursulinen mit. Ab 1962 reisten Brüder und auch Jugendliche von Taizé aus unaufhörlich in die Länder Mittel- und Osteuropas, um dort ohne Aufhebens Menschen zu besuchen, die ihre Heimatländer nicht verlassen konnten. Nach dem Mauerfall und den Reiseerleichterungen haben die längst vertieften Kontakte mit den Christen der Ortskirche eine noch größere Bedeutung. 12 Agnostizismus, griech. Lehre von der Unerkennbarkeit der Dinge und der Wirklichkeit, vor allem auch des Absoluten; meist vertreten im gemäßigten Positivismus. Auch Kants Lehre von der Unerkennbarkeit des „Dinges an sich“ und von der Unmöglichkeit von Gottesbeweisen wird als Agnostizismus bezeichnet. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 128 Von Anfang Februar bis Mitte November kommen jede Woche Jugendliche aus verschiedenen Erdteilen auf den Hügel von Taizé. Sie suchen in Gemeinschaft mit vielen andern nach einem Sinn für ihr Leben. Sie sind unterwegs zu den Quellen des Vertrauens auf Gott. Sie machen sich auf einen inneren Pilgerweg, der sie ermutigt, Vertrauen unter den Menschen zu stiften. In manchen Sommerwochen kommen mehr als 5000 Jugendliche aus 75 Ländern zu diesem gemeinsamen Abenteuer zusammen. Es ist nicht zu Ende, wenn sie wieder zu Hause sind: Sie haben eine erneuerte Einfühlsamkeit für das innere Leben und sind eher bereit, Verantwortung zu übernehmen, wo es darum geht, die Erde bewohnbarer zu machen. Und geben das weiter. In Taizé sind die Jugendlichen bei einer Communauté Auf dem Hügel von Taizé von Brüdern zu Gast, die sich mit einem lebenslangen Ja auf die Nachfolge Christi eingelassen haben. Auch zwei Schwesterngemeinschaften arbeiten bei den Treffen mit. Mitte jeden Tages bilden die drei gemeinsamen Gebete mit vielen Gesängen und einer Zeit der Stille, zu denen alle zusammenkommen, die auf dem Hügel sind. Jeden Tag geben Brüder der Communauté Bibeleinführungen, danach ist Zeit zum persönlichen Nachdenken, bilden sich Gesprächsgruppen, übernehmen die Jugendlichen verschiedene Arbeiten, die bei den Treffen anfallen. Es ist auch möglich, eine Woche ganz in die Stille zu gehen und das eigene Leben im Licht des Evangeliums zu betrachten. Nachmittags finden thematische Treffen statt, bei denen die Quellen des Glaubens und die Gegebenheiten der pluralistischen Gesellschaften in der heutigen Welt miteinander in Verbindung gebracht werden: „Ist Verzeihen möglich?", „Globalisierung als Herausforderung", Wie kann ich auf den Ruf Gottes antworten?", „Welches Europa wollen wir?" und vieles mehr. Es gibt auch Zusammenkünfte, bei denen bildende Kunst und Musik eine Rolle spielen. In Taizé hören Jugendliche aus der ganzen Welt mit viel Zeit und Ausdauer einander zu. In den Begegnungen stellt sich heraus, daß es bei aller Vielfalt der christlichen Überlieferungen und der Kulturen gemeinsame, einmütige Wege gibt, eine tiefgehende Einheit. Es werden tragfähige Grundlagen für konkrete Engagements gelegt, in der von Spaltungen, Gewalt und Vereinsamung gezeichneten Welt Vertrauen zu bilden und Frieden zu stiften. In Taizé machen sich alle auf einen „Pilgerweg des Vertrauens auf der Erde". Es wird also im Umfeld der Communauté keine fest organisierte Bewegung aufgebaut. Jede und jeder ist eingeladen, zuhause weiterzuleben, was während der Woche wichtig geworden ist, für das eigene innere Leben und für gemeinsame Schritte mit vielen anderen, die auf derselben Suche nach dem Wesentlichen sind. Gibt das nicht Hoffnung? Ich finde nur, dass dieser Weg über die Kirche leider nur die wenigsten Jugendlichen erreicht. Die meisten sind Opfer des Zeitgeistes, und der wird vom Geld und seinen unseligen Folgen vorgeschrieben. Soweit Taizé! Ganz in der Nähe von Cluny. Was haben wir noch gesehen? Wie will man sich in einer dreiviertel Stunde hier vertiefen? Wir erlebten die Faszination des klassizistischen Kreuzganges in Cluny III, Licht und Schatten seiner Wandelgänge. Gut, ich bekam ein Gefühl und Respekt für die gewaltigen Ausmaße dieser Anlage, die Dicke der Mauern, die Höhe der Ruinenreste. Das Kirchenschiff war 30 Meter hoch! Noch im 19. Jahrhundert konnte man die große Apsis mit den fünf radialen Chorkapellen nachempfinden. Modell von Cluny III Die Kapitelle fanden wir noch im ehemaligen Getreidespeicher und Weinkeller des Klosters, entstanden im 13. Jh. Dessen Dachstuhl (1275) ist interessant. Sein gotisches Gespärre ist aus Eichenbalken tonnenförmig ausgebildet und hat immense Spannweite. Es ist ein Ausstellungsraum, in dem wir verschiedene Modelle vorfinden. Die acht Kapitelle des Chors der © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 129 Apsis von Cluny III sind vorhanden, ein Lapidarium13 der Romanik ersten Ranges. Andere Kapitelle zeigen Adam und Eva, das Opfer Abrahams, Akanthusblätter, Fabeltiere, biblische Symbole. Das ist wohl einmalig. Vor dem Speichergebäude stehen große irdene Töpfe mit lebenden Gewürzpflanzen, wie sie wohl von den Mönchen damals angebaut wurden. Das zu erriechen und bestaunen in seiner Vielfalt und mancher Seltenheit ist allein ein botanischer Leckerbissen. Ich kaufe ein Prospekt und einige Ansichtskarten und überrede Martina noch zu einem kurzen Umweg in das Städtchen Cluny, das eine schöne romanische Kirche besitzt. Wir gehen durch das Ehrentor wieder in die Anlage hinein, und ich konnte nicht umhin, in allerletzter Viertelstunde noch einen Blick in das Museum zu werfen, das ja ehedem die Residenz des Abtes Jean de Bourbon war. Die reiche Pracht der Innenräume dieses Prälaten- Palastes kam der eines weltlichen Fürsten gleich: Es gab einen Gardesaal und einen Empfangssaal, Wohngemächer, Küchen, Kreuzgang und Kapelle. Treppen in Außentürmen verbanden die langen Saalfluchten, die mit prächtigen Kaminen ausgestattet waren. Als ich einen fotografieren will, wurde ich verwiesen und vermahnt. Es war nicht erlaubt. So wurde meine Entdeckerfreude noch etwas gedämpft. Abschied von Cluny. Es ist 15.30 Uhr. Marsch zum Bus. Weiterfahrt nach Dijon. XXVI. Dijon A ls hätte das Wetter uns diesen Besuch in Cluny nicht vergällen wollen, fing es aber jetzt an, je weiter wir nach Norden fuhren, immer schlechter zu werden, bis es dann, als wir gegen 19 Uhr in Dijon vor dem Hôtel Campanile vorfuhren, gewaltig zu regnen anfing. Ein nasser Empfang in der Hauptstadt des Départements Côte d’Or in der Region Bourgogne. Insgesamt sind wir heute 261 km gefahren. Wir bezogen Zimmer, schleppten die Koffer hoch, richteten uns für eine Nacht ein, das heißt entnahmen ihnen nur das Notwendigste. Das Abendessen war wie auf der ganzen Reise eine Strapaze: Massenabfertigung für fünfzig Leute. Hauptgang Fisch. Ich musste erst mit mangelhaftem Französisch der hübschen Kellnerin verständlich machen, dass sie uns etwas anderes bringen möchte, was dann auch klappte. Donnerstag, 11. September 2003 ir konnten „lange“ schlafen. Erst 8.00 Uhr Petit Déjeuner. 10.00 – 12.00 Stadtführung. Wieder darf ich mich mit einer neuen Region, mit einer für mich neuen Stadt beschäftigen. Über das Weinland Burgund will ich mich nicht auslassen, über seine Produkte ist es hinlänglich bekannt. Aber über seine Geschichte habe ich mich etwas informiert. In der Schule wurde sie mir schmählich verschwiegen, obwohl sie zur deutschen Geschichte gehört. Das Burgund, französisch La Bourgogne, ist eine historische Landschaft, heute eine große französische Region mit über 1,6 Millionen Einwohnern, sie umfasst die Départements Côte d'Or, Níèvre, Saône-et-Loire und Yonne. Wir befinden uns heute in ihrer alten Hauptstadt Dijon. Ihr Kernland ist das fruchtbare Saônebecken, natürliches Durchgangsland mit wichtigen Verkehrswegen zum Oberrheinischen Tiefland (Burgundische Pforte), zum Seine- und Loirebecken (Canal du Centre) und zum Rhônegebiet. W Das erklärt für diesen Landstrich geografisch die Wanderwege der Völker im 3. Jahrhundert im Norden Europas, als die Römer den gesamten Mittelmeerbereich beherrschten. 13 Lapidarium, Sammlung von Steindenkmälern, Grabsteinen, Sarkophagen, Altären, Grenzsteinen, Skulpturen u.ä. © Rolf Bührend, Februar 2005 Seite 130 Durch diese Burgundische Pforte sind sie marschiert, die Burgunder, kommend aus dem Landstrich, in dem wir heute wohnen. Seltsam, man könnte also sagen, heimische Gefilde. Die Burgunder sind ein ostgermanischer, ehemals aus Skandinavien stammender Volksstamm, der in der 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts n. Chr. den Rhein erreichte und um Worms ein Reich gründete. Allerdings wurde der größte Teil dieses Volkes 436 im Kampf um die römische Provinz Belgica vernichtet (historischer Kern der Nibelungensage), der Rest siedelte 443 zwischen Genfer See und Rhône mit der Hauptstadt Lyon. Das seit 461 bestehende Reich der (germanischen) Burgunder wurde 534 von den Franken unterworfen. Das Königreich Burgund entstand aus der Erbmasse des Fränkischen Reichs. Um 934 wurden Nieder- und Hochburgund zum Königreich Burgund vereinigt. In der Folgezeit ergaben sich enge Beziehungen zum deutschen Königtum, dessen Lehnsoberhoheit anerkannt wurde: 1156 heiratete Kaiser Friedrich I. (Barbarossa) Beatrix von Burgund (Freigrafschaft Burgund), 1178 wurde er in Arles zum König von Burgund gekrönt. Im späten Mittelalter kamen die westlichen Teile von Burgund unter französische Herrschaft, formal bestand jedoch die Lehnshoheit des Reichs weiter. Région Bourgogne heute Das Herzogtum Burgund wurde unabhängig von den burgundischen Königreichen gegründet. 1032 fiel es an eine Nebenlinie der Kapetinger1; nach deren Erlöschen wurde es 1363 von König Johann dem Guten dessen jüngstem Sohn Philipp (dem Kühnen) übertragen. Damit begann die große Zeit des Herzogtums Burgund; Philipp gewann durch Heirat Flandern, das Artois und die Freigrafschaft Burgund dazu. Seine Nachfolger, Johann ohne Furcht und Philipp der Gute, dehnten ihre Macht weiter aus, besonders in den Niederlanden. Karl der Kühne hatte eine glänzende und machtvolle Stellung unter den europäischen Herrschern inne; er unterlag jedoch 1476 den Eidgenossen und fiel 1477 bei Nancy im Kampf gegen den Herzog von Lothringen. Um das Erbe entbrannte ein Kampf zwischen Habsburg und der französischen Krone. Der spätere Kaiser Maximilian I., der die Erbtochter Maria von Burgund geheiratet hatte, konnte die Herrschaft in den größten Teilen behaupten. Die Bourgogne fiel an Frankreich. Das wars. Wie viele unbekannte Menschen in diesem Krimi einbezogen waren, verschweigen die Geschichtsschreiber, zumal sie sowieso das gemeine Volk immer dabei auslassen. Erwähnt werden die Lenker der Massen, die hoch zu Ross die Ziele ihrer Interessen vorgeben. Wer hat eigentlich heute diese Rolle inne? Die Politiker? Sie verwalten nur den Reichtum. Nein, sie sind nur willfährige Marionetten der wirklich Mächtigen. Und das sind die, die den Reichtum besitzen. Wir trafen uns vor dem Office de Tourisme an der Place Darcy. Ich angelte mir noch schnell einen Stadtprospekt. Dieser dient mir heute als nachträgliche Orientierung. „Der Rundgang der Eule“, ist er überschrieben. Er soll den „Charme“ von Dijon vermitteln. Ich benutze ihn jetzt. Hinter dem Fremdenverkehrsamt beginnt der Jardin Darcy. Er wurde 1880 rund um einen Wasserspeicher angelegt, den der Ingenieur Henry Darcy 40 Jahre zuvor gebaut hatte, um die Stadt mit Wasser aus dem Tal Val Suzon zu versorgen. Ich staune, wieso der Eingang von einer blendend weißen Skulptur eines Eisbären bewacht wird. 1 Kapetinger, französisches Königsgeschlecht von 987-1328, in Nebenlinien mit Unterbrechung bis 1848 (Valois 1328-1589; Bourbon 1589-1792 und 1814-1830; Orléans 1830-1848). Die Kapetinger leiten ihren Namen von Hugo Capet ab, dem es erstmals gelang, die französische Krone seinem Haus zu erhalten. © Rolf Bührend, März 2005 Seite 131 Ich erfahre, dass er zum Andenken an François Pompon, einem berühmten Tierbildhauer hier aufgestellt wurde. Am Eisbären vorbei verlässt man den Garten durch ein wunderschönes Gittertor und schaut auf die Porte Guillaume, das so genannte Wilhelmstor, ein Triumphbogen aus dem 18. Jahrhundert. Dahinter beginnt die Rue de la Liberté, eine der größten Einkaufsstraßen Dijons. Wir biegen aber vorher ab in die Rue de la Poste und erblicken das Achtung gebietende Gebäude La Poste Grangier2. „TELEGRAPHES- POSTES- TELEPHONES“ steht oben und lässt keinen Zweifel an seiner Bestimmung. Ich bewunderte es als architektonisches Meisterwerk, das einem Fürstenpalast gleichkommt, es ist ein Bau im Jugendstil mit Pagodendach. Wir kamen in die Rue Musette und erblickten einen seltsamen Aufzug. Aus der Kathedrale Notre Dame quoll ein Défilée Uniformierter mit Fahnen, ernst, feierlich, würdevoll, ohne Musik. Sie gingen im Gleichschritt. An ihrer Brust prangten zahlreiche Orden. Dahinter reihten sich Leute ein. Es war ein langer Zug. Die Passanten blieben stehen. Mir gingen Gedanken in den Kopf. Ich rätselte. Was feierte man? Wer waren die Teilnehmer. Ich konnte es nur ahnen. Bis heute habe ich es nicht erfahren können. Veteranen aus dem Weltkrieg? Aber heute, zum 11. September? Vielleicht ist Dijon im Herbst 1944 schon von den Deutschen befreit worden? Als dieser Zug an mir vorbei marschierte, fühlte ich: Hier schlägt das Herz dieser Menschen. Hier feiern sie die Wiederkehr ihrer nationalen Freiheit, das Ende der Besetzung durch die Deutschen. Und zu den Deutschen gehöre ich, zu den ehemaligen Feinden. Und wieder fühle ich ganz stark: Du darfst jetzt hier Gast sein! Unsere Väter waren noch gehasste Feinde. Einige hundert, vorwiegend ältere Menschen, zogen schweigend vorbei. Dann löste sich alles auf, wie ein Spuk. Wir näherten uns der Kathedrale Notre Dame. Sie stammt aus dem 13. Jahrhundert. Hier sind vor allem die drei Reihen Wasserspeier zu bewundern, die durch hohe Bogenfenster getrennt sind. Jeder Speier ist anders gestaltet. Tiergestalten, Narren und allerlei Fabelwesen führen das Regenwasser vom Gebäude weg – denkt man! Aber es sind falsche Wasserspeier. Sie dienen nur zur Zierde. In dieser Form hatte ich das noch nicht gesehen. Es gibt eine Geschichte zu den Wasserspeiern: Nur noch wenige an den Seiten der Kirche sind aus dem 13. Jahrhundert erhalten geblieben. Der Sage nach soll ein Wucherer auf Brautschau von einem herabstürzenden Wasserspeier an der Fassade erschlagen worden sein. Seine Rechtsnachfolger sollen den Abbruch der restlichen Wasserspeier durchgesetzt haben…Erst 1881 erhielt der Bildhauer Lagoule den Auftrag, die noch heute sichtbaren falschen Wasserspeier zu entwerfen. Blendwerk! Oben thront die Turmuhr „Jacquemart“. Der Herzog erbeutete diese Turmuhr im Jahre 1383 in Courtrai und schenkte sie Dijon als Dank für ihre Unterstützung im Flandernfeldzug. Im 17. Jh. machte man sich über das „Zölibat“ der Turmuhr Jacquemart lustig und verhalf ihr kurzerhand zu weiblicher Gesellschaft in Form einer „Jacqueline“. Im 18. Jh. belustigte sich das Volk über deren „Kinderlosigkeit“, und bald wurde ein Uhrwerk „Jacquelinet“ entworfen, dem sich im 19. Jh. eine „Jacquelinette“ hinzugesellte, um die Viertelstunden zu schlagen. 2 Grangier: Platz und Gebäude wurden nach Henri und Sophie Grangier benannt, die der Stadt einen Großteil ihres Vermögens hinterlassen haben. © Rolf Bührend, März 2005 Seite 132 Auf dem Weststrebepfeiler der Kapelle an der Kathedrale, die im 15. Jh. von der reichen Familie Chambellan angebaut wurde, ist in Kopfhöhe eine kleine Eule eingelassen. Früher war sie sicher aus Stein. Heute ist sie aus Bronze und glänzt durch ständige Streicheleinheiten wie Gold in der Sonne. Im Laufe der Jahrhunderte ist die Eule für Passanten, die mit der linken Hand sie berühren, zum Glücksbringer geworden. Das Volk liebt sie, und eine Unzahl von Dijonnais, Jugendliche und Alte liebkosen sie mit der linken Hand, indem sie heimlich einen Wunsch aussprechen, den ihnen die Eule erfüllen soll. Die Ursprungserklärung, warum sie Glück bringe, ist verloren gegangen. Seine Existenz ist ebenfalls Gegenstand zahlreicher Interpretationen. Hier ist die erste Deutung, die man vertreten kann: Die Eule symbolisierte im Altertum die Weisheit. Es ist im Übrigen der durch Athéna gewählte Vogel, die Göttin der Weisheit, denn die Eule bleibt wach und sieht deutlich in der Dunkelheit. Die Notre-Dame-Kirche von Dijon im Mittelalter La Chouette ist jene der Gemeinde, und die Bürgermeister sind logisch vernünftige und weise Männer. Wir berührten folgende sehenswerte Stellen: 1) 3) 4) 5) 6) 7) Jardin Jarcy Porte Guillaume Die Post an der Place Grangier Les Halles – Die Markthallen Place François Rude Rue de Forges : Hôtel Aubriot Nr. 40, Maison Maillard Nr. 38, Hôtel Chambellan Nr.40 8) Notre Dame 9) Die Eule. Sie berührte ich mit der linken Hand und wünschte mir etwas! © Rolf Bührend, März 2005 10) Maison Millière 11) L’hôtel de Vogüé 12) Place du Théâtre 14) Tour de Bar – Das Rathaus 15) Palais des Ducs et des Etats de Bourgogne – Herzogspalast und des Staates Burgund Musée des Beaux Arts (Kunstmuseum) 17) Place de la Libération 18) Palais de Justice Justizpalast Seite 133 Eine andere, dem symbolischen Christentum nähere Interpretation der Eule ist ebenfalls möglich: Die Christen des Mittelalters meinten, daß die Juden nach dem Beispiel der Nachtvögel die Dunkelheit vorziehen. Diese Eule, die in diesem Fall die Juden symbolisiert, wird in den Norden der Kirche (Seite ohne Sonne, ohne Licht) und außerhalb des katholischen Heiligtums (Ablehnung des Judentums) gesetzt. Eine andere Tatsache kann diese Auslegung unterstützen: Notre-Dame war im Mittelalter von einem Markt umgeben, und die Aktivität allein, die den Juden zu dieser Zeit erlaubt ist, war der Handel mit Geld. Oder es ist vielleicht ganz einfach die Unterschrift eines Künstlers oder eines Handwerkers, der an der Konstruktion der Kirche teilgenommen hat? Mit der Bezeichnung Chouet? Die kleine Gasse heißt denn auch Rue de la Chouette1. Ein paar Schritte weiter sehen wir ein höchst imposantes Haus, das Hôtel de Vogüé. Es ist eines der schönsten Bürgerhäuser der an altehrwürdigen Häusern wahrlich reichen Stadt. Erstmals wurde ich der bunten glasierten Dachziegel gewahr, die hier in Burgund die Dächer historischer Bauten so wunderbar zieren. Es hat einen Innenhof und einen Garten aus dem 17. Jahrhundert. Es wurde für den Parlamentsvorsitzenden Etienne Bouhier gebaut, später an die Familie Vogüé 1782 verkauft. Heute ist es Stadtbesitz und für Veranstaltungen genutzt. Wir brauchten uns nur zu drehen, da sahen wir das wahrscheinlich älteste noch erhaltene Haus Dijons, das Maison Millière. Es glich einem Hexenhaus. 