Tour de France 2003 - Inhaltsverzeichnis

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Tour de France 2003 - Inhaltsverzeichnis
Tour de France 2003 - Inhaltsverzeichnis
Prolog
1
I.
Anreise nach Paris
3
II.
Chartres
5
III.
Blois
9
IV.
Chambord
12
V.
Villandry
19
VI.
Azay-le-Rideau
23
VII.
Tours
25
VIII.
Cognac
30
IX.
Bordeaux
34
X.
Das Bordelais
37
XI.
St- Emilion
38
XII.
Am Atlantik – La Dune du Pilat
41
XIII.
Biarritz
43
XIV.
Saint-Jean-de-Luz
46
XV.
Pau
48
XVI.
Lourdes
51
XVII.
Toulouse
60
XVIII. Carcassonne- Les Saintes-Maries-de-la-Mer
68
XIX.
Château de Flaugergues
88
XX.
Die Camargue
91
XXI.
Nîmes
100
XXII.
Pont du Gard
105
XXIII. Avignon- Palais du Papes
106
XXIV. Lyon
111
XXV.
116
Die Abtei Cluny
XXVI. Dijon
130
XXVII. Beaune
138
XXVIII.Clos de Vougeot
143
XXIX. Colmar
145
XXX.
153
Riquevihr
XXXI. Im Elsaß
158
XXXII. Straßburg
160
XXXIII. Epilog
169
Tour de France 2003
Rundreise mit Eberhardt Travel vom 31. August – 13. September 2003
Prolog
O
ft wird man nach der Motivation gefragt: Warum fährst du eigentlich da und da hin?
Das ist eine gute Frage, weil sie Nachdenken auslöst. Wie sind wir eigentlich darauf
gekommen, ausgerechnet nach Frankreich zu fahren?
Meine Antwort ist klar. Vordergründig muss gelten: Wir waren 1996 in Paris, Martina und ich,
planten unsere erste gemeinsame Reise, quasi die Verlobungsreise. Eine Städtereise sollte es
sein. Im Winter nach dem Norden kam nicht in Frage, nach Osten auch nicht. In London,
Amsterdam, Brüssel, Madrid, Rom war ich gewesen. Blieb Paris. Wir hatten nur fünf Tage.
Paris ist aber noch nicht Frankreich, also mussten wir zwangsläufig auch noch eine Reise rings
ums Land oder quer durchs Land unternehmen, um mehr von unserem westlichen Nachbarn
kennen zu lernen.
Hintergründig hat sich schon seit meiner Jugend der Wunsch verankert, einmal selbst Frankreich
zu erleben, unser Nachbarland, das unsere Väter und Großväter als „Erb- Feind“ bekämpft
haben. Meine ersten Sympathien für dieses Land vererbte Kurt Tucholsky auf mich. Seine
Faszination von der französischen Lebensart, den ganz unterschiedlichen Landschaften, der
hohen Kultur und der einheitlichen Geschichte des Frankenreiches, die der über die Mitte
Europas wabernden Völkergemische und rivalisierenden Kleinstaaten Germaniens so unähnlich
ist, hat sich auch auf mich übertragen. Hinzu kommt, dass ich in den 70er Jahren schon den
Versuch begann, Französisch zu lernen und jetzt dies wieder seit drei Jahren weiterführe, das
Begehren, mich zu beweisen und ein wenig auf eigenen Füßen Begegnungen herbeizuführen.
Das Reiseprogramm reizte mich. Es versprach ganz unterschiedliche Berührungspunkte und
Orte, die alle einen Platz auf meiner imaginären Liste einnahmen.
Wir sollten nach Chartres kommen, Schlösser der Loire besichtigen, in Biarritz baden gehen, in
Lourdes pilgern, auf die höchste europäische Düne klettern, in der Haute Médoc Weine
verkosten und in Cognac Kognac; in Nîmes den Pont du Gard, in der Camargue die weißen
Pferde und schwarzen Stiere, Bordeaux, Pau, Tours, Lyon, Dijon, Beaune, Colmar und Straßburg
sehen …Und das alles in 14 Tagen! Wie reizvoll, wie spannend, aber welch ein
Riesenprogramm! Anstrengend wird es werden, nur aus dem Koffer zu leben, jeden Abend ein
anderes Hotel zu beziehen. 14 Tage kein Eingewöhnen, doch das ist der Preis.
Ein Querschnitt nur, besser ein kleiner Einblick ins Nachbarland wird es sein, ein Anfang.
Nun hängt uns noch eine Kette mit Kugel am Bein, 50 Mitreisende und der Bus! Natürlich sind
sie alle alt, die Mitfahrenden, über fünfzig bis kurz vor dem Schlaganfall, das Klientel der
Rentner. Viele leben noch, sind aber trotzdem schon tot. Ich meine die, welche aus der ersten
Autobahnraststätte stolz mit der neuesten Bildzeitung bewaffnet hervorkommen – sie ist ja eine
scharfe Waffe! – wenngleich sie oft nach hinten losgeht und unterhalb des Gürtels benutzt wird.
Die stumpfsinnige Herde der Mitreisenden vor uns zu haben und dann selbst Hinterbänkler zu
sein – wir saßen auf der vorletzten Reihe hinten links, das waren die ständigen Beschwerden, die
ich spürte. Ich fand während der ganzen Tour keine Gleichgesinnten. Hatte ich mich schon so
weit von den Menschen entfernt? Wo bleibt die junge Generation?
Es gibt noch etwas voraus zu schicken. Die Massenmedien beschäftigten sich gerade sehr
intensiv mit Frankreich und drängten mir sozusagen das erste Nachdenken über die moderne
französische Gesellschaft auf. Der Sommer, speziell der August 2003 war unmenschlich heiß,
vor allem in den westeuropäischen Ländern. In den letzten Augusttagen gingen täglich
Rekordmeldungen über Spitzentemperaturen durch die Presse. Hitze und Trockenheit.
© Rolf Bührend, Winter 2005
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Mitte August kommt es speziell in Paris, aber auch in anderen Großstädten Frankreichs, bei
Temperaturen bis zu 42°C zu einem Massensterben betagter Menschen; es gibt zwei- bis dreimal
mehr Verstorbene als üblich. Man spricht von mehr als 11500 Hitzetoten innerhalb ganz weniger
Tage. Es sind meist alte, einsame Menschen, in Paris, in Frankreich, und über dem ganzen Land
liegt ein Schatten von Scham, Bestürzung und Hilflosigkeit. Wie kam es dazu?
Der Albtraum für die französischen Bestatter kam innerhalb weniger Stunden. Plötzlich war
jeder von ihnen mit Hunderten Toten konfrontiert, und die Thanatologen1 kamen nicht nach. So
lagerten Hunderte von Leichen in Kühlwagen, die zu provisorischen Leichenhallen
umfunktioniert wurden. Viele Familien mussten mit dem langsam verwesenden Körper ihres
Verstorbenen tagelang in der Wohnung leben, weil der Leichnam nicht abgeholt wurde.
Die Unbeschwertheit der modernen Spaßgesellschaft hatte üble Folgen: Ausgegrenzt, allein
gelassen, von ihren Familien beinahe vergessen, sind während der großen Ferien Tausende Alte
in Frankreichs Metropolen lautlos gestorben. Die Hospitäler fuhren wegen der vor drei Jahren
verankerten 35- Stunden- Woche und - weil die Franzosen traditionell alle auf einmal in den
Urlaub fahren - in Notbesetzung. Der Notstand brach aus.
Dem stolzen Land macht plötzlich die Tatsache zu schaffen, dass sich für viele Tote niemand
wirklich interessiert. So suchen Spezialisten der Pariser Sozialämter die Angehörigen von 400
Pariser Toten, deren Angehörigen sich im Urlaub amüsieren oder die – zu Hause angekommen –
nicht bemerken, dass einer ihrer Angehörigen tot ist.
Dann gibt es über tausend Tote, deren Angehörige den Fall nicht melden, weil sie sich schämen,
dass sie es zu spät gemerkt haben oder – noch brutaler – die 2500 € für die Beerdigung nicht
bezahlen wollen. Viele, die im Urlaub nicht erreicht werden konnten, erfahren bei ihrer
Rückkehr, dass ihre Oma anonym in einem Massengrab beerdigt wurde, ohne letzten Gruß, ohne
Angehörige, auf dem Areal 58 des Pariser Vorstadt- Friedhofes Thiais, 20 km außerhalb der
Stadt.
In Paris wohnen eine halbe Million Menschen über 65 Jahre, vorwiegend mehr oder weniger
hilflos in den billigeren Dachwohnungen, wo bei diesen Hitzewerten jegliche Kühlung
unmöglich war.
Pariser Politiker kamen erst aus dem klimatisierten Urlaub zurück, als ein großer Teil des
Großhandelszentrums Rungis, Umschlagplatz für frische Lebensmittel, zu einer riesigen
Leichenhalle umfunktioniert wurde. Das lässt tief blicken.
Alles das beschäftigte die Medien und natürlich auch mich im Vorfeld unserer Reise. Frankreich
ist also nicht nur das Traumland mit all den Sehenswürdigkeiten und dem großen Kulturerbe. Es
hat zwar noch die Einheit einer in sich geschlossenen Sprache. Aber die moderne französische
Gesellschaft ist gespalten und zerrissen. Sie hat alle Probleme der heutigen Mischgesellschaften,
was die nationalen und religiösen Herkünfte angeht. Millionen islamisch geprägter Menschen
aus den französischen Kolonien, aus Algerien, Marokko und Übersee haben ihre Kultur
mitgebracht und sich mit ihr im christlichen, katholisch- evangelischen Frankreich integriert.
Dazu kommt noch, dass arm und reich auch wie bei uns immer weiter auseinander klaffen.
Davor will ich den Blick nicht verschließen. Letzten Endes wird mir während der Reise nicht
viel davon vor Augen kommen. Sie wird so vorbereitet, dass dem Touristen die
Schokoladenseite gezeigt wird. Schließlich will Otto Normalverbraucher aus Ostdeutschland die
1
Thanatos, griechischer Todesgott, Bruder des Hypnos (Schlaf), Sohn der Nyx (Nacht). Thanatologie: Die
Wissenschaft von den Umständen und Ursachen des Todes Thanatologen sorgen für die Konservierung und das
Schminken der Leichen
© Rolf Bührend, Winter 2005
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Fahrt genießen und keine Problemstudie von gesellschaftlichen Missständen erleben, die er ganz
gut auch zu Hause sehen kann. Und so heißt denn auch die Reise programmatisch:
„Tour de France – Erlebnisreise für Genießer“
Ich muss noch ergänzen, dass ich natürlich diesen Bericht viel mehr bebildern könnte. Aber es
gibt drei riesige Fotoalben dazu mit 600 aus mehr als 1500 Bildern, die ich mitbrachte und vielen
Stadtplänen und Prospekten. Es ist sicher reizvoll, neben dieser Reisebeschreibung auch diese
anzuschauen! So habe ich Textergänzungen im Bild gesucht, die zum besseren Verständnis der
französischen Geschichte dienen.
I. Anreise nach Paris
Sonntag, 31.8.2003
as Taxi holt uns 5.40 Uhr ab und bringt uns zum Dresdener Flughafen, dem
Busstartplatz des Reisebüros. Ehe alle an Bord des Eberhardt- Reisebusses sind, ist
Sachsen durchfahren und längst das Vogtland erreicht. Auf der Fahrt über die
Autobahnen A4- A9- A6 erreichen wir über Nürnberg den mir weitgehend unbekannten Westen
Deutschlands. Man muss die Strecke geduldig hinter sich bringen. Heute Abend werden wir in
Paris sein! Was blieb in der Erinnerung hängen?
Die Überquerung des Rhein- Main- Donau- Kanals, Fehlinvestition von mehreren Milliarden
DM, reines Beschäftigungsprogramm? Immerhin eine Wasserstraße, die die Nordsee mit dem
Schwarzen Meer verbindet. Letzte Rast in Old- Germany in Saarbrücken. Schilder weisen schon
nach Frankreich. Wir wittern die Grenze. Nun kommt Neuland für mich. Und doch kenne ich es
schon!
Unterwegs durchqueren wir die Lorraine, das ehemalige
deutsche Lothringen. Wir kommen auf einer Umfahrung
vorbei an Metz, ihrer Hauptstadt. Schon in der Römerzeit
war es als Dividorum das Zentrum des östlichen Galliens.
Dann nach einiger Fahrt durch den schönen Sonnentag
erreichen wir das Weichbild von Verdun. Rechts und
links liegen die Schlachtfelder und Soldatenfriedhöfe des
ersten und zweiten Weltkrieges, auf denen französische
und deutsche Soldaten den Opferzoll von 800 000
Gefallenen, Verwundeten, Vermissten und Gefangenen
brachten. Wofür? Für wen? Hier verweile ich in
Gedanken. Viel habe ich gelesen über diesen heiß
umkämpften Platz, um Verdun, bei Arnold Zweig,
Das Beinhaus von Douaumont
Ludwig Renn, Henri Barbusse, Erich-Maria Remarque
und anderen.
Besonders schlimm waren die Verluste bei den Kämpfen um das Fort de Douaumont. Dies war
das am stärksten bewaffnete Fort der Region. Im Herzen des Schlachtfeldes, auf einem
verwüsteten Abschnitt, auf einem Stück Land, das zu einer riesigen Grabstätte geworden ist, die
noch heute die Narben des Krieges trägt, wurde von 1920 bis 1932 auf Initiative Seiner Eminenz
Monseigneur Ginisty, Bischof von Verdun, das Ossuaire2 de Douaumont errichtet. Hier liegen
die Gebeine von 130 000 nicht identifizierten Soldaten.
D
843 wurde in Verdun das Fränkische Reich Karls des Großen in Frankreich, Lothringen und
Deutschland aufgeteilt. Verdun kam zunächst zu Lothringen, dann 870 zu Ostfranken und damit
später als freie Reichsstadt Virten zum alten Deutschen Reich. Der französische König Heinrich
II. besetzte es 1552. Nach dem Dreißigjährigen Krieg 1648 fiel es endgültig an Frankreich. Von
da an wurde es systematisch als Festung ausgebaut, unter anderem auch vom Festungsbaumeister
2
Ossuaire, frz. Beinhaus, Gefallenenengedenkstätte
© Rolf Bührend, Winter 2005
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Ludwig XIV., Vauban3. In der Schlacht um Verdun 1916 widerstand sie als Eckpfeiler der
französischen Ostfront den deutschen Angriffen. Ich möchte einmal eine gesonderte Reise
dorthin machen. Das beschäftigt mich schon lange.
Wir sind in der Champagne. Was wird wohl interessanter sein als über dieses Weinland zu
sinnieren, in dem der Champagner, diese edle Getränk „geboren“ wurde. Weit gedehnt
erstrecken sich die grünen Weinfelder mit den reifenden Reben. Nur hier darf sich der erzeugte
Schaumwein Champagner nennen!
Mein Herz schlug höher, als wir durch die große Stadt Reims fuhren. Für einen kurzen Moment
erblickten wir die majestätisch in die Höhe ragende Kathedrale von Reims, die zum
Weltkulturerbe der UNESCO zählt. Die Autobahn führt hier direkt durch die Stadt und wird ein
kurzes Stück vom Canal de l’Aisne begleitet. Das Kirchenbauwerk, eine der bedeutendsten
gotischen Kathedralen der christlichen Welt, leuchte kurz auf in der Mittagssonne, dann ist es
verschwunden. Wann werde ich da mal hinkommen?
Irgendwann nach endlosen Kilometern in der flachen, vielfach leicht hügeligen Landschaft der
Region Champagne- Ardenne überqueren wir die Marne.
Wieder denke ich an den ersten Weltkrieg. Hier an der Marne wandelte sich der von den
Deutschen geführte Bewegungskrieg zum Stellungskrieg. Der berühmte Schlieffenplan,
Frankreich mit einer riesigen Zangenbewegung über Belgien zu überrollen, ging nicht auf.
Hier südlich der Marne, genau wo wir jetzt
durchfahren, passierte einst das, was die
französischen Schulkinder als „Das
Wunder an der Marne“ lernen. Zwischen
dem 15. August und dem 10. September
1914 hatte die französische Armee 250 000
Soldaten eingebüßt. Der Krieg schien
verloren. Frankreich war bis zur Marne
besetzt. Drei deutsche Armeen bewegten
sich auf Paris zu. Die Regierung setzte sich
nach Bordeaux ab, Stadtkommandant
Gallieni bereitete die Sprengung des
Eiffelturmes und der Seinebrücken vor. Da
geschah das „Wunder“. Ein Opfer ihres
eigenen schnellen Vorstoßes, hatten die
Deutschen zwischen der 1. deutschen
Armee unter General von Kluck und der 2.
deutschen Armee unter General von Bülow
eine gefährliche Bresche von 40 km Breite
entstehen lassen. Franzosen und Briten
konnten ungehindert in die eher zufällig
entdeckte Lücke hineinstoßen. In fünf
schrecklichen Kampftagen wendeten die
Franzosen die Lage. Aus dem deutschen Hauptquartier kam der Befehl zum Rückzug, um die
zerrissene Front zu stabilisieren. Schlieffens Plan war gescheitert. Die Heere bissen sich
ineinander fest- für vier Jahre! Am Ende des Krieges hatten hier 1,3 Millionen Franzosen und
über 2 Millionen Deutsche den Tod gefunden.
3
Vauban, Sébastien le Prestre de, französischer Volkswirtschaftler und Festungsbaumeister, * 1. 5. 1633 St.-Légerde-Fougeret (nach ihm später St.-Léger-Vauban), Département Yonne, † 30. 3. 1707 Paris; zahlreiche Festungen,
u. a. Metz, Verdun und Straßburg.
© Rolf Bührend, Winter 2005
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Vom zweiten Weltkrieg, in dem Hitler die Uhr zurückdrehen wollte, passierte in dieser
Landschaft wiederum das grausige Hin und Her der Kriegsfurie. Ich erinnere nur an die letzten
Zuckungen der deutschen Eroberer in der Ardennen- Offensive im Herbst 1944…
Ich habe zu Hause den persönlichen Erlebnisbericht eines deutschen Offiziers in englischer
Sprache - jetzt ist er ein alter Mann - der aus seiner Sicht von diesen sinnlosen Versuchen der
Generale Hitlers eindringlich berichtet, wie er in den Ardennen in amerikanische Gefangenschaft
gerät und das unsinnige Ende vieler junger Menschen miterlebt.
Heute, 90 Jahre später, rolle ich mit vergnügten Reisenden in dieses Land und durch diese
Landschaft, und die wenigsten machen sich klar, was für ein Wahnsinn hier stattgefunden hat.
Die meisten Älteren haben es verdrängt, sich nicht damit befasst; es interessiert sie nicht.
Bald wird uns rechts die Silhouette von Disneyland gezeigt. Eurodisney liegt im Großraum Paris.
Es gibt Auslastungsprobleme. Hohe Preise verprellen zunehmend das Publikum, das ja auf
Familien mit Kindern ausgerichtet ist. Ich muss da nicht hin.
In mir kribbelt es in anderer Hinsicht: Bald werden wir in Paris sein. Doch uns wird ein Zahn
gezogen, eigentlich wussten wir es schon: Wir werden in einer der fünf neuen Städte
übernachten, die im so genannten Speckgürtel liegen, aber weit weg vom Stadtzentrum von
Paris. Wir verlassen die Autobahn, biegen nach Süden ab.
Nach einer ewig langen Fahrt erreichen wir nach 1096 km Fahrt in der Dämmerung den Ort
Evry bei Paris. Flache Häuser, neu angelegte Straßen, architektonische Langeweile einer
Schlafstadt mit einigen Gewerbegebieten. Immerhin ist Evry Verwaltungssitz des Departements
Essonne und hat 46 000 Einwohner.
Im hübschen Hotel „Le Flamboyant4“ erhalten wir im beheizten Zelt am Pool ein zufrieden
stellendes Menü: 1. Gang: Fischpastete, 2. Gang: Nudeln mit Schweinegulasch, 3. Gang:
Milchreis mit Pfirsichkompott. Dann beziehen wir unser enges Zimmer, ungewohnte Handgriffe,
Weckerstellen. Ich schalte noch den Fernseher an: Außer den verhassten deutschen
Privatsendern, die mir gestohlen bleiben können, eine Menge unbekannte französische
Programme. Weiche, nasale, wohltönend klingende französische Laute. Ich verstehe kein Wort.
Im Dunkeln sehen wir unten einen gepflasterten Hof mit dem kleinen Schwimmbecken. Vom
Ort ist nichts zu sehen. Duschen. Dann strecken wir die von der Fahrt noch krummen und
schmerzenden Glieder aus.
II. Chartres
Montag, 1. September 2003
m Morgen erste Versuche mit ein paar französischen Brocken an der Rezeption. Sie
werden mit strahlendem Lächeln quittiert, das Mut macht. Kofferschleppen zum Bus.
Check. Wir starten 8 Uhr. Fahrt durch den Großraum Paris. Viel von d e m Paris ist
nicht zu sehen. Gewerbegebiete, Keime für Neuansiedlung von Arbeitskräften, üppiger
morgendlicher Straßenverkehr, nichts Aufregendes.
Wir überqueren die Seine. Hafenanlagen. Überraschend viel Grün. Kleine Staus: Alles strömt in
die Innenstadt zur Arbeit, abends in Gegenrichtung in die Schlafstädte. Wir lernen: Frankreich
hat 22 Régions, die in 96 Départements aufgeteilt sind. Diese sind durchnummeriert. Diese
Nummer bildet die beiden ersten Ziffern der Postleitzahl und die beiden letzten jedes KfzKennzeichens. Paris hat die 75.
Es ist dicht bewölkt. Ab und zu peitscht ein Regenschauer an die Busscheiben. Draußen sind
etwa +10°C. Das Wetter ist unfreundlich und wenig einladend für Urlauber.
Doch ein wenig Sonne lugt zwischen schweren Wolken hervor, als wir in das Städtchen Chartres
einfahren. Der kleine Ort wirkt verschlafen. Ich besinne mich. Es ist Montag. Die Leute sind auf
ihrer Arbeit.
A
4
flamboyant, frz. funkelnd, blitzend, leuchtend
© Rolf Bührend, Winter 2005
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Das erste Ziel ist natürlich die Kathedrale. Wir werden auf eigene Füße gestellt. Treff 11 Uhr am
Busplatz.
Vorher nimmt uns unsere Reiseleiterin, die immer lächelnde, junge, wenn auch nicht ganz
schlanke Conny, angesichts der Kathedrale noch einmal zusammen und hält uns einen Vortrag:
Chartres ist Hauptstadt im Departement Eure-et-Loire in der Region Centre. Die vorwiegend
ebene, fruchtbare Landschaft zwischen Paris und Orleans heißt die Beauce. Chartres ist eine alte
Römerstadt, seit dem 4. Jahrhundert Bischofssitz und seit 800 ein berühmter Wallfahrtsort und
erstrebtes Pilgerziel: 876 schenkte Karl der Kahle der Kathedrale das Gewand oder ein Schleier
der heiligen Jungfrau aus dem Reliquienschatz Karls des Großen.
Früher war sie die Hauptstadt der Grafschaft, seit 1528 des Herzogtums Chartrain, die seit 1623
dem Hause Orléans als Apanage5 gehörte.
Conny erzählte, dass ein Fluch über der Baugeschichte hängen soll. Mitte des 9. Jahrhunderts
schlugen die Wikinger hier alles kurz und klein. Der Ort wurde vom Feuer geplagt und vieles
brannte ab. 1134 wird die Fassade vom Brand zerstört. Zwischen 1140 und 1160 werden der
Glockenturm, das Königsportal und die südliche Kirchenspitze aufgebaut. 1194, am 10. Juni,
wird nochmals Feuer ausbrechen und die Kirche zerstören. Danach wird von den Gläubigen in
unbändigem Aufbauwillen nach dem Gründungsjahr 1195 das Gotteshaus wieder aufgebaut, bis
1260 die Kathedrale geweiht werden konnte. 1589 wurde Heinrich IV. hier gekrönt. Damit
wurde Chartres zum Zentrum der katholischen Christenheit.