1483 von einem Händler Guillaume Millière gebaut, hat es bis heute sein mittelalterliches Aussehen bewahrt, der Laden im Erdgeschoss, die Wohnung des Handwerkers im Obergeschoss. Noch heute besteht die Fassade aus Holzfachwerk mit Ziegelfüllung. Auf dem Dachfirst thronen eine Katze mit erhobenem Schwanz und eine sitzende Eule (seltsam, Eulen werden immer als sitzend abgebildet!). Die wurden aber erst im 20. Jh. angebracht. Das Häuschen ist an sich schon eine Attraktion. Es wird häufig für Filmaufnahmen genutzt, zum Beispiel wurde für eine Verfilmung des „Cyrano de Bergerac“ mit Gérard Depardieu hier gedreht. Unsere sympathische Stadtführerin wies uns auf die Intimität und besondere Atmosphäre des Antiquitätenviertels hin, das sie uns nach dem Rundgang noch ans Herz legte. Es hat enge Gassen, in denen die Häuser nach oben auskragen, eines sich ans andere lehnt, die Fußwege ein Mann breit sind. Schon die Straßennamen wie Rue Verrerie (Glaswaren), Rue du Marchés-auxPorcs (Schweinemarktstraße), Rue des Tondeurs (Schafschererstraße) erinnern an das hier ansässige Handwerk. Wir schauten von der Place François Rude hinein in die engen Gassen und wünschten uns wieder einmal mehr Zeit. Dieser Platz wurde im Jahre 1904 nach dem Abriss eines altertümlichen Häuserblockes gebaut. Seinen Namenm verdankt er dem berühmten Bildhauer aus Rude aus Dijon, dessen Geburtshaus hier steht und dessen Relief „LA Marseillaise“ den Triumphbogen von Paris schmückt. Wir standen auf der Place des Ducs, auf dem Herzogsplatz, im Rücken des Herzogspalastes, einer kleinen verkehrsberuhigten Insel mit etwas Grün. Plötzlich ertönte aus einem offenen Tor, das in einen dunklen Flur in den Palast führte, ein Trompetensignal. Die junge Französin wollte uns gerade etwas über dieses Bauwerk sagen, da hub eine Fanfare die ersten Töne der Marseillaise an. Wir standen still und lauschten, weiteres Gespräch verbot sich von selbst. Hundertstimmiger Gesang klang auf, und die Männer von vorhin hoben ihre Nationalhymne empor und trugen sie hinaus zu uns, inbrünstig, stolz, triumphierend, kraftvoll. Dieses schlichte spritzige Lied der französischen Revolution ist mir sowieso sympathisch und ein Ohrwurm, ich höre es gerne, aber in diesem Moment, mit dem Hintergrund der Fahnenparade vor Notre Dame, den ernsten Männern mit ihren Orden und Fahnen und den plötzlich in mir auftauchenden Bildern aus der Geschichte, den Leiden der einfachen Menschen in den unseligen Kriegen- da quoll in mir das Wasser hoch, ich musste mich beherrschen, um nicht mit nassen Augen 1 chouette: frz.(Schleier-) Eule, als Adjektiv: gut, sympathisch; als Ausruf : Prima, fabelhaft! © Rolf Bührend, März 2003 Seite 134 dazustehen. Ich weiß nicht, wie meine Reisegefährten in diesem Augenblick fühlten, sekundenlang vielleicht ähnlich, wir tauschten uns darüber nicht aus. Ich bin seit jeher etwas neidisch gewesen auf den Nationalstolz der Franzosen. Worauf sollte ich als Deutscher stolz sein? Auf das, was Deutschland seit 1871 in Europa veranstaltet hat? Wir gehen in den Palasthof hinein, einen von dreien, den mit dem Tour Bar, dem Rathausturm. Dieser Turm ist einem mittelalterlichen Bergfried nachempfunden. Sein Bau begann 1365 unter Philipp dem Kühnen und verdankt seinen Namen René von Anjou, Herzog von Bar und Lothringen, König von Ungarn, Jerusalem und Sizilien, der von 1431 bis 1437 in diesem Turm eingekerkert war. Er bildet den ältesten Teil des Palastes. Der derzeitige Palais des Ducs et des Etats de Bourgogne war ursprünglich nichts weiter als eine an das galloromanische Castrum angrenzende Residenz. Philipp der Kühne, der erste der vier großen Herzöge, baute es 1366 wieder auf. Danach wurde es von den folgenden Herzögen ständig vergrößert. Philipp der Gute erbaute die herzoglichen Gemächer und den Terrassenturm, der heute seinen Namen trägt. Im 17. Jahrhundert begann die klassische Umstrukturierung des Palastes nach Plänen von Jules Hardouin Mansart. Der Umbau wurde erst im 19. Jh. fertig. Heute beherbergt er das Museum für Schöne Künste. Martina lotste mich hinein, weil sie mal musste. Dann gingen wir in den zweiten Hof des Palastes, den zentralen Teil. Dort standen unsere Veteranen von vorhin. Ich konnte Kameras entdecken, deutsche Kameras. Ich entdeckte Reporter vom Bayrischen Rundfunk und Fernsehleute von der ARD, einige Offizielle, sicher auch Stadtobere, aber wir kannten sie ja nicht. Einen Rundgang im Palast zielten wir nicht an, so schauten wir uns noch ein bisschen um und traten mit Trennungsblick auf das Palais des Etats auf einen der schönsten königlichen Plätze Frankreichs, die Place de la Libération. Halbrund angelegt, bildet dieser 1685 geschaffene Platz, den bis zur französischen Revolution ein Reiterdenkmal Ludwig XIV. zierte, das aber zu Kanonen eingeschmolzen wurde. Von hier blickt man zu dem mächtigen Justizpalast hinüber, der ehemalige Sitz des Burgunder Parlaments. Dijon, Rue des Forges Nr. 38 Maison Maillard © Rolf Bührend, März 2003 Wir sammeln uns noch einmal zum letzten gemeinsamen Gang in der Rue des Forges, der Straße der Schmiede, nahe beim Herzogspalast. Drei Häuser sind es, die wir uns genauer ansehen. Die Nummer 38 ist das Maison Maillard, genannt das Milsand- Haus. 1560 für den Bürgermeister von Dijon gebaut, hat es heute eine herrliche Renaissance- Fassade. Sie wird von einer Fülle von Tiermotiven geschmückt. Besonders wird gern geachtet auf den „Burgunder Kohlkopf“ und die Figuren mit Halstuch. Das sind die beiden berühmtesten Motive des Künstlers Hugues Sambin, der gleichermaßen als Architekt, Schreiner und Zeichner zu rühmen ist. Daneben, das Haus Nr. 40, Hôtel Aubriot, war lange Zeit Depot für die Geldreserven der Stadt. Zu seiner Zeit, nämlich im 13. Jahrhundert, war Guillaume Aubriot für das in den Kellern untergebrachte Münzwechslergewölbe verantwortlich. Seite 135 Wir gehen in den Hof dieses Hauses, finden ein Fremdenverkehrsamt in den historischen Räumen. Es ist das Hôtel Chambellan. Diese herrlichen Patrizierhäuser werden hier Hôtel genannt. Im Winkel des Hofes führt eine offene Treppe nach oben auf eine Galerie und ins Hausinnere, und wir erleben ein Meisterwerk der Renaissance, einen Gärtner mit einem steinernen Korb, aus dem die herrlichen Rippenbögen eines gotischen Gewölbes sprießen. So etwas ist heute nicht mehr möglich. Man glaubt sich in Italien. Laubengänge in den Innenhöfen, Treppentürmchen mit offenen Fenstern, Zierbögen, Maßwerk, Säulen mit verspielten Kapitellen, mehrfach gegliederte Bögen über den Türen…Das Auge muss so viel erfassen, das Gehirn speichern. Jede Stadt hat so viel Geschichte und Geschichten anzubieten. Man sollte das Angebot annehmen! Ich habe einige aufgegriffen. Wir bummelten nun für etwa eine Stunde auf eigene Faust. Mein Ziel war die Kirche zum heiligen Michael, die Église St-Michel. Sie ist ein Werk dewr Spätgotik (1499 – 1530) und befindet sich nicht weit weg vom Herzogspalast, ganz in der Nähe sahen wir das Theater und die Industrie- und Handelskammer, le Chambre de Commerce am Theaterplatz. Wir betraten die Kirche, in die einige Stufen hinunterführten. Das tiefe Bogenfeld Dijon, Rue des Forges Nr. 40, des Hauptportals beeindruckte mich mächtig. Sieben Hôtel Aubriot Reihen Dienste stützten sechs reich gekläubelte Kapitelle auf jeder Seite. Von da aus fuhren, immer paarweise auf zum Jüngsten Gericht. Im Zenit des Bogens klaffte ein schlotähnlicher Kanal vielleicht von einem Meter Durchmesser, dessen Innenrand ebenfalls ausgeschmückt war. Nach oben verlor sich dieser Schlot im schwarzen Schattenreich. Vielleicht gibt es eine andere richtige Deutung. Ein kleines echtes Meisterwerk! Im Kircheninnern gab es nichts Bedeutendes. Ich habe mich nur an einem wunderbaren Glasfenster erfreut, das ich auch fotografierte. Das Innere einer Kirche hat für mich immer etwas mit Andacht zu tun, mit Besinnung und Atemholen vom schnellen Lauf der Welt draußen. Selbst das konnten wir hier nicht verwirklichen- wollten wir nicht anderes versäumen. Zügig eilten wir zurück, das Andere zu sehen. Manchmal frage ich mich wirklich, ob das der richtige Weg ist, das Leben zu leben. Wir schlenderten die Rue de la Liberté zurück und schlugen den Weg zur Markthalle ein, in der Hoffnung, noch etwas Obst oder einen anderen Leckerbissen zu erhaschen. Natürlich wanderten die Blicke links und rechts in die Schaufenster. Dabei fiel uns auf, das in einem Geschäft wahrscheinlich d a s Geschäft – nur Senf angeboten wurde: Dijon- Senf. Der welterfahrene Gourmet wird jetzt verächtlich die Mundwinkel hochziehen: Was das weiß der nicht? Ich wusste es nicht und stand an der Quelle allen Senfes. Ob Mostrich, la moutarde, la mostaza, la senape, de mosterd, mustard, горчица, hořčici, sennep, hardal…Hier wurde er „erfunden“. Hier ruhen die Wurzeln seiner Tradition. Ich nahm auch ein Töpfchen mit, als Lehrlingseinstand. Ich musste mich einfach schlau machen, eine Wissenslücke füllen. Hier sind das Ergebnis und die Geschichte von dem Senf aus Dijon: Die Herzöge Burgunds hatten die Angewohnheit, ihre Gäste mit einem Fass Senf als Abschiedsgeschenk zu entlassen. © Rolf Bührend, März 2003 Seite 136 Es nimmt daher nicht wunder, dass der Name Dijon fast ein Synonym für Senf geworden ist. Das französische Wort für Senf, moutarde - Mostrich, kommt vom lateinischen mustum - Most, das wiederum den Saft frisch gepresster Trauben (französisch verjus) bezeichnet, mit dem die Senfsamen gemischt werden, um die Senfpaste herzustellen. Senf bereichert schon lange die Küchen. Die Griechen und Römer aßen ihn gerne zu gebratenem Fleisch, und Plinius lobte ihn überschwänglich. Da Dijon an der europäischen Handelsstraße für Gewürze lag, kamen seine Bürger früh mit exotischen Kochzutaten in Berührung. So wurden auch der Senf und das pain d'epices beliebt, das lebkuchenähnliche Gewürzbrot, für das die Stadt ebenfalls berühmt ist. Die erste urkundliche Erwähnung stammt aus dem Jahre 1336, als Herzog Eudes III. ein Bankett zu Ehren von König Philipp VI. von Frankreich gab. Aus der Abrechnung ergibt sich, dass dabei über 250 Liter Senf verbraucht wurden. Und Ludwig XI. von Frankreich verreiste wohl nie ohne seinen höchstpersönlichen Senftopf. Qualitätsmaßstäbe für Senf gab es schon im Jahre 1390, aber erst 1630 wurde in Dijon die Gilde der Senfmacher gegründet. In jenen Tagen wurde Senf oft zu Hause hergestellt, und die Verwendung von Senfmühlen war allgemein üblich. Alle Zutaten - Senfsaat, Essig und Salz - waren leicht erhältlich. Senfsaat kam aus dem Saône- Tal, Essig war ein Nebenprodukt der Weinherstellung, und das Salz kam aus dem Jura. Senfsaat konnte man frisch in den Senfgeschäften kaufen. Die Bürger kamen Tag für Tag mit ihren eigenen Töpfen, um sie füllen zu lassen. Anfänglich wurde nur Essig für die Herstellung benutzt, aber im Jahre 1756 ersetzte Jean Naigeon, ein Senfhersteller in Dijon, den Essig erstmals durch verjus, den Saft unreifer Trauben. Durch den verjus unterscheidet sich der Senf aus Dijon von anderen Sorten, und durch diese Kombination erhält er seinen besonderen Geschmack und begründete seinen Ruf. Heute wird im Burgund keine Senfsaat mehr angebaut, sie stammt aus den USA, Kanada und Ungarn. Der Begriff "Dijon" bezieht sich also eher auf den Herstellungsprozess als die Herkunft der Zutaten. Noch ungefähr 70 Prozent des in Frankreich verkauften Senfs stammen von hier. Die Herstellung ist einfach. Die Samen werden gepresst und dann in verjus oder leicht fermentierten Wein eingelegt. Danach wird die Mischung gemahlen; für feinen Senf werden die Samenhülsen durch Zentrifugieren entfernt. Je dunkler die Samen, desto schärfer der Senf. Heute wird Senf aus Dijon in einer Vielzahl von Geschmacksrichtungen angeboten: mit Estragon, grünem Pfeffer, Kräutern oder Schalotten. Durch Erhitzen verliert er seine Schärfe und wird deswegen in der Küche erst gegen Ende der Kochzeit hinzugefügt. Senf wird nicht schlecht, er verliert jedoch an der Luft seine Kraft und sollte daher nur in kleinen Gefäßen zum baldigen Verbrauch gekauft werden. Außerdem ist Senf auch wegen seiner Heilkräfte berühmt: Er regt den Appetit an und lindert Kopfschmerz, Fieber und Asthma… Wir stehen vor dem Feinkostladen „Boutique Maille“ mit der Schriftzeile „MOUTARD MAILLE“. Sein Angebot ist für Kenner mindestens so spannend wie ein Antiquitätenladen für leidenschaftliche Sammler. Erstklassige Würzstoffe bietet er für die Eigenhersteller, Senf mit erstaunlichen Geschmacksnoten, zum Beispiel mit schwarzer Johannisbeere oder mit außergewöhnlichen Ölen (Nyons, Toscana…), in originellen Geschenksets mit Steingutartikeln, Senf mit Weißwein, frisch zubereitet und wie im 18. Jahrhundert im Spender serviert… © Rolf Bührend, März 2003 Seite 137 Wir erreichten die Markthalle, kurz bevor sie ihre Tore schloss. Es war mittags 12 Uhr, die Marktzeit vorüber. Die Händler räumten ihre Stände ab, zogen Planen über die Bestände, die liegen blieben, schlossen ab. In diese Aufbruchstimmung stürmten wir durch die große Halle und gewannen einem freundlichen Mann noch einige saftige Pfirsiche ab, die uns den Durst löschten. Die Halle selbst ist ein gepflegtes Bauwerk aus der Jugendstilzeit, ein zweckdienliches Dijon, Les Halles (Markthallen) Kunstwerk aus Gusseisen und Glas, der Sockel mit bunten Keramikziegeln ausgemauert. Sicher blieb sie vom Krieg verschont. Bei uns in Deutschland muss man solch Zeugnisse aus der großen Zeit zwischen 1871 und 1914 suchen. XXV. Beaune- Hôtel Dieu G enau 14 Uhr sollten wir uns wieder am Bus zum zweiten Teil des Tagesprogramms einfinden: Fahrt nach Beaune. Am späteren Nachmittag sollte noch eine Weinprobe stattfinden. Unser Reisetag war wieder voll gepackt bis oben hin. Wir fuhren durch die Bourgogne. Rechts und links dehnten sich endlose Weinfelder, die auf den Höhen dahinter sich bis an den Horizont zogen. Weinland Burgund. Wir fuhren Autobahn, lernten nebenbei das französische Mautsystem kennen: Péage und Télé péage. Mit Münze und mit Karte. Falk, unser Busfahrer, hat auf etwa 3400 km, die wir auf Frankreichs Autobahnen zurückgelegt haben, genau 279,80 € Mautgebühren bezahlt. Das würde für einen PKW ungefähr 200 € bedeuten. Wer Zeit hat, kann Nationalstraßen benutzen, die meist parallel verlaufen. Wir hatten heute keine. Die Tour de France rollt. Parken in Beaune. Conny geleitete uns zu dem wohl bekanntesten Gebäude der Stadt, dem Hôtel-Dieu. „Palast für die Armen“, wird diese umfangreiche Anlage genannt. Was versteckt sich darin? Das Hôtel-Dieu ist ein Hospital. Es wurde im Jahre 1443 vom Kanzler des Herzogs von Burgund, Philipps des Guten2, Nicolas Rolin, gebaut. Rolin war auf seinen Reisen nach Flandern besonders von der Architektur der Nordkrankenhäuser stark beeindruckt. Nach dem Hundertjährigen Krieg3 litt Beaune unter Hunger und Armut. Dreiviertel der Stadt waren praktisch mittellos. Um ihr Seelenheil zu gewinnen- vielleicht war auch ein großes Stück schlechtes Gewissen dabei – beschlossen der Kanzler und seine Frau, Guigone de Salins, ein Hospital für die Armen zu gründen. Sie versahen es mit eigenen Einnahmequellen, Weinbergen und Salinen, und beauftragten zahlreiche Künstler mit der Dekoration und Ausstattung. Mit seinen gotischen Fassaden und seinen farbigen Dächern gilt es heute als Juwel der mittelalterlichen burgundischen Architektur. Schon in Dijon hatten wir solche Dächer gesehen. Hier bewunderten wir sie in Reinkultur. 2 Philipp III., Philipp der Gute, Herzog von Burgund, französisch Philippe le Bon, le Duc de Bourgogne,14191467, * 31. 7. 1396 Dijon, † 15. 6. 1467 Brügge; kämpfte 1420-1435 auf Seite der Engländer gegen Frankreich. Durch den Erwerb des Hennegaus, der Picardie, Brabants und Hollands errichtete er einen mächtigen Staat zwischen Frankreich und Deutschland; Burgund wurde zum europäischen Kultur- und Wirtschaftszentrum. 