Conny erzählte weiter von den Steinmetzen in den Bauhütten, die sommers 12 Stunden, winters
8 Stunden arbeiten mussten. Zwischen 1050 und 1350 wurden in Frankreich 80 große
Kathedralen, 500 Pfarrkirchen und über 10000 Dorfkirchen errichtet. Die Bautätigkeit war
produktiv und effektiv. Künstler kamen aus ganz Europa. Man benutzte die in Schriften
überlieferte Technik der Römer, Laufrad, Hebewinden, Seilrollen. Das Material war der leicht
bearbeitbare Kalkstein, der im Loiretal vorkommende Tuffstein und Toulouser Backstein.
Die Hauptfassade im Westen wurde seltsamerweise von allen weiteren Feuern verschont. An ihr
kann man alle Stilepochen der Kunstgeschichte ablesen, von der Romanik über die Früh- bis zur
Hochgotik. Sie ist ein architektonisches Juwel, ein Weltwunder, kann man getrost erhöhen.
Als ich davor stand, spürte ich das Verlustgefühl, dass ich dieses Kunstwerk nicht erfahren,
erleben, erfassen kann, einfach weil die Zeit fehlte, weil es wieder zu regnen anfing, weil es an
notwendiger Erklärung fehlte, war ich stark beeindruckt. Es war der erste starke Impuls auf
mich, der von diesem Bauwerk ausging, als ich unmittelbar davor stand. Vorher hatte ich ja
versucht, es als Ganzes aus der Entfernung auf die Linse zu bannen. Touristen sind zur
Oberflächlichkeit verdammt.
Die große Rosette über den zwei Dreierbögen des westlichen Königsportales misst 12,8 Meter
im Durchmesser. Dahinter verbergen sich die westlichen Glasfenster. Man muss sie von innen
betrachten!
Im leichten Nieselregen trete ich hinter das Eingangsgitter, stehe vor den drei Portalen der
Westfassade. In schlichtem romanischem Stil zieren Personen des Alten Testamentes in
Lebensgröße ihre Flanken. Über dem Sturz des Haupteinganges finden sich die 12 Apostel. Ich
kann nur durch Zählen auf die Inhalte kommen. Vielfach fehlt mir das Wissen. Im Tympanon
der sitzende Christus, umgeben von den Symbolen der vier Evangelisten.
Die Zeit drängt. Wir müssen hineingehen. Düsteres Halbdunkel umgibt uns jetzt. Draußen ist es
trübe. So fällt auch nur wenig Tageslicht durch die herrlichen Glasfenster in den hohen
Kirchenraum. Es ist das Wertvollste, das die Kathedrale an Schmuck zu bieten hat, die über 2000
m2 farbigen Bleiglasfenster, die größte Buntglasfläche in Kirchen überhaupt. Sie alle erzählen
biblische Geschichten. Sie wurden aufgemalt, ausgeschnitten, aufgelegt, mit Zinkoxidfarben
5
Apanage, die; franz., Unterhalt für nicht regierende Mitglieder der Herrscherfamilie.
© Rolf Bührend, Winter 2005
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gebrannt und mit Blei verbunden. 172 Fenster. Acht davon wurden im 18. Jahrhundert durch
Domherren und vier durch Revolutionäre zerstört. Ein riesiges Kunstwerk.
Auch hier wieder: Warum hat man nicht die Geduld, die Zeit und den Trieb, sich alles in Ruhe
und Gelassenheit anzuschauen? Hingeschaut, klick ins Gehirn. Dieses schaltet auf Ablage in eine
temporäre Datei. (Wird beim nächsten Speichervorgang gelöscht.) Warum? Ich kaufe mir
immer, sehr zum Leidwesen Martinas, ein illustriertes Heft, um zu Hause in Ruhe wenigstens die
Bilder zu haben. Leider häufen sich diese Hefte. Der Platz dafür ist knapp.
Kirchenrundgang mit der inneren Spannung: Du musst noch alles andere sehen! Warum auch
dieses? Genügt es nicht, zum Beispiel mal eine Sache gründlich, dafür einige andere gar nicht zu
sehen? Nein. Ich kann mich noch nicht frei machen von den so genannten Kunstexperten, die
dann abends fragen: „Haben Sie diesen wunderbaren Heiligen Georg gesehen mit dem
weltberühmten stintfarbigen Achat?“ „Heiligen Georg?“ Ja, davor fürchte ich mich noch.
Plötzlich huscht ein mitleidiger Zug um die Mundwinkel des Kunstfreundes. Er bedauert dich.
‚Du armes Würstchen! Du Einfaltspinsel! Du Kunstbanause!’ wird er denken. Und er sagt:
„Schade, Sie haben das Größte verpasst! Er ist einzigartig! Deshalb bin ich zum Beispiel extra
hierher gekommen!“
Also rennt man, möchte alles sehen, nichts verpassen und – sieht nichts.
Also schaue ich. Das 800 Jahre alte Fenster Notre-Dame-de-la-Belle-Verrière6. Beeindruckend
schon für den Kunstfreund, den Techniker. Wie muss es aber den gläubigen Menschen bewegen,
wenn hier die Gottesmutter, von der Sonne lichtblau durchhellt, den Jesusknaben im schützenden
Schoß, auf ihn gnädig herabschaut?
Im nördlichen Ostchor thront auf einer Säule, für mich überraschend und ungewöhnlich, Notre
Dame du Pilier7. Auf einem schlichten Marmorzylinder erhebt sie sich, von reich verziertem
Kapitell unterstützt, eine gekrönte Frauenstatue mit gekröntem Jesusknaben in dem einen, im
anderen Arm Zepter und Reichsapfel, eingehüllt in ein Gewand aus Goldbrokat mit silbern
schimmernden Fransen. So vereint sie weltliche und religiöse Macht. Über ihr schweben in einer
muschelförmigen Nische mehrere Bogenreihen von tropfenden Herzen. Ein halbes Dutzend rot
leuchtender Ampel hängen herab und verbreiten magisches Licht, das die Kannelierung der
Säulen in der Nische matt und seidig glänzen lässt. Katholische Frömmigkeit.
Überall brennen die Kerzen, die die katholischen Gläubigen und Touristen anzünden. Es riecht
nach verbranntem Stearin und Weihrauch. Der Hauptaltar mit Mariä Himmelfahrt zeigt eine
Gruppe des Künstlers Bridan. Die Experten wollen wissen, dass das 18. Jahrhundert nicht in der
Lage war, Chartres zu verstehen. Mit seinem schwülstigen Manierismus trifft das Werk nicht den
gottesfürchtigen Charakter des Heiligtums. Ich kann das nicht finden. Es passt nur irgendwie
nicht hier hinein. Das sehe ich nun auch.
Der innere Altarraum wird eingefriedet von einem Chorumgang, der mit Stein- Reliefs aus dem
16. Jahrhundert geschmückt ist. Es sind die Reste eines Lettners aus dem 13. Jahrhundert, der bis
zum 18. Jahrhundert den Zutritt zum Chor kennzeichnete. Um den Chor herum finden sich
wunderbare, in Stein gemeißelte Szenen, die Taufe Christi, Jesu Versuchung, eine Frau aus
Kanaan, die um Heilung ihrer Tochter fleht. Ich fotografiere einige Bilder. Sie sind von inniger
und lebendiger Aussagekraft.
Den Gang in die Krypta ersparen wir uns. Ich gestehe, auch das herrliche Nordportal nicht
geschaut zu haben. Der Blick durch die Rosette und die blau- violett schimmernden hohen
Fenster von innen muss genügen. Wir müssen 11.30 Uhr wieder am Bus sein und wollen noch in
die Altstadt. Ich bin im Nachhinein froh über diese Entscheidung, denn wir hätten die schöne
Altstadt von Chartres nicht gesehen. Das wäre wahrlich ein Verlust gewesen.
6
7
Notre-Dame-de-la-Belle-Verrière, heißt so viel wie Unsere liebe Frau zum Schönen Kirchenfenster
Notre Dame du Pilier, Unsere Frau auf der Säule
© Rolf Bührend, Winter 2005
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Ein kleines Heftchen führt uns. Ein roter Strich weist uns den kürzesten Rundgang mit den
wesentlichen Sichterlebnissen. Durch die Altstadt von Chartres fließt die Eure, teilt sich in der
Altstadt in drei Arme und vereint sich dahinter wieder. Sie ist ein linker Nebenfluss der Seine,
225 km lang. Die Quartiere der Basse Ville, der Unterstadt, sind um die drei Wasserläufe
angeordnet, die Eure, der Große Bouillon und der Kleine Bouillon, welche vielleicht ein altes
keltisches Grabensystem bilden. Im Mittelalter wurde es von Handwerkern der
Textilverarbeitung bewohnt. Das zeigen noch die Namen der Gassen und Sträßchen (Corroierie=
Lederverarbeitung, Foulerie= Walken, Moulin-à-Tan= Mühle, Tannerie= Gerberei…).
Ich lese es von einem Schild „Histoire de la Cité“ ab. Seit 1970 gibt es ein Projekt zur
Bewahrung und Erneuerung der alten Handwerkerquartiere. So gibt es noch in der Rue de la
Tannerie das älteste erhaltene Atelier für Kirchenfenster in Chartres.
Dieser Gang führt von der Kathedrale ständig über enge, dunkle, verwinkelte Treppen, kleine
Plätze, alte Steinbrücken über einen der Wasserläufe, an Geländern am Wasser über antikes
Kopfsteinpflaster, vorbei an alten Häusern. Er bietet an jeder Biegung, an jeder Ecke idyllische
Blicke auf das still fließende Wasser, in dem sich Trauerweiden, Buchen und Eichen spiegeln.
Wir sehen die Steinplatten der alten Waschplätze der Lederer und Gerber.
Selbst wenn die Kathedrale zum Ruhme Chartres ausreicht, sollte man doch nicht das ganze
Patrimonium8 an Kirchen, Abteien und alten Wohnsitzen vergessen. Denn um die Kathedrale
herum drängen sich Gebäude aus mehreren Jahrhunderten, das Marienkloster, der Weinkeller
von Loëns mit dem Speicher, heute internationales Zentrum der Glasmalerei, die an den alten
Befestigungswall angelehnte Renaissance- Kirche St. Aignan, die Benediktiner- Abtei St. Pierre,
die Krypta St-Martin du Val, von der einige Teile ins 4. Jahrhundert reichen, die alten Häuser
des „Salms“, des „spinnenden Schweins“, der „alten Konsuln“, die herrschaftlichen Wohnsitze
von La Caige, von Claude Huvé, einem Arzt in Chartres im 16. Jahrhundert…
Wo wir uns aber auch in Chartres befinden mochten, wir entdeckten die Kathedrale immer
wieder aus neuem Blickwinkel. Von der Brücke Bouju überragt sie eines der Stadtviertel, wo
früher die Handwerker wohnten: Lohgerber, Rauchwaren- Zurichter, Kürschner, Weber,
Wollewäscher. Sie alle kann man auf den Kirchenfenstern von Notre Dame wieder finden. Ohne
Zweifel würden sie auch heute noch die Giebel und das Fachwerk ihrer Häuser wieder erkennen.
Bald stehen wir am Hause der „Alten Konsuln“. Es wird in seiner Breitseite durchdrungen von
einem hölzernen Treppentürmchen, das gar nicht zum Stile des Hauses passt: Die Treppe der
Königin Berthe. Es befindet sich an der Kreuzung der Straßen du Bourg und des Ecuyers.
Die Bezeichnung besteht in einem Zusammenhang mit einem Aufenthalt vier Jahrhunderte
vorher, als diese jetzt zu sehende Haus gebaut wurde, mit Berthe, Witwe des Herzogs Alain de
Bretagne, die etwa 1069 hier in einem Haus gewohnt haben könnte, das vielleicht an dieser
Stelle stand. Die Fensterkreuze des Treppentürmchens zeigen wunderbare Schnitzereien.
Fachwerk, stille alte Gassen, verträumte Winkel, ich wünschte mir hier länger zu sein.
Ich fotografiere einen Briefträger bei seiner Arbeit mit langer Linse, ein junger Mann in blauer
Jacke und gelbem Fahrrad. Dann sind wir schon wieder im Bannkreis der Benediktinerkirche,
sehen sie von hinten, ein auch tausendjähriges gotisches Bauwerk mit herrlichen Strebepfeilern,
Maßwerk und vielen Glasfenstern.
Vieles sehen wir nicht, die Picassiette9 zum Beispiel. Da hat ein Friedhofsangestellter, Raymond
Isidore (1900 – 1964) in tief- inniger Gläubigkeit, auch etwas Dauerndes zu hinterlassen, sein
Haus und seinen Garten mit Hunderttausenden bunten Glasscherben und Mosaiksteinen belegt
und gepflastert. Er baute 1928 sein Haus und begann, zunächst ohne besondere Absicht, Glas-,
Porzellan- und Geschirrscherben zu sammeln. Dann bekam er die Idee, sie als Mosaik für die
8
9
Patrimonium, im römischen Recht das väterliche Erbgut; allgemein Vermögen.
Picassiette, umgangsspr. „Tellerklauer“
© Rolf Bührend, Winter 2005
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Ausschmückung seines Hauses zu benutzen. Er begann im Innern, bedeckte dann die
Außenwände und schließlich alle verfügbaren Flächen im Garten (55 x 15 m2). Nach etwa 29000
Arbeitsstunden war er schließlich 1952 fertig. Ich habe nur die Bilder gesehen und schwanke
zwischen lächelnder Herablassung über solchen Kitsch und allerhöchster Hochachtung über die
Frömmigkeit, die Ausdauer, die kindliche Liebe zum Glauben und die Hartnäckigkeit, etwas
Bleibendes der Nachwelt zu hinterlassen. Das Letztere überwiegt am Ende. Mein Lächeln
verfliegt und die Hochachtung bleibt. Das was Isidore hinterlässt ist einzigartig.
III. Blois
W
ir bleiben in der Region Centre (Verwaltungszentrum Orléans), verlassen aber das
Département Eure-et-Loire und fahren nun in den sehr sonnig werdenden Mittag
nach Süden. Die nächstgrößere Stadt ist Châteaudun. Hier gabeln sich die Straßen.
Eine führt direkt über Vendôme nach Tours, unserem Tagesziel, die andere auf niederer
Rangordnung führt nach Blois. Diese schlagen wir ein, sie wird enger, ihre Ortsdurchfahrten
weisen
ländliches
Gepräge.
Aber erst ist einmal Mittagszeit. Wir halten an einer Windmühle bei Oucques. Conny gibt FünfMinuten- Suppen aus oder Bockwürstchen mit Weißbrot. Am Rande eines in der Hitze der
letzten Wochen völlig verbrannten Sonnenblumenfeldes suchen wir ein grünes Plätzchen und
halten Rast in den warmen Strahlen der Sonne, die den trüben Dunst von heute Vormittag
endgültig vertrieben hat.
Ein wenig später. Französische Landschaft gleitet an unserem Busfenster vorbei. Flach ist das
Land hier in der Beauce, Erntesommer, nichts Besonderes.
Wir überqueren die Autobahn A10 und sind nach einer halben Stunde Fahrt in Blois, im Vallée
de la Loire, im Loiretal. Schlösser der Loire, welch verlockendes Reisziel!
Einparken auf einem nüchternen Parkplatz vor einer Kirche. Es stehen schon Busse da, meist
sind wir nicht allein. Die Reiseleiter kennen und begrüßen sich. Sammeln. Langsam wankeln
und bummeln und schaukeln sich die steif gewordenen alten Leute hinüber in den Park, wo uns
die nette Stadtführerin begrüßt, eine kleine drahtige Frau mit kurzem kupferrotem
Jungenhaarschnitt. Sie hört auf den schönen Namen Françoise und spricht ein sehr reines
Deutsch, natürlich mit wunderschönem französischem Akzent gefärbt:
Blois liegt direkt an der Loire, ist Hauptstadt des Départements Loir-et-Cher, hat 51500
Einwohner und ein altes ehrwürdiges Königsschloss, dessen Fassade hier vom Park aus zu sehen
ist. Es gibt hier Agrarhandel, also mit Getreide, Gemüse und Wein, etwas Industrie, Druckereien,
Fremdenverkehr. Das sind wir jetzt. Und eine Kathedrale aus dem 17. Jahrhundert.
Während Françoise sich über den fast venezianisch anmutenden Stil der Fassade des Schlosses
auslässt, fotografiere ich im Park das Denkmal von Augustin Thierry(1796 – 1856). Er war
französischer Geschichtswissenschaftler, hier geboren, und verfasste neben anderem als Autor
„Briefe zur Geschichte Frankreichs“. Dann gehen wir eine kleine ansteigende Gasse hinauf und
stehen vor dem Eingangsflügel des Königsschlosses.
Das Eingangsportal wird gekrönt von einer Reiterstatue Ludwigs XII. (1462 – 1515).
Das ganze Schloss gruppiert sich mit vier Seiten um einen großen Innenhof. Es repräsentiert vier
ganz unterschiedliche Kunststile und Bauepochen.
1. Das älteste Haus, ein Bau im frühgotischen Stil, ist eine mittelalterliche Festung aus dem 13.
Jahrhundert. Es wurde von den Grafen von Blois seit dem 10 Jh. erbaut. Es enthält die
mittelalterliche Halle der Generalstände, die großartigste Frankreichs, der alle Umbauten über
die Zeit nichts anhaben konnten. Eine Säulenreihe mit Spitzbogen und Knospenkapitellen teilt
und stützt einen zweischiffigen Raum. Seinen Namen erhielt er, als Heinrich III. zweimal, 1576
und 1588, die Generalstände des Königreiches hier zusammenrief. Diesen Raum sehen wir aber
als Letzten.
Ich bekomme einen kleinen Rüffel, weil ich aus der Reihe tanze und nur den Apparat vor Augen
habe: „Sie können nachher fotografieren, da haben sie ein wenig frei!“ Ich weiß aber, dass dem
© Rolf Bührend, Winter 2005
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nie so ist und schieße meine Bilder, wenn uns die Dinge erklärt werden. Schlechte Erfahrungen.
Trotzdem höre ich nun wieder aufmerksam zu, denn jetzt lerne ich Neues. Ich muss mich in der
Dynastie der französischen Herrscher zurechtfinden lernen. Hier ist der Stammbaum der Valois
und Bourbonen:
2. Wir verweilen noch vor dem
Eingang zu dem Flügel Ludwigs XII.
Hier finden wir den in Ziegel und
Stein unverkennbar ausgeführt– so
belehrt mich die Führerin – den
Flamboyant10- Stil wieder. Ludwig
XII. hat in den Jahren seiner
Herrschaft (1498 – 1515) keine Mittel
und Mühe gescheut, mehr zu bauen,
doch er brachte es nur zu diesem
Flügel. Heute beherbergt er im ersten
Stock ein Museum für Schöne Künste.
Gleich hier fällt ein Symbol auf, mit
dem sich dieser Ludwig schmückte,
„Le Porc Epic“,
das Stachelschwein mit der Devise
„Cominus et eminus qui pique de près
et de loin.11“
Im Mittelalter hat man es gemacht,
den Mut zu symbolisieren, einmal
offensiv und einmal defensiv zu sein.
Er war ein guter König, wurde „Père
du Peuple“, Vater des Volkes, genannt
und, nachdem ihm seine erste Frau
starb, seit 1499 verheiratet mit Anne
de Bretagne, die ihm die Bretagne ins
Königreich einbrachte.
Schloss Blois und die französischen Könige
Wir gehen durch das Tor hindurch und sehen im Innenhof Gerüste, die für ein großes
Konzertpublikum Sitzplätze und eine Bühne aufbauen.
3. Von hier sehen wir die Vorderseite des jüngeren Flügels König Franz I. (François 1er). Was
wissen wir Deutschen über die Königsgeschlechter Frankreichs, ihre Dynastien, Intrigen, Taten
und Untaten? Ich gestehe, hier klaffte bei mir ein großes Vakuum. So hörte ich genau hin, wenn
unsere nette Führerin sprach, sah die Büsten der verflossenen Herrscher, ihre Portraits, bestaunte
ihre gesammelten Gemälde, auf denen wichtige Ereignisse zu sehen sind, die mir natürlich auch
unbekannt waren. So las ich Schilder an Vitrinen, folgte der erklärenden Führerin, die mir öfter
verloren ging, sah mir Bilder an, vertiefte mich, geriet an den Schwanz der wie immer schnell
die Säle und Räume durcheilenden Schlange der Bildzeitungs- Menschen. Halt, ich will nicht so
gemein sein. Museum ist nicht jedermanns Interesse, was verlange ich da!
10
Flamboyant, [flãbwa'jã; französisch; das], spätgotisches flammenartiges Maßwerk des 15. Jahrhunderts,
vornehmlich in der Kirchenarchitektur Frankreichs und Englands. Flamboyantstil, Bezeichnung für die englische
und französische Spätgotik. In Frankreich wird nach der Flammenform der Fischblase die Spätgotik auch
Flamboyant-Stil genannt.
11
„Cominus…“ frz. etwa: Hin und zurück, das sticht aus der Nähe und von weitem.
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In diesen Flügel gelangten wir über eine doppelt gewendelte wunderschöne RenaissanceTreppe, eine Ehrentreppe, den Wendelstein. Ich muss an Schloss Hartenfels in Torgau denken.
Die Pfeiler und Brüstungen sind reich verziert. Immer wieder fällt das Symbol von Franz I., „La
Salamandre“, der Salamander auf. Dieses Tier widersteht dem Feuer. Es repräsentiert die
Leidenschaft zum Leben und Ruhm und Ehre. Dazu gehörte seine Devise: „Nutrisco et
extinguo.12“ Das dekorative Motiv des feuerspeienden Drachens mit der Krone darüber findet
man häufig in der Architektur der französischen Renaissance.
Franz I., geboren 1494 in Cognac, trat 1515 die Nachfolge seines Onkels Ludwig XII. an, dessen
Tochter Claude er zur Frau nahm. Er führte einen brillanten Hof in den Schlössern in der Île de
France und im Tal der Loire.
Wir sind in der zweiten Etage, im Ratssaal des Flügels Franz I., in den Räumen, in denen ein
Drama im Kampf um die Macht stattgefunden hat, allerdings nach Franz, der schon 1547
verstarb. Heinrich III. (1551 – 1589) kommt 1574 an der Macht. Religionskämpfe toben im
Land. Die Regierung ist bankrott. Es herrscht galoppierende Inflation. Das Schreckgespenst
eines drohenden Bürgerkrieges hält das Volk in Atem. Er ist der letzte aus dem Grafengeschlecht
der Valois, die den König stellen. Er führte mehrere Kriege gegen die protestantischen
Hugenotten. In Erinnerung ist mir der Film über die schreckliche Bartholomäusnacht vom 23.
zum 24. August 1572, als Heinrich von Navarra die Schwester des französischen Königs Charles
IX., (Karl IX., 1550 – 1574), Margarete von Valois heiratet. In dieser Nacht werden alle
hugenottischen Hochzeitsgäste auf Veranlassung der Brautmutter Katharina von Medici von der
fanatisierten Bevölkerung von Paris niedergemetzelt. Es geschehen 2000 Morde in Paris, 30000
in der Provinz…Das geschieht unter dem dritten Heinrich. Und nun zur Mordgeschichte von
Blois: Große Bilder zeigen den Mord an Herzog von Guise, einem Führer der katholischen
Partei, den Heinrich III. am 23.12.1588 in diesem Ratssaal umbringen ließ. Er soll gesagt haben,
indem er den leblosen Körper des Herzogs mit dem Fuß von sich schiebt: „Als Toter ist er noch
größer als im Leben.“ Heute ist man der Auffassung, dass ihm dieser Satz von den
Auftraggebern dieses feigen Mordes untergeschoben worden ist.
Charles Comte: „Heinrich III. und der Herzog von Guise am 22. Dezember 1588 in Blois“
12
„Nutrisco…“ lat. etwa: Ich ernähre es und ich lösche es aus.