3 Hundertjähriger Krieg, der Krieg zwischen England und Frankreich 1338—1453 (mit Unterbrechungen). Er begann, als der englische König Eduard III. den französischen Königstitel annahm; zeitweise beherrschten die englischen Könige ganz Frankreich. Nach dem Friedensschluss 1475 behielt Großbritannien noch Calais bis 1558 und die normannischen Inseln. © Rolf Bührend, März 2003 Seite 138 Eine weitere Besonderheit des Hôtel-Dieu ist, dass die Schwestern des Hospitals von Beaune vom Mittelalter bis in die Neuzeit, genau bis 1971, ohne Unterbrechung, dieses Haus vorbildlich geführt haben. Sie haben zahlreiche Kranke in mehreren großen Sälen aufgenommen und gepflegt. Das Hôtel-Dieu ist schnell bei den Armen, aber auch bei den Reichen bekannt und berühmt geworden. Dank ihrer Gaben konnte sich das Hospital durch den Bau neuer Säle und die Stiftung von Kunstwerken vergrößern und verschönern. Es ist zu einem „Palast für die Armen“ geworden. Mit Ausnahme eines Altersheimes ist seine medizinische Tätigkeit von 1971 an in ein modernes Krankenhaus verlegt worden. Als Bewirtschafter von 61 ha Weinbergen, welche im Laufe der Jahrhunderte geerbt wurden, organisiert das Hospital jährlich seit 1859 die berühmteste Weinversteigerung der Welt. Soweit die Geschichte dieser Sehenswürdigkeit. Wir marschierten also schnurstracks vom Busplatz, dem Parking Louis Véry an der Tour de l’Hôtel-Dieu, einem Teil der die ganze Stadt umschließenden mittelalterlichen Stadtmauer zur Place de la Halle, betraten an der ziemlich nüchternen Straßenseite des Hospitals durch eine unscheinbare Pforte den Komplex, schoben uns an der Kasse vorbei -50 Personen! - und befanden uns im Großen Armensaal. Plan der Altstadt Beaune. Der gelbe Ring ist die 3 km lange, zum Großteil noch intakte Stadtmauer (Remparts). Wir hielten uns vorwiegend im Bereich der Place de les Halles (i) auf © Rolf Bührend, März 2003 Seite 139 Der Große Armensaal mutete an wie das schlichte Langhaus einer Kirche. Über den hölzernen Zugbändern der gewölbten Holzdecke erhob sich der freie Raum des Daches, verziert mit christlichen Symbolen. Wenige Bogenfenster ließen nur spärlich das Tageslicht ein, so dass der Eindruck eines Kirchenraumes noch verstärkt wurde, zumal an der Stirnseite eine bis ins Dach reichende, bogenförmige Türöffnung den Blick auf das bunte Glasfenster einer Kapelle frei ließ. An den Seiten sind die Betten angeordnet, in Längsrichtung gereiht, an Beaune, Hôtel-Dieu, Großer Armensaal die 25 Betten rechts und links. Vom Fliesenboden des leeren Mittelteiles erhebt sich ein durchgehendes Holzpodium vor der Bettenreihe. Vor jedem Bett stehen ein winziges viereckiges Tischchen und ein Stuhl. Die Betten sind weiß bezogen, von einer roten Tagesdecke überspannt. Die Kojen sind mit Holz ausgekleidet und mit roten Vorhängen versehen. Ein durchgehendes rot verkleidetes Holzpaneel schließt oben die Bettenreihe ab. Vom Kopfende jeder Koje ragt ein Holzkreuz in den leeren Kirchenraum. Wir treten durch die Bogentür in die Kapelle Saint Anne. Hier werden Heilige verehrt. Betstühle, Beichtstühle, Altar, Heiligenbilder, das ganze Programm. Von da aus gelangen wir seitlich hinaus in einen Kreuzgang, der die Sicht auf den Innenhof freigibt. Jetzt wir die ganze Schönheit des Hospizes offensichtlich. Ein geräumiger, mit Kopfsteinen gepflasterter Hof erstreckt sich und hält im Geviert die einzelnen Trakte zusammen. An der Seite der wichtige Sockel eines Brunnens, rein gotisch der Überbau mit der Zugeinrichtung. Die Säulen des relativ schmalen, L-förmigen Kreuzganges stützen ein Obergeschoss, das sicher für die Unterkünfte der Schwestern gedient hat. Wir wurden in zwei kleine, an der Schmalseite des Hospizes liegende Säle geführt. Der Saal Saint Hugues war den reichen Kranken vorbehalten. Entsprechend ist er auch viel reicher und mit anderem Komfort ausgestattet. Der Raum wurde von Hugues Beaune, Hôtel-Dieu, Saal Saint Hugues Bétault 1645 eingerichtet. Er stiftete ihn als Wohltäter, sicher nach geheilter Krankheit. Gemälde bilden verschieden Wunderheilungen ab, unter anderem die von Christus in Bethesda in Jerusalem. Man sieht natürlich den Unterschied in der Behandlung gegenüber den mittellosen Armen. Es schloss sich der Saal Saint Nicolas an, der dazu bestimmt war, die schwer, in Lebensgefahr schwebenden Kranken aufzunehmen. Er trennte die Behinderten und Todkranken von den Leichtkranken. Er war von beschiedenen Ausmaßen und beherbergte 12 Betten für Kranke beiderlei Geschlechts, was Ludwig XIV. bei seinem Besuch 1658 zutiefst schockierte. Er stellte daraufhin eine Rente von 500 Pfund für das Hôtel-Dieu aus, um Umbauten für die Trennung von Männern und Frauen vorzunehmen. Heute ist es ein Museumsraum. Man dringt zu tief ein, ein Zeitproblem, beschäftigte ich mich mit den Exponaten. Geräte, religiöse Gegenstände, medizinische Instrumente, Handarbeiten von Patienten. Die Küche zeigt plastisch, mit lebensechten Puppen und vielen originalen, noch bis vor kurzem benutzten Geräten, die doch recht anstrengende Arbeit zur Ernährung von Patienten und © Rolf Bührend, März 2003 Seite 140 Personal. Hier herrscht Gedränge in diesem kleinen Raum. Alle wollen fotografieren. Den großen gotischen Kamin mit zwei Feuerstätten oder den historischen Bratenwender von 1698. Oder den über hundertjährigen Küchenherd mit den als Schwanenhals geformten Wasserauslässen. Dann treten wir auf den sonnenüberfluteten Ehrenhof hinaus. Und werden wieder hinein gelenkt in die Apotheke, die einen Überblick über den pharmazeutischen Bereich bot, der ja für ein Hospital lebenswichtig war. Die Apotheke hat zwei Säle. Der erste beherbergt den Bronzemörser des Beauner Apothekers Claude Morelot aus dem Jahre 1760 und Gemälde über Tätigkeiten aus der Arbeit des Apothekers dieser Zeit. Im zweiten Saal sehen wir eine Sammlung von Steinguttöpfen, in welchen Salben, Pillen, Öle oder Sirup aufbewahrt wurden. Glasbehälter enthalten noch „spezifische“ Mittel, von denen einige zum Träumen verleiten: Kellerasselpulver, Krebsaugen, Brechnusspulver, Eigentümlichkeitselixier… Es geht die Geschichte, dass zu Zeiten des Kanzlers Rolin das Hôtel-Dieu weder Arzt, Apotheker noch Chirurg vor Ort hatte. Es kamen die in der Stadt niedergelassenen Praktiker, am Anfang kostenlos- ihre Kunst stand im Dienste der Armen. Die Gemeinschaft der Klosterschwestern des Krankenhauses hatte die Macht inne. Manchmal kam es zu Konflikten: Nicolas Rolin selbst spürte, was eine Frau mit Charakter vermag. In den vierzig Jahren als Kanzler der Herzöge der Bourgogne hatte er es mit Heinrich V.4, Bedford5, Gloucester6, Isabeau7 und Jacqueline8 von Bayern, Karl VII.9, Gilles de Rais10, Jeanne d’Arc11…aufgenommen, aber sein großer Alptraum war Mutter Alardine Gasquière, Äbtin der Kongregation. Es bedurfte sogar eines päpstlichen Eingriffs, damit die heilige und gefürchtete Tochter einige Abkommen akzeptierte. Selbst Stifter haben es nicht leicht. Nun bin ich durch die Fußnoten und diese Geschichte, die ja eine Zeit aufrührt, die wir nicht kennen, die die Ereignisse des Hundertjährigen Krieges zwischen England und Frankreich, und Gestalten auf die Bühne zwingt, die wir ebenfalls nicht kennen, vom Pfade unseres eigenen Erlebnisweges im Hôtel-Dieu abgekommen. Von den Zinkbechern und dem Porzellan der Apotheke führte uns der Besucherweg wieder in den Ehrenhof und dann in die letzte Besichtigungs- Station, den Saal Saint Louis. Er wurde auf 4 Heinrich V., König von England 1413—1422, * 29. 8. 1387 Monmouth, † 1. 9. 1422 Vincennes; Sohn von Heinrich IV. von England; versuchte ein letztes Mal mit großem Erfolg, die Herrschaft über Frankreich zu erringen (Sieg bei Azincourt 1415 und Friede von Troyes 1420), nahm den Titel eines Königs von Frankreich an und heiratete die Tochter Karls VI. von Frankreich. 5 Bedford; eigtl. Jean de Lancastre, Herzog von Bedford (1389-1435), Bruder Heinrichs V. Er wurde in England Leutnant, dann Regent von Frankreich für seinen Neffen Heinrich VI.(1422). Der Vertrag von Arras 1435 ruinierte seine Unternehmungen in Frankreich. 6 Gloucester, Titel eines Earl und seit dem 14. Jahrhundert eines Herzogs, konnte an nachgeborene Prinzen und Adoptivkinder des englischen Königshauses verliehen werden. Bedeutende Herzöge von Gloucester waren Humphrey (* 1390, † 1447), der die Regentschaft für den unmündigen König Heinrich VI. übernahm, 7 Isabeau, Isabel, Königin von Frankreich, Frau Karls VI., * 1371, † 29. 9. 1435 Paris; Herzogstochter; 1392 Mitregentin für den geisteskrank gewordenen König; nach dem Tod ihres Gatten (1422) ohne Einfluss. 8 Jacqueline oder Jacoba de Bavière (1401-1436), Herzogin von Bayern, Gräfin von Hainaut, Holland, Frisland und Zeeland. 1428 erkannte sie den Herzog von Burgund als Erben an. 9 Karl VII., König von Frankreich 1422—1461, * 22. 2. 1403 Paris, † 22. 7. 1461 Mehun-sur-Yèvre, Département Cher; von den Engländern seiner Thronrechte beraubt; seit dem Auftreten der Jeanne d'Arc, der er die Krönung in Reims verdankte (1429), siegreich, vertrieb er die Engländer 1453 endgültig (bis auf Calais) aus Frankreich. 10 Gilles de Rais, Marschall von Frankreich (1400-1440), wegen seiner unzähligenVerbrechen unter Kinder erregte er großes Aufsehen. Er wurde in Nantes exekutiert. 11 Jeanne d'Arc, Jungfrau von Orléans, Heilige Johanna, La Pucelle, * um 1411 Domrémy, an der oberen Maas, † 30. 5. 1431 Rouen; erwirkte, durch „göttliche Stimmen“ veranlasst, die Anerkennung König Karls VII. als rechtmäßigen Herrscher und vermochte ihn aus seiner Lethargie zu reißen. Sie wurde als „Retterin Frankreichs“ (1429 Entsatz von Orléans und Krönung Karls VII. in Reims) am Ende des Hundertjährigen Krieges gegen die Engländer verehrt; 1430 von Burgundern, den Verbündeten Englands, gefangen genommen und für eine hohe Geldsumme an England ausgeliefert. Vom französischen Hof im Stich gelassen, wurde sie in einem Prozess in Rouen unter Leitung des Bischofs von Beauvais wegen Hexerei und Ketzerei verurteilt und verbrannt. Ein Revisionsprozess hob das Urteil auf (1456). 1909 Selig-, 1920 Heiligsprechung (Fest: 30. 5.). Im 19. Jahrhundert wurde Jeanne d'Arc zur französischen Nationalheldin. © Rolf Bührend, März 2003 Seite 141 Anregung von Louis Bétault 1661 geschaffen, an Stelle einer Scheune und schloss den Hof des Hôtel-Dieu an der Schmalseite ab. Er diente auch als Gärkeller bei der Weinerzeugung. Hier befanden sich auch die Backöfen des Hospizes. Täglich wurde unter dem Torbogen Brot an die Armen verteilt. 1828 schloss man mit den Bäckern von Beaune einen Vertrag ab, dass sie diese Pflicht übernahmen. Die Backöfen veralteten und erlaubten die neue Nutzung als Teil des Museums. An den Wänden hängen schöne Wandteppiche: Eine Serie von sieben Bildern, gewebt in Tournai12, erzählt das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Eine andere, fünfteilige aus Brüssel die Geschichte vom heiligen Jakob. Alle sind sie aus dem 16. Jahrhundert. Dann treten wir anschließende wie in ein Heiligtum in das im Dunkeln gehaltene Kabinett mit dem Polyptychon13. Hier erwartet uns ein besonders wertvolles mittelalterliches Relikt, der mehrflügelige Altar des Belgiers Van Weyden14. Dieser Altar wurde vom Kanzler Rolin bestellt und dem niederländischen Maler Roger van Weyden zugeschrieben. Er stand erst in der Kapelle des Hospizes und wurde den Kranken aber nur sonntags und an Festtagen gezeigt. Er stellt das Jüngste Gericht dar und ist besonders durch seine intensive Darstellung der Menschen berühmt. Beaune, Altar „Das Jüngste Gericht“, (geöffnet:) Christus als Richter majestätisch im Purpurmantel. Mit der erhobenen rechten Hand, in der er eine blühende weiße Lilie hält, macht er den Auserwählten Zeichen. Im Gegensatz dazu zeigt die Linke als Zeichen der Missbilligung nach unten: „Entfernt Euch von mir, zum ewigen Feuer verdammt…“ Zu Füßen des Christus umgeben vier Posaunen- Engel, die das Jüngste Gericht verkünden, den Erzengel Sankt Michael. Strahlend im Kontrast seines weißen Kleides und seines scharlachroten Mantels wägt er mit unbewegtem Gesicht die Auserwählten ab. Links des Regenbogens bittet die Jungfrau Maria für die Sünder um Gnade. Hinter ihr sechs Apostel und vier Heilige. Rechts Johannes der Täufer, sechs Apostel und drei Heilige. Links von Christus die erschrockenen und verzweifelten Verdammten, rechts von ihm die Seligen, die zum Paradiese gehen. Ein Werk Roger van der Weydens. 12 Tournai, flämisch Doornik, Stadt in der belgischen Provinz Hennegau, an der Schelde, 67 900 Einwohner; romanisch-gotische Kathedrale (12./13. Jahrhundert) u. a. mittelalterliche Bauten; Textil-, Teppich-, Metall-, Zement-, Nahrungsmittelindustrie. 13 Polyptychon, [das; griechisch], in der Antike eine mehrteilige, zusammenklappbare Schrifttafel; später ein Altarwerk mit mehr als zwei Flügeln. 14 Weyden, Rog(i)er van der, Roger de la Pasture, niederländischer Maler, * 1399 oder 1400 Tournai, † 18. 6. 1464 Brüssel; spätestens 1436 Stadtmaler in Brüssel, 1449/50 in Italien. Weydens Werk bildet im Rückgriff auf die Monumentalität der Hochgotik einen Höhepunkt der altniederländischen Malerei. In seinen Altarbildern treten Landschafts- und Innenraumgestaltung und Detailschilderung zurück hinter der Charakterisierung der Figuren in Ausdruck, Haltung und Farbe. Hauptwerke: Kreuzabnahme um 1435-1440, Madrid, Prado; Marienaltar (2 Exemplare, eines davon in Berlin, Staatliches Museum; Teile des anderen in Granada, Capilla Real; New York, Metropolitan Museum); Jüngstes Gericht, um 1442-1450, Beaune bei Dijon, Hospital; Bladelin- Altar mit der Anbetung des Kindes, um 1450-1452, ebenda; Dreikönigs-Altar, um 1460, München, Alte Pinakothek. © Rolf Bührend, März 2003 Seite 142 Es war eine schwere, religiöse Zeit, die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert. Zu dieser Zeit schämten sich die Menschen weder ihrer Krankheit noch hatten sie Angst vor dem Tod. Er begleitete sie ganz anders als heute, viel natürlicher und selbstverständlicher. Aber die Menschen fürchteten, ihre Seelen zu verlieren und hielten demütig die Regeln ein, die ihnen die christlichkatholische Kirche vorgab. Es war die Zeit der Vorreformation. Am Horizont dämmerte die neue Zeit…Noch aber spiegelt der Altar die furchtbare Auslese von Seligen und Verdammten wieder, die einst nach dem Tode beim Jüngsten Gericht gehalten wird. Angst und selig machender Glauben. Albrecht Dürer schnitt 1498 seine Apokalypse ins Holz, die Offenbarung des Johannes. 1498 stirbt Karl VIII., und Ludwig XII. übernimmt in Frankreich die Macht. Und ab 1500 rechnet man die Neuzeit. Das Mittelalter ist zu Ende. Amerika ist entdeckt. Bücher werden gedruckt und verbreiten die vorrangig kirchlich verbrämte Lehre in Windeseile. Die Klöster verfallen… Heute ist die Zeit der Furcht und Herausforderung weg. Leider auch der Demut… Wir kauften im Laden des Hospizes, wo alles, aber auch annähernd alles an Hôtel-DieuDevotionalien, womit sich Geld machen lässt, als Andenken verscherbelt wird, einige Serviettenringe aus Holz, verschiedene Farben und einen Prospekt, aus dem ich einiges übernommen habe. Man sehe mir das nach. Uns blieben noch 20 Minuten Zeit, zu wenig, um einen ausgiebigen Stadtrundgang zu unternehmen, zu viel, um gleich zum Bus zu laufen. Die Sonne schien verlockend warm. An Hand des Stadtplanes verschafften wir uns noch einen Überblick über das Städtchen, doch es gelang nicht so recht, noch etwas festzuhalten. Es blieb wieder nur die unbestimmte Sehnsucht, wieder einmal hierher zu kommen, um auch andere Dinge zu treiben, ein Museum zu sehen, eine der vielen Weinstuben zu probieren, in einem gemütlichen Hotel zu übernachten, an der Stadtmauer spazieren zu gehen. Es blieb beim hektischen Erhaschen einiger Blickpunkte. XXVIII. Clos de Vougeot U ns trug der Bus nun wieder zurück auf die route nationale 74 in Richtung Dijon nach Norden. Rechts und links dehnen sich bis zum Horizont die Weinfelder und Weinberge. Wir halten dann unvermittelt vor einem Gehöft, das sich linker Hand aus dem Grün der Reben heraushob. Ich möchte es als bodenständig bezeichnen. Das Haupthaus war eingeschossig und seine Wände völlig von immergrünem Efeu eingerahmt. Nur die weißen Fenster und im mächtigen Walmdach drei Dachgaupen ließen es freundlich erscheinen. Eine Tafel informierte uns: VOUGEOT: Les Clos Vougeot et son Château, son complexe sportif ; Camping, Commerces, Caves de Dégustations1 Mit unseren Worten: Wir befanden uns auf einem eingeschlossenen Weingut (Clos = geschlossen, abgeschlossen, eingezäunter Weinberg), das sportliche Aktivitäten bietet, auch Campingmöglichkeiten, mit Weinen handelt und in seinen Weinkellern Verkostungen durchführt. Es gibt einen nahe gelegenen Ort, der Vougeot heißt. Das verriet mir ein Lageplan auf dem Schild, und es verriet dem Weinkenner die Ortslage der hier erzeugten Weinsorten. Mit 50 Leuten ist eine Weinverkostung keine gemütliche Sache, sondern ein Durchläufer. Alles drängelt sich in den engen Räumen, zumal wir hinunter in den Keller gebeten wurden, in die Caves, die Weinkeller. Man führte uns in einen breiten, korbbogenförmig gewölbten Kellergang, dessen Wände schwarz mit Mikrobenschimmel überzogen waren, der über Jahre vom Alkoholdunst erzeugt wird. Rechts und links lagern je eine Reihe beschilderter Weinfässer, die die hiesige Produktion vorstellen. Durch offene Bogentüren in meterdicken Wänden blickten wir in ein Labyrinth unterirdischer Räume, in das Fasslager und das Flaschenlager. Immer wieder beeindrucken mich die Lagerzeiten, bis ein guter Wein ausgereift ist, die Geduld, die ein Winzer mit diesem Getränk haben muss, die vielen Arbeitsgänge, bis ein Wein zum Genuss reif ist. 1 Dégustation, frz. Weinprobe, Verkostung © Rolf Bührend, März 2003 Seite 143 Ich habe gelernt, dass ein Wein mindestens fünf Jahre alt sein muss, bis er wirklich gut ist. Wir trinken ihn immer viel zu jung. Danach drängten wir uns in einen größeren Raum, der von einem riesigen runden Tisch fast ausgefüllt wurde. Er bestand aus dicken, grob gehobelten Eichenbohlen. In der Mitte prangte ein scheinbar uralter Leuchter, voller Kerzenunschlitt, mit Staub und Spinnweben überzogen. Er vermittelte eine gespenstische Stimmung. Im Raum brannten nur einige Wandleuchten und erhellten ihn kaum. In die Tischplatte waren kleine runde Untersatzschalen eingelassen. Ich zählte an die fünfzig. Einige Brotkörbe enthielten die unvermeidlichen Brocken Weißbrot, die man zwischen den einzelnen Proben nehmen sollte, damit sich der Geschmack neutralisiert. Man war also auf ganze Busse eingerichtet. Wir standen in Zweierreihen um den Tisch. Zwei, drei Hilfskräfte des Hauses schenkten ein. Jeder erhielt ein Glas. Ein Mensch, der leidlich Deutsch sprach, erläuterte mit schnellen Worten die erste Wein- Sorte. Insgesamt waren es wohl fünf, die man uns vorstellte, zwei junge Jahrgänge, einen oder zwei mittlere und einen Schluck eines guten, eines grand cru2. Schluck. Mhm. Schluck. Indessen wurde die nächste Flasche erläutert, man goss wieder nach- die nächste Sorte. Ich übernahm den Rest von Martinas Part. Fünf Sorten, zehn, zwölf, fünfzehn Schluck. Schnell ein Stück Brot, wir hatten ja nichts Richtiges zu Mittag gegessen. Noch ein Stück Brot, noch ein Schluck. Die Sinne sind angespannt, man will hinter das Geheimnis kommen über die Unterschiede, die Tannine herausschmecken, das Aroma finden, nach dem der oder der Wein kommt. Sind es Cassis, Johannisbeeren oder hat er mehr Säure? Zunächst prüfen die Augen, man sucht eine Lichtquelle, blickt durch das Glas, dann hängt man die Nase hinein, prüft das Bukett. Die Probe wird durch Schwenken leicht in Umdrehungen gebracht. Rinnt sie zäh die Glaswand herunter oder fließt sie schneller? Das sagt etwas über den Alkoholgehalt aus. Dann nimmt man einen kräftigen Schluck, behält ihn aber im Mund. Von vorn nach hinten benetzt man die Geschmackspapillen, zutschelt den Schluck kräftig einige Male durch, bis sich das Innenleben des Weines mitgeteilt hat. Was melden die einzelnen Sendestationen dem Gehirn? Wenig Genaues, ich bin Laie, kenne das Vokabular nicht. Ich erfahre, und in mir quillt Ehrfurcht hoch, dass wir gerade jetzt einen Grand cru der Côte-de-Nuits genießen, ich lerne, dass das Vougeot eine Spitzenlage im Burgund ist. Es wird über Lagen geredet, über deren Differenzierung, über Böden. Nach dem fünften Schluck versuche ich herauszufinden, was den Unterschied zum ersten ausmacht. Ich versuche mit geschlossenen Augen herauszubekommen, ob diese Probe mehr oder weniger fruchtig schmeckt oder wonach sonst und kann mich nicht entscheiden. Trotz alledem und nebenbei wird das Leben fröhlich und beschwingt