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Der Hauch französischer Geschichte weht mich an. In diesem Raum, dem Schlafzimmer des
Königs ist es passiert, vor 415 Jahren. Das Bett mit dem Baldachin, die Wandtapeten mit der
Königslilie, die Holzbalkendecke sind identisch mit dem Interieur auf dem Bild…
Heinrich III. wird 1589 selbst ermordet. Sein Nachfolger Heinrich IV. von Navarra gründet das
Königsgeschlecht der Bourbonen, deren Nachkommen noch heute Thronansprüche in Frankreich
anmelden.
4. Dem Ludwigsflügel gegenüber liegt der Flügel des Gaston von Orléans. Er umfasst einen
Hauptteil, der leicht vorspringt, außen flankiert von zwei Pavillons. Sie sind durch einen
halbrunden Säulengang verbunden. Die Außenfassade zeigt klassische Säulenelemente: im
Erdgeschoss dorische Säulen, im ersten Stock ionische und im dritten Stock korinthische. Wir
betreten nur kurz das lichterfüllte großräumige Treppenhaus und sind schon ganz gesättigt von
all der wunderbaren Architektur.
Der Bau, ganz im Stil des französischen Klassizismus, stammt aus dem 17. Jahrhundert,
geschaffen von dem berühmten Architekten François Mansart, dessen Urenkel Jules HardouinMansart einmal das Schloss von Versailles bauen sollte. Leider wird er nie fertig, denn Gaston
von Orléans, der Bruder Ludwig XIII., gehen die Geldmittel aus. Gaston, der ehrgeizige jüngere
Bruder des Königs Ludwigs XIII. wird auf Betreiben Richelieus –wir erinnern uns seiner - 1634
hierher nach Blois verbannt. Er ließ nun vier Jahre emsig bauen. Doch 1638 wurde er von dem
Dauphin13, dem späteren Ludwig XIV. von der Thronfolge ausgeschlossen. Damit verlor er das
Interesse an Blois und wandte sich dem Schloss von Chambord zu.
IV. Chambord
G
enau 15.40 Uhr entführt uns der Bus von Blois. Wir fahren über die Loire- Brücke
hinüber in den anderen Teil der Stadt und bewundern die über dem Ufer aufsteigende
stolze Silhouette des Schlossberges. Die Loire ist fast ausgetrocknet. Sie hat einen
seltenen Tiefstand, kein Wunder nach dieser Hitze. Sandbänke, umgeben von Rinnsalen und
Lachen, kleine grüne Inseln hat die Trockenheit freigelegt. Manche Brückenpfeiler stehen auf
dem Trockenen. Das Gras ist braun.
Dann passieren wir die Einfahrt in ein riesiges, mit einer Mauer, der Mur du Parc umfriedetes
Gelände. Sie wurde 1543 begonnen, mehrmals im Bau unterbrochen und schließlich 1645 von
Gaston von Orléans in einer Länge von 32 km fertig gestellt. Sie schließt einen Waldpark von
heute 5433 Hektar ein, der auch heute noch dem Reh- und Schwarzwild vorbehalten ist und als
nationales Jagdgebiet genutzt wird.
Wir stehen nun vor dem bekannten Bild des größten Schlosses an der
Loire: das Königsschloss Chambord mit seinen auf einen Blick
unzählbaren Türmen, Türmchen und Schornsteinen präsentiert sich im
goldenen Licht der Nachmittagssonne. Die Führung ist kurz. Wir
müssen uns selbst umsehen.
Von der Schlossgeschichte seien hier ein paar Besonderheiten und
Begebenheiten wiedergegeben:
Wie wir wissen, baute Franz I. 1515 bis 1519 den Flügel im Schloss
Blois. Er beauftragte 1519 keinen geringeren als Leonardo da Vinci mit
dem Baubeginn in Chambord. Franz war der Architektur
leidenschaftlich zugetan und errichtete in den 32 Jahren seiner
Herrschaft eine Vielzahl wunderbarer Schlösser und Herrensitze.
Franz I., Ritter und Bauherr
von Chambord
13
Dauphin, 1349-1830 Titel der französischen Thronfolger
© Rolf Bührend, Winter 2005
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Franz I. ist aber auch ein großer Jäger. Er beschließt 1518, inmitten des waldreichen Gebietes der
Sologne sein neues Jagdschloss zu bauen, in einem Moorgebiet, in dem sich das Flüsschen
Cosson verliert. 25 Jahre später erreicht der Bau mit 156 Metern Länge und 117 Meter Breite für
die Epoche gigantische Ausmaße.
Trotzdem beschließt Franz I. bald nach Baubeginn, sein Machtzentrum aus dem Loire- Tal nach
Paris und der Île de France zu verlegen. Insgesamt verbringt der König nur acht Wochen in
seiner 32-jährigen Regierungszeit in Chambord. Nach jedem kurzen Besuch hinterlässt er ein
verlassenes Schloss. Dieser eigenartige Zustand der Quasi- Verwahrlosung prägt die ersten
zweihundert Jahre der Schlossgeschichte.
Zwischen ersten Empfang am 18. Dezember 1539 des Kaisers Karl V. durch Franz I., einem der
ganz wenigen politischen Ereignisse auf Chambord bis zum letzten Grafen von Chambord, der
es 1871 verlässt, liegen dreieinhalb Jahrhunderte.
Plan des Schlosses Chambord. Diese gigantische Anlage wird wohl für immer unvollendet bleiben.
Während des 16. Jahrhunderts ist der französische Hof noch nicht sesshaft: Er folgt seinem
Monarchen bei dessen Reisen durch das Königreich.
© Rolf Bührend, Winter 2005
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Der größte Teil der königlichen Schlösser ist nicht dauerhaft möbliert. Möbel und Wandbehänge
begleiten den König von einem Ort zum anderen. Wenn der Hof von Franz I. unterwegs war,
konnte man auf Straßen und Flüssen 10 000 Menschen in einer unendlichen Schlange von
Reitern, Wagen, Sänften, Fußgängern und- Booten sehen. Kein Königsschloss war in der Lage,
eine solche Menschenmenge zu beherbergen. Nur die wichtigsten Persönlichkeiten hatten das
Recht, in der Nähe des Königs zu übernachten. Für all jene, die keinen Platz im Schloss fanden,
wurden in den umliegenden Ortschaften und Dörfern Quartiere beschlagnahmt.
Hat sich der Hof dann niedergelassen, folgte der Tagesablauf des Königs relativ präzisen Regeln,
die von Heinrich III. in einer starren Regelung kodifiziert wurden und die Basis für die berühmte
Etikette am Hofe Ludwigs XIV. bildeten. Aber wie auch seine Vorgänger mischte sich Franz 1.
gerne unter seine Höflinge. Dieses familiäre Verhalten erregte bei den ausländischen Diplomaten
immer wieder großes Aufsehen, insbesondere bei den an ein größeres Zeremoniell gewöhnten
Italienern.
Ein vorgeschriebenes Programm bestimmte den Tagesablauf. Auf das "Lever14" des Königs
folgte eine Beratung über die Geschäfte des Königreichs in Anwesenheit einer begrenzten
Anzahl von Sekretären und Beratern, die in seinem Zimmer oder seiner Garderobe stattfand,
danach kam die Messe. Auf dem Hin- und Rückweg zur Messe konnten ihn die Höflinge und das
Volk sehen und ihm Bitten vortragen. Nach dem Diner, dem heutigen Mittagessen, leisteten die
edlen Damen und Herren des Hofes dem König bis zum Abend Gesellschaft, sei es auf der Jagd
oder bei anderen Vergnügungen. Danach folgte das Souper, häufig gefolgt von einem Ball, dann
das "Coucher15" des Königs in Anwesenheit des Adels.
Die direkten Nachfolger von Franz I. kamen so gut wie nie nach Chambord.
Heinrich II. gibt die Baustelle nach und nach auf, und Karl IX. kommt nur gelegentlich zur Jagd.
Ludwig XIII. macht dort zwei kurze Besuche. Es ist sein Bruder Gaston von Orléans, der neues
Leben ins Schloss bringt. Er rettet es vor dem Ruin.
Ludwig XIV. kehrt ab 1668 mit dem Hof nach Chambord zurück und lässt bei dieser
Gelegenheit den ersten Stock des Donjons16 in eine königliche Suite umbauen. Insgesamt kommt
er bis zum Jahr 1685 zu neun Jagdaufenthalten mit einer Durchschnittsdauer von drei Wochen.
Es wurden 150 Tage in 17 Jahren gezählt!
Das 18. Jahrhundert bringt Chambord, wenn auch nicht die brillanteste Phase seiner Geschichte,
so doch diejenige, in der die Aufenthaltsdauer seiner Gäste am längsten ist. Zu dieser Zeit
beginnen die wichtigsten Räumlichkeiten ein mehr oder wenig dauerhaftes Mobiliar und eine
Dekoration aufzuweisen, und die Bauarbeiten sind endlich abgeschlossen. Der erste Gast des
Jahrhunderts ist Stanislaus Leszczynski, der polnische König. Da er 1725 seine Tochter Maria
Leszczynska geheiratet hat, gewährt Ludwig XV. seinem Schwiegervater seine
Gastfreundschaft, als dieser gezwungen ist, ins Exil zu gehen. Er bringt ihn zwischen 1725 und
1733 in Chambord unter, das für diese Gelegenheit mit Möbeln aus dem Möbelspeicher von
Versailles eingerichtet wird.
Der Marschall Graf Moritz von Sachsen wird ab 1748 für zwei Jahre zum Bewohner von
Chambord. Ludwig XV. belohnt ihn für seine brillanten militärischen Erfolge im Dienste
Frankreichs - der letzte 1745 in Fontenoy gegen die Engländer - und macht ihn auf Lebenszeit
zum Gouverneur von Chambord. Er erhält außerdem den Titel eines Generalmarschalls der
"Camps et Armées" Frankreichs. Das Mobiliar stammt erneut aus dem Möbelspeicher von
14
lever: frz. aufwachen, erheben; hier Empfang enger Vertrauter durch den König im Bett
coucher frz. schlafen; hier offizieller „Gut-Nacht- Empfang“
16
Donjon: urspr. Bergfried, Wohnturm einer normannischen Burg; im mittelalterlichen Schloss der Hauptturm,
letzter Zufluchtsort der Bewohner
15
© Rolf Bührend, Winter 2005
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Versailles, und im Schloss herrscht ein brillantes Hofleben, animiert vom Regiment der
Freiwilligen von Sachsen, deren tägliche Militärparaden an Prunk kaum zu überbieten sind. Für
sie lässt der Marschall die Ställe von Jules Hardouin Mansart fertig stellen, in denen er ein
königliches Gestüt einrichtet. Bis zu seinem Tod im Jahr 1750 begeistert er sich ebenfalls für die
Jagd und das Theater. Sein Neffe, der Graf von Friesen, bewohnt das Schloß anschließend bis
1755.
Nachdem die Wirren der Revolution 1789 vorbei waren, stellte man sich die Frage der
Verwendung von Chambord. Sollte man es abreißen oder in eine Erziehungsanstalt verwandeln?
Nach dem es als Lagerplatz für Viehfutter, Atelier zur Herstellung von Pulver und Salpeter und
Gefängnis gedient hatte, vertraut man es 1802 dem Marschall Augereau an, um dort den Sitz der
15. Kohorte der Ehrenlegion zu errichten. Nach dem Sieg bei Wagram 1809 erhebt Napoleon
Chambord zum Fürstentum Wagram und schenkt es zur Belohnung dem Marschall Berthier,
Fürsten von Neuchâtel und Herzog von Valangin. Dieser verbringt dort nur zwei Tage und stirbt
1815.
1820 erhält die Witwe des Marschalls Berthier von Ludwig XVIII. die Erlaubnis, Chambord zu
verkaufen. Es ist das Geburtsjahr des Heinrich von Bourbon, Herzog von Bordeaux, Enkel von
Karl X. Der letzte Erbe des ältesten Zweigs dieser Bourbonen erblickt das Licht der Welt nach
der Ermordung seines Vaters, des Herzogs von Berry. Der Graf Adrien von Calonne organisiert
eine nationale Anleihe. Chambord wird zurückgekauft und dem Neugeborenen geschenkt.
Während des Exils, das Louis- Philippe 1830 über die Bourbonen verhängt, nimmt der junge
Herzog von Bordeaux den Titel des Grafen von Chambord an. Die Legitimisten17 kämpfen für
die Restauration der Monarchie zugunsten Heinrichs von Bordeaux, der dann unter dem Namen
Heinrich V. regieren würde. 1871 wartet der Graf von Chambord darauf, Paris zu betreten und
den Thron zu besteigen. Zu diesem Zweck begibt er sich zum ersten Mal nach Chambord, wo
eine Karosse und mehrere Wagen bereitstehen. Er bleibt dort drei Tage, kehrt aber nach der
Veröffentlichung seines Manifests "der weißen Fahne" und nach der Niederlage seiner
Partisanen wieder ins Exil nach Frohsdorf in Österreich zurück, wo er 1883 verstirbt.
1914 wird das Schloß mit Beschlag belegt, und der französische Staat kauft Chambord für elf
Millionen Goldfranken von seinem damaligen Besitzer Elie von Bourbon- Parma ab.
Das Schloss Chambord ist also keineswegs Schauplatz wichtiger politischer Ereignisse
Frankreichs, obwohl sich alle Herrscher hier, wenn auch nur kurz aufgehalten haben. Trotzdem
nimmt es in der großen Reihe der Loire- Schlösser – es sind deren mehr als vierzig! – einen
wichtigen Platz ein. Ein großer Teil dieser Schilderungen sind natürlich nicht von mir.
Es sind für mich drei bedeutsame Punkte in Erinnerung geblieben.
1. Die Haupttreppe
Als technisches Meisterwerk der Maurermeister und Steinmetze wird die Treppe in den
mittelalterlichen Schlössern zu einem herausragenden architektonischen Dekor. Sie kann als
Innentreppe zur Fassade offen sein, wie in Azay-le-Rideau (1518-1527) - wir werden es noch
sehen! - oder als Außentreppe konzipiert, wie die Treppe, die Franz I. 1517 bei seinem ersten
architektonischen Projekt im Schloß von Blois in Auftrag gab.
Im Schloss Chambord gibt es eine offene Treppe mit doppeltem Umlauf. Sie wird von acht
Pfeilern getragen und oberhalb der Terrassen von einem Laternenturm mit zwei Oberlichtern
gekrönt. Mit ihren zwei Schrauben, die um einen hohlen Kern laufen, ist sie sowohl die größte,
die am reichster dekorierte, die am erstaunlichsten platzierte und die gewagteste Treppe ihrer
17
Legitimisten, lat., Verfechter der monarchischen Legitimität; Vertreter einer Lehre von der Unantastbarkeit
dynastischer Rechtmäßigkeit, die auch durch revolutionäre Umstürze nicht beseitigt werden kann. Legitimisten sind
die Anhänger der Bourbonen in Frankreich, die Karlisten in Spanien.
© Rolf Bührend, Winter 2005
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Zeit. Diese hohle Mittelstütze ist mit Öffnungen versehen, durch die man von der einen Treppe
aus die Personen beobachten kann, welche die andere Treppe benutzen. Außerdem besitzt sie an
ihrer Basis einen Durchgang, der es möglich macht, sie zu durchqueren, um zum Eingang der
anderen Schraube zu gelangen, ohne die gesamte Struktur umrunden zu müssen. Dort kann man
die gewagte Konstruktion durch den Anblick des hohlen Mittelpfeilers bewundern.
Sie gleicht einem Instrument der Bühnenausstattung, die diejenigen zur Schau stellt, die sie
benutzen. Man kann ihre unterschiedlichen Aufgänge auch spielerisch benutzen, wie das Gaston
von Orléans und Mademoiselle von Montpensier, seine Tochter, taten. Letztere berichtet
amüsiert, daß „die Abstufung so gebaut ist, daß eine Person hinauf- und eine andere
hinuntersteigen kann, ohne sich zu treffen, obwohl sie sich sehen.“
Nach der Unterbrechung auf der Terrassenebene geht die Treppe mit doppeltem Umlauf dann in
eine kleinere Wendeltreppe über, die innerhalb des Mittelpfeilers bis zu einer runden Terrasse,
und dann bis zur letzten Laterne aufsteigt.
Wir bewunderten diese seltsame Konstruktion, die auf einer Idee von da Vinci beruhen soll,
teilten uns in zwei Gruppen, probierten es aus und begegneten einander, ohne uns zu treffen.
Wahrlich genial!
Chambord: Louis XIV.
2. Das Theater Ludwigs XIV.
Ganz unverhofft begegne ich dem großen Theaterdichter
Molière. Das heißt seiner Büste.
Ludwig XIV. zeigt seit 1668 ein großes Interesse an
Chambord. Am 19. September 1669 kommen König,
Königin und Hof in Chambord an.
Einige Tage später trifft Molière mit seiner Truppe ein und
verweilt einen Monat im Schloß. Sie führen dort mehrere
Komödien auf, darunter zum ersten Mal die Ballettkomödie
„Monsieur de Pourceaugnac“. Dieses neue Werk, das
Molière geschrieben hat, mit der Musik von Lully18 für
Ballet und Intermezzos, ist gleich bei der ersten Aufführung
sehr erfolgreich.
Im folgenden Jahr kommt das Monarchenpaar nach Chambord zurück. Die Truppe von Molière
stellt ein neues Stück vor. Es handelt sich um „Le Bourgeois Gentilhomme“, den Bürger als
Edelmann, das vom König anlässlich der Ankunft einer türkischen Botschaft in Frankreich
bestellt worden war. Am 14. Oktober 1670 missfällt die erste Aufführung dem König und wird
demnach von den Höflingen verrissen. Nach der zweiten Vorstellung sagt der König: „Mein
Herr, sie haben noch nie etwas geschrieben, was mich besser amüsiert hat, und ihr Stück ist
ausgezeichnet“. Die Höflinge fließen danach vor Lob über, obwohl das Stück nicht gerade zart
mit ihnen umgeht. Es wird vor der Abreise des Königs noch drei weitere Male aufgeführt.
Der Festspielsaal ist im ersten Stock des Donjons untergebracht, im Südsaal des Kreuzes. Die
Szene wurde vor den Fenstern errichtet. Der König hatte sich vermutlich in der Innentreppe eine
Loge einrichten lassen, und aus Gerüsten wurde ein Amphitheater gebaut, um den zahlreichen
Zuschauern in diesem relativ kleinen Raum Platz zu bieten. Außer den Büsten von Molière und
Lully erinnert nichts mehr daran.
18
Lully, Jean-Baptiste, französischer Komponist italienischer Herkunft, * 28. 11. 1632 Florenz, † 22. 3. 1687 Paris;
kam 1646 nach Frankreich. 1653 wurde er zum königlichen Hofkomponisten und 1662 zum Kapellmeister der
königlichen Familie ernannt. Bedeutendster Meister und Organisator der französischen Barock-Oper, deren Prunk
(großer Anteil von Chor und Ballett) den politischen und kulturellen Ansprüchen Ludwigs XIV. entsprach. Weitere
Kennzeichen dieses Operntyps, der über ein Jahrhundert vorbildlich blieb, sind kleine, liedhafte „Airs“ und
abwechslungsvolle Rezitative.
© Rolf Bührend, Winter 2005
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Und an diesen Büsten blieb ich hängen und musste dieses Intermezzo des Gedenkens für den
heute noch gespielten Meister nachlesen.
3. Das Theater des Marschalls von Sachsen
Wie Marschall Graf Moritz von Sachsen zu dieser Ehre in Chambord kam, wurde gesagt. Dass er
ein Reiterführer und Pferdenarr war auch. Bedeutsam und überraschend für mich ist aber, dass er
ebenfalls das Theater liebte und sehr viel dafür tat.
Der Marschall von Sachsen war vom Theater begeistert. Nachdem er sich in Chambord
niedergelassen hatte, unterstützte er die Gruppe aus Musikern und Tänzern von Favart. Stücke
von Marivaux, der italienischen Komödie, wie auch die Vorstellung von Proverben machten die
Berühmtheit des Theaters aus. Autoren wir Marmontel oder Graf Grimm waren unter den
geladenen Gästen.
Die Chronik berichtet, daß der Marschall von Sachsen Unsummen ausgab, um sein Theater von
Chambord dem von Ludwig XIV. in seinen kleinen Appartements in Versailles ebenbürtig zu
machen: Es soll sogar achtmal so teuer gewesen sein wie das des Königs, nämlich 600 000
Livres (etwa 1,5 Millionen heutiger Euro!). Moritz von Sachsen soll den bedeutendsten
damaligen Dekorateur, den Italiener Jean- Nicolas Servadoni beauftragt haben, diesen Saal, der
auf engstem Raum ein Fassungsvermögen von 200 Zuschauern hatte, für ihn zu realisieren.
Unter den bemalten Kassetten des Nordsaals des zweiten Stocks, mit Skulpturen, die mit
Pudergold vergoldet wurden, war vor den verdunkelten Fenstern die Bühne errichtet worden. Sie
bestand aus einem Boden, der sich in Richtung der Zuschauer neigte, einer Maschinerie und
einem herrlichen Vorhang, der eine Imitation eines „Drapees“ darstellte. Eine immer sichtbare
Tür war in die Westmauer gebrochen worden. Sie verband die Bühne mit dem daneben
liegenden Appartement der Schauspieler. Dieses Dekor blieb bis 1792 bestehen, dann wurde es
abgebaut. In regelmäßigen Abständen schmückten Holzpilaster die Mauern des Saals, die mit
dunkelrotem Samt bespannt waren. Dieser stammte aus Utrecht und war mit goldenen Festons
verziert. Die Zuschauer saßen Parterre, während in der großen Treppe und an den Seitenwänden
Ehrenlogen eingerichtet wurden.
Orthogonal zwischen den vier mächtigen Türmen des Donjon erstrecken sich die so genannten
Kreuzsäle im Erdgeschoss, ersten und zweiten Stock. Sie enthalten, zusammengetragen und gestoppelt im letzten Jahrhundert, Zukäufe Leihgaben von Privatpersonen, einige
Ausstattungsstücke, nicht alle original hier hin gehörig, die ein wenig an die Vergangenheit
erinnern.
1792 wurde alles Mobiliar auf Auktionen versteigert. Ein Großteil der Holztäfelungen, die
diesen Verkäufen entgingen, wurde später als Brennholz verwendet, um die Verwundeten der
Loire- Armee während des Deutsch- Französischen Krieges im Winter 1870/71 zu wärmen.
Ich erinnere mich an wunderbare Wandteppiche, deren Geschichten, die sie erzählen, Jagdszenen
aus der Zeit Franz I. enthalten oder Allegorien aus dem Alten Testament, um 1650 gewebt, oder
an das Königszimmer, in dem ein nachgebautes Himmelbett zu bestaunen ist.
Endlich stiegen wir hinauf auf die Terrassen, die sich rings um die Laterne des Donjon ziehen.
Von dort verfolgten die Königin und ihr Gefolge die Hirschjagd. Heute konnten wir im Scheine
der sinkenden Nachmittagsonne den verspielten Charme der Türmchen und Schornsteine, von
denen es Dutzende gab, sehen und einen Blick in die weite Parklandschaft werfen, die in der
Ferne in dichten grünen Wald überging.
Dann war Sammeln am Busplatz. Wir kauften noch ein Kilo herrlich saftig und süß
schmeckende Äpfel.
Wir fuhren an einigen Loire- Schlössern vorbei, zum Beispiel am Jagdschloss Château de
Cheverny, dem Château de Troussay, aber wir sehen nur die Eingänge oder über die lange Allee
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im Hintergrund flüchtig den Gebäudekörper- es wird wohl keine Reise geben, die alle Schlösser
einschließt. Es gibt deren über vierzig entlang des Tales der Loire. Ich schätze mich schon
glücklich, dass wir vier zu sehen bekommen. Ad hoc gewissermaßen, wir sind ja auf Tour de
France. Für zwei Tage sind wir in der Touraine, im Loiretal zwischen Orléans und Tours.
Von 3000 Schlössern in Frankreich sind über 60% privat. Der Rest gehört dem Staat. Nicht alle
sind offen für Besucher.
Wir passieren Amboise, die Stadt, in der Leonardo da Vinci gelebt hat. Er wurde von Franz I.