und zwar berauschend schnell! Dann ist es auch schon vorbei. Es geht einen anderen Gang die Stufen hinauf. Wir werden nun in die Verkaufsräume geführt. Das nette romantische Personal vom Keller verwandelt sich in lauernde 2 Grand cru, frz. großes Gewächs, bezeichnet in Burgund eine Spitzenlage © Rolf Bührend, März 2003 Seite 144 Verkaufstiger. Natürlich gibt es einen Zusammenhang zwischen dem künstlich durch Opferung einiger Flaschen erzeugten Nebel im Besuchergehirn und dessen Brusttasche. Und ich habe volles Verständnis dafür. Die Winzer leben davon. Es gibt große Konkurrenz, und die wird nicht kleiner, seitdem nun Weine aus Australien, Kalifornien und Südafrika neben den klassischen spanischen, griechischen und italienischen die französischen Weine auf dem Markt bedrängen, die deutschen und österreichischen nicht zu vergessen. Ganz nebenbei erfahren wir von Conny auf der Rückfahrt, dass im Burgund nicht nur Weintrauben gedeihen, sondern auch Kirschen und Johannisbeeren. Aus letzterem wird der fruchtige CassisLikör gemacht, der mit Weißwein gemischt zum Mode- Apéritif Kir wurde (mit Champagner gemixt heißt er Kir- Royal), und der viele Desserts abrundet. Weitere Delikatessen sind das saftige und zarte Fleisch der Rinder, die im Charolais3 aufwachsen, der Schinken aus dem Morvan, meist als „jambon persillé“ in Aspik mit reichlich Petersilie serviert, die Weinbergschnecken „escargots“, gekocht in Chablis und mit herrlich knoblauch- angereicherter Kräuterbutter serviert, „crème de noix“, Walnuss-Cremesuppe, der bereits bekannte Senf aus Dijon und „Charolles“, kleine runde Käse, meist aus Ziegenmilch. Apropos Chablis, zum berühmten Anbaugebiet im Norden Burgunds mit trockenen Weißweinen aus der Chardonnay- Traube: Von Petit Chablis über Chablis, Premier Cru Chablis bis Grand Cru Chablis reicht die Palette der Klassifizierung im Burgund. Aus dem Süden des Burgunds stammt übrigens auch der bei uns immer beliebtere Beaujolais, ein leichter, fruchtiger Rotwein aus der Gamay- Traube, den man jung trinken sollte. Alkoholreicher ist der Supérieur. Der Beaujolais Nouveau, der neue Beaujolais, wird auch Primeur genannt. Die besseren Beaujolais Villages stammen aus verschiedenen Gemeinden des Burgunds. Bei solchen Betrachtungen verlief die Rückfahrt. Alles schwatzte, die Zungen waren gelockert, dann nahm uns eine leichte Müdigkeit in ihren Arm, und plötzlich waren wir wieder in Dijon. Es hatte angefangen zu regnen, als wollte der Wettergott uns die Entscheidung erleichtern, ob wir die kurze restliche Zeit bis zum Abendessen noch einen Bummel in die Stadt machen sollen. Wir blieben also im Hotel. Die zurückgelegten 79 Buskilometer fielen heute nicht sehr ins Gewicht. Ich versuchte im „Le Figaro“, der in der Hotelhalle auslag, das Wetter für morgen ausfindig zu machen, schrieb sechs Ansichtskarten an drei Elternteile und drei Kinder und gab sie an der Rezeption mit Briefmarken versehen ab. Einige sind – nach Aussagen der alten Leute – nicht zu Hause angekommen? Dann warteten wir, übervoll mit Eindrücken, auf das Abendessen. Danach das Übliche: Kofferpacken, etwas Fernsehen. Ich glaube, an diesem Abend spielte die französische Nationalmannschaft gegen Slowenien und gewann mit 2:0. Schlafen. Freitag, 15. September 2003 XIX. Colmar W ie schnell ist die Zeit vergangen! 12 Tage liegen bereits hinter uns, was für eine Fülle von Impressionen! Über sechzehn Städte und Orte haben wir schon kennen gelernt, besser beschnuppert, einen ersten Eindruck gewonnen, und vielleicht das Dreifache an Sehenswürdigkeiten bewundern dürfen. Heute Morgen führte uns nun die Route eindeutig gen Westen in Richtung Deutschland. Eine letzte Etappe sollte das Elsass sein. Wir werden noch Colmar sehen, in Riquewihr eine letzte Weinverkostung erleben und abends in Straßburg sein, um morgen in die Heimat zurück zu fahren. Bei heftigem Regen packten wir die Koffer in den Bus, huschten Deckung suchend hastig auf die vertrauten Plätze im Fahrzeug und verließen dank des schlechten Wetters nicht sehr traurig Dijon. Frank, der Fahrer, benutzte die Autobahn A39 südwärts bis Dole. Dort bogen wir endgültig nach Westen ab und befuhren jetzt die A36 in Richtung Besançon. Von Dole sahen wir 3 Charolais, Monts du Charolais, ostfranzösisches Bergland in Burgund, nördlicher Ausläufer des Zentralplateaus, bis 774 m hoch; Gneis- und Granitplateaus, an den aus Jurakalk bestehenden Vorbergen Weinbau. Auf seinen saftigen Weiden wird eine besondere weiße Rinderrasse gezüchtet, die für gutes Fleisch bekannt ist. © Rolf Bührend, März 2003 Seite 145 nichts. Die nächste interessante Stadt, die wir auf der schnellen Autostraße passierten, und in deren Nähe wir an einer Raststätte die übliche Pause erhielten, war Besançon sur le Doubs. Der Regen ließ nach, je mehr wir nach Nordwesten fuhren. An der Raststätte besorgte ich mir etwas Papier über Besançon. Ich stellte an Hand des Planes fest, dass es einen Besuch lohnt. Die Altstadt schmiegt sich in einen Bogen des Flusses Doubs. Im Norden dehnen sich die großen Waldflächen der südlichen Vogesenausläufer. Die Stadt war zu Zeiten Ludwigs XIV. von dessen Baumeister Vauban4 mit einer Zitadelle zur Verteidigung versehen worden. “Die Anhöhe ist selbst für Vögel so gut wie unzugänglich”, meinte der römische Kaiser Julian vor mehr als 16 Jahrhunderten, als er den von einer Fluss-Schleife des Doubs umschlossenen Felssporn erblickte. Auch heute scheint die von dem bedeutenden Festungsarchitekten Vauban unter König Ludwig XIV. nach dem Frieden von Nijmegen auf dem Massiv errichtete Zitadelle uneinnehmbar. Die Ursprünge der Stadt gehen über zwei Jahrtausende bis in die Gallische Zeit zurück. Julius Cäsar beschrieb damals schon Vesontio als bemerkenswerte Stadt. 4 Sébastien Le Prestre de Vauban wurde 1633 in Saint-Léger de Fourgeret (Nivernais) geboren. Schon früh zeigte er eine Begabung für Mathematik und Architekturzeichnung. 1651 trat er als Besançon Kadett ins flandrische Regiment des Frondeurs Condé. Die Fronde (1648-1652) war einer der vielen Versuche der französischen Adeligen zwischen dem Tod Heinrichs IV. (1610) und der vollen Regierungsübernahme Ludwig XIV. (1661), den Absolutismus wieder rückgängig zu machen. Ironie der Geschichte: Der spätere Generalinspekteur aller königlichen Festungen kämpfte als Kadett gegen seinen künftigen Dienstherrn. Nach seiner Gefangennahme 1652 gewann Mazarin höchstpersönlich den jungen Vauban für die Sache des Königs. Ab 1655 arbeitete Vauban als Ingenieur unter Louis-Nicolas de Clerville, dem Generalinspekteur der französischen Festungen. 1667 gewann er die Gunst des Königs, als er vor dessen Augen maßgeblich mitwirkte, die Stadt Lille nach nur sieben Tagen Belagerung zu erobern. Prompt wurde er beauftragt, die eroberte Stadt wieder neu zu befestigen. Es mutet uns schizophren an, daß der gleiche Mann Festungen baut und belagert. Vauban hat im Laufe seines Lebens 120 Festungen neu errichtet oder überarbeitet. Gleichzeitig hat er 48 Belagerungen erfolgreich durchgeführt. 1697 musste Vauban vor Ath eine Festung belagern, die er selbst gebaut hatte! 1678, nach dem Tod seines Vorgesetzten Clerville, wurde Vauban dessen Amt eines Generalinspekteurs der französischen Festungen übertragen. Als Siebzigjähriger (1703) erhielt er den Titel eines Marschalls. Vauban war auch auf anderen Gebieten des Ingenieurbaus tätig. So leitete er etwa den Bau eines Aquädukts von Maintenon nach Versailles (1684-1685). Seine Hauptdomäne aber blieb der Festungsbau. An der Küste kamen natürlich noch die Probleme des Hafenbaus hinzu. Bei der Gestaltung von Garnisonskirchen und Stadttoren erwies sich Vauban auch als veritabler Zivilingenieur. Vauban wusste aus eigener Erfahrung, daß jede Festung erobert werden kann. Aber er glaubte, daß eine Garnison von 4000 Mann der sechsfachen Gegnerzahl auf mindestens 2 Monate widerstehen könne. Zeit genug für den König, Entsatztruppen zusammenzuziehen, Zeit genug manchmal auch, um den Feind bis zum Eintritt der Winterpause hinzuhalten. Es zeichnete Vauban gegenüber vielen seiner Militärkollegen aus, daß er sich sehr um Leib und Leben seiner Soldaten kümmerte. Er unternahm alles, um unnötiges Blutvergießen zu vermeiden. Die Kriegspolitik Ludwig XIV. bildete eine enorme wirtschaftliche Last für sein Land. Nach der Niederlage bei Corbie gegen die Spanier (1636) wurde die französische Armee von 25.000 auf 250.000 Soldaten vergrößert. Die Steuern stiegen dadurch bis 1648 aufs Dreifache, bis 1700 nahmen sie nochmals um 50% zu. Gleichzeitig waren die Adeligen und die hohe Geistlichkeit, die Ludwig XIV. politisch entmachtet hatte, von der Steuer praktisch befreit. Am Hof in Versailles lebten 4000 Höflinge! 1715, nach dem Tod des Sonnenkönigs, war der Staatshaushalt um 18 Jahresbudgets überzogen. Der patriotisch denkende Vauban versuchte sich mit einer Studie über eine Steuerreform auch als Volkswirt. Er schlug vor, alle Stände gleichmäßig zur Besteuerung heranzuziehen. Als er seine Schrift beim König einreichte, verspielte er sich schlagartig dessen Gunst. Vauban war neben seinem holländischen Gegenspieler Menno von Coehorn der bedeutendste Festungsingenieur seiner Epoche. Zwar erschienen seine beiden Festungstraktate (geschrieben um 1670 bzw. um 1700) erst über ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod (1707), aber schon vorher kursierten Abschriften davon, und einer seiner Mitarbeiter, der Chevalier de Cambray, brachte bereits 1692 ein Buch über die "Methode Vauban" heraus…Was für ein wackerer Mann! © Rolf Bührend, März 2003 Seite 146 Noch heute zeugt die Porte Noire, ein Marc Aurel gewidmeter Triumphbogen aus dem 2. Jahrhundert, von der Bedeutung Besançons als Hauptstadt der Séquanie5. Vom Mittelalter bis zum 19. Jh. spielte Besançon als Metropole Lothringens auf religiösem Gebiet eine bedeutende Rolle. Bereits zu Anfang des 13. Jh. führte es den Titel „Gemeinde" und erhielt 1302 den Status einer Freien Reichsstadt. Unter Karl V. erreichte sein „Bisantz“ im 16. Jh. den Höhepunkt seiner Macht. Schon ab der Höhe von Dole befinden wir uns in der Region Franche-Comté, die in die vier Départements Haute Saône (Präfektur Vesoul) im Norden, Jura (Präfektur in Lons-le-Saunier) im Süden, im Zentrum das Département Doubs (Besançon) und im Osten das kleine Territoirede-Belfort (Belfort) eingeteilt ist. Wir durchqueren diese Region nur auf der Autobahn A36. Ich muss einen Besuch im Soll- Register meiner Reisewünsche eintragen. Ich bleibe in Gedanken noch in Besançon. Nicolas Perrenot de Granvelle, Ratgeber Karls V., hinterließ der Stadt kostbare Bauwerke, darunter vor allem das Palais Granvelle. Von 1648 bis 1668 geriet Besançon unter spanische Herrschaft und wurde dann durch die Eroberung der Stadt durch Ludwig XIV. im Jahre 1674 und dem Frieden von Nimwegen 1678 endgültig französisch. Der Name des Granvelle brachte mich auf eine andere interessante Gedankenebene. Es gibt über den niederländischen Maler Pieter Bruegel den Älteren mindestens drei Bücher6, in denen die Autoren die wenigen bekannten Fakten aus seinem Leben mit den historischen Umständen, unter denen Bruegel seine Werke hervorbrachte, in Romanform setzten. Vermeulen benennt den Kardinal und Erzbischof Granvelle7, der angeblich sich des Pieter Bruegel schon als Knaben annimmt und ihn dem Maler Pieter Coecke in die Lehre gibt. Fortan liegt Bruegels Leben in der Hand des grausamen Kirchenfürsten, der im Hintergrund der turbulentesten und grausamsten Epoche der niederländischen Geschichte die Fäden zieht. Man kann vermuten, dass er ihn zeugte und ihn beschützte, denn mehrfach hätte er Gelegenheit gehabt, ihn wegen seiner ketzerischen Zeichnungen und Bilder auf den Scheiterhaufen zu bringen. War es nur der Kunstliebhaber oder auch der Vater Granvelle, der den Pieter Bruegel beschützte? Diese dunkle Stelle der Geschichte wird keiner lichten. Es ist aber spannend, darüber zu lesen und gleichzeitig seine Bilder zu schauen! Trotz all dieser Betrachtungen sahen wir keinen Zipfel von Besançon. Wir fuhren weiter die eintönige Autobahn, passierten auf der Fahrt die schon erwähnte Burgundische Pforte, französisch Porte de Bourgogne, auch Trouée8 de Belfort, eine bis 28 km breite und hügelige Senke zwischen den Vogesen im Norden und dem Jura im Süden. Zwischen Montbéliard und Bedford rücken die Berge der Vogesen näher. Der höchste mit 1426 m ist der Grand Ballon, der Große Belchen. Um ihn herum gruppieren sich noch einige Tausender, der Ballon d’Alsass (1250m), der Petit Drumont (1221m), der Rossberg (1191m), der Baerenkopf (1074m). Ihre grünen runden Kuppen verschmolzen am Horizont mit dem blassblauen Himmel. Dann bog die Route nach Norden ab, und wir hatten nun die Vogesen zur Linken als ständigen Begleiter. Ich hatte sie einmal kurz kennen und lieben gelernt. Irgendwann einmal waren sie mit 5 Sequanie: Landschaft links der Saône. Ihre Hauptstadt war Besançon. Die Sequaner waren ein Keltenstamm um Besançon (Vesontio); riefen 72 v. Chr. Ariovist zur Hilfe gegen die Haeduer nach Gallien; 58 v. Chr. von Cäsar besiegt und seitdem unter römischer Herrschaft. 6 Gerhard W. Menzel „Pieter der Drollige“, Roman um Bruegel, den Bauernmaler, Mitteldeutscher Verlag HalleLeipzig 1979 Michael Frayn „Das verschollene Bild“, Deutscher Taschenbuch Verlag München 2001 John Vermeulen „Die Elster auf dem Galgen“, Ein Roman aus der Zeit Pieter Bruegels, Verl. Diogenes, 1994 7 Granvelle, Antoine Perrenot de Granvelle, spanischer Staatsmann, * 20. 8. 1517 Besançon, † 21. 9. 1586 Madrid; Sohn von Nicolas Perrenot de Granvelle; 1550 als Nachfolger seines Vaters Staatssekretär Karls V., dann Philipps II.; ging in den Niederlanden als Berater (bis 1564) Margaretes von Parma scharf gegen die Protestanten und den niederländischen Adel vor; 1560 Erzbischof von Mechelen und 1561 Kardinal, 1571—1575 spanischer Vizekönig von Neapel. 8 Trouée, frz. Schneise, Durchbruch, Lücke © Rolf Bührend, März 2003 Seite 147 dem Schwarzwald vereint, bis tektonische Kräfte den Rheingraben absenkten und auch für die Völker eine natürliche Grenze schufen. Hier in der Enge der Burgundischen Pforte wurde der Rhein- Rhône- Kanal angelegt, auf französisch Canal du Rhône au Rhin, ein ostfranzösischer Schifffahrtskanal zwischen dem Rhein bei Straßburg und der Saône bei Saint-Symphorien-surSaône, er ist 324 km lang und wurde 1810 - 1833 erbaut; seine Bedeutung als Transportweg ist allerdings gering. Es gibt auffällig viel Wald hier, ursprünglichen unberührten Wald, so scheint es fast. Ab und zu lichtet er sich und lässt kleine Ortschaften in der Vorbeifahrt auftauchen und wieder vom Wald verschlucken. Nun sind wir schon im Elsaß, Region Alsace, die verwaltungsmäßig in die zwei Départements Bas-Rhin (Strasbourg) und Haut-Rhin (Colmar) geteilt ist, also Unterrhein und Oberrhein. Wir ließen Mulhouse, ehemals Mülhausen, rechts liegen, bekamen nur seinen gewaltigen Güterbahnhof mit den für mich immer hässlich anmutenden Gleisanlagen zu sehen: wucherndes Unkraut zwischen den Schienen, alte halb verfallene Stellwerke, rostende Gleisbrücken, Lagerschuppen, Güterzüge. Keine Farbe. Industrie. Kein Anblick für den romantisierenden Reisenden. Im Süden von Mulhouse dehnt sich der Sundgau, eine Landschaft im Süden des Elsaß. Er ist ein Hügelland zwischen Vogesen, Oberrheinischem Tiefland und Jura mit dem Zentrum Mulhouse. Hier werden Obst, Getreide und Futterpflanzen angebaut und Rinder gezüchtet. Es ist nicht weit bis zur Schweizer Grenze und nach Basel. Das alles vermittelte uns Conny von Zeit zu Zeit durchs Mikrofon, um uns zu bilden und die Zeit nicht lang werden zu lassen. Die Geschichte des Elsaß ist schon bemerkenswert. Viele Besucher finden hier noch überall Deutsch sprechende Bewohner, viele Deutsche glauben, es wäre immer noch eine deutsches Land, etwa wie die Tiroler nie ihr Südtirol im Gedächtnis an Italien ausliefern. Diese Region ist aber auch in der Vergangenheit gebeutelt worden. Sie lag im Kreuzverkehr der europäischen Völker. Ursprünglich von Kelten bewohnt, seit 58 v. Chr. römisch (von Cäsar unterworfen), wurde das Elsaß in der Völkerwanderungszeit alemannisch, seit 496 von den Franken unterworfen und christianisiert; bei der Reichsteilung im Vertrag zu Meersen 870 kam es zum ostfränkischen (deutschen) Reich und gehörte seit 925 zum Herzogtum Schwaben. Nach dem Untergang der Staufer zerfiel es in die Landgrafschaften Niederelsaß und Oberelsaß. Im Westfälischen Frieden 1648 wurden die habsburgischen Besitzungen an Frankreich abgetreten, Ludwig XIV. dehnte seine Oberhoheit auch auf diese kleineren Herrschaftsgebiete aus. Die Freie Reichsstadt Straßburg wurde besetzt, doch blieb die Verbindung mit Deutschland bestehen. In der Französischen Revolution 1793 wurde das Elsaß Frankreich eingegliedert. Im deutsch- französischen Krieg wurde es von Deutschland zurückerkämpft. 1871-1918 war das Elsaß Teil des deutschen Reichslandes Elsaß-Lothringen. 1919 fiel es durch den von Deutschland verlorenen ersten Weltkrieg mit dem Versailler Vertrag wieder an Frankreich und verblieb dort bis auf die deutsche Besetzung 1940-1945. © Rolf Bührend, März 2003 Seite 148 Heute gehört es zu Frankreich. Bei meinem ersten Besuch im Elsaß 1987 fragte ich einen Bauern, bei dem Onkel Günter immer seine Eier kaufte, als was er sich fühlte, als Franzose oder Deutscher. Da sagte er mir stolz auf Deutsch: „Wir sind Elsässer! Als solche fühlen wir uns auch.“ Das fiel tief in mich hinein. Zur Sprache in Elsaß- Lothringen ist viel zu sagen und wenig zu ändern: „Für die meisten Kinder in Elsass-Lothringen ist heute das Deutsche nicht mehr Muttersprache, sondern nur noch "Großmuttersprache". Da Kinder die Zukunft sind, dürfte klar sein, dass die deutschsprachige Tradition in Elsass-Lothringen bald abgerissen sein wird. Die Geschwindigkeit, mit der der Sprachwechsel voranschreitet, ist frappierend. Es gibt selbst heute, im Jahr 2003, noch alte Leute, die nur deutsch sprechen, auf der anderen Seite aber auch viele Kinder, die nur mehr das Französische beherrschen. Fragt man einen Greis auf Französisch nach dem Weg, muss man noch mit der Antwort "nix franzesch" rechnen. Fragt man Kinder auf Deutsch, kommt Kopfschütteln. Ausgewanderte Elsässer, die nach 20, 30 Jahren einmal wieder die alte Heimat besuchen, berichten fassungslos, dass sie dort, wo sie früher mit Deutsch "durchkamen", sie sich heute wie "im falschen Film" fühlen.“(Dr. Andreas Freitag, [email protected]) Schon bald hatten wir Colmar erreicht, parkten am späten Vormittag etwas außerhalb des historischen Stadtkerns, wurden noch hinein geführt und bekamen zwei Stunden Freizeit, um die Stadt zu besichtigen. Ich hatte das seltsame Gefühl, in einer süddeutschen Stadt zu sein, las aber überall französische Namen. Die Sonne stach richtig, sie stand im Zenit. Es war warm und Mittag. Auf dem Platz vor den Unterlinden herrschte reger Betrieb. Eine kleine Gummiradbahn beförderte Touristen durch die Stadt. Wir setzten uns auf eine Bank an einen Brunnen, etwas zu essen. Derweil reifte in meinem Kopf ein Plan. Martina sollte mich für wenigstens eine halbe Stunde freigeben. Ich konnte nicht in Colmar gewesen sein, ohne den weltberühmten Isenheimer Altar gesehen zu haben. „Gut. Eine halbe Stunde, ich warte hier!“. Sie entließ mich. Ich strebte nun hinein in das Museum Unterlinden. Seit 1852 beherbergt das ehemalige Dominikanerkloster Sammlungen aus den Bereichen Archäologie, mittelalterliche und moderne Kunst, Volkskunde und Kunstgewerbe und- den Isenheimer Altar, das in der ganzen Welt bekannte Meisterwerk Grünewalds, der in der an den Kreuzgang anschließenden Kapelle gezeigt wird. Selbst für dieses Hauptwerk war eine halbe Stund viel zu wenig. Ein ganzer Saal war zu besichtigen. Ich musste erst einmal Fühlung nehmen, mir einen Überblick verschaffen. Ich nahm mir weder Zeit noch Muße, mich mit den Details zu befassen. Ich erkannte die Größe dieses Kunstwerkes. Dennoch konnte ich es nicht auf mich wirken lassen. Ich fragte nach einer Fotografiererlaubnis. Im Gegensatz zu deutschen Museen ist man in Frankreich großzügiger. Blitzlicht verbietet sich. Man sieht das ein. Ich machte einige Aufnahmen. Keine gelang aber so gut wie in dem Prospekt, das ich mir dann kaufte. Und darin fand ich auch Bemerkungen zur Geschichte des Klosters und zu den Ursprüngen des Altars. Damit wird auch schon der Inhalt der Bilder verständlicher. Ich lese im Prospekt nach: Die Antoniter von Isenheim Die Ordensgemeinschaft der Antoniter wird offiziell im Jahre 1202 unter dem Pontifikat von Innozenz in. gegründet. 1297 ermächtigt Papst Bonifaz VIII. die Brüder des Hospitaliterordens, nach den Regeln des hl. Augustinus zu leben. © Rolf Bührend, März 2003 Seite 149 Die Entstehung des Ordens ist verknüpft mit der Verehrung der Reliquien des hl. Antonius: Um 1080 werden die Gebeine des Heiligen aus Konstantinopel in ein kleines Dorf in der Dauphiné überführt, das zur ersten Pilgerstätte wird. Aus Dankbarkeit für die wundersame Heilung von Kranken, die vom so genannten «heiligen Feuer» befallen sind, gründen zwei Adlige an diesem Ort eine Laienbruderschaft und erbauen ein Hospital. Das Dorf trägt heute den Namen «SaintAntoine-de-Viennois». Im Kampf gegen die um sich greifende Krankheit, den so genannten Mutterkornpilzbrand - eine Vergiftung durch den Roggenparasiten - werden im 12. und 13. Jh. zunehmend neue Niederlassungen ins Leben gerufen. Positiv auf die Genesung der Kranken wirkt sich dabei die stärkende, fleischreiche Nahrung im Antoniterspital aus. Um 1300 wird in Isenheim, unweit von Colmar, ein Antoniterkloster errichtet. Einfluss und Reichtum der Antoniter, letzterer aufgrund von Spenden und Opfergaben, wachsen beständig. Davon zeugen zahlreiche Kunstwerke, die von zwei Äbten des Konvents -Jean d'Orlier (um 1459-1466 bis 1490) und Guido Guersi (1490 bis 1516) in Auftrag gegeben und finanziert wurden: Der von Schongauer gemalte Orlier- Altar, die Altäre der hl. Katharina und des hl. Laurentius, Skulpturen des hl. Antonius und des hl. Johannes des Täufers, das holzgeschnitzte Chorgestühl der Kirche, die Holzfiguren des hl. Christophorus und des hl. Franziskus, sowie schließlich der berühmte Isenheimer Altar, dessen geschnitzte Skulpturen von Nikolaus Hagenauer und die Gemälde von Martin Grünewald sind wunderbare Werke des ausgehenden Mittelalters. Doch im 18. Jahrhundert neigt sich die Blütezeit des Konvents ihrem Ende zu; 1777 wird das Kloster in den Malteserorden integriert. Der Antoniterorden wird 1790, die Komturei 1793 aufgelöst und das Gebäude geht in Volkseigentum über. Im Jahre 1831 fällt die Kirche einem Brand zum Opfer. Das heute sichtbare Gebäude stammt aus der Zeit der Ankunft der Jesuiten im Jahre 1843. Der Isenheimer Altar Die im Museum Unterlinden ausgestellten Bestandteile des Isenheimer Altars bilden nur ein Bruchstück des einst wohl monumentalen Kunstwerks. Das sogenannte Retabel, ein Wandelaltar, stand im Chor der Kirche und blieb den Blicken der Gläubigen durch das Vorhandensein eines Lettners (erhöhte Trennwand zwischen Chor und Mittelschiff) zum Teil verborgen. Allein die Chorherren konnten ihn in seiner gesamten Schönheit schauen der einfache Gläubige erblickte den Altar nur durch den Lettner hindurch. Bis zur Französischen Revolution bleibt das Retabel Eigentum des Isenheimer Klosters - und dies obwohl Kaiser Rudolf 11. 1597 in den Besitz des Altars kommen will. Es war ihm zu Ohren gekommen, «daß sich in Isenheim, in einer Kirche des Antoniterordens, ein wunderschönes Gemälde befand, ein wahrhaft meisterliches Werk eines außerordentlichen Künstlers». Deshalb verhandelt er darüber mit dem Superior des Klosters und macht sogar den Vorschlag, den Altar durch eine Kopie zu ersetzen. Eine beachtliche Geldsumme für den Erwerb des Kleinods bietet auch Kurfürst Maximilian von Bayern (1597-165 1) zu Beginn des 17. Jh. In den Wirren nach dem dreißigjährigen Krieg wird der Altar von 1651 bis Der hl. Antonius, Patron 1654 in Thann in Sicherheit gebracht. des Antoniterordens © Rolf Bührend, März 2003 Seite 150 1792 wird das Retabel auf Betreiben der Revolutionskommissäre Marquaire und Karpff in die Nationalbibliothek des Bezirks, ein ehemaliges Jesuitenkollegium überführt, in dem sich heute das Lycée Bartholdi befindet. 1852 wird der Flügelaltar in die Kirche des ehemaligen Dominikanerinnenklosters von Unterlinden verlegt. Er bildet das Glanzstück des nun entstehenden Museums. Am 13. Februar 1917 wird der Altar unter dem Vorwand einer Restaurierung in die Münchner Pinakothek gebracht. Erst infolge langer Verhandlungen zwischen der deutschen Regierung und der Schongauer-Gesellschaft, die das Museum Unterlinden verwaltet, kehrt das Retabel am 28. September 1919 nach Colmar zurück. In der Folgezeit gibt es immer wieder Pläne für einen originalgetreuen Wiederaufbau des Altars. In den dreißiger Jahren werden die Skulpturen in einem nachgebauten Schrein untergebracht und die Tafeln in ihrer heutigen Anordnung zusammengestellt (bis 1965 befand sich der Hl. Antonius jedoch linkerseits der Kreuzigungsszene). Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs veranlasst der Präfekt des Départements Haut- Rhin am 3. August 1939 die Verlegung des Meisterwerks des Museums in das Schloss von Lafarge und später in das von Hautefort im Périgord. Nach dem Waffenstillstand im Juni 1940 lässt eine von der deutschen Regierung eingesetzte Kommission die Kisten mit den kostbaren Werken nach Colmar zurückbringen. 1942 wird das Retabel zum Schutz vor den Bombardierungen durch die Alliierten in die Hochkönigsburg überführt, wo es in den Kellern aufbewahrt wird. Seit dem 8. Juli 1945 hat der Isenheimer Altar die Kapelle nicht mehr verlassen. Ich kann und will hier nicht weiter dem Prospekt in die Tiefe folgen. Biblische Geschichten müssten erklärt werden, mittelalterliche Symbolik, Deutungen mehrerer Kunsthistoriker. Nicht alles an diesem Werk ist heute noch original. Was ist echt? Selbst die Gemälde, dem Matthias Grünewald zugeschrieben, könnten anderen Ursprung haben. Die Skulpturen in der Predella und im geöffneten Retabel wurden wahrscheinlich um 1490 geschnitzt. Aber warum will man das alles wissen? Die Bilder selbst geben so viel Stoff, in die Geschichte einzudringen, in die Denkweise der Menschen vor unserer Zeit. An wen und was glauben wir heute? Mit Affengeschwindigkeit durchmaß ich das übrige Museum, um wenigstens einen Überblick zu erhalten. Ich verweilte eine Minute im Kreuzgang dieser herrlichen Anlage, genoss das Licht, das durch die Säulen und Bögen gebrochen wurde und diese als helle Lichtflecke auf das uralte Plattenpflaster warf. Der Vierpass unter jedem gotischen Spitzbogen wird jeweils von einer schlanken Säule gestützt und dieses Bogenfenster noch einmal teilt. Die Bogenreihe wirkt so viel eleganter. Ich trenne mich schweren Herzens, denke aber auch an die geduldig wartende Martina und eile ihr entgegen. Gemeinsam ziehen wir nun durch die engen Straßen und Gassen dieser herrlichen Kleinstadt. Begeistert schaue ich die Fassaden der Fachwerkhäuser, die geschlosserten und geschmiedeten Ladenschilder, die Läden, die lustwandelnden Menschen an. Noch einmal trenne ich mich kurz von Martina. In der Dominikanerkirche steht ein ebenfalls weitgerühmter Altar: „Die Madonna im Rosenhag“.Auch hier würde eine Dominikanerkirche Colmar Geschichte die Bedeutung erhöhen. Martin Schongauer hat das Gemälde 1473 zu diesem Dominikanerkirche Colmar: Martin Schongauer, Madonna im Rosenhag, 1473 Altar geschaffen. © Rolf Bührend, März 2003 Seite 151 Das Städtchen Colmar erfüllte für mich alle Seiten eines Stadtganges. Die Sonne schien. Uns tat nichts weh. Wir waren satt. Kein Gepäck, kein Schuh drückte uns, außer dem baumelnden Fotoapparat, den ich immer wieder zückte und nach den besten von Tausenden Motiven suchte. Die Fußgängerzone verschonte uns vom lästigen Autoverkehr. Die Luft war mild. Wir spazierten allein, ohne die vom Stadtführer vorgeschriebene Route einhalten zu müssen. Immer der Nase nach oder wenigstens einen selbst gewählten Weg entlang. Mit einem kleinen Plänchen bummele ich gerne allein oder zu zweit durch die Straßen und Gassen, bleibe stehen, schaue an den Fassaden hoch oder auch mal in einen offenen Hausflur hinein, um etwas vom Leben der Bewohner zu erhaschen. Nur die parkenden Autos verbieten der Phantasie, sich in eine verwunschene Stadt vor hundert Jahren zu träumen. Aber niemand darf drängen! Meine Martina vergleicht interessiert die Modekleidung in den Auslagen, versetzt sich in die Wohnverhältnisse der Leute, schwärmt von einem Balkon, auf dem sie sitzen kann, wenn es warm ist. Natürlich sieht man in den Fußgängerzonen nicht das wahre Leben der Bewohner. Zu sehr ist alles auf Broterwerb am Touristen oder den gehobeneren Einkauf der Städter oder der Leute aus dem Umland bedacht. Wie sollte es auch anders sein. Also suche ich nach den steinernen Zeichen der Vergangenheit. Da sind die Häuser selbst, ihre Bauweise ist in den ältesten Teilen der Altstadt noch mittelalterlich. Ich prüfe mit den Augen die Statik der Fachwerke, frage mich, wie alt die geschwärzten und durchgebogenen Balken wohl sein mögen. Die Obergeschosse kragen nach und nach zur Gasse aus. Früher wie heute sind die Grundstückspreise hoch. Die Häuser der Reichen haben sich erhalten, die Lehmkaten der Armen standen nicht im Zentrum der Stadt. Die Kirchen bestimmten den einen Mittelpunkt, die Rathäuser den anderen. Der Handel hinterließ seine Spuren in Form von Lagerhäusern, Kornspeichern, Straßennamen, Höfen und Ställen. Die Wirtshäuser und Gasthöfe pflegen noch viel von alten Traditionen zu zeigen. Die strenge Justiz ist zu spüren, wenn ein Pranger sich erhalten hat. Ein Brunnen erinnert mit einer bronzenen Figur an die alte Zeit. Mit Schoßrock, Lederwams und Schulterschutz gekleidet, den Degen gegürtet, steht da der kaiserliche Feldhauptmann Lazarus von Schwendi (1522 – 1584), der aus den Türkenkriegen die Tokaier- Rebe aus Ungarn ins Elsaß mitgebracht haben soll. Mit weit gestrecktem Arm hält er ein Bündel dieser Rebe hoch- seht her! Von der Dominikanerkirche gehen wir die Rue de Marchands hinunter, sie säumen die ältesten Häuser von Colmar: Eine 1575 gebaute Gerichtslaube, das Ancien Corps de Garde. Gegenüber steht das Musée Bartholdi; es pflegt die Erinnerung an den hier geborenen französischen Bildhauer (1834 – 1904). Das Maison Pfister, erbaut 1537 für einen Hutmacher aus Besançon, steht an der Ecke zur Rue Mercier. Es ist eines der schönsten Häuser Alt- Colmars. Das Haus gegenüber, das Maison du Cygne, wird als Wohnhaus des berühmten Martin Schongauer bezeichnet. Es ist die alte Zeit, der man nachläuft, die neue ist wie eine alles gleich machende Feile, hier, da und anderswo, unabhängig von Land und Sprache. Gruß an den Globus! Mich beeindrucken an fremden Orten nicht die arroganten Glas- und Betonkästen miteinander wetteifernder, ehrgeiziger, dem eigentlichen Lebensgefühl der Menschen wesensfremder und nur © Rolf Bührend, März 2005 Seite 152 dem Geld dienenden Architekten. Es ist billige Massenware, mit Maschinen schnell hochgezogen, oft noch schneller wieder zerstört und abgerissen. Viel mehr ziehen mich die alten Behausungen an, von Menschen in mühevoller Handarbeit gefertigt, ihre moosbedeckten Fugen auf den Dächern, der brüchige Stein an den Simsen, die ausgeschlagenen Rahmen der ehemals kunstvoll geschnitzten Türen und jetzt blinden Fenster, die ausgetretenen Gehsteige, mit Kopfstein gepflasterte holprige Gassen. Hier schlägt nur noch schwach der Puls der alten Zeit, matt grüßt ehemalige Pracht. Manchmal lässt sie sich nur ahnen. Die Menschen haben diese Häuser verlassen. Nur noch kurze Zeit vergeht, bis das Abbruchkommando kommt, ein Immobilienmakler das Grundstück nach der Mode verändert und neue, junge Leute herbeilockt. Ein Stück alte Heimat ist verschwunden, eine neue wird entstehen. Die Zeit bleibt nicht stehen. Alles verändert sich. Noch sind wir jetzt mitten drin und – auch schon bald wieder draußen. Das ist das, was sich mir oft auf Reisen mitteilt, dieses Zeitgefühl, dieses Werden und Vergehen im menschlichen Leben. Im Tier- und Pflanzenreich pulst das Leben schneller, oft schon im Gleichklang mit den Jahreszeiten. Nur manche Mitmenschen geben sich der Illusion hin, sie lebten ewig. Leute, macht beide Augen auf, die Gehörgänge und benutzt Eure Gehirne! Seht euch um, hört genau hin und denkt nach! Werdet weise! Viele Häuser zeigen ihre Giebel, wechseln sich ab mit solchen, die längs zur Straße stehen. Alle Fenster sind geschmückt mit Geranien. Weit verbreitet verwehren farbige, im schönen Kontrast zur Hauswand gestrichene Klappläden das Innere dem Blick des Fremden, wenn es dunkel ist oder die Sonne allzu heiß in die Stuben eindringen will. Ich stelle mir die Einrichtungen dahinter vor, alte Möbel, auf denen Lichtflecke tanzen, hübsches Porzellan in der Glasvitrine, auf dem Vertiko die Bilder von Großmama und Großpapa, Blumen und Deckchen, Plüsch, knarrende Dielen, altes Parkett und blitzende Türknäufe aus Messing. Eine Standuhr schlägt mit tief tönendem Gong die Stunde…In manchen Häusern ist die Zeit stehen geblieben. Die Menschen denken an früher, gehen vorsichtig mit dem Fortschritt um. Ihr Rhythmus schwingt mit dem des Städtchens, fern von Hektik. Die Rathausuhr gilt noch etwas, das gesprochene Wort im Stadtrat. Die Sicht in der Stadt ist verbaut. Es ist eng. Für Fremdes, Neues ist wenig Platz. Was uns verborgen blieb: Das Quartier La Krutenau an der Petit Venise und das berühmte Quartier des Tanneurs, das Gerberviertel an der Lauch, vielleicht die idyllischsten Winkel. Wir müssen sie uns für später aufsparen. Später- gibt es das? Später? XXX. Riquewihr E s war Nachmittag geworden. Der Bus hatte sich aufgeheizt, die Klimaanlage musste erst eine Weile arbeiten, ehe die durchgeschwitzten Körper sich wieder normalisiert hatten. Der nächste Höhepunkt wurde angesteuert- das kleine Weinstädtchen im Elsaß: Riquewihr. Die Deutschen nannten es früher Reichenweiher. Als wir mit dem großen schweren Bus von der Landstraße in die engen Straßen dieses Ortes einbogen und an dessen Rande auf dem Parkplatz uns in eine Reihe von sage und schreibe zwanzig anderen Bussen einreihten, wurde mir schnell klar, dass wir die Opfer eines Massenauflaufes sein würden, einer Theaterprozession, einer gewaltigen Menschenversammlung und nicht etwa eine Weinverkostung erleben würden wie sie sich ein normaler Mensch vorstellt. So war es auch. Eine Demonstration von Leuten - die Reisenden aller Busse vermischten sich schnell - zog hinein in die Gassen einer Märchenstadt, zunächst auf den Konsum der versprochenen Weinprobe gerichtet. Conny hatte uns einen Namen eingetrimmt: DOPFF et IRION. Wir stiegen einige Stufen hinunter. Gott sei Dank strömten viele Menschen an dieser Tür vorbei. Das Chaos schien einigermaßen geordnet. Immerhin drängten sich unsere fünfzig Leute in dem engen Gang hinter einer Theke. Dann begrüßte uns ein junger Mann. Er wollte uns zunächst die Produktion zeigen. Die ersten aus der Gruppe verschwanden hinter einer Tür. Ehe die letzten sich hindurchgezwängt hatten, fing er vorn an schon zu sprechen. Es war zwecklos, an die © Rolf Bührend, März 2005 Seite 153 Erklärungen heranzukommen. Einen Ausgleich gab es, wenn der Mann am Ende einer Sackgasse den Zeigefinger hob und den letzten im Gang einen Wink gab, dass sie nun die ersten seien. Nächste Tür rechts bitte und dann die Stufen hinauf! Wir standen im Maschinenraum. Auf Stahlgerüsten standen große Edelstahl- Bottiche. Rohrleitungen, Armaturen, Messzähler verwirrten das Verständnis. Einige Arbeiter standen neugierig dabei, sich einen Moment auf ihren Schaber stützend, mit dem sie gerade Abfälle zusammengefegt hatten. Der junge Mann erläuterte beflissen den Weg der Reben von den großen Sammeltransporten in die Behälter, wo Strunke und Stiele entfernt werden, wie sie dann in die Pressen kommen, der Rebensaft in Lagerbehälter. Er sprach über Temperaturen, Lagerzeiten, ließ uns wissen, dass die Weinlese nicht nur von den eigenen Weinbergen stammt, sondern im Umfeld von einigen Winzern aufgekauft wird. Erst dann lohne sich die aufwendige moderne Technik. Einige schauten sich schon gelangweilt um. Wann ist denn nun die Weinverkostung! Wir bekamen noch eine urige Weinstube gezeigt, freuten uns schon. Hier ist Stimmung, Ambiente. Alte ausgediente Weinfässer, schwere Tische und Bänke, Werkzeuge der Weinbereitung, schmiedeeiserne Leuchter, Zierlaub an den Wänden, sepiabraune Bilder und Diplome der Altvorderen. Doch gefehlt. Bitte in den nächsten Raum! Dieser mutete eher an wie ein biederes Konferenzzimmer. Ein aus vielen Tischen zusammengesetztes Tische- Viereck und rundherum genau fünfzig Stühle füllten es beinahe voll aus.. Es war alles geplant. Der Inhalt eines Reisebusses passte hinein. Wir nahmen geräuschvoll Platz. So etwas wie Klassenzimmerstimmung kam auf, bis jeder neben dem ihm genehmen Nachbarn saß. Immer noch nicht konnten wir an die schon im Hintergrund bereit gestellten Flaschen ran. Der ju8nge Mann brannte vor Ehrgeiz, uns schnell, er spürte unsere Ungeduld, den Ablauf der Arbeiten in einem Weinjahr zu schildern. Nun kam ein Vortrag über die hiesigen Rebsorten. Ich habe es mir noch einmal zusammengesucht. Es ist aus dem Französischen übersetzt und etwas holpriges Deutsch: Die 7 Rebsorten Der Sylvaner, Fruchtigkeit. durstlöschend, leicht, von einer feinen Der Pinot Blanc, Frische und Geschmeidigkeit. Der Riesling, feurig, rassig und von einer feinen Fruchtigkeit. Der Muscat Charakter. d'Alsace, zugleich trockener und gewürziger Der Tokay Pinot Gris, kräftig und abgerundet, mit vielfältigen Aromen. Der Gewurztraminer, Eigenschaften. mit außergewöhnlich aromatischen Le Pinot Noir, Rosé oder Rotwein, typisch fruchtiges Aroma von Kirschen. © Rolf Bührend, März 2005 Seite 154 Die Arbeiten im Winter Die Arbeiten an der Weinrebe verteilen sich über das ganze Jahr im Rhythmus der vier Jahreszeiten. Auch im Winter muss der Winzer in seinen Anlagen Ordnung halten. Die Arbeiten im Frühling und Sommer 1. Die Plantagen Vom Monat April an wärmt die Sonne den Boden auf, der Winzer bereitet seine Parzelle vor. Ein gut und tief gegrabener Boden wird dann die jungen Pflanzungen empfangen. Dieser Arbeitsgang bedingt eine enorme Investition von Handarbeit und Gerät (Stützstäbe, Draht ziehen, Mauern richten usw.) Diese ganz jungen Weinreben werden eine volle Ernte erst am Ende von vier bis fünf Jahren produzieren. 