1516 hierher geholt. Da Vinci verließ Italien für immer und lebte bis zu seinem Tod mit seinem
Freund und Chronisten Francesco Melzi im Landschlösschen Cloux bei Amboise. Künstlerisch
sind aus dieser Zeit noch der Entwurf für ein Schloss der Königinmutter bezeugt, der nicht
ausgeführt wurde, aber entscheidenden Einfluss auf den Bau von Schloss Chambord nahm.
Leonardo da Vinci starb am 2.Mai 1519. Er wurde im Kreuzgang der Kirche St.-Florentin auf
dem Schlossberg von Amboise bestattet. Sein Grab wurde beim Abbruch der Kirche 1808
zerstört.
Auch ein großer Sohn von Amboise ist Descartes19, an den in der Stadt ein Denkmal erinnert.
Wir erfahren, dass in dieser Gegend langhaarige Esel gezüchtet werden, sehen auch einige
weiden. Für 10 000 Euro werden sie gewinnbringend exportiert. Immer wieder gibt es Wald
zwischen freien Flächen.
An einem Kreuzweg, auf freiem Felde, halten wir, um Françoise abzusetzen. Sie sagt, sie wohne
hier nicht weit und ginge den Rest nach Hause zu Fuß. Wir sollten sie einmal besuchen. Und das
meinte sie ernst. Man sollte es wohl auch wirklich tun und privat dorthin in die Ferien fahren.
Morgen früh um neun Uhr will sie uns Villandry und Azay le Rideau und Tours zeigen. Und
morgen Abend wollen wir in einem der Felsenrestaurants, die als tiefe Kavernen und Höhlen in
die weichen aber hohen Kalksteinwände, an denen die Straße jetzt vorbei führt, hinein
geschnitten sind, einen besonderen Spezialitätenabend genießen.
Es dauerte nicht lange, da fuhren wir gegen 19 Uhr auf der Rue Nationale in die große Stadt
Tours hinein, das Herz und Haupt der Touraine. Tours hat etwa 300 000 Einwohner, eine
ehrwürdige Universität, eine mächtige, alles überragende Kathedrale- und die St- MartinsKirche, den Pilgerpunkt der Heiligen Jakobs- Brüder auf ihrer Pilgerfahrt nach Santiago de
Compostella. Wir werden hier zwei Nächte bleiben.
Wir überquerten in Höhe des Hôtel de Ville den Place Julie Jaurès und den Boulevard Béranger.
Ich las gerne die Straßenschilder. Dicht bevölkerte Straßen, viel Autoverkehr, Geschäftshäuser,
Banken, Ladenzeilen, Kaufhäuser, Plätze, Kreisverkehre- dann der Bahnhof. Es wird eng. Der
Bus biegt am Bahnhofsvorplatz links ab und hält vor dem Best-Western- Hotel „Le Grand
Hôtel“. Verblichener Glanz vergangener Zeiten unter neuem amerikanischem Konzept, aber in
Frankreich. Ganz seltsames Gemisch. Erdgeschoss und drei Vollgeschosse plus Dachzone. Wir
wohnen oben und haben einen schönen Blick auf die sich jetzt in der Abendstunde langsam
belebende Fußgängerzone. Schau ich nach links, liegt unter mir der gewaltige Komplex des
Hauptbahnhofes von Tours.
Das Abendessen ist sehr „europäisch“. Freundlich werden 3 Gänge serviert: Eierspeise - Huhn
mit Kartoffelbällchen – Vanillepudding mit Eischnee.
An diesem Tage legten wir insgesamt 304 km zurück.
19
Descartes, René, lateinisch Renatus Cartesius, französischer Philosoph, Mathematiker und Naturforscher, * 31. 3.
1596 La Haye, Touraine, † 11. 2. 1650 Stockholm. Mit Descartes beginnt die neuzeitliche Philosophie; er
begründete die analytische Geometrie und ist in der Geschichte der Physik durch seine Arbeiten zur Dynamik, Optik
und Astronomie hervorgetreten. Er suchte ein geschlossenes mechanistisches Weltsystem zu errichten. Die
Philosophie sollte nur den Zugang eröffnen, die Prinzipien klären und die Erkenntniskriterien bestimmen.
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V. Villandry
Dienstag, 2. September 2003
m 8.00 Uhr Frühstück. Punkt 9.10 Uhr fahren wir ab. Françoise lässt kurz halten und
unternimmt mit uns einen ganz kurzen Stadtrundgang, verspricht uns aber für heute
Abend eine ausgiebige Stadtführung. Der Tag verspricht schön zu werden. Blauer
Himmel. Nach nur wenigen Kilometern sind wir schon am ersten Ziel: Die Gärten des
Schlosses Villandry. Für knapp eineinhalb Stunden komme ich aus der Bewunderung nicht
mehr heraus. Es ist weniger das Schloss selbst, in das wir nicht hineindürfen. Es ist bewohnt,
privat und für Besucher nicht zu besichtigen. Hier sind es die Gartenanlagen, die den einmaligen
Reiz dieses Schlosses ausmachen. Ein paar Stufen hinauf. Eine niedrige Mauer. Wir standen und
staunten.
U
Schloss Villandry
Die Gärten von Villandry sind terrassenförmig auf drei Stufen angelegte Gärten, die eine Fläche
von 7 Hektar einnehmen, die Gebäude und Höfe eingeschlossen:
 der Gemüsegarten auf der untersten Stufe,
 die Ziergärten verlängert vom Heilkräutergarten, auf der mittleren Stufe,
 der Wassergarten auf der obersten Stufe
Unter unserer Mauer lagen die Ziergärten. Sie liegen auf derselben Höhe wie die Salons des
Schlosses. Er wird auf 5000 m2 von 70 cm hohen Buchsbäumen und beschnittenen Eiben
gebildet, die Blumenteppiche einschließen. Der Blumenschmuck wird zweimal im Jahr erneuert.
Die ersten vier Quadrate bilden den „Garten der Liebe“.
„Die Zärtliche Liebe“, symbolisiert durch Herzen, die durch die Flammen der
Liebe in den Ecken getrennt sind. In der Mitte Masken, die man auf den Bällen
trug und die alle ernsten oder auch oberflächlichen Gespräche erlaubten.
„Die leidenschaftliche Liebe“. Auch hier findet man Herzen,
aber sie sind zerbrochen. Die Buchsbaumreihen sind ineinander
verschlungen und bilden ein symbolisches Labyrinth, das
gleichzeitig die Bewegungen Tanzender heraufbeschwört.
„Die unbeständige Liebe“, indem die vier Fächer in den Winkeln die
Oberflächlichkeit der Gefühle symbolisieren. Zwischen den Fächern sieht man die
Hörner der betrogenen Liebe und in der Mitte die Liebesbriefe oder billets doux,
die die unbeständige Dame ihrem Geliebten zukommen ließ. Die Hauptfarbe ist
gelb, Symbol der betrogenen Liebe.
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„Die tragische Liebe“. Hier stellen die Buchsbaummuster Dolch und
Schwertklingen dar, welche in den Duellen der Rivalität um die Liebe der
Frauen benutzt wurden. Im Sommer blühen rote Blumen und stellen
symbolisch das während dieser Kämpfe vergossene Blut dar. Es handelt sich
um die Heraufbeschwörung der tragischen Liebe.
Es ist alles so liebevoll und mit Akkuratesse bepflanzt, so gepflegt, dass man des Sehens nicht
müde wird. Ich fotografiere wie ein Weltmeister, wechsle in eiliger Hast die Batterien, dann
einen Chip. Immer wenn es dringend ist, erscheint der Pfeifton „Karte voll“ oder „Batterie leer“.
Man muss es wissen, ich
entnehme es dem Prospekt:
In
Fortsetzung
der
Liebesgärten finden sich
noch drei auf der Spitze
stehenden Quadrate: Das
Malteserkreuz, die Kreuze
der Languedoc- Gegend, und
des Baskenlandes und die
symbolischen Lilien der
Bourbonen.
Villandry ist das letzte der
großen Schlösser, die in der
Renaissance- Zeit an den
Ufern der Loire gebaut
wurden. Es wurde 1536 fertig
und
gehörte
einem
Finanzminister von Franz I.,
Jean le Breton. Er hatte
jahrelang den Bau von
Chambord überwacht.
Um das aktuelle Schloss zu
bauen, ließ Jean le Breton
eine alte Festung aus dem 12.
Jahrhundert niederreißen, von
der nur noch die Fundamente
und der Burgfried blieben,
deren Existenz man hinter
Plan des Schlosses Villandry mit seinen Gärten, Stich von 1532
dem Schlosshof errät.
"Der Frieden von Colombiers" (Name von Villandry im Mittelalter) wurde am 4. Juli 1189 in
dieser Festung unterzeichnet, und Heinrich 11. Plantagenêt, König von England, erkannte dort
vor Philipp- August, König von Frankreich, seine Niederlage an.
Dieser Friedensschluss stellt eine wesentliche Etappe des Triumphes der Kapetinger Monarchie
über die Lehnsherren dar, zu denen allen voran die Plantagenêts gehörten, deren riesiger
französischer Grundbesitz die Normandie, die Bretagne, die Maine- Gegend, die Touraine, das
Poitou und Aquitanien (infolge der Heirat von Henri II. mit Alinéor d'Aquitaine) umfasste.
Die Nachkommen von Jean le Breton behalten Villandry bis 1754. In diesem Jahr wird der
Marquis von Castellane, der Botschafter des Königs ist und aus einer sehr berühmten Familie des
provenzalischen Adels stammt, Besitzer des Schlosses. Er ließ die Nebengebäude im
klassizistischen Stil bauen, die man auf beiden Seiten des Vorhofes sehen kann. Er renovierte die
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Innenausstattung des Schlosses, indem er diese den Komfortnormen des 18. Jahrhunderts
anpassen ließ, die denen unserer Epoche ähnlicher sind als denen der Renaissance.
Im XIX. Jahrhundert wurde der traditionelle Garten zerstört und durch die Schaffung eines um
das Schloss gelegenen englischen Parks ersetzt (im Stil des Parc Monceau in Paris).
1906 wird das Schloss vom Doktor Joachim Carvallo gekauft, der 1869 in Spanien geboren
wurde und der Urgroßvater des heutigen Eigentümers ist. Er gab eine brillante wissenschaftliche
Karriere an der Seite von Professor Charles Richet - Nobelpreisträger 1913 - auf, um sich völlig
Villandry zu widmen. Er rettete so das Schloss vor dem drohenden Abbruch und gestaltete in
Harmonie mit dessen Renaissancestil die Gärten, die wir heute bewundern können. Joachim
Carvallo war ebenfalls 1924 der Gründer der „Demeure Historique“, der ersten Vereinigung von
Besitzern historischer Schlösser. Er war ein Wegbereiter für das Öffnen dieser Monumente für
Besucher.
In Villandry, das doch Azay-le-Rideau ganz nah ist und fast aus der gleichen Zeit stammt, fehlen
der italienische Einfluss und die Erinnerungen an das Mittelalter wie dekorative Türmchen und
Pechnasen fast ganz und machen einem einfacheren, völlig französischen Stil Platz, der mit
seiner Dachform Anet, Fontainebleau und den späteren Stil Heinrichs IV. ankündigt.
Die Originalität von Villandry liegt nicht nur in seiner neuen Bauform: sie liegt auch in der Art,
in der die Landschaft genutzt wurde, um dort in voller Harmonie mit Natur und Stein Gärten von
bemerkenswerter Schönheit anzulegen. Ein kleines, von einem Bach durchzogenes Tal fällt vom
Plateau aus nach Süden ab. Sein Hang erlaubte es, drei Gartenstufen terrassenförmig anzulegen.
Martina und ich lösen uns von der Reisegesellschaft. Wir genießen die halbe Stunde, die uns hier
vergönnt ist. Der Wassergarten ist vergleichsweise langweilig und verlassen. Auf der obersten
Stufe zwischen einem weitläufigen Lindenkreuzgang sammelt ein 3000 m2 großes Wasserbecken
in Spiegelform das zum Bewässern der gesamten Gartenanlage notwendige Wasser. Es ist mit
Schwänen bevölkert, die neugierig mit raschen Flossenschlägen herbei eilen, als ich mich am
Rande in die Knie herunterlasse, um sie zu fotografieren.
Früher wurde es von einem artesischen Brunnen mit großer Durchflussleistung gespeist, der in
den Schlossgräben die Strömung aufrechterhielt. Heute muss durch große Wasserabnahme an
anderem Ort gepumpt werden, etwa 7m3/h.
Wir „steigen“ hinab in den Gemüsegarten. Um dieses botanische Wunder und seine Probleme
voll zu verstehen, muss ich noch einmal ins Prospekt schauen:
Der Gemüsegarten (12.500 m2) besteht aus neun größenmäßig gleichen Quadraten, die sich
jedoch durch das Muster der mit Buchsbaumhecken eingefassten und mit Gemüse bepflanzten
Beete unterscheiden. Die Anbaupläne werden jedes Jahr im November und Dezember
ausgearbeitet. Dies ist eine recht schwierige Arbeit, die zahlreiche Stunden in Anspruch nimmt
und an der alle Gärtner unter der Leitung der Frau des Besitzers teilnehmen.
Es müssen jedes Jahr zwei Pläne erstellt werden
Der Plan für den Frühling: er umfasst die Verwendung folgender Gemüsesorten: Erbsen,
Saubohnen, Radieschen, Linsen, Frühlingskohl, Salate (römischer Salat, rotes und grünes
Eichenblatt, blonde Maikönigin, Grenobler Salat, grüner Bowl, roter Bowl). Die ausdauernden
Pflanzen: Erdbeerpflanzen, Artischocken, Sauerampfer, Schnittlauch und Bohnenkraut bleiben
von einem Jahr auf das andere in der Erde (höchstens vier bis fünf Jahre).
Der Sommerplan: er bestimmt die Anordnung der Blumen und Gemüse vom Juni bis in den
Herbst. Die hauptsächlichen Gemüsesorten, die verwendet werden, sind:
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- die Kohlart „Petruskopf“,
- blaugrüner Mailänder Kohl,
- grüner Zierkohl mit rotem Herz,
- grüner Zierkohl mit weißem Herz,
- Rotkohl, genannt „Mohrenkopf“,
- die Giraumons (Kürbisse), genannt
„Türkenhüte“
- die Pâtissons (Kürbisse), „spanische
Artischocken“, genannt,
- Zucchinis,
- purpurner und grüner Mangold
- goldener Krautsellerie
- Knollensellerie,
- Blumenkohl,
- Karotten,
- Porree,
- Auberginen,
- Paprika,
- Kirschentomaten,
- Schnittlauch,
- Petersilie,
- Basilikum,
- runde oder lange Rüben,
- Koloquinten,
- Chicoree
Mein Gartenverstand wird gefordert. Viele Gemüsearten habe ich noch nicht gehört- und noch
nicht in natura gesehen!
Um den Gemüsegarten anschaulicher zu gestalten, werden mehrere Sorten Frühlingsblumen in
den Einfassungen gepflanzt, die jedes dieser neun Quadrate umgeben: abwechselnd rote und
gelbe Stiefmütterchen, Maßliebchen mit großen weißen Blüten, blaue Stiefmütterchen,
Vergissmeinnicht; sie sind im vorausgegangenen Herbst gepflanzt worden (zweimal im Jahr
blühende Pflanzen).
Die Ausführung der beiden Pläne muss technische und ästhetische Betrachtungen
berücksichtigen:
Da sind die technischen Faktoren: der Fruchtwechsel. So kann man zum Beispiel keine Karotten
dort pflanzen, wo das Jahr zuvor Stangensellerie wuchs; da diese beiden Gemüse nämlich der
Familie der Doldengewächse angehören, entziehen sie dem Boden die gleichen Nährstoffe und
können von den gleichen und vom Boden übertragenen Krankheiten befallen werden.
Desgleichen können Kohl und Radieschen, die beide der Familie der Kreuzblütler angehören,
nicht einander abwechseln. Der Fruchtwechsel ist also unerlässlich, um die Auslaugung des
Bodens zu vermeiden und die Pflanzenkrankheiten zu bekämpfen. Um den ganzen Umfang
dieses Problems zu verstehen, muss man wissen, daß sich die Hauptgemüsesorten in acht
Pflanzenfamilien einteilen lassen und dass man drei Jahre verstreichen lassen muss, bevor ein
Gemüse derselben Familie wieder auf derselben Parzelle angebaut werden kann. Und in
Villandry werden die Parzellen jedes Jahr zweimal bepflanzt!
Die ästhetischen Betrachtungen: Die Verteilung der Farben und der Formen ist das zweite
entscheidende Element bei der Ausarbeitung der Pläne. Das Problem ist heikel, weil die Farben
der Gemüse untereinander Kontrast bieten. Zum Beispiel muss man vermeiden, Paprika und
Tomate Seite an Seite zu pflanzen, denn ihre Blätter haben in etwa die gleiche Farbe. So wird im
Gegenteil versucht, um die Kontraste hervorzuheben, zum Beispiel das Jadegrün von Karotten
und das Blau von Soleser Porree zusammenzustellen oder das Rot der Rübenblätter und das
Goldgrün von Sellerie. Man wechselt ebenfalls hoch wachsende Gemüsesorten (z.B. Auberginen
und Artischocken) mit rankenden Pflanzen ab (Sauerampfer, Salat).
Mir wird ganz schwindelig, wenn ich an diese Geschichten denke. Und ich sehe doch diese
herrliche Anlage in sommerlicher Pracht. Kleine Fontänen springen im Zentrum von vier
Laubenpavillons in ein Steinbecken. Knirschender weißer Kies bedeckt die tadellos vom
Unkraut gesäuberten Wege. Wir bücken uns, die eine oder andere Kultur näher zu betrachten.
Wie Soldaten ausgerichtet wachsen sie auf strenges Geheiß der Gärtner und bilden strenge
Symmetrie. Und die Farben ergänzen sich oder kontrastieren und bilden unter der leuchtenden
Morgensonne eine große Sinfonie. Und die Düfte wechseln von Beet zu Beet. Blüten über
Blüten. Es ist ein Rausch der Natur, vom Menschen gezeugt.
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VI. Azay-le-Rideau
I
n flotter Fahrt brachte uns der Bus nach Azay-le-Rideau. Der Mittag war heraufgestiegen.
Das Château schimmerte durch das Grün der Bäume. Wir warten auf Françoise, die uns
sammelt. Wir müssen durch ein kleines Museum wie durch eine Schleuse. Hier kaufe ich
gleich ein kleines Heft und einen Briefmarkenblock mit den französischen Königen. Wie viel
gibt es gleich zu sehen, doch- „Sie haben nachher noch Zeit! Bitte folgen Sie mir!“
Wir gehen eine grüne Allee entlang, die mit einer Brücke über die Indre auf den Hofplatz führt.
Linker Hand heute untergeordnete Nebengebäude, irgendwann früher bildeten sie wichtige
Bestandteile des Anwesens. Vor uns jetzt das Château Azay-le-Rideau. Im Grundriss bildet das
Gebäudeensemble ein großes L mit gleich langen Schenkeln. Es gibt dann noch das
Gesindehaus, in dem jetzt das Museum untergebracht ist, eine Kirche und eine Kapelle.
An den Außenseiten der Gebäudeschenkel ist das Wasser der Indre zu einem Schlossteich
ausgeufert worden, in dem sich die herrlichen Fassaden widerspiegeln. Ein großer weitläufiger
Park umgibt das Château. Wir hörten den Einführungsvortrag von Françoise:
Es gab hier im 15. Jahrhundert einen Flussübergang über die Indre. Inmitten des kleinen Flusses,
der zur Loire fließt, lag eine Insel mit einem festen Haus.
Zu Beginn der Regierungszeit von Franz I. 1515 erwirbt Gilles Berthelot das Lehen von Azay,
die alte Festung. Gilles Berthelot ist mit dem Oberintendanten der Finanzen des Königreiches,
Semblançay, verwandt, macht glänzende Karriere und wird bald Generalsteuereinnehmer und
darauf Schatzmeister Frankreichs. Das Schloss bringt diesen sozialen Aufstieg zum Ausdruck.
Doch es kommt wie so vielerorts, auch heute noch. Ich blende hier die Geschichte ein, die etwas
genauer auf diesen Mann eingeht und noch ein Schlaglicht auf diese Zeit wirft:
Der Sturz Gilles Berthelots
König Franz I. wundert sich über die Pracht der Bauten, die sich seine Finanzverwalter errichten
lassen, und ernennt 1523 eine Kommission zur Prüfung der Schatzbücher, wovon er sich eine
Sanierung der Staatskassen verspricht. Berthelot beobachtet das mit Missmut. Doch es kommt
noch schlimmer. Nachdem Franz I. 1525 bei Pavia von den Truppen Karls V. besiegt und eine
Zeitlang in Madrid gefangen gehalten wird, kehrt er mit der festen Absicht zurück, in seinem
Königreich Ordnung zu schaffen, und lässt sich mit seinem Hofstaat in der Île-de-France nieder.
Für seine ehrgeizige Politik braucht er viel Geld. 1526 erfährt der König, daß sich mehrere
Finanzverwalter der Veruntreuung schuldig gemacht haben, was er als gute Gelegenheit
betrachtet, seine Kassen aufzufüllen und gleichzeitig die "alte Garde" der Staatsdiener Ludwigs
XII. abzusetzen. Die Säuberungsaktion der „Tour Carrée- Kommission“ dezimiert das
französische Finanzbürgertum. Jacques de Beaune Semblançay, einer der großen
Schatzamtsvertreter in der Touraine, wird am 11. August 1527 am Galgen von Montfaucon bei
Paris gehängt. Als einer der Hauptangeklagten weiß auch Berthelot, daß sein Schicksal besiegelt
ist. Die „Tour Carrée- Kommission“ fällt ihr Urteil im Oktober 1527: Berthelot wird seines
Amtes enthoben und zur Zahlung von 54.400 Pfund verurteilt, eine relativ bescheidene Summe
im Vergleich zu den 300.000 Pfund, die von Jacques de Beaune bzw. zu den 190.000 Pfund, die
von Thomas Bohier, dem Erbauer des Schlosses Chenonceaux, verlangt wurden. Um zu
vermeiden, daß es ihm genauso ergeht wie Semblançay, flieht Berthelot in die zu dieser Zeit
freie Stadt Metz. 1529 stirbt er in Cambrai. Nach der Flucht Berthelots bleibt seine Frau als
Herrin eines unfertigen Schlosses zurück. Irgendwie gibt es Parallelen zu heute.
Franz I. schenkt Azay-le-Rideau einem seiner Kampfgefährten, Antoine Raffin, dessen
Nachkommen bis Ende des 18. Jh. in diesem Schlosse lebten.
1791 erwirbt es ein liberaler Aristokrat, Charles de Biencourt. Die Marquis de Biencourt
erweisen sich für Azay als Wohltäter, entfernen die Reste des Mittelalters und geben dem
Gebäude seinen heutigen Glanz, indem sie auch den großzügigen Park anlegen.
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Das Schloss ist in einer bemerkenswerten stilistischen Einheit erbaut. Den Fassadenkopf
umschließt statt eines Simses ein dekorativer wie nützlicher Wehrgang, ein innen mit Fenstern
abgeschlossener Umgang.
Wir gehen hinein, nicht ohne vorher auf die Wappensymbolik aufmerksam gemacht zu werden.
An vielen Stellen finden wir im Fassadendekor neben dem schon erwähnten Salamander von
Franz I. auch das Hermelin der Königin Anne de Bretagne1. Das Hermelin wurde von ihr auf
Grund seiner makellosen Weiße gewählt und wegen der Legende, dass dieses Tier beim
geringsten Schandfleck den Tod bevorzugt. Das Hermelin ist das Symbol der Jungfrau, der
unbefleckten Reinheit.
Zwei große Rundbogenöffnungen führen zu der im Inneren
angelegten, geraden und mehrläufigen Ehrentreppe mit
Richtungswechsel, die als Hauptzugang zu den Geschossen
dient. Zwischen den Eingangsbögen und dem
Treppenaufgang liegt eine weiträumige Vorhalle, von der
aus das Dienstpersonal einst links in das Erdgeschoss und
rechts in Speisekammer und Küche gelangte
Vom ersten Podest aus eröffnet sich uns ein herrlicher
Blick hinaus aufs Wasser und darüber ins Grün des Parkes.