2. Die Arbeiten im Grünen. Auflockern und Auslichten Die unnützen Zweige werden beseitigt. Diese Gefräßigen liegen auf dem Unterteil des Weinreben- Fußes und entnehmen unnütz Säfte. Im Monat Mai bereitet der Austrieb der jungen Sprosse uns auf die kommende Etappe vor. Sie zeigen die zu erwartenden Trauben. Das Potential der kommenden Ernte kann schon abgeschätzt werden. 3. Das Anbinden und Beschneiden Nach der Juni- Blüte müssen die Reihen von Weinreben sauber sein, die Zweige dürfen kein Dach oberhalb der Weinreben bilden, um Schatten oder eine schlechte Lüftung zu provozieren. Die Periode des Anbindens und Beschneidens muss sorgfältig unter Berücksichtigung der Gefahr gewählt werden, die Bildung von jungen Blättern zu benachteiligen und dem Reichtum an Zucker der Weintrauben zu schaden. 4. Das Ausblatten Gegen Mitte September können gewisse Blätter, die die Weintrauben umgeben, so eine bessere Ventilation begünstigend, entfernt werden. Das fördert eine bessere Besonnung der Trauben. Die Weintrauben können nun bis zur Ernte schattenlos reifen. Das Fäulnis-Risiko wird verringert. 5. Die Behandlungen Er würde schädlich sein, die Weinrebe und während ihrer vegetativen Phase sichtbaren Trauben, besonders am Anfang der Reife, vor allem auch zwischen den einzelnen Stadien ohne Schutz zu lassen. Besondere Aufmerksamkeit wird der Winzer anlässlich der Blüte im Juni haben, im Stadium der Schließung der Traube. Der Winzer bereitet seinen Zerstäuber vor, um gegen die Krankheiten zu kämpfen: Mehltau, Oodium, die graue Fäulnis, aber auch gegen die schrecklichen Insekten, die für die Traube verheerend sind. Alle Behandlungen, die sehr wichtig sind, werden wenigstens acht Wochen vor der Weinlese abgebrochen. Die Arbeiten im Herbst Die Weinlese Eine Periode der Reifung von 40 bis 50 Tagen geht der Weinlese voran. Die Temperaturen in den Monaten September und Oktober spielen eine überwiegende Rolle. Die Zucker-Rate nimmt schnell zu, die Weintraube verliert von ihrem Säuregrad. © Rolf Bührend, März 2005 Seite 155 Der Winzer überwacht aufmerksam den Zyklus der Reifung. Seit 1971 datiert ein regionales Komitee von feststehenden Fachleuten die Eröffnung und den Kalender der Weinlese nach der Rebenart. Bütten, Rückentragkörbe, Eimer, Gartenscheren, Traktoren, Schleppen, Keltern, alles ist durchgesehen worden. Dann ist es soweit. Die Teams von Winzern und Weinlesehelfern nehmen Ansturm auf den Weinberg. Für den Winzer, der einen „Crémant d'Alsace“ ansetzt, spielt sich die Weinlese allgemein gegen Mitte September ab, eine Zeit, wo die Beeren noch den erforderlichem Säuregrad haben, um das beste Produkt herauszuarbeiten. Die ideale Weinlese für den AOC Alsace fängt im Oktober an. Doch wird ein schöner Herbst vielleicht die Ernte von späteren Weinlesen oder die Auswahl von bestimmten Trauben im November oder sogar im Dezember erlauben. Es gibt 3 Weine kontrollierter Herkunft (AOC): AOC Alsace, AOC Alsace Grand Cru und AOC Crémant d'Alsace. Ich muss mir das für später merken. Außergewöhnliche Weine sind die die Elsässer "Grands Crus". Sie stammen ausschließlich von 50 streng festgelegten Lagen mit besonderen Eigenschaften. Das sind die Dörfer, zu denen Lagen des "Grand Cru" gehören. Die Bezeichnungen "Vendanges Tardives" (Auslesen) und "Sélection de grains nobles" (Trockenbeerenauslesen) können den Bezeichnungen Alsace Grand Cru und Alsace beigefügt werden und kennzeichnen außergewöhnliche Weine, die meistens weich, voll und likörartig sind. Orte an der Elsässischen Weinstraße Die Weine kontrollierter Herkunft "Alsace" und "Alsace Grand Cru" tragen im allgemeinen den Namen der Rebsorte. Sie werden in der typischen Flasche, der elsässischen "Flöte" abgefüllt. Sie werden frisch, aber nicht eiskalt bei 8-10°C serviert. Endlich, endlich kreisen die Flaschen. Es wird ausschließlich Weißwein angeboten. Jeder hat sein Glas. Während die ersten schon schnuppern, schwenken, schlucken, halten die letzten noch verlangend ihr leeres Glas den beiden Hilfen entgegen, um ihre Probe zu empfangen. Haben die letzten ihre Gläser mit dem im Kerzenlicht funkelnden Wein zum Munde geführt, schenkt man den ersten schon neuen ein. Es ist wieder ein Durchläufer. Ohne Romantik. Ohne Flair. Vier oder fünf Sorten werden präsentiert. Alles sind jüngere Jahrgänge. Massenweine. © Rolf Bührend, März 2005 Seite 156 Es folgt wieder die Zuführung zum Verkaufsraum. Die netten Führer verabschieden sich. Wir befinden uns in einer professionellen Weinhandlung. Nun muss man entscheiden. Doppf und Irion oder nicht. Ich kann mich nicht durchringen, habe ich doch schon eine Flasche Roten im Gepäck, der Weiße liegt mir nicht ganz so. Ich habe ein Bewusstsein für elsässische Weine bekommen und eine Lehrstunde gehabt. Auch ganz wertvoll. Man lernt immer hinzu. Dann dürfen wir, wieder leicht beschwingt, schnell der frischen Luft ausgesetzt und unbekannte Glückshormone genießend, noch einen Stadtrundgang unternehmen. Ich brauche nicht zu betonen, dass die Zeit unser Scharfrichter sein wird. Was für ein romantisches Städtchen ist dieses Riquewihr! Wir laufen gegen die am Ortsrand beginnenden Hänge. Über den Häusern schauen die Weinberge herab, wo immer eine Gasse sich hinten öffnet, Hänge mit Weinstöcken. Der Ort ist zum Verlieben. Die vielen Leute halten sich in der Hauptstraße auf. Wir gehen sie hinauf und biegen dann in eine der idyllischen Gassen. Sofort sind wir allein und können das Flair einer ruhig dahin fließenden Kleinstadtbeschaulichkeit entdecken und wohltuend aufnehmen. Hier und da sehen wir ein paar Leute. Es ist später Nachmittag, die Sonne drückt auf die Hausdächer. Einige der Bewohner kommen von ihrer Arbeit und beginnen nun in ihren Häusern zu werkeln. Es ist ein massentouristisches Missverhältnis. Jährlich suchen diesen Ort mit seinen wenigen Tausend Einwohnern Hunderttausende Touristen heim, strömen von den Bussen, mit denen sie angeliefert werden, in die Weinprobierstuben, von da angeschnickert in die Souvenirläden entlang der Hauptstraße, und in die zahllosen Weinlokale, die natürlich auf diesen Ansturm eingerichtet, ja ausgerichtet sind und von dort in die Busse zurück, den nächsten Platz machend. Dass dann auch noch genügend Leute in allen Winkeln dieses fast noch immer dörflich anmutenden Ortes umher streunen, ist den arbeitsamen Leuten, die hier wohnen, sicher zu viel. Sie wollen lieber ihre Ruhe haben, statt wie im Museum oder im Zoo von Fremden angestarrt werden. Das sagen ihre Blicke; dennoch brauchen sie die Touristen, um ihre Produkte an den Mann zu bringen. Die Konkurrenz ist riesig und schläft nicht. Der Absatz des Weines schwankt mit den Gewohnheiten und Moden des Trinkens. Jetzt verdrängt der Rotwein langsam den Weißwein. Das sind zumindest mein Eindruck und auch mein eigener Geschmack. Die Menschen bevorzugen immer mehr den Trockenen. Die schweren und süßen Weine werden weniger gekauft. Auf den Weinkarten verschwindet das Wort „lieblich“, was erhöhten Zuckergehalt signalisiert. Schon gibt es „Bio- Weine“. Falls sich dieser Trend zum ökologischen Anbau durchsetzt, geraten einige Winzer in Schwierigkeiten. Wie will man dann noch der Schädlinge Herr werden? Neue Sorten? Nicht mehr spritzen? Die Quantität sinkt. Viele Fragen. Wir laufen zurück, nachdem wir uns, immer die Seitenstraßen suchend, an den alten Fachwerkhäusern und stillen romantischen Winkeln satt gesehen haben. Es gibt am Ende der Hauptstraße einen wunderschönen Brunnen. © Rolf Bührend, März 2005 Seite 157 Bilder von Ludwig Richter aus der Romantik tauchen auf. Abgeschiedene Idylle. Frauen laufen ans Wasser, tauchen ihre Gefäße ein, schwatzen miteinander, die Buben schauen sich nach den jungen Mädchen um. Nur hierher zum Wasserholen dürfen diese werktags aus dem Haus, es sei denn es ist Sonntag, zum Tanz im Krug, aber da sind die strengen Eltern dabei… XXXI. Im Elsaß M ir kommen so meine Gedanken, als wir wieder im Bus sitzen. Wenn das uralte Kopfsteinpflaster erzählen könnte! Immer wieder suche ich Augenblicke und Episoden der Geschichte mit dem Ort zusammen zu bringen, an dem ich gerade weile. Und nun gerade das Elsaß, urdeutsches Land. Deutsches Land? Wie viel Kriege sind hier über diese Gegend hinweg gezogen. Um nicht zu weit in der Geschichte zurück zu gehen, bleiben wir bei Ludwig XIV. Dieser überfiel in den 90er Jahren des 17. Jh. das Elsaß, Lothringen, die Pfalz und das Rheinland mit seinen Truppen und annektierte diese Gebiete, die ihm später, 1713, im Frieden von Utrecht1 zugeschrieben wurden. Es folgte eine längere Pause des Friedens. Dann kam Napoleon Bonaparte, der französische Eroberer, auf den Plan. Sein Feldzug gegen Russland 1812, nachdem er in Europa die größte Ausdehnung erreicht hatte (Frankreich grenzte an den Rhein; Hannover- Westfalen, Baden, Bayern, Sachsen waren unterjochte Satellitenstaaten), erlitt er im eisigen russischen Winter im brennenden Moskau die entscheidende Niederlage und mit seiner Grand Armée bei Leipzig den letzten vernichtenden Stoß. Die Elsässer wollten 1812 durchaus nicht mit Napoleon nach Russland ziehen und nicht gegen die Verbündeten kämpfen. Sie waren, wie alle Franzosen, von den Anfangserfolgen des Usurpators berauscht. Dann aber … Ich erinnere mich an das Buch von Erckmann/Chatrian „Ein Soldat von 1813 – Waterloo“, in dem die Autoren, Elsässer aus Pfalzburg, selbst Teilnehmer an der Völkerschlacht bei Leipzig, den Druck Napoleons und das Elend der elsässischen Bevölkerung schildern: „…Sag, Joseph, wie viele haben wir seit 1804 vorbeimarschieren sehen?“ „Ich weiß nicht. Wohl vieroder fünfhunderttausend.“ „Ja, und wie viele hast du zurück kommen sehen?“ Ich verstand, was er meinte, und antwortete: „Vielleicht kommen sie über Mainz zurück oder auf einem anderen Weg.“ Er schüttelte den Kopf und sprach: „Die du nicht hast zurückkehren sehen, sind gefallen, wie noch Hundert- und Hunderttausende fallen werden,…denn der Kaiser liebt den Krieg. Um seine Brüder zu krönen2, hat er mehr Blut vergossen als unsere große Revolution, um die Menschenrechte zu erobern.“ Im Russlandfeldzug hatte Napoleon über eine halbe Million Menschen in den Tod getrieben. Sein Traum von einem Vereinten Europa, einem Imperium unter seiner Herrschaft, war ausgeträumt. Nach der Vertreibung Napoléons I. bestieg Ludwig XVIII., der Bruder Ludwigs XVI., den Thron. Es kamen Karl X. und Louis- Philippe. Mit ihnen begann die revolutionäre Zeit der 1 Der Friede von Utrecht vom 11. 4. 1713, bestehend aus insgesamt 4 Verträgen zwischen Frankreich, England, Holland, Preußen, Portugal, Savoyen, Spanien, dem Reich und Kaiser Karl VI., beendete (mit den Verträgen von Rastatt und Baden 1714) den Spanischen Erbfolgekrieg. 2 Krieg in Spanien 1808-1814: Der Thronstreit zwischen Karl IV. und dem Kronprinzen Ferdinand VII. gab Napoléon Gelegenheit, die spanische Dynastie zu entthronen und seinen Bruder Joseph zum König von Spanien zu proklamieren. © Rolf Bührend, März 2005 Seite 158 bürgerlichen Restauration, bis Napoléon III. am 2. Dezember 1852 den Thron bestieg und die Monarchie wieder errichtete. Napoléons III. Außenpolitik erstrebte die volle Wiederherstellung der alten Machtposition Frankreichs in Europa und der Welt. Im Krimkrieg im Bund mit Großbritannien gegen Rußland und im Krieg mit Sardinien gegen Österreich, der ihm Savoyen und Nizza einbrachte, schien dieses Ziel in greifbare Nähe gerückt. Die abenteuerliche Unternehmung in Mexiko und die Gegnerschaft gegen die Einigung Deutschlands, die in den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/713mündete, kostete ihn aber den Thron; Frankreich verlor das Elsaß und Teile von Lothringen. Nun wehten wieder für knapp 50 Jahre schwarz-weiß-rote Fahnen von den Türmen der Städte im Elsaß. Im blutigsten aller bisher auf europäischem Territorium geführten Kriege 1914/18 musste Deutschland wiederum das Elsaß und Lothringen an Frankreich abgeben. In einem Buch „Der Krieg 1914/16 in Wort und Bild“ fand ich Berichte und Bilder auch über die blutigen Kämpfe im Elsaß und in Lothringen. Trotz Knebelung Deutschlands im Versailler Vertrag ließ Frankreichs damaliger Kriegsminister Maginot4 nun im Elsaß eine militärische Befestigungslinie bauen, die uneinnehmbar schien, die so genannte Maginot- Linie5. 3 Im Deutsch- Französischer Krieg 1870/71, nach dem Deutsch-Dänischen Krieg 1864 und dem Deutschen Krieg 1866, dem letzten der drei deutschen Einigungskriege hatte Napoléon III. seit dem Deutschen Krieg vergeblich versucht, Kompensationen für den preußischen Machtzuwachs zu erhalten. Bismarck nutzte eine sich im Zusammenhang mit der spanischen Thronkandidatur des Erbprinzen Leopold von Hohenzollern- Sigmaringen bietende Chance, um durch die Emser Depesche die Kriegserklärung Frankreichs an Preußen zu provozieren. Die mit dem Norddeutschen Bund durch Defensivbündnisse verbundenen süddeutschen Staaten sahen den Bündnisfall als gegeben an. Eine erste Phase des Krieges endete mit der Kapitulation einer französischen Armee unter General Mac- Mahon bei Sedan am 1. 9. 1870 und der Gefangennahme Napoleons am folgenden Tag, womit aber die von Generalstabschef H. von Moltke geplante Vernichtung der Macht des Gegners noch nicht erreicht war. Frankreich führte den Krieg unter republikanischer Führung weiter, der sich nun zu einem Volkskrieg und verlustreichen Ringen wandelte (fast 190 000 deutsche und französische Tote). Mit der Kapitulation von Paris am 28. 1. 1871 streckte Frankreich die Waffen. Der endgültige Friedensschluss erfolgte in Frankfurt am 10. 5. 1871. Der Krieg belastete, besonders durch die erzwungene Abtretung Elsaß- Lothringens, das deutsch-französische Verhältnis auf Dauer; der 2. 9. wurde als „Sedanstag“ Nationalfeiertag im Kaiserreich. 4 Maginot, André, französischer Politiker (Demokratische Linke), * 17. 2. 1877 Paris, † 7. 1. 1932 Paris; anfangs Kolonialbeamter, seit 1917 mehrmals Kolonialminister, 1922—1924 und 1929—1932 Kriegsminister. Unter seiner Ägide wurde der Bau der Maginotlinie eingeleitet. 5 Maginot- Linie: Dieses Befestigungssystem an der französischen Nordostgrenze wurde unter der Oberaufsicht von General Guillaumat entworfen und erhielt nach dem Tode Maginots in einem Staatsakt den Namen “Die Maginot-Linie”. Die Bauzeit, die zunächst auf vier Jahre veranschlagt worden war, betrug neun Jahre (1927-1936). Das Kernstück der “Maginot-Linie” befand sich in Elsaß- Lothringen. Sie zog sich 314 km lang parallel der deutschen Grenze von Belfort nach Montmedy, und zwar in einem Abstand von 7 bis 10 Kilometern. Die Etappenstaffelung ins Hinterland betrug bis 20 Kilometer. Das Befestigungssystem war in die drei Kampfabschnitte Rhin-Vosges (Rhein-Vogesen), Metz-Thionville und den alten traditionellen Festungsgürtel von Belfort bis Toul eingeteilt, wobei letzterer unter Einschluss von Verdun völlig modernisiert wurde. Die “Maginot-Linie” war größtenteils unterirdisch angelegt. Die großen Panzerforts (= “Ouvrages“) reichten bis 7 Stockwerke unter die Erde. Die unterste Sohle lag häufig bei 100 m Tiefe. Es gab Bunkersysteme für Panzerabwehrkanonen und Maschinengewehre, die 50 bis 70 m unter der Erde lagen und miteinander verbunden waren. Die durchschnittlichen Erdbewegungen für ein Panzerfort mit einer Artilleriepanzerkuppel betrugen 750 000 m3. Es liegen britische Berechnungen vor, in denen die Kosten auf 2 Millionen Pfund pro umbauter Meile veranschlagt wurden. Diese Summe entspricht in der Umrechnung zum Kurs der damaligen Zeit rund 40 Millionen Reichsmark für 1600 Meter. Die Vernetzung der “Maginot-Linie”, die die Verschiebung von Truppen und Munition ermöglichte, erfolgte durch Verbindungswerke. Diese verbanden einzelne Kasemattesysteme von unterirdischen Munitionslagern, Proviantlagern und Aufenthaltsräumen für die Besatzungen durch Tunnelsysteme, die mit elektrischen Kleinbahnen ausgestattet waren. Ebenso funktionierten die Munitionsaufzüge für die Panzertürme elektrisch. Die Zentralen für die Strom- und die Wasserversorgung und für die Entlüftungssysteme lagen geschützt unterirdisch. Die Eingangsstollen befanden sich weit hinter der Befestigungslinie. Sowohl die Bunker für schwere und mittlere Artillerie, bei denen Periskoptürme zur Rundumbeobachtung dienten, als auch die betonierten Kampfstände für Maschinengewehre, leichte Artillerie und Panzerabwehrwaffen waren in verstärktem Eisenbeton gegossen. Alle Bunker und Außenblockhäuser, die insgesamt 300 000 Mann Besatzung aufnehmen konnten, waren © Rolf Bührend, März 2005 Seite 159 Im zweiten Weltkrieg mussten die Elsässer und Lothringer wieder umdenken. Sie wurden für kurze Zeit, nämlich von 1941 – 1944 wieder Deutsche, kamen „heim ins Reich“. Dann mit der Kapitulation Hitlerdeutschlands 1945 wurden sie wieder Franzosen. Und bei denen sind wir nun zu Gast. Wir erleben die leichte Wesensart, den frohen Lebenssinn dieser Menschen, den schlichten und einfachen Lebensstil, und ich fühle mich wohl in ihrem Land. Es bringt jedem Volke Unglück, hinter Eroberern, Diktatoren und Fanatikern her zu laufen. Das hat die Geschichte bewiesen. Meine Meinung: Trotz allen Blutes, das 1793 in Frankreich floss, als die Kommunarden die Monarchie wegfegten und trotz der folgenden Restauration des Kaiserreiches haben sich die demokratischen Gedanken der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wohltuend in die heutige Zeit eingebettet. Die Franzosen gingen mit dem Zeitalter der Aufklärung allen europäischen Völkern voran und sie beweisen auch heute noch: Franzosen fühlen als Franzosen. Sie haben so etwas wie eine nationale Ehre. Sie lieben ihre Traditionen und ihre Kultur und ihre Sprache. Im Gegenteil dazu erstickt das heutige Deutschland unter dem Mehltau der Bürokratie, der Kleinstaaterei und Vereinsmeierei. Es schämt sich echter deutscher Traditionen, die seit der braunen Zeit fast tabu sind. Es schämt sich der ungeheuren Last an Schuld, die Deutsche auf sich geladen haben. Das zerreißt Generationen. Die Alten denken wehmütig an alte, echte deutsche Werte, die Jungen schmücken sich mit der Unkultur der amerikanischen Übermacht, beschmutzen und verstümmeln die deutsche Sprache mit Anglizismen…Ich will mich nicht weiter auslassen. Unter diesen Gedanken fahren wir nun schon wieder durch das Elsässer Land. In der Ferne thront die Hochkönigsburg. Conny lässt Falk anhalten, so dass wir ein Foto machen können. Allerdings muss der Fotoapparat das maximale Zoom benutzen. Die Rekonstruktion dieser alten Stauferburg ist noch ein Verdienst Wilhelms II., geschehen in den Jahren nach 1870/71. Sie liegt zwischen Strasbourg und Colmar in der Nähe von Selestat (Schlettstadt) auf einem 757 m hohen Bergkegel am Osthang der Vogesen. Erbaut wurde die ursprüngliche Burg im 12. Jahrhundert, dann um 1480 erneuert, im Dreißigjährigen Krieg angezündet. 