Im Schwarm unserer Reisegruppe, die sich stetig nach oben
drängt, gelingt nur ein kurzer Blick nach oben in die
Gewölbe der Treppenläufe. Schräge Flachkassetten mit
Blendbögen und hängenden Schlusssteinen in der Mitte, die
mit Blattwerk oder Fruchtornamenten verziert sind. Ebenso
sind die Kapitelle der Treppenpodeste gestaltet. Die
Widerlager bildhauerisch ausgebildet. Der Handlauf ist
wandeben als Rinne in die Wand eingearbeitet. Man
möchte stehen bleiben und staunen!
Die Wände der in Form von Loggien gebauten
Zwischenpodeste sind auf der Hofseite durch große
Rundbogenöffnungen ohne Fensterscheiben und auf der
Flussseite durch Fenster durchbrochen.
Nun folgt eine Führung durch die gut erhaltenen und
möblierten Räume des Schlosses in der ersten Etage:
Vorzimmer des Königs. Schlafzimmer des Königs. Wieso
Königs? Nun, wie jedes Schloss ersten Ranges besaß auch
Azay-le-Rideau seine Königsgemächer. Hier übernachtete
Ludwig XIII. im Jahre 1619.
Azay-le-Rideau, Ehrentreppe
Die Dielen knarren unter unseren Schritten. Auf ihnen ist Ludwig XIII. gelaufen! Hier im
Schlafzimmer des Königs, dessen drei Fenster den Blick auf den Hof, den Park und den Fluss
freigeben, hat Armand- François Biencourt 1825-26, als er sämtliche Tonfußböden des Schlosses
durch Parkett ersetzte, beschlossen, die Dielen, die der König betreten hatte, zu erhalten.
Über die Treppe gelangen wir in den großen Saal, der im Winkel des großen L liegt und mit
seiner erhöhten Decke einen Teil des Dachgeschosses einnimmt. Ich habe nicht mehr alles in
Erinnerung. Wunderschöne Wandbehänge, weit herab hängende Lüster, sparsames Mobiliar
verleihen ihm Feierlichkeit und über dem auf zwei Säulen ruhenden Kranzgesims des
dominierenden Kamins prangt in einem vertieften Relief wieder das Wappen Franz I. mit dem
Drachen und der Spruch, den ich schon in Blois fand: „Nutrisco et Extingo“. Gemeint ist nicht
nur das Feuer, das dem Rachen des Drachens lodernd entflieht: „Ich ernähre dich und ich lösche
dich aus.“
1
Anna von Bretagne, Königin von Frankreich, *25. 1. 1477 Nantes, †9. 1. 1514 Blois; Erbin des Herzogtums
Bretagne; heiratete Karl VIII. von Frankreich (†1498), nach dessen Tod 1499den französischen Thronfolger Ludwig
XII.
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Das blaue Zimmer, in das man vom großen Saal aus gelangt,
war im 16. Jahrhundert das Vorzimmer zu den Wohngemächern
des Hausherrn. Wandteppiche aus der Zeit des Sonnenkönigs
und ein ganzfigürliches Portrait zieren die im Übrigen mit blauer
Tapete verkleideten Wände. Das Schlafzimmer des Hausherren
und seiner Gemahlin lagen wie in den meisten Schlössern
übereinander. Über eine Wendeltreppe im runden Eckturm
gelangte man hinauf. Hier befanden sich auch die Latrinen.
Wir bekommen noch die Küche
gezeigt, in die wir durch einen
Quergang
im
Erdgeschoss
gelangen, der gegen früher fast
einen Meter höher liegt. Mich
begeistern
vor
allem
die
Azay-le-Rideau, ganzfigürliches
verzierten
Widerlager
an
den
Portrait des jungen „Sonnenkönigs“
Spitzbogengewölben der
Ludwig XIV.
Speisekammer. Die Motive erinnern an die Funktion des Raumes,
aber ich sehe auch wieder Abarten des Drachens, Putten und mit
Tieren spielende Kinder. Um den halb in das Mauerwerk
eingelassene Kamin und den Brunnen ist der ursprüngliche
Fußboden frei gelegt. Die Decke bildet ein gotisches
Kreuzgewölbe mit einem großen kranzförmigen Schlussstein.
Wir kommen nun im Erdgeschoss in die Räume der Familie Biencourt. Sie wurden im Stile des
19. Jahrhunderts restauriert und geben den Geschmack des Hochadels auf dem Lande wieder.
Dann verweilen wir nach dieser Führung im Park. Kleine Mittagsrast. Wir suchen eine still
gelegene Parkbank, von der wir die wundervolle Fassade des Schlosses und ihr Spiegelbild im
Wasser sehen. Eine Schar Wildenten, die das Wasser bewohnen, watscheln eilends über den
Rasen herbei, als sie mitbekommen, dass wir Brötchen essen und dabei Krümel verschenken.
Martina hat harte Salami und eine Thermoskanne mit Kaffee im Rucksack, immer unsere
Wegzehrung. Hier möchte man Urlaub machen, ging mir durch den Sinn. Doch wir sind auf
Rundreise- Tour de France. Das hat auch seine Reize. Man muss sie finden und kosten!
Wir verlassen den still im Mittagsglast dieses warmen und sonnigen Septembertages liegenden
Schlosspark über die kleine Holzbrücke über die Indre, die ebenfalls von hier weiter fließt, der
Loire zu. Sie entspringt im Zentralmassiv, ist 265 km lang und mündet 30 km unterhalb von
Tours.
Danach bummeln wir noch ein wenig in dem kleinen Städtchen, das jetzt um die Mittagszeit
verschlafen daliegt. Wenige Läden sind offen, die Souvenirgeschäfte, ein Bilderladen. Wir sind
unschlüssig, welches Andenken wir erstehen sollen. Schließlich entschließen wir uns, nichts
mitzunehmen. Zu größeren Erkundungen blieb keine Zeit. Wir laufen zum Busplatz.
VII. Tours
er Nachmittag wurde in Tours verbracht. Auch hier führte uns Françoise. Sie war charmant
und wusste viel, und man spürte ihren Stolz auf dieses Land, das sie uns auf so angenehme
Weise näher brachte. Der Bus lud uns in der Innenstadt ab. Erstes Ziel war die Basilika
zum Heiligen Martin, erbaut 1886 – 1926. also eine noch junge sehr moderne Kirche. Sie steht
auf den Grundmauern einer früher viel umfangreicheren gewaltig großen Pilgerkirche, über dem
Grab des Heiligen Martin, welches in der Krypta zu sehen ist. Die zwei Türme, der Glockenturm
und der Turm Karls des Großen sind die verblieben Spuren der riesengroßen Basilika, die am
D
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Ende des 18. Jahrhunderts zerstört wurde und bis zu 20 000 Pilger fasste. Tours lag an einer der
großen Pilgerstraßen, dem Jakobsweg nach Santiago de Compostella.
Wir dürfen uns alles anschauen, wieder unter Zeitdruck. Als ich zwei Glasbilder in kostbarer
Emailmalerei, die das Geschenk des Papstes anlässlich seines Besuches sind, fotografierte,
mehrere Male, mit verschiedenen Einstellungen wegen des ungünstigen Lichts und mich nach
der Truppe umschaute, war die Gruppe weg, auch Martina. Ein Schreck! Martina hält sich immer
streng an die Führungsperson, schon um alles zu hören, was gesagt wird. Ich hinke immer
hinterher, logisch wenn man mit dem Fotoapparat ständig auf Motivsuche ist.
Doch bald habe ich alle wieder. Sie verschwinden gerade durch eine Gasse in den historischen
Teil der Altstadt von Tours.
Von der Gründung als „Caesarodunum“ (Hügel Cäsars) der römischen Stadt im 1. Jahrhundert
nach Christi bis zur Konstruktion des Vinci- Kongress- Zentrums, entworfen von dem
Architekten Jean Nouvel, trägt Tours den Stempel aller Epochen und Stile eines ungewöhnlich
reichen geschichtlichen Erbes.
Während sich die römische Stadt zunächst nach dem Osten entwickelte, befand sie sich im 4.
Jahrhundert in voller Expansion nach dem Westen, gemäß der zahlreichen Pilger, die zum Grab
des Heiligen Martin strömten. Im 5. Jahrhundert wurde die schon genannte Basilika errichtet,
von denen heute nur noch die Türme Charlemagne (Karl der Große) und der Tour d’Horloge
(Uhrenturm) existieren. 1205 kam Tours mit der umliegenden Landschaft, der Touraine, an die
französische Krone.
Im 15. und 16. Jahrhundert, als Tours Hauptstadt des Königreiches Frankreich war, wurde die
Kathedrale fertig gestellt. Die Stadt kam zu außergewöhnliche künstlerischer und
architektonischer Entfaltung und handwerklicher Blüte. Einen Umbruch gab es im 18.
Jahrhundert, als mit einem gewaltigen Städteprogramm die Hauptstraße Nord – Süd von Paris
nach Spanien als Hauptstraße auch durch die Stadt geführt wurde. Mit ihm kam eine „Aufstieg
aus der „mittelalterlichen Unordnung“. Das 19. Jahrhundert brachte die kontinuierliche
Weiterentwicklung dieser Nationalstraße, welche Tours zu einem wichtigen Handelsplatz
aufwertete. Während dieser Periode wurden Theater, Gerichtsgebäude und Stadthalle gebaut,
entworfen von Victor Laloux, einem Bewohner der Stadt, dem die Pariser die Orsay- Station und
die Stadt Tours ihm die Neue Basilika St. Martin und die Fassade des Hauptbahnhofes zu
verdanken hat.
Wir marschieren fast in Gänsereihe durch ganz alte enge
Gassen und finden hier sehr alte Fachwerkhäuser aus
dem 14., 15.Jh. und aus der Renaissancezeit, kleine
Plätze mit Straßencafés, von denen Gassen mit
holprigem Kopfsteinpflaster abzweigen. Hier pulst der
Verkehr jetzt am frühen Nachmittag hektisch. Mehrmals
müssen wir uns auf Kommando an die Häuserwände
drücken, um ein Lieferauto vorbeizulassen. Manche
Häuser sind, ganz in venezianischer Bauweise durch ein
gemeinsames Treppenhaus verbunden, dessen hölzerne
Aufgänge unter den beiden Dächern verschwinden. An
einigen Eck- Balken, die die vorspringenden
Obergeschosse stützen, sehe ich wundervolle
Schnitzereien. Leider sind sie der Witterung ausgesetzt
und arg angegriffen. Das gilt auch für das Balken- oder
Mauerwerk der meisten alten Häuser hier.
1957 wurde ein Stadterneuerungsprojekt mit dem
Ziel angekurbelt, viele verfallene, unhygienische
und baufällige Häuser abzureißen. Aber mit
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Beginn der 60er Jahre begann ein Umdenken. Die
Stadtverwaltung
ließ
ein
aktives
Restaurierungsprojekt vom Stapel, welches Tours
erlaubte, den historischen Stadtkern zu retten. So
können wir uns heute an Europas größtem
geschütztem Gebiet erfreuen. Dieses Areal des
alten Tours ist als „Plumereau“ bekannt. Der
Charme dieser bewahrten mittelalterlichen
Innenstadt ergreift uns auch bald, doch wieder
macht sich, um diesen so recht zu genießen, der
Zeitmesser geltend.
Plumereau Tours, Tierfigur in einem
Dann hatten wir freie Zeit um zu bummeln, aber
Kranzgesims über dem Erdgeschoss eines alten wie das so ist, wir hatten Kaffeedurst, und ich
Handelshauses
erinnere mich, wie wir in der Fußgängerzone ein
kleines Café aufsuchten, uns mit den Augen ein Gebäckstück in der neonbeleuchteten Vitrine
aussuchten und erschöpft vom Laufen ein Weilchen von dem Gesehenen ausruhten.
Ich hatte einen Stadtplan. Kein Problem also, den Weg zur Kathedrale allein zu suchen. Nun
befanden uns mitten im Alltag dieser Stadt, ließen uns in den Strom der Fußgänger einfangen,
schauten unterwegs in die Auslagen der Läden. Ich buchstabierte eifrig die französischen Wörter
und gab der lieben Martina den großen Mann ab, obwohl ich selbst auf sehr wackligen
Sprachfüßen stand. In einem ruhigen Park am Place François Sicard, abseits des Verkehrs, im
Anblick der mächtigen Türme der Kathedrale Saint Gathien, fanden wir eine freie Bank. Viele
Sitze waren von Studenten und jungen Müttern besetzt. Ich wechselte wieder einmal den Chip in
der Kamera. Dann standen wir auf dem großen Platz, und vor uns wuchsen die schlanken Türme
der Westfassade von Saint-Gathien aus dem Boden. Ihre Türme sind 69 und 70 Meter hoch. Ich
bekam kein vollständiges Foto. Wir gingen hinein und bestaunten die wunderbaren Glasfenster,
deren ganze Pracht gegen die von Chartres allerdings nicht heranreichte. Immerhin war es die
zweite große gotische Kathedrale, von deren imposanten Architektur ich beeindruckt wurde.
Ohne Erklärungen ist es schwer, Fakten und Informationen zu bekommen. Ich war auch heute
ziemlich geschafft, nach Villandry und Azay-le-Rideau. So ließ ich dieses Kirchenbauwerk nur
optisch auf mich wirken. Es gibt eine wunderbare Glasrosette. Wir wollten ins Hotel. Und so
suchten wir uns mit dem Stadtplan den Weg. Zunächst liefen wir um das große Bauwerk herum,
ich las im Weichbild ein Schild „Musée de Beaux Arts“, dann zogen wir durch trostlose, endlos
zugeparkte enge Nebenstraßen. Schließlich stießen wir auf den breiten Boulevard Heurteloup.
Den bummelten wir mit Anzeichen von Erschöpfung in Richtung Zentrum entlang, querten
einige Hauptstraßen, erkannten plötzlich linker Hand den Vorplatz zum Hauptbahnhof wieder,
wo wir unser Hotel wussten. Auf einmal fühlte ich mich in dieser Stadt sicher. Hier konnte ich
mich nicht mehr verlaufen. Ich hatte die Grundorientierung gefunden. Ich fragte nach dem
Fremdenverkehrsamt, um einen besseren Stadtplan zu bekommen als das Orientierungsblatt von
Françoise.
Martina zog es zu den Auslagen der Textilgeschäfte, auch sie hatte natürlich ihre Art, mit
fremden Städten Bekanntschaft zu schließen.
Ich musste mich auch aus diesem Informationspunkt langsam lösen. Heute Abend sollten wir
nämlich nicht im Hotel essen, sondern bei Amboise in einem Felsenrestaurant! Umziehen
möchten wir uns auch noch. Also bald Schluss mit Stadtgang.
Aber hier im Fremdenverkehrsamt oder wie es in Frankreich heißt, im „Office de Tourisme“
stieß ich auch beim Blättern in ausliegenden Büchern auf den Namen Karl Martell, der mit
Tours und seiner frühesten Geschichte zu tun hatte. Wer war Karl Martell?
© Rolf Bührend, Februar 2005
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In dieser Gegend nämlich, bei Tours und Poitiers schlug der fränkische Hausmeier2 Karl Martell
am 17. 10. 732 die Araber und vertrieb sie aus Frankreich. Lang, lang ists her. Ich gestehe, die
Antwort jetzt beim Schreiben nachzuschlagen, führt sie doch ins dunkle 8. Jahrhundert:
Karl Martell, Hausmeier des
Frankenreichs 715 - 741, * um
688, † 15. 10. 741 Quierzy; Sohn
des Hausmeiers Pippin II. (des
Mittleren) und der Chalpaida,
besiegte die Neustrier 716, 717
und 719 sowie die Araber 732 bei
Tours und 737 bei Narbonne.
Nach Theuderichs IV. Tod setzte
Karl
Martell
keinen
Merowingerkönig mehr ein und
regierte selbst, königlich geehrt.
Er erneuerte die Vorherrschaft der
Franken, auch in Burgund und in
der Provence. Um sich eine stets
schlagkräftige Gefolgschaft zu
sichern, stattete er seine Anhänger
mit Benefizien (Lehen) aus
Kirchengut aus.
Der legendäre Sieg Karl Martells über die Araber bei Tours und
Poitiers im Jahre 732 stoppt das Vordringen der Mauren nach
Norden, Kolorierte Kreidelithografie um 1860
Die Mission des Bonifatius im rechtsrheinischen Gebiet schützte er. Bei seinem Tod teilte Karl
Martell die Herrschaft unter seine Söhne Karlmann und Pippin dem Jüngeren.
Er soll einmal gesagt haben: „Wer andere beherrschen will, muss sich selbst beherrschen.“
Wie wahr. Damit ist fürs Erste der Ausflug in die französische Frühgeschichte beendet.
Ich brauchte etwas Geld und suchte einen Bankautomaten. Von Conny hatte ich gelernt, dass ich
ohne besondere Gebühren bei einer BNP3- Bank mit meiner Kreditkarte abheben kann. In der
Nähe des Rathauses in der Rue nationale fanden wir einen „distributeur de billet“, einen
„Verteiler von Geldscheinen“, und ich löste 150 € aus. Welch Unterschied zu früher, als man in
die fremde Währung umdenken musste! Martina zog mich in ein Kaufhaus von C&A und kaufte
sich einen weißen Pullover. Wir mischten uns unter das Volk. Zurück liefen wir einen anderen
Weg, nämlich über die „zone piétonne“, die Fußgängerzone, an deren Ende wir von oben
hineinsehen können. Viele kleine Läden finden wir hier, vielfach auf Touristenbedarf und Jugend
eingestellt, Schuhe, Kleidung, Modeschmuck, Cafés, hie und da einen Türken oder einen
Griechen. Die Fußgängerzone öffnet sich, Gewimmel an einer Kreuzung: Gare Tours. Wir sind
wieder im „Grand Hotel“ und haben noch etwas Zeit.
Letzter Abend in Tours. Treff soll 19.30 Uhr am Busbahnhof sein. So schlendern wir noch ein
wenig über den Bahnhofsvorplatz. Was liegt näher, als auch einmal in den Bahnhof hinein zu
schauen? Wir bummeln hinüber und tauchen unter der berühmten Laloux’schen Fassade in die
Halle ein. Gusseiserne Säulen im Jugendstil tragen ein Stahlgerüst, das in mehreren kühnen
2
Hausmeier, lateinisch maior domus, ist der höchste Amtsträger am fränkischen Königshof. Im 7. Jahrhundert
stand er an der Spitze des Dienstadels, der Hofgerichte und des Heeres, er verwaltete außerdem die Domänen. Den
Arnulfingern (Karolingern) gelang es 687, das Amt erblich für das ganze Reich an sich zu bringen. Die Hausmeier
wurden zu unabhängigen Regenten des Reiches und drängten die Könige zur Bedeutungslosigkeit herab. 751
übernahm der Hausmeier Pippin der Jüngere selbst das Amt des Königs; die Zeit der großen Hausmeier war damit
zu Ende.
3
BNP Banque nationale populaire, etwa: Nationale Volksbank
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Bögen die Bahnhofshalle überspannt. Glaslaternen lassen das schwindende Tageslicht herein.
Die Züge, les trains, haben andere Farben als bei uns. Palmen in großen Holzkästen verleihen
der Halle fast schon mediterranes Flair. Sauber gehaltene, glatte, dunkelgelbe großplattige
Bodenfliesen verleihen dem Gebäudeinneren einen sauberen Eindruck, im Gegensatz zu dem
Graphitgrau unserer Bahnhöfe zu Hause. Blechern klingende Lautsprecher und hastende
Menschen bilden aber zusammen das vertraute Gepräge - ein Bahnhof wie überall auf der Welt.
Dieser Blick genügte uns. Wir wollten auch nicht unsere Bus- Abfahrt verpassen. Draußen fühlte
ich mich von der herrlichen Fassade angezogen. Ich lotste Martina durch den dichten Verkehr
auf dem Vorplatz zum Busplatz gegenüber. Wir setzten uns auf eine Bank in der kleinen
schattigen Anlage. Es war ein wunderbarer Sommerabend. Gegen halb acht noch strahlte die
langsam untergehende Sonne die Fassaden der Häuser an und färbte sie in schimmerndes
Goldgelb ebenso wie die Vorderansicht des Bahnhofes. Dann trafen nach und nach unsere
Mitreisenden ein. Jeder hatte etwas Festliches aus dem Koffer gezaubert. Die Damen waren
sicher alle noch einmal mit dem heißen Kamm zugange gewesen. Alle waren wir gespannt.
Conny hatte schon ein geheimnisvolles Gesicht gemacht, als sie uns auf den Abend einstimmte.
Wir fahren in den Abend und verlassen Tours in
Richtung Amboise. Etwa auf halbem Wege
biegt der Bus von der Straße ab: Wir stehen vor
einer hohen efeubewachsenen Felswand, die
hier von der Straße zurückweicht und einem
Vorplatz Raum gibt, auf dem Blumenbeete,
Rosenhecken und schlanke immergrüne
Thujasäulen den Eingang zum „Restaurant La
Cave“ verschönern. Der Ort gehört zu
Montlouis-sur-Loire. Unsere Gruppe drängt sich
wie eine Herde Schafe zur Tränke an das kleine
Holztor, das wie ein schwarzes Loch in die
Wand hineinführt. Es ist in eine mit HolzFachwerk verstärkte Mauer eingelassen, die den
Höhleneingang trapezförmig abschließt.
Wir treten ein in das troglodytische4 Restaurant, dessen Räume tief in den weichen Kalktuff
eindringen und rund 500 Gästen Platz bieten. Diese uralte Felsenhöhle, eine von vielen hier in
der Touraine, hat seit Menschengedenken sicher viele Funktionen erfüllt, ist doch diese Region
im Loiretal seit der Steinzeit bevölkert. So bot sie zu allen Zeiten Schutz vor Wetter und
Feinden. Später nach der Erfindung der Bierbrauerei und des Weinanbaues hat die gleichmäßige
Temperatur im Innern des Berges die kühle Lagerung und Reifung der edlen Getränke
ermöglicht, bis heute die Attraktion der Kellergewölbe in Verbindung mit der Gastronomie den
größten Nutzen erzielt.
Wir bekommen hier ein ausgesuchtes Spezialitätenessen serviert, einen ersten kulinarischen
Höhepunkt:
1. Gang: Heiße Käsepastete
2. Gang: Gegrilltes Lachsfilet mit Spinattörtchen und Kartoffelcroissants
3. Gang: Glace à la menthe mit Sauce vanille
Wir lernten den hiesigen Wein kennen und bekamen ihn zu kosten, die Hausmarke Vin d’Antier,
genannt nach den derzeitigen Besitzern. Wir wählten einen Rosé aus und tranken zu viert eine
Flasche.
Angepriesen wird besonders der hier hergestellte Schaumwein, der Crémant de Loire. Er ist
aber nicht billig, und wir sind nicht sehr alkoholfest, so dass sich eine ganze Flasche nie lohnt zu
bestellen.
4
troglo ... [griechisch], Wortbestandteil mit der Bedeutung „Höhle
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Der Crémant wird aus folgenden vier Rebsorten gekeltert:
 Chenin blanc, ein weiße Traube, aus der süße und trockene Weine stammen,
 Chardonnay, der weißen Burgundertraube, aus der alle großen weißen Burgunder und
hochklassige Champagner,
 Pinot-Noir, eine rote Traube, die vollmundige Rotweine mit fruchtiger Note und
Brombeeraroma und auch Champagner gekeltert werden sowie der
 Cabernet- Traube, von der es die Arten Cabernet franc und hauptsächlich die bekannte
Cabernet sauvignon gibt, die klassische rote Médoc- Traube, aus der hochklassische,
langlebige Weine kommen.
Es war unsere erste Bekanntschaft mit einem Aspekt unserer Reise, das „Weinland“ Frankreich
kennen zu lernen. Hinzu kamen einige Köstlichkeiten für den Gaumen, so dass wir alle
hochzufrieden mit diesem herrlichen Tag und gut gelaunt im Finstern in unser Hotel
zurückfuhren.
Ein letzter Blick aus unserem Fenster im dritten Stock nach rechts hinunter auf das bunte Treiben
in der Fußgängerzone, die farbig und hell erleuchteten Lokale, die über die Straße gezogenen
Lichterketten und das vielgestaltige Gewimmel der meist jungen Leute, und nach links hinunter
auf das jetzt in magischem Dunkel liegende breite Gleisareal des Hauptbahnhofs und, wenn ich
mich weit hinaus beuge, das im Scheinwerferlicht prangende Portal, das in die Welt der
Schienenstränge führt.
Wir schließen die Fenster dicht, um es ruhig zu haben. Ungewohnt sind die Decken. Sie
klemmen am Fußende fest und spannen die Zehen krumm…
VIII. Cognac
Mittwoch, 3. September 2003
espannt wie eine Feder auf die Sehenswürdigkeiten des heutigen Tages bestiegen wir
nach ergiebigem „petit déjeuner“ im „Best Western“ 9.00 Uhr unser Gefährt. Ein
letzter Blick auf den Hauptbahnhof, dann rollten wir als Teil regen Vormittagverkehrs
über den Boulevard Heurteloup, über den wir gestern noch gebummelt sind, umfuhren die
herrliche Fontaine auf dem Place Jean Jaurè vor dem Hôtel de Ville von Tours und verließen die
Stadt gen Westen. Wenig später Knickte die Route ab und entführte uns stramm nach Südwesten.
Bald verließen wir das linke Ufer der Loire, die wegen der Hitze trostlos ausgetrocknet war und
als großer Fluss wenig beeindruckte, viele Kiesinseln und ausgebleichtes Ufergestrüpp dort
bloßlegte, wo in nassen Zeiten hoher Wasserstand ist.
G
Wir wechselten in die Region Poitu- Charentes, deren Hauptort Poitiers ist. Die Fahrt ging über
Poitiers, mit Karl Martell bereits erwähnt, wir nahmen nur flüchtig von dieser Stadt Kenntnis.
An der Autobahn, etwa 10 km nördlich vor Poitiers gelegen, sahen wir im Vorbeifahren den
„Futuroscope“, einen Freizeit- und Technikpark mit einer riesigen 600 m2 großen Leinwand, 16
Kinos, 360°-Circorama- Kino, 3D, Cinéma dynamique, das heißt eine Art Simulator, einen
Cinemax- Kristallpalast und anderen modernen Sinnesverführern. Auch das Nachbarland lockt
die Jugend und die Familien aufs freie Feld, um Geld abzuschöpfen.
Blauer Himmel und 27°C. Nach mehrstündiger Fahrt gelangten wir an die Charente nach
Cognac. Ankunft 12.30. Bald parken wir vor dem berühmten Unternehmen „Hennessy“ am Ufer
der Charente. Diese entspringt bei Rochechouart am Westrand des Limousin und schlängelt sich
360 km weit durch die Landschaften Angoumois und Saintonge und mündet bei La Rochelles in
den Atlantik. Zwischen Angoulème und Saintes bildet sie ein etwa 100 km langes, weites,
freundliches Tal, gesäumt von den Weinbergen des Cognac sowie reizvollen Städten und
Sakralbauten. Im Tal der Charente werden die weißen Trauben angebaut, die –zu Wein gekeltert
und zu Weinbrand destilliert- dem Städtchen Cognac Weltruf verschafft haben.
Nun schauen wir auf das grüne Wasser dieses Flusses und müssen warten, setzen uns auf eine
der zahlreichen Bänke und verzehren etwas Mitgebrachtes. Für 13 Uhr ist eine Führung gebucht.
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Die Fabrik dehnt sich von der Charente- Brücke des Ortes flussabwärts an beiden Ufern des
Flusses aus.
Am linken Ufer, dem Quai Maurice Hennessy, wo wir uns jetzt befinden, bestimmen zwei runde
Türme wie eine Festung das Aussehen dieser berühmtesten, aber nicht einzigen Weinbrandfabrik
von Cognac. Schwarze Flächen an den Wänden zeugen von der Arbeit der Mikroben, die bei der
Lagerung des Weines in den entweichenden Ausdünstungen ihren Nährboden auf dem Beton
suchen. Dahinter zieht sich ein lang gestrecktes Verwaltungsgebäude, in das wir nun gleich
hinein geführt werden. Auf dem Dach weht die rote Unternehmensfahne mit dem Namenszug
„Hennessy“.
Alles ist hier auf den
Kunden, auf gezielte
und allumfassende
Werbung
eingerichtet und- auf
Massenansturm.
Wie im Museum
bewegen unsichtbare
Geister die Türen,
Pfeile leiten den
Fremden in den
nächsten Raum.
An den Wänden hängen Plakate, Bilder, Schrifttafeln. In einem Kinoraum kann man die
Geschichte des Hauses Hennessy verfolgen, auf Knopfdruck oder Bestellung immer und immer
wieder. Sicher kommen in der Saison täglich Dutzende von Bussen und bringen neugierige und
am Ende zahlungskräftige Besucher. Sind wir es auch?
Im Empfangsbereich begrüßt uns eine elegant gekleidete sehr selbstsichere junge Dame, die sich
uns als Madame Claire vorstellt. Sehr impressiv und anschaulich erklärt sie uns in auswendig
gelerntem Deutsch zunächst die Hausgeschichte. Sie ist von langer Tradition. Dokumente, Filme
und alte Gegenstände aus dem Erbe des Unternehmens erzählen vom Leben des Gründers
Richard Hennessy, der 1765 unter Ludwig XIV. aus Irland hierher kam.
Nach dieser kurzen Führung erwartet uns ein Erlebnis besonderer Art. Wir werden auf ein
firmeneigenes Boot gebeten, alle 50 Leute, fahren ein Stück die Charente hinauf, unter der
Brücke durch, wenden, ein Stück zurück und legen am anderen Ufer an. Nun sehen wir die
eigentlichen Produktions- und Lagerräume und erfahren hier beeindruckende Details über die
Kognak- Herstellung. Wir werden von der dunklen ersten Lagerhalle verschluckt und stehen in
einem versenkten Rundteil vor einem riesigen Panorama. Wir sitzen auf Cognac- Kisten und
sehen die Weinberge um Cognac im Modell. Um Cognac herum wachsen an beiden Seiten der
Charente je nach Lage die vier „Premier Crus“:
Grand Champagne, Petite Champagne, Borderies,
Fins Bois.
Ihre Wärme schöpfen sie aus dem kalkhaltigen
Boden, der schnell die milden Sonnenstrahlen
aufnimmt. An der Wand sehen wir in Glasvitrinen
die einzelnen Vegetationszyklen eines Rebstockes
über die Jahreszeiten, die Winzerarbeiten in den
einzelnen Monaten, Schnitt, Pflege. Lese. Dann
gehen wir in Räume, die an Modellen und
glänzenden Laborapparaten erkennen wir die
weitere Verarbeitung: Trennen vom Gestrunk,
Pressen, Vergären, Aufwärmen, Destillieren.
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Dann die Reifung in Eichenholzfässern. Die Herstellung der Fässer wird gezeigt.
Alles geschieht hier in diesen Räumen. Sehr altes gelagertes Holz wird verwendet, es entstehen
handwerklich sorgfältig handgearbeitete Dauben, mit Feuer ausgebrannt, gespundet und
gedichtet. Dann endlich kann und muss der Brand gelagert werden.
Wir staunen über die endlosen Stapel von Fässern, die mit Kreide die Jahreszahl tragen, die
ältesten von etwa 1930. 200 000 Fässer reifen hier und ruhen. Weichholzreifen, vorsorglich um
die Fässer gelegt, lenken den Holzwurm ab. Diese darf er „verspeisen“. Das Eichenholz der
Dauben ist für ihn tabu. Fünf Jahre mindestens lagert er hier, eher geht er nicht hinaus zum
Genießer.
Der Hennessy geht in 148 Länder der Erde, davon 50% in die USA, 25% nach Irland, wo er sich
außerordentlicher Beliebtheit erfreut. 1% bleibt in Frankreich. Hier trinkt man Wein!
Das Boot bringt uns wieder auf die andere Seite zurück. An einer Bar erleben wir eine
Verkostung dieses hochprozentigen Stoffes, natürlich mit dem Hintergrund und dem Zeigefinger
auf ein reiches Verkaufsbuffet, wo in wunderbaren Verpackungen das edle Getränk in allen
Preislagen präsentiert wird. Die teuerste Geschenkpackung kostet etwa 1200 €.
Mit dem Probierglas in der Hand konnte ich nebenbei eine kleine Ausstellung über den
französischen Zeichner Jean- Jacques Sempé genießen.
Beeindruckend fand ich seine
Kohlezeichnungen, die hier im
Original hingen. Heute weiß ich erst,
was ich da gesehen habe, die Werke
des Schöpfers der wunderbaren
Zeichnungen von Asterix und
Obelix, vom Petit Nicolas und
vielem anderen, die ihn zusammen
mit dem Autoren René Goscinny
weltberühmt gemacht haben.
Besonders im Mittelpunkt dieser
Ausstellung stand das Missverhältnis
zwischen Mensch und Natur und das
Missverhältnis des Menschen zu
seiner urbanen Umwelt.
Sie trug das Motto: „Der Mensch in der Stadt- Paris und New York“. Satire? Abbild der
Realität? Ein winziges bisschen benebelt und beschwingt rafften wir uns auf, musste ich Martina
bereden, ein kleines Souvenir mitzunehmen. Der Effekt, den sich Madame Claire nach ihren
Bemühungen von uns erhoffte, trat also tatsächlich ein. Wir kauften eine 0,2-Liter-Flasche
echten Hennessy- Weinbrandes. Mindestalter garantiert 5 Jahre. Jetzt ist er bereits 7 Jahre alt.
Dann hatten wir etwas eigene Zeit für einen Stadtbummel.
Wir liefen los, bergauf, über Kopfsteinpflaster und durch alte Gassen. Über allem waberte der
Geruch vergorenen Mostes, alkoholischen Weindunstes. An vielen Wänden hatte sich
Schwarzschimmel festgesetzt. Alte Häuser, die verschwiegen und verschlossen nichts von ihren
Bewohnern verrieten. Es war hoher Mittag und sehr warm. Wir verspürten Hunger. Martina hatte
noch einiges im Stadtrucksack mit. Wir wollten so viel wie möglich von der Stadt sehen und
kehrten nicht ein.
Das Südende des kleinen, 19500 Einwohner zählenden Städtchens war schnell erreicht. Wir
kehrten um, wollten uns nicht verlaufen. Im Office du Tourisme in der Rue du 14-Juillet erhielt
ich einen Stadtplan. Die nette Frau machte ein Kreuz, wo wir jetzt sind. Nun konnte nichts mehr
schief gehen. Cognac. Die Stadt macht ihrem Namen alle Ehre. Überall trifft man auf bekannte
Namen weltbekannter Weinbrandhersteller, die hier produzieren.
Im 17. Jahrhundert entwickelte man hier das Verfahren, aus 10 Litern dünnen Weines dieser
Gegend 1 Liter ordentlichen Weinbrand zu machen. Einwanderer der britischen Inseln nahmen
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im 18. Jahrhundert die Sache in die Hand. Jean Martell aus Jersey, der irische Soldat Richard
Hennessy, der schottische Baron Otard. Die Firmen Otard, Hennessy, Camus, Rémy Martin
und Martell unterhalten große Reifungskeller, zum Teil mit großen Küferwerkstätten, so wie wir
sie eben sahen. Wir suchten uns in einem stillen Innenhof ein ruhiges Plätzchen, Martina in der
Sonne, ich im Schatten. Dort blies uns ein Schluck Kaffee aus der Thermoskanne wieder neue
Lebensgeister ein, die unter Alkohol und Mittagshitze zu schwinden drohten. Bald standen wir
auf dem Place François I. Ein heroisches Reiterdenkmal beherrscht den Platz. Foto.
Der Boulevard Denfer- Rochereau muss uns wieder zum Parkplatz zurückführen, vorbei an
wenig interessanten Ladengeschäften, dem einladend kühlen und schattigen Park, dem Jardin
public, in dem das Rathaus steht. Weiter unten, dem Flusse zu, etwas zurückgesetzt, befindet
sich die chais1 der Firma Otard, untergebracht seit 1795 im Ancien Château, dem ehemaligen
Schloss der Valois (13. und 15./16. Jh.), in dem 1494 der spätere König Franz I. zur Welt kam.
Verschwitzt, aber pünktlich 16 Uhr bestiegen wir den wartenden Bus zur Weiterfahrt.
Im Tal der Charente geht es ungefähr 30 km westwärts bis nach Saintes, einem Städtchen mit
27500 Einwohnern. Kurz vorher lässt Conny halten, um uns einen ruhigen Blick auf die
Attraktion dieses Ortes zu verschaffen.
Saintes war im Altertum Hauptort der
keltischen Santonen. Das Amphitheater
konnte 20 000 Menschen aufnehmen, fast
die gesamte heutige Bevölkerung. Im
Mittelalter war Saintes eine wichtige Station
der Pilger auf dem Jakobsweg. Das stellt in
der Ortsmitte auf einer Kreisverkehrsinsel
eine bronzene Pilgergruppe dar. Was wir
uns aus der Ferne anschauen konnten, war
der 72 m hohe, riesige und klotzige
Portalturm aus dem 15. Jh. der
ehemaligen Kathedrale St-Pierre. Wir
passierten den Ort im Schritttempo, konnten
ihm aber sonst weiter nichts abgewinnen.
Weiter ging es nun direkt nach Süden, die Route knickte ab, und ob wir nun Autobahn oder
Landstraße benutzten, ist unbedeutend. Ein Höhepunkt war der Übergang über die Dordogne.
Eine stählerne Hängebrücke, Schiffe und Hafenanlagen sind am Horizont zu sehen. Wir
verlassen die Region Poitou-Charentes und kommen in die Aquitaine, deren Hauptort unser
heutiges Ziel, Bordeaux, ist. Bei Bordeaux fließen Dordogne und Garonne zur Gironde
zusammen und bilden eine riesige Trichtermündung, in der am Atlantik ein gewaltiges
Gezeitenkraftwerk die Kraft von Ebbe und Flut in Strom umwandelt. Dann überqueren wir auch
noch die Garonne.
Wir befinden uns nun im berühmtesten Weinanbaugebiet der Welt. Nirgendwo sonst werden auf
kleinstem Raum so unterschiedliche, aber gleichermaßen hervorragende Weine gezogen, ein
Viertel des gesamten französischen Weinaufkommens, etwa 6 Millionen Hektoliter edelster
Tropfen. Der Name Bordeaux hat Klang, und das Dröhnen in meinen Ohren wird lauter, je
näher wir dieser Stadt heute kommen. Die Spannung bleibt aber noch über eine Nacht erhalten.
Draußen sind 28°C. Viel Grün ist auch hier vertrocknet, meiner Meinung aber weniger als in den
nördlichen Regionen, durch die wir kamen. Gewerbeparks. Über Nebenstraßen im nördlichen
Vorort Merignac fahren wir das triviale Hôtel Alton an, direkt an einer verkehrsreichen lauten
Durchgangsstraße, und wir erhalten auch noch ein Zimmer auf dieser Seite.
Ich kratze mein Französisch zusammen und mache der netten Hostess am Tresen klar, dass es für
uns zu laut wäre, etwa so: „Le bruit véhiculaire est trop fort. Nous ne pouvons pas dormir. S'il
vous plaît donnez-nous une pièce à la cour.“ Wir erhalten ein Zimmer zum Innenhof, das uns für
1
chais, frz. Wein- und Spiritousenlager
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zwei Nächte beherbergen wird. Martina geht es nicht gut. Sie ist schwach und hat
Kopfschmerzen. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich sehr umtriebig bin und sie überall
mit hinschleppe. Vielleicht ist diese Rundreise für sie auch zu anstrengend?
Wir können uns noch so schnell zum Essen umziehen, das Notwendigste aus dem Koffer
auspacken- immer sind schon eine Menge Leute vor uns da, wenn es zum Essen geht und
rammeln in den kleinen Flachbau im Innenhof des Hotels. Alle schauen uns aus sicherer
Sitzposition neugierig an. Nun gut, das muss man eben ertragen. Massentourismus. In drei
Tischreihen eng an eng gepresst, bekommen wir unser gebuchtes Essen. Ich mag keinen Fisch
und habe hier und da Probleme, aber wegen des Essens verreise ich ja nicht. So will ich denn
auch nicht mehr davon berichten.
IX. Bordeaux
Donnerstag, 4. September 2003
in großes Programm wartet auch heute auf uns. 8.30 Uhr starten wir zur Stadtrundfahrt.
In flotter Fahrt bringt uns der Bus in das Zentrum der großen Stadt an der Garonne. Wir
können aus dem Auto heraus die kleinen Gewohnheiten der zur Arbeit fahrenden
Menschen studieren. Vorwiegend Kleinwagen, vorwiegend Dieselautos sind unterwegs, manche
auch auf Motorrädern. Das verrät, dass im Durchschnitt die Menschen hier ärmer als im reichen
Deutschland sind. Diesen Trend konnte ich auch in Italien beobachten. Händler packen ihre
Auslagen auf die Gestelle am Bordsteig. Schon in zeitiger Frühe haben sie am Großmarkt das
Gemüse und Obst herangeholt. Schüler streben ihrer Schule zu. Ich könnte heute nicht mehr
sagen, ob wir links oder rechts der Garonne gewohnt haben. Wir fuhren den großen Boulevard
Georges Pompidou entlang. Viele neue Arbeiterhäuser sieht man, zweigeschossig, mit hellen
Zweizimmerwohnungen. Wenn ich mich recht erinnere, hat der große Architekt Le Corbusier
hier die Arbeitersiedlung Cité Frugès gebaut. Die Stadt Frugès ist ein Viertel von Pessac, bei
Bordeaux, gebaut durch Le Corbusier 1926, im Auftrag von einem aus Bordeaux stammenden
Industriellen Heinrich Frugès, mit dem Ziel, seine Arbeiter menschengerecht unterzubringen.
Dabei wollte Le Corbusier (1887 – 1965) die folgenden fünf Aspekte verwirklichen ("Vers une
architecture", 1923):
E
1. Das Haus auf Säulen
Der Stahlbeton schenkt uns die Säulen. Das Haus schwebt nun
in der Luft, ist vom Boden getrennt, und der Garten setzt sich
unter ihm fort. Auch auf dem Haus, auf dem Dach, befindet sich
ein Garten.
2. Der Dachgarten
Die bebaute Fläche eines Grundstückes kann durch ein flaches
Dach zurück gewonnen werden. Dieses muss einerseits wohnbar
gemacht werden, andererseits bedarf das Dach eines Schutzes.
Der Dachgarten wird zum bevorzugtesten Aufenthalt des Hauses
und bedeutet außerdem für eine Stadt den Wiedergewinn ihrer
ganzen bebauten Fläche.
3. Der freie Grundriss
Das Säulensystem trägt die Decken aller Stockwerke. Die
Trennungswände können in jedem Geschoß beliebig aufgestellt
werden, ohne daß die Säulen der freien Grundrissgestaltung
hinderlich wären.
4. Die freie Fassade
Durch Vorschieben der Decken vor die tragenden Pfeiler,
wodurch eine Art rings um das Gebäude führender Balkon
entsteht, wird die Fassade von allen tragenden Bauteilen befreit.
Die Fenster können beliebig ausgedehnt werden, zum Vorteil
der Gliederung im Innern.
5. Das lange Fenster
links
die
von
Le
Corbusier
Zwischen Decken und Säulen entstehen im Fassadenbild
vorgeschlagene, rechts die traditionelle
rechteckförmige Öffnungen, welche den Räumen eine
Lösung
vollkommene Beleuchtung ermöglichen. Man erhält von Pfeiler
zu Pfeiler lang gezogene Fenster, so dass die Zimmer von Wand
zu Wand gleichmäßig beleuchtet werden.
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Der neue Aspekt der Häuser aber hat geschockt. Ihre Dachterrassen
gaben ihnen ein total ungewöhnliches Aussehen. Man hat die Stadt
Frugès die " Marokkaner- Stadt " gerufen. Niemand wollte die
Häuser kaufen. Die meisten obdachlosen Familien, denen sie
zugeteilt wurden, hatten nicht die Mittel noch die Lust sie zu
unterhalten oder die Architektur von Le Corbusier zu respektieren.
Sie fanden sie ungünstig oder sie liebten sie nicht.
Resultat: Die Häuser sind verkommen, oder sie sind von
Hinzufügungen verfälscht worden, die total mit dem anfänglichen
Projekt brachen. Heute hat sich natürlich dieses offene
naturverbundene Wohnempfinden durchgesetzt. Die Häuser sind
modernisiert worden und haben ihre Liebhaber gefunden.
Wir passieren schöne Platanenalleen. Sie werden mir in Südfrankreich noch oft ins Auge fallen.
Wir nähern uns der Innenstadt: Baustellen, Umleitungen, Staus. Gegenwärtig wird in Bordeaux
allgemein ein System von Straßenbahnen eingeführt. Wohl auch zur Reduzierung des Smogs und
der Dieselabgase der Busse. Sie soll Ende 2004 fertig sein. Die gesamte Innenstadt ist eine
einzige Baustelle, Hauptverkehrsadern sind gesperrt, und so trübt sich der Blick des Fremden auf
die Schönheiten der Stadt. Tiefe, abgesteifte, offene Baugruben, Krane, Baustellenfahrzeuge,
Bauarbeiter mit farbigen Helmen.
Auf dem cours du maréchal juin stoßen wir ins Herz der Stadt. Am cours d’Albert biegen wir
rechts ab. Links erheben sich das große Gebäude des tribunal de grande instance und im
Anschluss das palais de justice, der Gerichtspalast. Man ahnt, dass hier das Recht verteidigt
wird. Das erste Gebäude ist ein ultramoderner Glas- und Stahlbau, das zweite eine altehrwürdige
Einrichtung im Stile des Neoklassizismus. Place de république. Gegenüber das wuchtige Massiv
des Hospitals St-André. Es lag einst an einer der Stadtmauern, die im 4., 11. und 14. Jahrhundert
um Bordeaux gezogen wurden.
Im morgendlichen Stauverkehr quälen wir uns nun im Schritttempo über die cours de victor
hugo auf die Garonne- Brücke zu, den berühmten pont de pierre, vorbei an der porte de
bourgogne, einem der alten Prunkstadttore von Bordeaux, erbaut 1750 -1755, am place de bir
hakeim. Es liegt am Jakobsweg, und anstelle eins Tores gestaltete man diesen Eingang zur Stadt
wie einen Triumphbogen. Ich kann nur schauen, mache mir Notizen, verdrehe den Kopf auf
meinem ungünstigen Sitzplatz im Bus. Die Bedeutung und Hintergründe der Sehenswürdigkeiten
erfahre ich erst viel später, zum Teil aus dem Stadtprospekt, das uns Conny am Nachmittag
austeilt.
Wir überqueren den großen Fluss. Er führt wenig Wasser und ist hier 500 m breit. Die Garonne
ist insgesamt 635 km lang. Von hier bis zur Mündung in den Atlantik sind es noch 100 km.
Der Blick weitet sich auf das gesamte Ufer. Flussaufwärts ragen Krane und Masten in die Höhe.
Schiffe sind zu sehen- immerhin ist Bordeaux der sechstwichtigste Hafen Frankreichs!
Links abbiegen, dann halten wir am quai de queyries und dürfen aussteigen: Fotostopp für 20
Minuten. Wir sind auf der Seite La Bastide, schräg hinter uns liegt der ehemalige Bahnhof
Ancienne Gare d’Orléans. Vor mir liegt das linke Ufer der Garonne und die wunderschöne alte
Brücke. Sie wurde unter der Herrschaft Napoleons von 1810 – 1822 gebaut und schwingt sich in
17 eleganten Bögen über den Fluss. Im Morgenlicht leuchtende, schmiedeeiserne Kandelaber,
stehend und hängend, immer im Wechsel auf jedem Pfeiler, begleiten den Brückenzug.