1899 schenkte die Stadt Schlettstadt dem Deutschen Kaiser Wilhelm II. die Burg, der sie als Ritterburg im Stil des 15. Jahrhunderts wieder aufbauen ließ. Vom Westbollwerk aus hat man einen herrlichen Ausblick in die Rheinebene bis zum Schwarzwald. Im Innern kann man die Kapelle, den Rittersaal, ein Jagdzimmer und Wohnräume mit Möbeln ansehen. Ich hatte 1987 und 1992 Gelegenheit, diese wunderbar intakte Burg zu besichtigen. Heute Nachmittag fahren wir an ihr vorbei. Wir passieren Ribbeauville, St. Hippolyte. Dann gelangen wir in die Metropole des Elsaß und Europas, nach Straßburg. Erwartung in mehrfacher Hinsicht. Einmal soll es heute Abend ein Elsässer Festmenü geben. Und ich hoffe, noch ein paar Stunden zu finden, um einige Sehenswürdigkeiten dieser großartigen Stadt zu erhaschen. XXXII. Straßburg W ir sind kurz vor halb fünf im Hotel. Es hat den Charakter eines Motels. Es heißt „Louisiane an der Ill“. Unansehnliche Flachbauten unmittelbar an der Stadtautobahn gelegen, natürlich auch am Flüsschen Ill. Eine nahe Grünanlage mit einem Restaurant durch unzerstörbare unterirdische Betonpassagen erreichbar. Die Maginotlinie schien uneinnehmbar; im Mai 1940 gelang es aber dem Zusammenwirken deutscher Panzerverbände mit der Luftwaffe, die Befestigungsanlage an der noch schwachen Stelle bei Sedan zu durchstoßen. © Rolf Bührend, März 2005 Seite 160 verleiht der Herberge etwas Kleinstädtisches. 19 Uhr soll es Abendessen geben. Also bleiben nur noch zwei Stunden. Ich besorge mir an der Rezeption einen Stadtplan und mache mich mit Martina auf den Weg in die historische Altstadt. Wieder nur ein Streiflicht! Ich war 1987 schon einmal hier in Straßburg, hatte auf das Münster hinaufsteigen dürfen. Mit dem Petit Train bin ich durch „Petite France“, das Kleine Frankreich, das älteste Straßburg gefahren, verstand allerdings seinerzeit nichts von der Führung, weil nur Englisch und Französisch gesprochen wurde. Ich hatte auch Gelegenheit, das Schloss Rohan zu besuchen. Dieses war 1742 auf Veranlassung von Armand Gaston6 aus der Familie Rohan- Soubise erbaut worden und danach lange Bischofssitz. Es beherbergt heute drei Museen und ist ein beeindruckender Komplex von Gebäuden, die um einen viereckigen Hof angelegt sind. Im Schnellgang habe ich mir zwei damals angesehen, das Musée des Beaux- Arts und das Musée des Arts Decoratifs. Meine Gastgeberin, die Traudi, Tochter des Onkels meiner ersten Frau aus Bahlingen am Kaiserstuhl, lud uns an diesem Tage ins Haus Kammerzell zum Froschschenkel- Essen ein. Ich war damals wie in Trance, wie in einem Traum erlebte ich diese Stadt. Nun hatten wir nur zwei winzige Stunden Zeit und mussten weit laufen. Vielleicht ein halbe Stunde brauchten wir, bis wir, immer an der malerischen Ill entlang, bei schräg stehender Sonne und schon etwas frischer Luft mit Hilfe des Stadtplanes den Kern der Altstadt erreichten. Ich wollte genau zu dem Punkt, der mir ehemals schon am meisten imponiert hat, von dem man die Ill- Arme, das Münster und die Brücken, das „Kleine Frankreich“ und die Türme der Stadtkirchen sehen kann. Die Franzosen nennen ihn die Terrasse Panoramique. Die historische Altstadt Straßburg liegt genau genommen auf einer Insel, gebildet von zwei Armen des Rheinzuflusses Ill. Vorher hat dieser sich aber auch schon mehrmals verzweigt, so dass die Stadt von Wasserläufen durchzogen ist, die sich alle wieder im Westen von ihr vereinigen und dem Rhein zufließen. Um diese alte Reichsstadt richtig zu sehen, ihrer Geschichte nahe zu kommen, den Kontrasten zwischen Alt und Neu nachzuspüren - immerhin ist sie ja Europastadt - braucht man mindestens einen Tag. Um ihr Flair, ihre Besonderheiten kennen zu lernen, mindestens eine Woche oder mehr. Straßburg und das Elsaß gehören zusammen, Nahtstelle zwischen Deutschland und Frankreich. Viele Namen künden noch davon. Wir mussten stramm laufen, Grün war um uns. Rechts lag verträumt das grünlich schimmernde Wasser des Flusses. Wir beeilten uns, begegneten Spaziergängern, die sich erholten, eine andere Spezies Menschen. Jenseits der Ill säumten das Ufer die gewaltigen Gebäude des Bürgerhospitals und der Medizinischen Fakultät. Auf dem Pont Louis Pasteur überquerten wir das Wasser und verfolgten die Rue Humain, und dann war es nicht mehr weit. Links ab sahen wir schon die Straßburg, Barrage Vauban weißen Wagen der Touristenbahn an der Barrage Vauban, diesem Damm, der einst Teil der Stadtbefestigung war. Wieder taucht der Name des berühmten Baumeisters Ludwigs XIV. auf. Dieses interessante Bauwerk erfüllt neben seinem eigentlichen Zweck heute die Funktion einer Fußgängerbrücke, 6 Ab 1704 bis 1793 standen vier Kardinäle der Familie Rohan an der Spitze des Bistums in Straßburg. Der erst unter ihnen, Armand Gaston, ehelicher Sohn Ludwigs XIV., unternahm den Bau dieses bischöflichen Schlosses. Er dauerte 10 Jahre. Sein Haupttor geht auf die Place du Château und liegt fast genau gegenüber dem Südportal des Münsters. Ludwig XV. wohnte hier und Maria Antoinette. 1871 und 1944 wurde das Schloss von Bomben getroffen, hat aber jedes Mal seinen Glanz wiedergefunden. © Rolf Bührend, März 2005 Seite 161 einer einzigartigen Aussichtsterrasse, und in seinem Innern – so schätzte ich es ein – dient sie als riesiges Lapidarium, als Lager für historische Steine, Skulpturen, Kapitelle, Säulenreste und Grabsteine. Gleich nach dem Anschluss der Stadt an Frankreich 1681 befahl Ludwig XIV. den Bau eines Staudammes, um die Befestigungen zu verstärken. Er ist mit einer Schleuse ausgestattet, um im Falle einer Invasion die Südfront der Stadt zu überfluten, hatte also militärischen Charakter. Heute dient er als Aussichtsterrasse. Wir gingen unten durch und standen dann oben und genossen im Abendlicht den einzigartigen Blick auf die Altstadt. Vor uns spiegelten sich im dunklen Wasser die vier massigen Wehrtürme, die die gedeckten Brücken, die Pont Couverts, markieren. Sie sind Überreste der Stadtbefestigung, die ehemals über 80 Wehrtürme zählte. Sie stammen von der dritten Erweiterung der Stadt um 1230/1250 und trugen dazu bei, der Freien Reichsstadt jahrhundertelang ihre Unabhängigkeit zu erhalten. Diese letzten Wehrtürme heißen Henkersturm, Heinrichsturm, Hans-von-Altheim-Turm und Franzosenturm. Sie dienten lange als Gefängnis. Die einstigen Holzbrücken haben ihre Dächer im 18. Jh. verloren und wurden im 19. Jahrhundert durch Brücken aus Stein ersetzt. Wir erkennen, mit Hilfe des Stadtführers den Aufbau der Stadt in Form eines bebauten Flussdeltas, bestehend aus vier Kanälen mit den Namen Zornmühle, Dinsenmühle, Spitzmühle und Schifffahrtskanal. Die Mühlen sind längst verschwunden. Kleine Grünflächen sind angelegt. Über den Dächern und Baumwipfeln sehen wir die Glockentürme der wichtigsten Kirchen von Straßburg. Im Vordergrund erhebt sich die erstaunlichste unter ihnen, Saint-Pierre-le-Vieux (St. Peter der Ältere) und, natürlich reich gegliedert, majestätisch, goldbraun in der Abendsonne schimmernd, das Straßburger Die Ill in Straßburg Münster. Ich wollte es nicht nur bei dem Blick bewenden lassen, eine dreiviertel Stunde blieb uns noch. Eigentlich hätte man auf das Essen pfeifen müssen. Wann kommen wir denn noch einmal hierher? Doch getreu der verfluchten deutschen Mentalität gehorcht man dem Programm und lässt sich die Zeit von Leuten diktieren, die ganz andere Dinge im Kopf haben als Kultur. Oder gar nichts. Ich zog Martina hinter mir her in der guten Absicht, ihr so viel wie möglich zu zeigen oder wenigstens ihr das Gefühl dieser wunderbaren Stadt zu vermitteln. Das Abendlicht leuchtete fast © Rolf Bührend, März 2005 Seite 162 wie auf einer riesigen Bühne und verstärkte die kulissenhafte Wirkung der weißen und farbigen Fachwerkhäuser, ihr Zusammenspiel mit kleinen Brücken, den stillen Wasserflächen und grünen Grasinseln. Die Autos störten, man möchte sie fortwünschen, um manchmal sich intensiv in die Vergangenheit zu versetzen. Man schelte mich nicht Träumer. Ich weiß, dass es dem einfachen Volke nie gut ging. Viel zu schnell haben wir die Klischees der Königshöfe, der Adelshäuser, der reichen Bürger, die Kathedralen, Dome und Kirchen des Klerus im Kopf, die sich eher erhalten haben als die Holzhäuser, Lehmkaten, Strohhütten, Scheunen und Schuppen der kleinen Leute. Wir liefen also hinein ins Petite France. Gerade hinter uns schloss man eine kleine Brücke mit Ketten ab. Wir beeilten uns, noch recht viel zu erhaschen vom mittelalterlichen Gepräge der Altstadt. Auf der Ill gleitet ein Glasbodenboot vorbei. Musik tönt herüber. Es muss schön sein, vom Wasser aus zwischen den Häusern entlang, unter den zahlreichen Brücken zu fahren, die kleine Welt der Straßburger von unten her zu beobachten. Man schaut in die Wipfel der über das Wasser reichenden Bäume. Eine nicht alltägliche Perspektive. Es ist Freitagabend. Man spürt, dass die Bewohner ihr arbeitsfreies Wochenende begrüßen. In den kleinen Häusern beginnt man sich auf den Feierabend einzurichten. Kinder tollen noch draußen auf einem Spielplatz. Nicht mehr lange. Ein letzter Blick auf die Altstadt, dabei haben wir fast nichts gesehen. Wir trennen uns mit einem Ruck von der Idylle. Die Häuser spiegeln sich im Fluss, die Luft ist warm und voller Gerüche, und es ist, als wollten uns diese Bilder verzaubern: Seht her, es ist wie im Märchen! Für ein Märchen fehlen aber noch einige Zutaten, Könige, Feen, überhaupt handelnde Personen. Die Idylle ist auch anderweitig trügerisch. Es ist immer ein gewaltiger Unterschied, ob man sich als Reisender, als Vorbeigehender die schönen Seiten der Landschaft und die Städte und Wohnungen der Menschen von außen oder bei schönem Wetter anschaut oder ob man hier leben und für seinen Unterhalt arbeiten muss. Nicht immer denkt man daran und lässt unstillbare Sehnsucht aufkommen. Nun marschieren wir im Eilschritt in Richtung Hotel. Es ist wieder ein weiter Weg zurück. Bald sind wir wieder an der Fußgängerbrücke über den Ill- Arm, diesmal ist es der Pont des Frères Matthis, soll etwa heißen Brücke der Brüder in Matthäus oder so ähnlich. Der asphaltierte Radfahrer- Pfad drüben entlang des Flusses zieht sich in die Länge. Wir treffen einige Leute aus unserer Reisegruppe. Sie hasten auch zurück. Durchgeschwitzt aber froh, das alles gesehen zu haben, treffen wir rechtzeitig im Hotel ein. Der letzte Abend auf unserer Reise ist angebrochen. Jetzt versammeln wir uns zur letzten, zur Henkersmahlzeit im Salon. Fünfzig Leute sind viel, dennoch war alles liebevoll zubereitet, die Tische gerichtet und professionell gedeckt. Schon zu Hause stand es im Programm: Es gibt eine © Rolf Bührend, März 2005 Seite 163 echte Elsässer Spezialität, ein Sauerkrautessen. Das ist der große Klassiker der elsässischen Küche. Von der bunten Welt der Töpferwaren, die in der Region angeboten werden, ist es nicht weit zu den Inhalten. Ich habe mich belesen: Von den Spezialitäten steht die Gänseleber ganz oben. Die beste Gänseleberpastete ist die nach dem Rezept von Pierre Clause, Koch des Maréchal de Contades im 18. Jahrhundert. Die Mahlzeit kann natürlich mit Sauerkraut fortgeführt werden. Geschätzte Alternativen sind der Bäckeoffe, ein Eintopf aus Schweine-, Lamm- und Rindfleisch, der ehemals im Ofen des Bäckers zubereitet wurde oder Hahn in Rieslingsoße, Hasenpfeffer oder gefüllter Schweinebauch. Den Flammkuchen darf man nicht vergessen, ein einfaches Gericht aus Sahne, Speck und Zwiebeln, das ehemals mit dem übrig gebliebenen Brotteig im Ofen des Bäckers zubereitet wurde. Kleine Gerichte sind das „Wädele“, Schweinefleisch, die Schweinshaxen, das „Rippele“, der „Presskopf“ oder der „Schweinekopf“ oder noch der „Männerstolz“, eine besonders große Wurst. Wir bekamen eine Sauerkrautplatte serviert, den Klassiker. Für jeweils vier Personen eine. Auf einem länglichen Berg dieses herrlichen Krautes waren angehäuft: gebratene Leberstücken, Kasslerstücke, Schweinebraten, Rinderbraten, Rostbratwürste und Schweinebauch. Dazu gab es eine Flasche hiesigen Wein für jedes Paar, Riesling, Gewürztraminer, Silvaner, Pinot, ich weiß es nicht mehr. Vorher einen Krabbensalat, an den ich mich als „Antifischist“ erst nicht recht traute, doch dann nach zögerlichem Kosten überrascht Geschmack daran fand. Der süße Nachtisch war dann fast eine Quälerei für den überforderten Magen. Zu gut schmeckten das Elsässer Sauerkrautessen Kraut und das verschiedene Fleisch. Obwohl der süße Nachtisch das Geschmacks- Gleichgewicht wieder herstellte, war er für den Körper kaum verkraftbar. Der Mensch bringt sich eben mit Messer und Gabel um. Zum wievielten Mal betteten wir diese Nacht unser Haupt auf ein fremdes Lager? Ich ließ den vergangenen Tag noch einmal Revue passieren. Fahrt von Burgund in das Elsaß. Isenheimer Altar, Altstadtbummel in Colmar. Weinprobe in Riquewihr. Weingedanken. Wechselvolles Elsaß. Stadtgang in Straßburg. Sehen wir noch das Münster? Straßburg oder Strasbourg. Deutsche oder französische Namen? Was ist deutsch, was französisch? Was für Unterschiede außer den anderen Lauten gibt es eigentlich zwischen den Menschen? Gar keine. Oder? Wie mit der Brechstange gefällt, kam der Schlaf. Samstag, 13. September 2003 Der Morgen begann wie immer. Zimmer aufräumen. Nichts vergessen? Koffer nach draußen bringen. Frühstücken. 9.00 Uhr Start. Wir halten noch einmal an der Place de Corbeau. Natürlich dürfen wir bis 10 Uhr einen letzten Blick auf Straßburgs Schätze werfen. Gipfel der Verknappung unter dem Gebot, heute noch 700 km Fahrt nach Dresden abzuspulen. Im Eilschritt hasten wir zur Kathedrale. Fast noch verschlafen wirkt die Stadt. Die Läden öffnen gerade. Die Händler schaffen ihre Waren auf die Straße, füllen die Regale draußen, rücken die Werbeträger zurecht, schauen nach dem Wetter. Heute wird es schön! Jetzt schon lacht der blaue Himmel. Vor dem Münster sind außer ein paar vereinzelten Touristen nur wir, die Leute vom Eberhardt- Reisebus. Es ist alles noch nicht so recht losgegangen, das turbulente Getriebe der Vermarktung der Historie, das Geschäft mit den Fremden. Der Vorplatz ist fast leer, der sonst wimmelt von Menschen. © Rolf Bührend, März 2005 Seite 164 Schon vor dem Hauptportal, das ist geschmückt mit der mittelalterlichen Darstellung der Passion Christi und teils grotesken Details, könnte ich stundenlang verweilen. Ein doppelter Ziergiebel krönt das reiche Tympanon und führt den Blick hinauf zur Rosette. Die 16 Blütenblätter in einem filigranen Steinrahmen lassen ahnen, wie das dahinter liegende Glasfenster von innen erblüht, wenn abends die Sonne ihr Licht einfallen lässt. Ich beuge den Kopf ganz nach hinten und schaue hinauf. In deutlicher Dreiteilung erheben sich zwei gleichberechtigte Baukörper bis zu der Plattform, von der aus nur noch ein Turm in die Höhe ragt, noch mal so hoch wie der Hauptkörper, 142 Meter hoch. Das Bauwerk steht auf den Grundmauern einer romanischen Basilika, die 1015 erbaut wurde. Irgendwann danach brannte sie ab und wurde in der Zeit nach 1176 in höchster Vollendung der gotischen Bauweise wieder errichtet. Es dauert bis 1439, ehe der Turm fertig war. Notre Dame de Strasbourg war bis ins 19. Jahrhundert das höchste Bauwerk der Christenheit, ehe es von den Glockentürmen von Ulm und Köln überboten wurde. Bei einem Straßburg- Besuch ist das Besteigen der Plattform ein unbedingtes Muss. Das Nebenportal ist geziert mit den klugen und törichten Jungfrauen. Ich denke an die Jungfrauenpforte am Dom in Magdeburg. Waren es dieselben Meister? Um 1225 revolutionierten Handwerker aus Chartres den Verlauf des Baues und schufen an ihm Meisterwerke von ungeheurer gotischer Straßburger Münster, vom SW gesehen Pracht wie den Engelspfeiler und der Figur der Synagoge am Südportal. Ich muss mich bescheiden. Wir treten ein. Ich muss umschalten. Es ist ein Gotteshaus und ein gleichzeitig ein Museum. Ich werde klein in all der dunklen Größe. Noch macht der Tag das riesige Kirchenschiff nicht hell. Da ist der Domschatz. Keine Zeit. Da ist die herrliche Kanzel aus dem 15. Jahrhundert. Unwillkürlich zieht es