Am anderen Ufer breitet sich die Altstadt von Bordeaux. Über der einheitlichen Höhe der
Häusermasse ragt wie eine spitze Nadel der 47 m hohe separate Glockenturm Pey- Berland der
Kathedrale Saint- André empor. Bordeaux wurde einst auch „Kleines Rom“ genannt. In der
Altstadt kreuzten sich Cardo maximus mit Cardo decumanus.
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Wir wenden am Brückenkopf, dem Place Stalingrad, und fahren zurück, diesmal nach rechts die
Quais am Ufer entlang. Zuerst fällt in Verlängerung der Rue Victor Hugo der klotzige Turmbau
des Grosse Cloche2 (13. Jahrhundert) auf. Hier hängen die ehemaligen Sturmglocken des
Rathauses und befinden sich Überreste einer der alten Stadtmauern.
Wir passieren den Triumphbogen Porte Cailhau am Place du Palais, der zu Ehren Karls VIII.
errichtet 1496 anlässlich seines Sieges 1495 bei Fornoue nahe Taro in der Emilia, einem kleinen
Flecken in Italien, in der Po- Ebene, als er von Neapel zurückkam und die Truppen der Koalition
erfolgreich schlug. Karl VIII., ein Valois, war 1483 – 1498 König von Frankreich.
Der Place de la Bourse3 war einst Ludwig XV. als Place Royale gewidmet, der von 1715 bis
1774 Frankreichs König war, er ist von einem monumentalen Gebäudekomplex umschlossen. Er
hat, von oben gesehen, die Form eines griechischen Omegas. An der Basis steht ein Brunnen mit
den drei Grazien. Wir sehen viele Gebäude, wundervolle Architektur, hören von vielen
berühmten Männern, von Frauen weniger, die alle tief in die französische Geschichte führen.
Einige Beispiele habe ich schon gegeben.
Ein Blick ans Ufer lenkt mich ab. Hier liegt vor Anker, jetzt ein Museumsschiff, der
Kriegskreuzer „Le Colbert“, mit dem der frühere französische Präsident Charles de Gaulle
während des Weltkrieges als Kommandant gefahren sein soll.
Wir parken in der Allées de Bristol und laufen über die Esplanade des Quinconces, dem größten
Platz Europas. Er hat 12,6 ha Größe. Bis 1810 stand hier noch das Château Trompette, das
Ludwig XIV. gegen die aufmüpfige Bevölkerung errichtet hatte. Während der III. Republik
(1892- 1902) wurde zu Ehren der 1793 in Bordeaux hingerichteten Girondisten ein 50 Meter
hohes Ehrenmal errichtet. Es ist ein exzellentes Brunnenbauwerk und allegorisches Denkmal.
Reptilartige Pferde sind das Meisterstück des Ensembles, die unter tosenden Fontänen jede
Menge Symbolik darstellen.
Die Säule krönt ganz oben eine Frauengestalt
„Die Freiheit zerbricht ihre Ketten“. Unten sind
am Fuße in allen Himmelsrichtungen bronzene
Figurengruppen gestaltet. Auf der dem Fluss
zugewandten Seite sind der gallische Hahn, die
Beredsamkeit und die Geschichte die einzigen
Anspielungen auf die Girondisten. Leere
Podeste künden davon, dass sie nicht mehr da
sind. Auf der Stadtseite symbolisieren
Frauengestalten die Stadt Bordeaux, die
Garonne und die Dordogne.
Auf der Theaterseite ehrt eine weitere
Figurengruppe „Triumph der Republik“ die
Arbeit (Schmied), die Sicherheit und die
Kraft (Löwe). Eine von reptilartigen
Pferden oder Fischen gezogene Quadriga
treibt die maskierte Lüge, das Laster und
die spitzohrige Unwissenheit in den
Abgrund.
Ein junger Kunststudent hat übernommen,
uns ein wenig von der Altstadt zu zeigen.
Sein Deutsch war mit vielen Äh’s gespickt.
2
3
grosse cloche, frz. dicke Glocke
Place de la bourse, frz. Börsenplatz
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Trotzdem bewundere ich jeden, der eine Fremdsprache so gut beherrscht, dass er Menschen
dieser Zunge durch seine Stadt führen kann.
Zu Fuß gelangen wir nun zum Place de la Comédie. Hier steht das 1773 – 1780 erbaute Theater.
Der Platz war voll aufgerissen. Wir stehen auch bald am Kreuzpunkt der alten römischen
Straßen. Wir biegen ab und kommen an den verschwiegenen, vom Straßenverkehr verschonten
Marché Royal, der nach der Revolution Place Liberté hieß. Hier entließ uns der Führer. Wir
kauften etwas Gebäck zur Stärkung. Ich wollte unbedingt ins Office de Tourisme4, um etwas
mehr Material über die Stadt zu erlangen. Also eilten wir allein weiter, Martina und ich. Es
gelang nicht mehr. Am Place des grands hommes, einem Zeichen der Baukunst zur Zeit der
Revolution etwa 1795, sahen wir schon das Büro, doch die Stechuhr lief auf 11.45 Uhr. Wir
mussten zum Bus! Abfahrt aus Bordeaux.
X. Das Bordelais
W
Vignoble = Weinberge
ir haben keine Zeit für eine
Mittagsrast. Alles wird
zwischendurch
erledigt.
Das erste Ziel ist eine Dégustation,
eine Weinverkostung im HautMédoc. Wir fahren nicht lange und
halten gleich neben der Landstraße.
Château ANEY lesen wir. Im
Vorraum steht der Winzer, ein wenig
erschrocken über die 50 Leute, die
sich um ihn und Conny drängen, die
fließend seine Erklärungen übersetzt.
Der Weinbauer, im weißen T- Shirt,
erzählt von seiner Arbeit im kleinen
Familienbetrieb,,
zeigt
uns
anschließend sein Flaschenlager, das
Fasslager, die Abfülleinrichtung, die
Etikettiermaschine
und
Endabfertigung. Dann dürfen wir –
erste Weinprobe dieser Reise – drei
rote Weine verkosten, Jahrgänge
1998, 1999, 2000, natürlich in
umgekehrter
Reihenfolge,
in
steigender Reife und Güte. Dazu gab
es Camembert und Weißbrot. Das war
unser Mittagessen.
Wer nimmt es übel, wenn wir einmal mehr in das Körbchen langten, als schicklich gewesen
wäre, um den Geschmack für den nächsten Schluck zu neutralisieren?
Einen 1999er nahm ich mit. Schon des Andenkens wegen liegt diese Flasche heute noch in
meinem Keller. Château Aney 1999. Außerdem boten der Winzer und seine Frau noch
verschiedene Konfitüren und Pasteten an, die sehr verlockten. Eine Leberpastete ging mit.
Dann wenden wir und fuhren nun in die östliche Richtung. Die Anbaugebiete im Bordelais
beginnen noch im westlichen und südlichen Teil des Stadtbereiches von Bordeaux; die
berühmten Châteaus Haut- Brion sind Flecken in Vorortsiedlungen.
Hier sind die wichtigen Hauptbereiche im Bordelais, ihre Weine und Hauptrebsorten. Man trinkt
gewöhnlich „einen Bordeaux“ und ahnt nicht, in welcher Vielfalt man sich verfangen kann:
4
Office de Tourisme, frz. Fremdenverkehrsamt, Informationsbüro
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Südliches Gironde- Ufer: Haut-Médoc, Médoc (Rotwein: Cabernet Sauvignon, Cabernet Franc.
Sie begegneten uns schon im Felsenkeller bei Tours! Dann der Merlot. Berühmte Marken sind
Lafite- Rothschild, Latour, Château Margaux. Hier waren wir heute also und haben einen Wein
kennen gelernt. Ich will nur die Rotweine aufzählen:
Südliches Garonne- Ufer: Pessac- Léognan, Graves mit den Trauben Cabernet Sauvignon und
Cabernet Franc. Berühmt sind Haut- Brion, Domaine de Chevalier, Fleuzal, Rahoul.
Nördliches Dordogne- Ufer: Anbauorte sind Fronsac, Pomerol, St-Emilion mit den Rotweinen
Merlot, etwas Cabernet Sauvignon und Malbec, auch Cot genannt, in geringen Mengen
angebaut.
Das ist ein kleiner Einblick in ein Gebiet, in dem vorwiegend die Sinne Geruch und Geschmack,
vielleicht noch das Auge herrschen und entscheiden, was uns gut tut.
Conny gibt sich Mühe, während der Fahrt nach Saint Emilion uns noch einiges nahe zu bringen.
Die besten Weinanbaugebiete haben so genannte Herkunftsbezeichnungen. Derzeit gibt es in
Frankreich etwa 250 Appellationen, ihr Anteil macht rund 30% der Weinerzeugung aus. Eine
solche Appellation d’origine contrôlée (AOC) stellt die Herkunft, die Erzeugungsmethode, die
verwendeten Rebsorten und die Produktionsmengen einer Weinsorte sicher.
Dann gibt es noch die uns von zu Hause bekannten Vin de pays, Landweine, die aus bestimmten,
auf dem Etikett vermerkten Gebieten kommen und nicht verschnitten werden dürfen.
Zuletzt gibt es Vin de table, Tafelwein. Diese dürfen aus verschiedenen Anbaugebieten
miteinander verschnitten werden.
Dann gibt es noch das kleine Wörtchen „cru“, gesprochen krü. Das heißt eigentlich Gewächs,
ursprünglich war es der Name eines einzelnen Weinberges. Heute bezeichnet es einen Wein von
besonders guter Lage und gehobenen Qualität. Ein „grand cru“ ist also ein Spitzenwein.
Rechts und links aus dem Fenster sehe ich nur Weinfelder, bis an den Horizont, immer einmal
ein kleines Gut oder ein stolzes Château dazwischen.
XI. Saint Emilion
E
rsten Sichtkontakt mit diesem berühmten Weinort haben wir zur „Grand Murailles“, der
alten sehr hohen Stadt- oder Festungsmauer, von der nur noch ein Rumpf mit vier
Stützmauern vorhanden sind. Vielleicht ist es auch eine alte Kirchenruine. In der Nähe
fängt uns ein Parkplatz auf. Wir passieren eine kleine Ladenstraße, ähnlich unserem Konsum.
Eine Stadtführung ist angesagt. Wir überqueren die Hauptstraße, die Landstraße 932, die nach
Bergerac führt. Wir befinden uns etwa 40 km östlich Bordeaux im fruchtbaren Tal der Dordogne,
auf deren nördlichen Seite.
Ein großes Gewimmel herrscht hier im historischen Teil des Städtchens, das etwa nur 2800
Einwohner hat, es ist ein Anziehungspunkt vieler Individualtouristen, vor allem auch Franzosen,
und jetzt ist noch Ferienzeit in Frankreich.
Die Führung verzögert sich noch eine halbe Stunde. Wir gehen schon einmal auf Entdeckung,
bummeln durch den am Dordogne- Hang gelegenen Ort. Es gibt steile, treppenförmige alte
Gassen mit glatt geschliffenem Kopfsteinpflaster, das bei Feuchtigkeit extreme Rutschgefahr
birgt. Der Kalkstein wird schnell glatt. Reizvolle Winkel bieten dem Auge immer wieder
Überraschungen.
Dann winkt uns vor dem Office du Tourisme eine sehr dicke aber bewegliche Frau zusammen
und geht mit uns zuerst zu dem Place du Marché. Eine Akazie von 1848 ist hier eine Attraktion,
aber das eigentliche Ziel vieler Touristen ist die einzigartige Felsenkirche, die Église Monolithe.
Sie entstand zwischen dem 8. und 12. Jahrhundert. Über 300 Jahre bosselten die heiligen Männer
aus einer Felsenhöhle in den relativ weichen Kalkstein einen unterirdischen Kirchenraum von 38
x 20 x 11 m3, das sind 8360 m3 Gestein! Dann baute man in den folgenden Jahrhunderten oben
drauf einen Kirchturm, erst in romanischem, dann als sich der Geschmack änderte, eine gotische
Turmhaube. Heute stellt man durch Messungen fest, dass die große Höhle trotz der stehen
gelassenen Stützen den schweren Turm nicht mehr tragen will.
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Man umwehrte die Stützen, die ja noch belassenes
Gestein sind, nahm schwere Glocken aus dem Turm
und lässt Besucher nur in Führungen ein. Das
jährliche Wechselspiel des Wassers und die Chemie
spielen dabei eine große Rolle. Wir dürfen also
hinein. Unsere beleibte Madame, die übrigens ein
ganz langes blaues Kleid trägt und darin ihren
eigenen Charme ausstrahlt, schließt sorgfältig hinter
uns wieder ab. Wir stehen in der dunklen feuchten
Kaverne, in der jahrhundertelang Mönche ihre
Frömmigkeit lebten. Dann fallen die schweren
Stahlträger ins Auge, verderben gleichermaßen die
heilige Stimmung, die eine Kirche im Innern
aussendet. Die Stützen enden zwar in einer Art
Gewölbe, jedoch scheint der Kalkstein porös, und
mit dem Wasser nagt der Zahn der Zeit. Technische
Gedanken kommen in mir auf: Gesteinsdichte, Masse
pro Kubikmeter, Stützlasten pro Quadratzentimeter,
Feuchtigkeitsmessungen, Trocknungsmaßnahmen…
Es gibt nur wenige Reliefs an den Wänden, die an die sakrale Nutzung dieses Kirchenraumes vor
Zeiten erinnern. Wir verlassen den Raum durch einen seitlichen Gang und geraten in ein
Höhlensystem mit einem Abfluss der Gebirgswässer, stehen in größerem Hohlraum, die wohl in
ihrer Nutzung in die ganz alte Zeit weist. Schächte nach oben bilden eine Art Ventilation. An den
Wänden haben sich, wohl auch durch die Scheinwerfer, grünliche feuchttriefende Algenfelder
gebildet. Wir gehen immer abwärts. Einige Stufen noch, dann öffnet die Führerin plötzlich eine
Holztür. Wir stehen in einem sonnenüberfluteten engen Hof, stellen uns vor einer steilen Stiege
an, die uns zu einer Katakombe führt, die unterirdische Klause eines Eremiten.
Wir erfahren, während wir auf den nächsten Einlass- Schub warten, etwas Näheres über die
Geschichte des Ortes:
Sankt- Emilion hat seinen Namen von diesem Benediktinermönch Emilian (lateinisch
Aemilianus), der kam, um sich hier in einer dieser Höhlen als Einsiedler niederzulassen. Er
installiert seine Einsiedelei in einer Höhle, wo er angeblich 17 Jahre lang gelebt haben soll, von
750 bis 776. Natürlich haben später auch heilige Leute dieses Leben nachgelebt. Emilian kommt
aus der galloromanischen Gegend von Ascumbes. Er vereinigte weitere Benediktinermönche,
wird ihr Führer und gibt der Stadt seinen Namen. Das Fundament von Sankt- Emilion, einem
religiösen Ort, ist errichtet.
Vom 9. bis etwa zum 12. Jahrhundert, unter dem Impuls, den der Heilige Einsiedler gab,
unternehmen es die Benediktiner Mönche, diesen monumentalen Kirchen- Monolith aus dem
Felsen zu graben, die natürlichen Höhlen zu erweitern. Sie werden 3 Jahrhunderte brauchen, ihr
von höherem Ruhm gekröntes Werk zu vollenden. Es ist einzigartig.
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Im 12. Jahrhundert schon wird die Stadt umgeben sein von der Konstruktion von 2 km langen
Festungsmauern, flankiert von 6 Toren, durch die Erbauung eines Zitadelle-Bergfriedes, der
Königsturm, geschützt, (Anfang 13. Jahrhundert), und von einem inneren Wall.
1190 gibt eine Charta, die von Jean Ohne Erde unterschrieben wird, Sankt Emilion Offenheit,
Privilegien und freie Rechte einer Stadt.
Damit war die Macht einer neuen Zivilperson geboren, und politisch die so genannte Jurade.
Diese neue Gruppe wird die Stadt und ihre Rechtsprechung verwalten, wird auch für die
Produktion und die Qualität der Weine sorgen, bis zur Französischen-Revolution.
Die Weine haben schon ein großes Renommee, besonders bei der englischen Krone; ihr Ansehen
musste Jahrhundert um Jahrhundert trotz düsterer Perioden gestärkt werden.
Vom 13. bis weit ins 16. Jahrhundert leidet Sankt- Emilion unter dem Verlauf von Kriegen.
Im 14. Jahrhundert zum Beispiel geht die Stadt mehrmals nacheinander aus den Händen der
Engländer in die der Franzosen über und umgekehrt.
Im 16. Jahrhundert vollenden die Religionskriege und in ihrem Gefolge Plünderungen die
Zerstörung der Stadt und ihrer Denkmäler.
Wir dürfen hinunter in die Höhle des Eremiten. Sie hat zwei kleine Kammern. In einer Nische ist
eine steinerne Statue aufgestellt. Über ihrem Arm hängt ein Rosenkranz. Sonst ist nichts zu
sehen. Einbildung ist alles.
Die Kapelle zur Dreieinigkeit, la chapelle de la trinité, mit Genuss zu besichtigen, ist abhängig
vom Einfall des richtigen Tageslichts. So ist auch die religiöse Komposition gedacht. Der Chor
der Kapelle lebt vom Glanz dreier Bogenfenster, die ihr Licht über die Säulen dazwischen nach
oben geben. Über den Kapitellen eilt ein Bündel eleganter Strebebögen, sich im Schlussstein
eines gotischen Gewölbes zu vereinigen. Führung beendet.
Nun möchte ich noch mit Martina auf den Donjon klettern, den Königsturm, der neben der
Église monolithe die Silhouette des Orts bestimmt.
Er ist der einzige in der Gironde erhaltene
romanische Bergfried und gibt Zeugnis von
einem einst wichtigen Bauwerk, einem
Königsschloss von großem Ausmaß. Sein
Ursprung schwankt zwischen dem 12. und 13. Jh.
Errichtet wurde es 1224 im Auftrag Ludwigs
VIII. oder 1237 von Heinrich III. von England.
Als königliche Festung hat es durch viele
Jahrhunderte gedient, zum Schutze der Stadt bis
zum Ende des 16. Jh. Im 18. Jahrhundert diente
es als Bürgermeisterei.
St- Emilion, Donjon de Château du Rois
Für 1 Euro dürfen wir aufsteigen. Die Lungen
keuchen, das atmen fällt schwer, als wir ganz
oben sind. Der sensationelle Rundblick
entschädigt für alle Mühe. Weit hinunter ins
Dordognetal reicht der Blick, natürlich liegt das
Städtchen jetzt voll unter uns. Man muss es selbst
erleben.
Ein Blättchen in Französisch ergattere ich, ein
kleiner gelber Zettel, für den eiligen Touristen.
Ich schreibe ihn ab, gebe ihn meiner neuen Software zum Übersetzen, und heraus kommt das:
Quadratischer Turm von 9 Metern durch flankiertes Gesicht ebene Pfeiler an den Winkeln, Höhe von 14,50
Metern, Dicke der Mauern 2,25 Meter.
Am Inneren der westlichen Festungsmauern, zwischen das trägst Marie und Sankt Martin Heilig, sie legt
auf einen Block von allen Seiten isoliertem Felsen, ausgegraben von natürlichen Höhlen und Karrieren, die
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während der Revolution genutzt werden, in den Osten von der Stadt gekräftigte BrückengeländerBreitseiten, Treppen verbergend, durch überlagerte Terrassen hart gebunden hin.
Vom Boden von niedrigster Terrasse bis Gipfel des Bergfriedes: 32 m.
Erdgeschoß: ein einziges Stück, das in spitzbogiger Wiege gewölbt wird, die allein mörderisches Fenster
und eine Tür von einem in vollem Bogen erleuchtet wird; Treppe an Schraube hat den südöstlichen Pfeiler.
1. Etage: einer allein Stück gleicher sehr beleuchteter nicht-bogenförmiger Dimension durch eine doppelte
Bai in vollem gebendem Bogen auf der Stadt: westlicher Winkel, vorspringender Halbkreis außen:
Latrinen; gerade Treppe in der Dicke des Ostwand.
2. Etage: überlegene Plattform sehr abgerissen und restauriert; früher mit Weg von Runde und kleinen
Löchern von Verteidigung gesäumt.
Auf dem Platz auf dem Niveau des Bodens bemerken wir mehrere Silos gegraben im Fels und beschichtet
von Gittern.
Nützten sie der Lagerung von Nahrungen oder Waffen? Wahrscheinlich denn sich Bergfried und die
zusätzlichen Konstruktionen, von dem er keine Spur bleibt, begründeten eine ganze defensive Gesamtheit.
Um das Schloß des Königs Vergangenheit in seinem ganzen Glanz zu sehen, muß man an den
Proklamationen teilnehmen, wäre im Juni vom Urteil des neuen Weines, wäre im September am Beifall der
Weinlese durch den Jurats.
Im Wesentlichen bin ich informiert.
Wir streifen dann noch ein wenig durch die Gassen der Altstadt. Bunte Blumenrabatten erfreuen
das Auge auf dem kleinen Platz, dort, wo man in diese hineingeht.
Wir kaufen im „Konsum“ am Parkplatz noch Wasser in großen Flaschen und fromage de chèvre,
Ziegenkäse, der uns dann irgendwann verschimmelt, weil wir einfach immer satt sind.
Dann warten wir auf die Heimfahrt. Eine Nacht noch logieren wir in Bordeaux. Aber morgen
früh müssen wir die Koffer wieder gepackt und verschnürt vor die Tür schaffen.
XII. Am Atlantik – La Dune du Pylat
Freitag, 5. September 2003
ie Nacht verläuft ruhig. Martina fängt sich wieder, obwohl sie immer noch über
Kopfschmerzen klagt. Das Frühstück in der „Turnhalle“ mit 44 Personen ist einfach
stressig und belastend. Doch Falk, unser Busfahrer, und Conny haben alles im Griff.
Pünktlich 8.30 Uhr sind alle Koffer im Bus verstaut, die Plätze eingenommen, und gestärkt und
ausgeruht fahren wir neuen Erlebnissen entgegen.
D
Zuerst fahren wir auf der Nationalstraße N250 etwa 70 km nach Südwesten. Ich bin gespannt auf
die größte Wanderdüne Europas, die am Atlantikstrand sich erheben soll.
Wir sind westlich der Gascogne, einem Gebiet, das sich hier im Südwesten Frankreichs zwischen
dem Atlantik, den Pyrenäen und dem Garonne- Bogen erstreckt. Sprichwörtlich ist der Wagemut
der Gascogner. „Die vier Musketiere“ von Alexandre Dumas Vater und dieser selbst waren
Gascogner, kam mir in den Sinn. Wir aber fahren in die „Landes5“ hinein, ein waldreiches
Gebiet mit teilweisem Heidecharakter. Es erinnert ein wenig an Mecklenburgs Kiefernwälder.
Die Atlantikküste, der wir entgegenfahren, bildet von der Mündung der Gironde im Norden bis
hinunter nach Bayonne, wo die Adour in den Golf von Biskaya mündet, eine 230 km lange
Flachküste, die Côte d’Argent. Breite, weiße Sandstrände, Kiefernwälder und Strandseen im
Hinterland prägen diese beliebte Urlaubslandschaft. Geformt wurde sie in Äonen durch riesige
Sandablagerungen an der Küste, die die von der See her brausenden Stürme landeinwärts zu
riesigen wandernden Dünen trieben. Früher wanderten sie bis zu 25 Meter landwärts. Im 18.
Jahrhundert ging man daran, diesen Küstenstreifen zu bepflanzen. An die höchste ihrer Art
fuhren wir nun heran.
Wir parkten am frühen Vormittag bei Pyla, südwestlich von Arcachon, nahe dem Strand.
Schütterer Kiefernwald ringsum, asphaltierte Wege, an den Rändern jede Menge Verkaufsbuden.