den Blick an den Diensten der Pfeiler hinauf in die Rippengewölbe des 32 Meter hohen Langhauses, er wird gefangen von dem reich mit Gold verzierten Orgelprospekt. Dann stehen wir vor der Astronomischen Uhr, dem weltweit einzigartigen Kunstwerk dieser Art. Sie hat eine einzigartige Geschichte, sie ist einmalig vom technischen und künstlerischen Konzept und stellt einen Rückblick in die Geschichte der Zeitmessung dar. Die Legende behauptet, dass dem Uhrmacher der astronomischen Uhr nach der Vollendung seines Werkes auf Befehl der hohen Beamtenschaft der Stadt, die danach trachtete, ihn zu hindern, andernorts ein ebensolches Meisterwerk zu schaffen, die Augen ausgestochen worden seien. Wenn selbstverständlich diese Fabel auch nicht ein Fünkchen Wahrheit enthält, so offenbart sie doch den berechtigter Stolz der Straßburger auf den Besitz eines Werkes, das zu den „Sieben Wundern Deutschlands“ zählte. Die Berühmtheit, die sie seit Jahrhunderten in der Welt genießt, scheint in Anbetracht der Menschenmengen, die nach wie vor an ihr vorüberziehen, ungemindert zu sein. Auch ich stehe nun fasziniert das zweite Mal davor und fange mit meinen spärlichen astronomischen Kenntnissen gar nicht erst an, mich in dieses technische Wunderwerk zu vertiefen. Mich berührt die Kunstfertigkeit, die allegorische Sprache, mit der alles übersetzt wird. Eigenartigerweise scheint vor allem das Spiel der Automaten die Besucher anzuziehen, obwohl © Rolf Bührend, März 2005 Seite 165 die Uhr in erster Linie ein außerordentlich prachtvolles Werk der Kunst und der Wissenschaft ist, und ein besonders bedeutungsvolles geschichtliches Denkmal. Ich forsche ein wenig in der Geschichte zu dieser „Drei- Königs- Uhr. Und finde diesen Text: Lange scheint das Mittelalter ziemlich gleichgültig gegen die Zeit geblieben zu sein. Die Instrumente, die damals zur Verfügung standen –Wasser-, Sand- oder Sonnenuhren maßen Zeitabschnitte, ohne die Kontinuierlichkeit der Zeit darstellen zu können. Durch die Erfindung der mechanischen Uhr, die die kirchliche, ungewisse Zeit durch eine weltliche, rationalisierte Zeit ersetzte, vollzog sich gegen Ende des 13. Jahrhunderts eine technische Revolution. Um ihr Prestige zu steigern, versahen die Städte einen ihrer Profan- oder Sakralbauten mit einer Monumentaluhr, der verschiedene technische Neuerungen einen spektakulären Aspekt verliehen. Straßburg gehörte durch den zwischen 1352 und 1354 erfolgten Bau der so genannten DreiKönig- Uhr zu den ersten Städten, die das Exempel einer solchen Errungenschaft abgaben. Das etwa zwölf Meter hohe Uhrgehäuse wurde an der Westwand des südlichen Querhauses errichtet, wo einige Konsolen und Meißelspuren noch seinen Standort kennzeichnen. Das Werk enthielt von unten nach oben: einen Kalender, ein Astrolabium7 und eine Statue der Jungfrau mit dem Kind, vor der sich zu jeder vollen Stunde die drei Weisen aus dem Morgenland verneigten, während ein Glockenspiel verschiedene Melodien schlug. Dazu krähte ein flügelschlagender Hahn. Als die Uhr der Drei Könige gegen Anfang des 16. Jahrhunderts stehen blieb, dachte man vielleicht zuerst daran, sie zu restaurieren. Jedenfalls wurde 1533 an der Südfassade des Vierungsturmes ein Zifferblatt installiert, das die Bahnen der Sonne und des Mondes durch den Tierkreis anzeigen sollte und zwar mittels Zeigern, die von der Uhr aus betrieben werden sollten. Blieb nur die Uhr zu erneuern. Die Stadt hatte in der Tat beschlossen, in der jetzt protestantischen Kathedrale die alte, zu stark verfallene Uhr zu ersetzen. 1547 wurde gegenüber dem alten Standort mit dem Bau einer neuen Uhr begonnen. Mit dem Entwurf dieses Vorhabens wurde Chrétien Herlin, Astronom und Professor der Hochschule beauftragt, der den Arzt Michel Herr und den Theologen Nicolas Prugner, beide ausgezeichnete Mathematiker, als Mitarbeiter gewann. Der Uhrmacher begann mit seiner Arbeit, während der Architekt des Œuvre Notre Dame8, Bernhard Nonnenmacher den Bau des steinernen Gehäuses und der Wendeltreppe bewerkstelligte. Doch bereits 1548 wurden die Arbeiten durch das Augsburger Interim9 unterbrochen, welches das Münster dem katholischen Kult verschrieb, und dazu führte, dass die protestantische Beamtenschaft das Interesse an allem, was diesen Bau betraf, verlor. Nach der Rückgabe der Kirche an die Protestanten im Jahre 1559 mussten zunächst fähige Männer gefunden werden, die imstande waren, den Plan weiterzuführen. Das war 1571 der Fall. Konrad Dasypodius (1531-1601), Herlins Schüler und Nachfolger auf seinem Lehrstuhl der Mathematik an der Straßburger Akademie nahm die unterbrochene Arbeit wieder auf. Er rief David Wolkenstein (1534 -1592) aus Breslau an seine Seite und sicherte sich die Mitarbeit der Brüder Josias (1552 -1575) und Isaak Habrecht (1544 -1620), Uhrmacher aus Schaffhausen, welche die Uhrwerke anfertigten. Er berief darüber hinaus den ebenfalls aus Schaffhausen stammenden, aber seit 1570 in Strassburg ansässigen Maler Tobias Stimmer (1539-1584), der sich von seinem Bruder Josias unterstützen ließ. Stimmer war in gewisser Hinsicht der künstlerische Leiter des Unternehmens. Er übernahm sowohl die Bemalung verschiedener astronomischer Anzeigen, wie etwa der Himmelssphäre, als auch die Verzierung des gesamten Gehäuses. 7 Astrolabium, [griechisch + lateinisch], ursprünglich andere Bezeichnung für Armillarsphäre, von den Arabern erfunden und benutzt; heute Name eines Instruments zur Messung von Gestirnshöhen und zur Lösung von sphärischen Aufgaben. 8 Mit dem Münsterbau beauftragte Stiftung, die sich bis zum heutigen Tag erhalten hat 9 1548 von Karl V. verkündetes Reichsgesetz © Rolf Bührend, März 2005 Seite 166 Die Arbeiten, die sich von 1571 bis 1574 erstreckten, wurden von dem Werk Herlins geprägt. Das weit vorangeschrittene Gehäuse hinderte Dasypodius daran, einen ehrgeizigeren Plan zu Verwirklichen, so wie das bereits entworfene Astrolabium ihn vielleicht dazu verleitet haben mag, dem System Ptolemäus treu zu bleiben, und vierzig Jahre nach der Veröffentlichung der heliozentrischen Theorie von Kopernikus - die Erde im Mittelpunkt des Universums darzustellen. Es sei darauf hingewiesen, dass, wenn die astronomische Anschauungsweise von Anfang an überholt war, auch der - nach dem von den Römern überlieferten Julianischen System festgelegte - Kalender nach der gregorianischen Reform von 1582, die in Strassburg ein Jahrhundert später eingeführt wurde, hinfällig wurde. Was die Übersicht der Eklipsen betrifft, die für eine Dauer von dreiunddreißig Jahren dargestellt wurden, so wurde diese seit 1649 nicht mehr erneuert. Schließlich beeinträchtigte die Abnutzung die schmiedeeisernen Uhrwerke, die nach und nach nicht mehr funktionieren wollten, bis die Uhr 1788 vollständig stehen blieb. Als eines Tages der Kirchendiener, nachdem er Besuchern die lautlos stillstehende Uhr erläutert hatte, zusammenfassend bemerkte, niemand vermöge sie je wieder instandzusetzen, rief ein Junge ihm zu: „Nun gut! Ich werde sie zum Gehen bringen!“ Es war der junge Jean-Baptiste Schwilgué (1776 - 1856), der sein Leben damit verbringen sollte, sich die für ein solches Vorhaben notwendigen Kenntnisse autodidaktisch anzueignen. Als Feinmechanikingenieur wurde er schließlich im Alter von einundsechzig Jahren mit der Renovierung der Uhr beauftragt, die er von 1838 bis 1842 vornahm. Er hatte sich seit Jahren darauf vorbereitet. Er hatte mehrere fähige Helfer ausgebildet, die in der Lage waren, ihm zu assistieren und hatte begonnen, Maschinen zu bauen, die ihm die Anfertigung äußerst präziser Uhrteile zu erleichtern vermochten. Darunter sogar eine Holzschnitzmaschine, die es erlaubte, die Automaten nach Gipsmodellen aus dem Groben zu arbeiten. Er selbst hätte gerne auf diese beweglichen Figuren verzichtet, zu denen er äußerte, „dass sie dem Zeitgeschmack nicht mehr entsprechen, dass sie allein das am wenigsten gebildete gemeine Volk interessieren“. Er träumte davon, eine ganz neue Uhr zu bauen, mit einem in weiten Teilen verglasten Gehäuse, was es gestattet hätte, die Mechanik zu bewundern. Nach Erwägung der Kosten, die ein solches Vorhaben verursachte zog die Stadt es vor, ihn lediglich zu bitten, die verschiedenen Funktionen der alten Uhr wiederherzustellen. Dieser klugen Entscheidung verdanken wir es, dass das Gehäuse erhalten blieb. Es ist eines der Meisterwerke der Renaissance, das in seinem Inneren eine beispielhafte wissenschaftliche und technische Leistung des 19. Jahrhunderts enthält. Somit ist die heutige Uhr ein doppeltes Kunstwerk. Was zeigt es an? Die Tage werden durch ihre Schutzgötter angezeigt, deren Wagen von den Tieren gezogen werden, die ihnen als Attribute dienen. Es folgen sich vom Sonntag bis zum Sonnabend aufeinander: Apollo, Diana, Mars, Merkur, Jupiter, Venus und Saturn. Letzterer ist dargestellt, wie er gerade eines seiner Kinder verschlingen will; er ist das Symbol der Zeit, die was sie hervorbringt wieder zerstört. Diese 1842 fast vollständig erneuerten Skulpturen inspirieren sich leider nur sehr wenig an den wundervollen Entwürfen Stimmers. Die Unterteilung des astronomischen Tages wird durch die Gegenüberstellung von Apollo und Diana verdeutlicht, die den Tag und die Nacht verkörpern. Ersterer hat noch eine weitere Aufgabe: mit seinem Pfeil weist er auf der Kalenderskala auf den jeweiligen Tag. Das Jahr wird in der Tat durch einen reifenförmigen Immerwährenden Kalender umschrieben. Er gibt die Monate, die Tage, ihre Heiligen, die unveränderlichen und beweglichen Kirchenfeste sowie die Buchstaben an, die die Sonntage kennzeichnen. Die Himmelssphäre gibt die Bewegungen der Sterne um die mutmaßlich unbeweglich in ihrer Mitte gelegene Erde wieder. Sie umfasst über 5000 Sterne und dreht sich innerhalb von einem © Rolf Bührend, März 2005 Seite 167 Sternentag. Letzterer entspricht dem Zeitabstand zwischen den zwei Meridiandurchgängen desselben Sternes das heißt, er ist etwa 4 Minuten kürzer als der mittlere Sonnentag. Die Sternzeit wird auf der reifenförmigen Skala am Umfang der Sphäre abgelesen. Darunter gibt ein Räderwerk die kaum wahrnehmbare Umdrehung der Erdachse wieder, die sich in 25806 Jahren vollzieht. Die scheinbare Zeit oder wahre Sonnenzeit wird durch den Zeitraum zwischen zwei Durchgängen der Sonne am Meridian bestimmt. Auf der Skala zeigen zwei Zeiger die scheinbare Bahn der Sonne und die des Mondes um die im Zentrum dargestellte Nordhalbkugel der Erde an. Sie geben ebenfalls die Eklipsen an. Die Länge des Mondzeigers verändert sich automatisch je nach dem Stand des Mondes; letzterer ist durch eine kleine Kugel dargestellt, die durch ihre Eigenumdrehung die Mondphasen verdeutlicht. Auf der gleichen Scheibe kennzeichnen zwei Zeiger die jeweilige Stunde des Sonnenaufganges und des Sonnenunterganges. Der Mechanismus der Sonnen - und Mondgleichungen ermittelt die Gangungenauigkeit der beiden Zeiger des scheinbaren Systems im Verhältnis zu der tatsächlichen Fortbewegung der beiden Gestirne. Die Planisphäre zeigt die Gravitation von sechs mit dem bloßen Auge sichtbaren Planeten (Merkur, Venus, die vom Mond begleitete Erde, Mars, Jupiter, Saturn) um die in der Mitte gelegene Sonne. Die am Umfang abgebildeten Tierkreiszeichen ermöglichen es, festzustellen, in welchen Sternbildern sich die Planeten befinden. Die Ausmaße der Planeten, ihre Entfernungen zueinander und ihre Bewegungen sind mit einer Präzision von einem Millionstel zur Wirklichkeit nachgebildet. Der Kirchenkalender nimmt in der Nacht des 31. Dezembers die Berechnungen vor, anhand welcher das neue Jahr festgelegt wird. Er zeigt sein Jahrhundert an, seinen Platz im Sonnenzyklus (Zeitraum von 28 Jahren, nach denen die Tage auf die gleichen Daten fallen), seine Stellung im Mondzyklus, oder auch goldene Zahl (Zeitraum von 19 Jahren, nach denen die Mondphasen auf die gleichen Tage fallen) und in der römischen Indiktion (Zyklus mit 15 jähriger Periode, der in päpstlichen Dokumenten Anwendung fand), die Sonntagsbuchstaben des Immerwährenden Kalenders, die Epakten (Zahl der Tage, die den letzten Neumond vom 1. Januar trennen) und das Datum des Osterfestes. So viel Zeit wie für diese Beschreibung hatte ich leider nicht zur Besichtigung. Deshalb halte ich hier die großartige Bedeutung dieses Meisterwerkes fest. Über die Malerei, die auch in reichlicher Weise an der Uhr verewigt ist, habe ich noch gar nichts geschrieben, es soll aber auch so genug sein. Ich lasse den Blick ein letztes Mal über diese Meisteruhr gleiten und über die herrlich leuchtenden Glasfenster- es sollen 4600 bunte Scheiben sein! Wir hatten n ur noch wenige Minuten Zeit. Der Bus musste auf die Place Austerlitz ausweichen, ein Stück weiter weg. Es war eine Hatz. Jetzt war Martina dran mit noch ganz weltlichen Wünschen. Sie wollte einen der wunderhübschen Majolika- Gugelhupf- Formen erwerben und konnte sich – wie immer – nicht entscheiden. Dann blieben wir bei einem Trödelhändler hängen, der inzwischen seine Ware am Straßenrand aufgebaut hatte. Es begann gerade der Wochenmarkt. Ein Trödler ist immer eine Versuchung, ein Sprung in die Vergangenheit. Die Gegenstände der Verstorbenen drängen sich in das Leben der Lebenden. Auch wenn man sie nicht erwirbt, erzählen sie ihre Geschichten. Verblichener Glanz leuchtet auf, ein erblindender Spiegel, Bücher, Schmuck, Möbel aller Art, Gewebtes. Übrigens, der Trödel im anderen Land hat ganz andere Geschichten zu erzählen als bei uns. Es fiel schwer, mich von diesem Stand zu trennen. Nun wollten wir noch Schafskäse kaufen, fromage de brebis. Ich Sprachgenie verwechselte das Schaf mit der Ziege und fragte nach fromage de chèvre - und bekam ihn auch. Was soll’s. Er schmeckte genauso gut! © Rolf Bührend, März 2005 Seite 168 Dann mussten wir regelrecht rennen, denn die allerletzten wollten wir auch nicht sein. Ich drehte mich noch einmal um, für einen Moment das in der Morgensonne noch dunkler wirkende Schnitzkunstwerk Haus Kammerzell zu werfen. Der Himmel war schon etwas bewölkt, doch die Sonne dominierte. So fuhren wir denn ab in Richtung Heimat. Die deutsche Grenze erreichten wir bei Kehl, als wir die Rheinbrücke überquerten. Als wir spätabends in Dresden anlangten, hatten wir 4773 km zurückgelegt, davon etwa 3300 km auf französischem Boden. © Rolf Bührend, März 2005 Seite 169 XXXIII. Epilog Diese Reise hat zur Folge, dass ich weitere Reisen nach Frankreich folgen lassen werde. Frankreich ist ein Land mit einer ununterbrochenen eineinhalbtausendjährigen Tradition, wenngleich sich auf seinem Territorium die Fürsten ganz Europas getummelt haben, die Wikinger, die Engländer, Spanier, Italiener, Deutschen, ja selbst die Araber. Im 19. Jahrhundert wollte Napoleon ganz Europa unterjochen. Frankreich trägt in dieser Zeit ungeheure Blutschuld. Dagegen wehrten sich die Völker und vernichteten ihn. Im 20. Jahrhundert wollte Hitler, dass am deutschen Wesen die ganze Welt genesen sollte. Die Völker wehrten sich und vernichteten ihn. Diese Blutschuld klebt an den deutschen Fahnen. Wir sollten daraus lernen und künftig Frieden halten, ein kostbares Gut. Auch dazu soll dieses Buch dienen! Wir unternahmen schon wieder im Frühjahr 2004 mit Eberhardt- Reisen eine Busfahrt in die Provence, besser an die Côte d’Azur mit fünf Übernachtungen in Toulon und einigen Ausflügen nach Nizza, Cannes, St. Tropéz, Cassis, Marseille und Ste-Maries-de-la-Mer und wieder einem Aufenthalt in Avignon. Zurück blieb die Sehnsucht, die Pyrenäen kennen zu lernen, der Wunsch, einmal eine Bootstour auf dem Canal du Midi zu unternehmen, das Périgueux und die Auvergne im Zentralmassiv aufzusuchen. Ich möchte auch gerne noch einmal in die Vogesen, um in Ruhe das Elsaß und auch Lothringen zu bereisen, die Stätten der Weltkriege aufzusuchen. Ich bin nicht abgeneigt, wenn es sich ergibt, noch einmal einen Abstecher nach Paris zu machen. Und ich möchte gern die Normandie und die Bretagne und die Atlantikküste dort sehen. Ich habe im vorliegenden Buch meine Erinnerungen an die Fahrt angereichert mit Abstechern in die verschiedensten Gebiete der Kultur und vor allem in die Geschichte dieses Landes, unser Nachbarland, deren Sprache hier bei uns so Wenige zu lernen versuchen. Ich muss mich dafür entschuldigen, dass nicht alle Passagen in diese Richtungen von mir stammen. Zu Hilfe nahm ich Prospekte, auch einige Informationen und Textstellen aus dem Internet. Ich bemühte vor allem das Bertelsmann- Lexikon für die Erläuterungen von seltenen, unüblichen Begriffen in Fußnoten und den „Petit Larousse“, ein französisches Lexikon, vor allem, wenn es unbekanntere französische Persönlichkeiten betraf. Ich habe mich bemüht, vor allem eigene Fotografien in den Text zu streuen. Nicht immer fand ich aber eine passende eigene Illustration, so dass auch fremde Bilder zum Teil den Inhalt beleben, ich hoffe dass ich damit nicht zu sehr daneben geraten bin. Übrigens gibt es zu dieser Reise drei Fotoalben mit über 600 Bildern, die zu diesem Buch eine sinnvolle und tiefschürfende Ergänzung sein können. Da dieses Buch hauptsächlich für privaten Zweck geschaffen wurde – zu meiner Erinnerung und zur Erbauung Nachgeborener – möge man mir die Verletzung von Autorenrechten hie und da verzeihen. Ich konnte mich nicht entschließen, meine Internet- Recherche über den Deutsch- Französischen Krieg 1870/71 und die Liste der französischen Départements wegzulassen. Das also im Anhang. Ich habe fast nichts über meine Mitreisenden verlauten lassen. Ich muss gestehen, dass ich niemanden gefunden habe, mit dem ich meine Begeisterung, meine Interessen und meine Gefühle teilen konnte. Die Leute sind mir fremd geblieben, einzig Conny hat mir gezeigt, dass sie dieses Land und diese Sprache liebt. Ihr ist herzlich zu danken. Oft hat sie über das Wissen des Baedekers hinaus Details gewusst und kleine Episoden erzählt, die sie wer weiß woher aufgegabelt hatte. Blaise Pascal hat einmal gesagt: „Die Wissenschaft gleicht einer Kugel. Je größer sie wird, desto größer werden ihre Berührungen mit dem Unbekannten.“ Ganz ähnlich ist es beim Reisen: Interesse, Entdecken, Beschäftigung, Vertiefung. Daraus wächst Liebe, Achtung und Verstehen für unsere Mitmenschen, gleich wie sie aussehen, wo sie wohnen, welche Sprache sie sprechen. Lernen wir gemeinsam den Text und die Melodie vom Hohelied der Toleranz. © Rolf Bührend, April 2005 Seite 169