Es gibt kleine, vorwiegend aus Holz gezimmerte, auf Stelzen gesetzte Podien zur Bewirtung der
Touristen und Urlauber. Da es noch früh am Tage war, packten die Souvenirverkäufer gerade
5
lande, Mz. les landes, frz. Heideland,
© Rolf Bührend, Februar 2005
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erst ihre Sachen aus. Manche frühstückten noch. Die vielen Camper, Zelter und Caravaner
machen den Abend lang. Da wird morgens lange geschlafen.
Wir haben nun also die große Treppe vor und allein für uns, die auf den Gipfel der Großen Düne
hochführt. Viele hundert sandige Plastik- Stufen verlangten von uns Ausdauer und Puste, um auf
die Höhe der höchsten Düne Europas zu steigen. Die Dune du Pilat ist 115 Meter hoch und 2,7
km lang.
Endlich hörte die Treppe auf, und wir wateten im Sand. Ich wusste nicht, was ich zuerst machen
sollte; mir die schon vollgesandeten Schuhe ausziehen, oder um den besten Blick zu bekommen,
weiter zu stapfen, ungeachtet der Sandmengen, die sich mit jedem Schritt in den Hosen und in
den Schuhen festsetzten.
Dann, nachdem ich wieder normal atmen konnte, die Schuhe in der Hand, Martina zur Seite,
stieg ein wonniges Hochgefühl in mir auf: Ich stand am Ufer des Atlantischen Ozeans! Golf von
Gascogne oder Golf von Biskaya, wie er hier auch heißt, das ist doch jetzt gleich. Ein paar
Tausend Kilometer dort hinter dem weiten blassblauen Horizont liegt Amerika! Dazwischen nur
Wasser! Ich musste einfach hinunter, es fühlen, mit den Füßen hinein! Auf zum Atlantik!
Ich lief los wie ein kleiner Junge, schrie zu
Martina „wartet auf mich!“ und ließ mich
fallen, watete, stapfte, rutschte im losen,
weichen, warmen Sand den seichten Abhang
hinunter. Ab und zu schaute ich hoch. Die
Menschen, die in kleinen Gruppen standen
oder lagerten, wurden immer kleiner. Der
Weg wurde länger. Ich hatte ihn ein wenig
unterschätzt. Endlich, nachdem es schon
etwas beschwerlich wurde, stand ich unten.
Ich erinnerte mich an meine Jugend und die
vielen Male, wo ich am Ostseestrand ein
gleiches Gefühl hatte. Der leichte Wind von
der See her vertrieb jedes menschliche
Geräusch von da oben hinter mir. Ich war für Sekunden, ja Minuten allein hier mit der Natur.
Wie großartig, herausgelöst, frei von Zivilisation. Stille umgab mich, flößte sich mir ein, betörte
mich. Ich ging ein paar Schritte ins Wasser, bückte mich, die ganz schwachen Wellen spülten
Tangfetzen heran. Das Wasser streichelte und küsste den Strand. Leise klatschend und saugend
entlud sich Welle für Welle, in fortwährendem Gleichmaß. Es musste Ebbe sein. Das Meer hatte
Zaumzeug
angelegt.
Ich blickte mich um. In der Ferne sah ich eine kleine Insel, einige Boote, winzig klein, ihre Segel
leuchteten in der Morgensonne. Die Luft roch nach Tang und Salz und Meer. Für einen Moment
war ich glücklich. Ein Wunsch kam auf, wie so oft, bliebe es doch so, könnte man doch eine
Weile hier sein!
Nein. Ich musste zurück, wieder hinauf. Zwei Schilder hatte ich beim Herabrennen missachtet:
„Zone réglementée“. Reglementierte Zone. Und «Accès de la plage interdit» Zugang zum
Strand verboten! Was konnte ich Ameise an diesem Strand kaputt machen? Den Sand in
Richtung Meer heruntertreten? Das würde der Wind wieder hinaufschaufeln. Ich sah es nicht
ganz ein. Hinten nach dem Kiefernwald zu, der schon langsam vom Sand verschüttet wurde, ist
das ein ganz anderes Problem. Da mag ein Verbot richtig sein. Ich stapfte also tapfer wieder
bergauf, ohne mich umzuschauen, gewann langsam Höhe. Die Luft wurde knapp beim Atmen.
Die hehren Gefühle wichen ganz profanen körperlichen Techniken. Kein Seitenstechen zulassen.
Schön ausatmen. Einatmen. Kontinuierlich die Beine bewegen. Nicht zu große, nicht zu kleine
Schritte!
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Die Düne sei 115 m hoch. Ich überschlug es im Kopf, zu Hause rechnete ich aus: Der
Böschungswinkel losen Sandes ist 32°. 115m/sin32°=217m. Also die doppelte Länge an der
Hypotenuse! Die gingen mir jetzt schwer in die Beine, mehr als ich geahnt hätte. Ich beeilte
mich, die Zeit im Nacken. Schwer keuchend, schwitzend, Wadenkrämpfen nahe, trat ich den
Sand, der mich immer ein wenig zurückrutschen ließ, unter mir weg und stieg und stieg. Es
nahm kein Ende. 220 Meter sind lang bei dieser monotonen Steigerei.
Von meinen Mitreisenden völlig unverstanden, die schon wieder langsam zur Treppe strebten,
kam ich oben an. Ich hatte ihnen ein Erlebnis voraus, das ich mir mit Schweiß und etwas Mühe
erkaufte.
Ich genoss noch einen letzten Blick auf dieses großartige Panorama. Hinunter auf den Atlantik,
der heute und jetzt friedlich ruhte. Wie mag es bei Herbststürmen, zur Flutzeit oder im Winter
hier aussehen? Ich schaute entlang der Düne, die einen Anblick wie irgendwo in der Sahara bot.
Nach hinten, wo unten ein endloser grüner Gürtel von Nadelwald sich gegen den gelben
mörderischen Sand stemmte. Am Fuße der Düne ragen ausgebleichte Baumstämme aus dem
Sand wie die mahnenden Arme von Toten. Halt, nicht weiter!
Doch die Natur lässt sich davon nicht beeindrucken. Fressen und gefressen werden, Werden und
Vergehen, das gilt nicht nur für menschliche oder tierische Lebewesen.
Die Luft war raus, das Hohegefühl vorbei. Wir liefen die versandete Kunststofftreppe wieder
hinab und ließen uns zwischen den Souvenirständen und Erfrischungskiosken treiben,
bummelten, guckten hie und da etwas näher hin. Es roch nach gebratenem Fisch. Was liegt hier
näher! Er trieb mich weg, auf ein paar Holzblöcke mit quer gelegtem Brett, wo wir Schuhe und
Strümpfe entsandeten und schließlich ein wenig zur Stärkung aßen. Dann waren wir willig bereit
weiter zu fahren. Es ging südwärts, auf der Landstraße 652, in der Nähe die Küste. Vorbei an
einem großen, abgesperrten Territorium, militärisches Sperrgebiet. Hier liegt das 17 ArtillerieRegiment. Aber wir sehen nur mal einen Mannschaftswagen, sonst hatten wir mit Militär keine
Berührung. Seit 2001 gibt es in Frankreich keine Wehrpflicht mehr.
Die Fahrt dehnt sich über einige Stunden. Der Sonnenball steht senkrecht. Doch im Bus gibt es
die Klimaanlage. Conny teilt unentwegt Getränke aus.
XIII. Biarritz
W
ir fahren auf die Pyrenäen zu. Natürlich fällt mir mein großer Lehrmeister Kurt
Tucholsky ein. Ich weiß, dass er auf seiner Reise 1927 im „Pyrenäenbuch“ auch über
Biarritz geschrieben hat. Heute bin ich auf seinen Spuren. Er ist damals mit der Bahn
gereist, von Paris aus über Bordeaux ist er mit dem Zug nach Bayonne gefahren, hat sich dort
einen – spanischen6 - Stierkampf angesehen und ihn ausführlich beschrieben. Dann hat er sich
mit dem „Ausflug zu den reichen Leuten“ nach Biarritz begeben. Was hat er damals darüber
geschrieben?
…Denn weil sich jeder eine Welt macht, in deren Mittelpunkt er selber steht, so verneint er die der andern,
deren Weltbild ihn etwa an die Wand klemmen könnte. So lieben denn silbergepunzte Demokratenfrauen
die armen Arbeiter, die es nicht besser wissen, und verachten die reichen Milliardäre, die es nicht besser
wissen. Reiche Leute haben eine gefügige Presse. Reiche Leute haben keine gute Presse.
In Biarritz kommen sie wild vor. Der nach Fischen riechende Winkel, … ist durch den spanischen Adel und
vorzüglich durch die Queen, der die englische Aristokratie todesmutig nachfolgte, erst zu dem geworden,
was es heute ist. Es liegt entzückend: die silbrig- blaue Küste mit Felsen, die kunstvoll durchbrochen sind,
so daß man darin spazieren gehen kann, Blumenanlagen: es wächst da ein niedriger Baum mit hellgrünem,
zart gefiedertem Laub, der sieht aus wie ein Mohrrübenbaum, und an bestimmten Stellen zu bestimmten
Stunden geht es auch recht elegant her. (Das allgemeine Straßenbild ist es nicht.) Allerdings spielt sich das,
was man unter <Biarritz> zu verstehen hat, auf den Besitzungen der reichen Leute ab, in den Klubs, den
Parks, den kleinen und großen Villen am Meer und in den Schlössern, die von der Küste entfernt liegen.
Will man französische Eleganz beschreiben, so muß man nie vergessen, daß die Begriffe „Kempinski“ und
„Esplanade“ deutsche Begriffe sind und daß Frankreich nicht das besitzt, was einmal ein sehr witziger
Architekt mit dem Wort «Berlin hat eine Mittel- Volée» bezeichnet hat. Die französische Mitte liegt in der
äußern Lebensführung und in den Ansprüchen wesentlich unter der deutschen, aber dafür gehts dann auch
6
In Franreich unterliegt der Stierkampf anderen, unblutigeren Regeln. Das Baskenland nahm sich davon aus.
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oben ganz hoch hinauf. Der große Reichtum ... Davon kann ich nun wenig berichten. Nicht etwa aus
Verachtung, sondern weil ich diesen Kreis des Lebens nicht abgeschritten habe, weil er mir fremd ist, weil
meine finanziellen Mittel nicht ausreichen, ich mir also meine Nase an der Glasscheibe platt drücken
müßte. Mir ist es nicht selbstverständlich, im Hôtel du Palace abzusteigen, der Apparat würde auf mir
lasten, und ich käme über jene gequälte Ironie nicht hinweg, die der Reporter anwendet, um zu zeigen, daß
ihm das alles in keiner Weise imponiert und daß er doch der bessere Mensch ist.
Man muss nur die Kostüme wechseln. Die Inhalte stimmen noch heute. Hinsichtlich seines
Verhältnisses zum Reichtum kann ich mich ihm anschließen, auch was diesen Ort betrifft.
Biarritz hat schon über mehr als 100 Jahre die Reichen angezogen. Man musste dorthin. Die
Etikette verlangte es. Nach zwei Weltkriegen hat sich das ein wenig geändert. Sicher ist es ein
mondäner Badeort geblieben, doch ich glaube, heute erholen sich dort auch die einfachen
Franzosen. Der Hochadel hat sich mittlerweile andere Stellen gesucht, wo er unter sich ist.
Wir rollen durch den Ort und sehen das Blau des Meeres. Kleine weiße Gischtkronen
schmücken die gegen den Strand anrollenden Wellen. Wir halten unweit des höchsten Punktes,
am Leuchtturm und haben, nachdem wir uns vom langen Sitzen gerade gebogen haben, einen
berauschenden Blick über die ganze Bucht, hinter der sich Biarritz ausbreitet. Das Licht blendet
etwas, weil nun, kurz nach Mittag, die Sonne vom Meer her über das blitzende Wasser flimmert.
Die Bucht von Biarritz, von der Terrasse vor dem Leuchtturm gesehen
Mit dem ersten Blick von hier oben relativiert sich mein Verhältnis zu dieser Vorstellung
„Biarritz“, die ich bisher hatte. Ich weiß, dass ich nur Durchreisender bin. Der Ort wird sich mir
in den wenigen Stunden nicht öffnen. Ich will ihm aber so nahe treten und so gut kennen lernen
wie möglich.
Conny hat ein Problem. Sie verfügt über zu wenige Schlafplätze in dem gebuchten Hotel. Sie
verteilt Lose (mit kleinen Tricks, deren Nutznießer auch wir sind. Wahrscheinlich findet sie uns
sympathisch). Wer das kleine Kreuzchen hat, darf in das „TONIC- Hôtel ***“. Wir durften.
Der Bus brachte uns zu diesem nüchternen unscheinbaren Zweckbau in der belebten Hauptstraße
des Ortes, in die 58, Avenue EDOUARD VII. Kofferschleppen. Aufregung. Ärger der
Abgewiesenen. Sie hatten das weniger komfortable Quartier, wie sie uns später sagten. Es lag
allerdings gleich über die Straße.
Ich hatte Badesachen mit, zog mich schnell um. Martina wollte nicht baden, kam aber mit. Mit
Badegepäck erster Gang also zum Strand, vorbei an dem Fünf- Sterne- „Hôtel du Palais“ zur
„Grand Plage“. Wieder verspürte ich das Hochgefühl in mir jubeln. Du bist in Biarritz! Und jetzt
noch am bekanntesten Strand der Reichen! Ich stelze über den relativ steinigen weißen Sand zum
Wasser, gründele ein wenig und stürze mich dann hinein. Huh, Hach, ist das herrlich, alles fällt
von mir ab, der alte Mann, das Drumherum. Ich tauche, pruste, werfe mich in den Schaum der
heranrollenden Wellen, lasse mich treiben, werde wieder jung, kraule kurz ein Stück hinaus,
springe hoch, um mich von der Schaumkrone der nächsten Welle schlagen zu lassen, gebe mich
ihr hin, trudele und strampele mit Armen und Beinen, tauche wieder unter, mache im trüben
Wasser die Augen auf- es ist ganz schön salzig… Zum zweiten Male an diesem Tage spüre ich
es über mich rieseln, dieses seltene, kurze und schauerliche Glück. Das Wasser ist warm,
bestimmt einige Grade über zwanzig, die Luft auch, die Sonne scheint. Es fehlt nichts, doch:
Schade, dass Martina nicht das Gleiche empfindet. Geteiltes Glück ist doppeltes.
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Ich wate zum Strand, will dann noch einmal
hinein; wie ein Gourmet will ich die Freude
verlängern. Da kommen zwei alte Damen in
knöcheltiefem Wasser auf mich zu, sie waren
beide über siebzig, halten mit ihren Fotoapparat
hin und möchten fotografiert werden. Mit einem
Schwall Französisch wollen sie mir einiges
erklären oder von mir wissen. Theorie und
Praxis. Ich konnte ihnen zwar sagen, dass ich
Deutscher sei und sie nicht so recht verstünde.
Doch da lachten sie, wurden erst recht
zutraulich, eine zeigte auf ihr Knie, sie schien
daran krank zu sein. Sie waren Freundinnen und
wollten nun zusammen aufs Bild.
Ich tat ihnen den Gefallen. Danach hingen sie noch enger an mir. Wo ich wohnte, ich solle doch
mit ihnen kommen, sie lüden mich ein…Mit wurde schon langsam sonderbar. Sie begleiteten
mich den Strand hinauf. Sie hatten ihre Decken in unserer Nähe. Nun kamen sie auch auf Martina
zu und plapperten ohne Unterlass. Es waren liebe alte Damen. Was sollte ich machen. Martina zog
an mir: „Sag ihnen auf Wiedersehen und dann komm!“ Ihr war es peinlich, und ich bedauerte,
noch nicht genügend für eine Konversation gewappnet zu sein.
Ich ging unter die Süßwasserdusche, dann gleich noch einmal ins Wasser, wählte den in dieser
Situation elegantesten Abgang. Winke, winke zu meinen Freundinnen, Adieu! und im Dauerlauf
über den breiten Strand wieder ins erfrischende Nass. Erneutes Tummeln, kein Glücksgefühl
mehr, nur noch nass. Martina wartet. Wir wollen noch mehr sehen. Der Nachmittag ist lang,
doch die Liste der Sehenswürdigkeiten gewiss auch. Also Süßwasserdusche. Anziehen. Schulter
das Gepäck. Ab zum nahen Hotel. Umziehen. Auf zum Stadtbummel!
Vom Leuchtturm aus sah man am Horizont, dort wo Biarritz zu Ende zu sein schien, einen
Felsen mit einer Statue darauf. Das nahmen wir uns zum Ziel. Dabei hielten wir uns in
Strandnähe und beobachteten das Badeleben. Flanierende Badegäste und normale ihren
Geschäften nachgehende Bürger mischten sich. An Touristen, deren Kleidung sie in den meisten
Fällen gleich ausweist, fehlte es nicht.
Über einige schön angelegte Treppen erreichen wir an der Place St-Eugénie die gleichnamige
Kirche. Ein Hochzeitszug umschwärmt den Eingang, das Brautpaar erwartend. Wir bleiben auch
stehen. Es ist immer wieder hoffnungsvoll zu sehen, wenn sich junge Leute fürs Leben
verbinden. Der Brautzug kommt und verteilt sich auf die Fahrzeuge. Weg. Wir gehen hinein in
die Église Ste Eugénie. Es ist ein neogotischer Bau, 1898 – 1903 an Stelle einer kleinen Kapelle,
die einst der Schutzheiligen Sainte Eugénie7 der französischen Kaiserin, gewidmet war.
Noch ist der Gang zum Altar herausgeputzt mit einem mannshohen Girlandenbogen aus
Weinlaub und Fuchsienblüten, durch den das Paar hindurchgehen muss. Die Wände und der
Chor sind geschmückt mit drei Reihen Friesen und Gesimsreihen, auf denen ich eine ganze
Prozession von Heiligen sehe. In dem Gemeindebrief, den ich zu diesen Informationen
hinzuziehe, lese ich, dass die ausgesucht sind, die in enger Bindung zu Christus standen oder auf
Grund ihrer Tugendhaftigkeit, darunter die Heilige Johanna von Orléans mit ihrem Pagen, „dem
Basken“. Es war ein Baske, der in Orléans die Standarte der Johanna nahm und so die Truppen
anführte, um die Stadt zu befreien. Sagt das Kirchenblättchen der „Paroisse8 Notre Dame du
Rocher Biarritz“. Auch auf französischer Seite fühlen sich die Basken als selbständiges Volk.
7
Die heilige Eugénie lebte in Spanien, das damals unter arabischer Herrschaft war. Sie wurde unter der Regierung
von Abderam III. eingekerkert und, da sie ihrem Glauben nicht abschwören wollte, als Märtyrerin 921 enthauptet.
Eine im 16. Jahrhundert in Cordoba aufgefundene Inschrift beschreibt ihr Martyrium, die Reliquien und den
Heiligenkult. Einer anderen Quelle zufolge wurde sie 258 in Rom enthauptet.
8
Paroisse, frz. Pfarrgemeinde
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Ich kann mich nicht satt sehen an diesem sonnigen Nachmittag, den uns der liebe Gott geschenkt
hat, an dem Blick über das blaue Meer, den bizarren orange- gelben Felsenformationen, die die
Jahrtausende hier geschaffen haben, den mit weißer Gischt umspülten Felseninseln in der
Uferregion, dem sommerlichen Grün und den frischen Farben der blühenden Pflanzen und den
bunten Booten im Fischerhafen, der von Ebbe und Flut abhängig ist und der in einer kleinen
Felsenbucht liegt. Es führt uns der Weg über schöne Aussichtspunkte, die wir genießen, durch
einen Tunnel zum Felsen der heiligen Jungfrau, dem Rocher de la Vierge.
Fischereihafen von Biarritz
Über eine schmale weiß gestrichene Eisenbrücke, die von dem berühmten Gustave Eiffel
konstruiert wurde und mit ihren Kreuzstabgeländer weithin sichtbar ist, gelangen wir zu dem
Felsen, auf dessen Spitze eine Marienstatue thront, die noch weiter sichtbar und die
Schutzheilige von Biarritz ist.
An dem Musée de la Mer gehen wir vorbei, obwohl es mich hinein lockt. Wir bummeln nun am
Alten Hafen vorbei, sehen hinunter auf den Strand, wo die Bader die letzten Sonnenstrahlen des
Tages erhaschen, dann gehen wir die Esplanade de Vierge hinauf, durch nach Räucherfisch
stinkende Altstadtgassen bis auf die breite Rue Gambetta, in der wir nun in der beginnenden
Dämmerung wieder zurück marschierten.
Zunächst lockte mich ein Schild in die Krypta der Kirche St-Eugénie. Dort sollte nämlich um 19
Uhr eine Goya- Ausstellung eröffnet werden. Allerdings fehlte noch eine Stunde. Ich lotste
Martina da hin. Es hatten sich schon Leute in feinem Zwirn eingefunden. Wir sahen durch die
Tür den Tisch mit gefüllten Sektgläsern. Am Ende trauten wir uns nicht so recht und hatten den
Eindruck, dass wir als Rucksacktouristen nicht so recht dazu gehörten. Außerdem wäre es für
unsere warme Abendmahlzeit, von der wir ja auch abhingen, zu spät gewesen. Man kann nicht
alles bekommen!
Ich suchte noch nach dem Office de Tourisme. Als wir es dann endlich fanden, war es schon
geschlossen. Ich bekam von Conny einen Stadtplan.
Das Abendessen fand in einem ganz engen kleinen Raum statt. Wir wissen schon: 50 Personen.
Es gab Bayonner Schinken und cuisse de poulet1.
An diesem Tag lagen 253 km unter den Busrädern.
XIV. Saint-Jean-de-Luz
Samstag, 6. September 2003
as Wetter hat sich über Nacht gewandelt. Es regnet in Strömen, als wir die
Nationalstraße Nummer 10 weiter nach Süden in Richtung spanischer Grenze fahren.
Dunkle Wolken jagen über den Himmel und verheißen nichts Gutes. Wir unternehmen
vor der Abfahrt noch einen kurzen Gang zum nahen Wasser. Im Vergleich zu gestern völliger
Szenenwechsel: Die Strände sind leer. Natur pur. Wie Fremdkörper stehen die hohen Klötze der
Hotelbauten und triefen vor Nässe. Möwenschwärme umzetern sie in der Luft, stoßen aufs
Wasser im Sturzflug herab und gieren nach Futter. Die Flut hat in der Nacht aus dem Strand, an
dem wir gestern noch gebadet hatten, eine lange Sandinsel herausgehoben. Der Rest ist
überschwemmt. Wir bangen um den Tag. Immerhin ist schönes Wetter ein guter Bundesgenosse
D
1
cuisse de poulet, frz. Hühnchen- Schenkel
© Rolf Bührend, Februar 2005
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des Reisenden. Die Laune ist nicht rosig, nachdem wir bisher so verwöhnt wurden. Wir kommen
nur einmal hierher!
Unterwegs erfahren wir einiges über die Geschichte von Saint-Jean-de-Luz. Der alte, 13 000
Einwohner umfassende Fischerort, von dem schon im 13. und 14. Jahrhundert Walfänger nach
Neufundland, Grönland oder Spitzbergen in See stachen, ist auch heute noch Standort des
Fischfanges, aber auch für viele Hochseesegler. Er verwandelt sich aber in der Hochsaison zu
einem mondänen Badeort und steht seiner „Konkurrenz“ Biarritz in nichts nach. Er gilt als
Geheimtipp.
Es war im Jahre 1659, am 7. November, als hier mit der Grenzziehung auf dem Pyrenäengrat der
so genannte „Pyrenäenfrieden“ zwischen Frankreich und Spanien geschlossen wurde. Es war die
Zeit, als der 21jährige Ludwig XIV. schon König war. Man kam auf einer Insel im Grenzfluss
Bidassoa zusammen. Frankreich gewann unter der Verhandlungsführung seines Gouverneurs
Mazarin den Roussillion, Artois und durch Verheiratung Ludwig XIV. mit der Tochter Philipps
IV., der in Madrid geborenen Marie- Thérèse von Österreich, die Anwartschaft auf die spanische
Erbfolge und wurde so zur ersten Großmacht in Europa. 1660 wurde die spanische Infantin die
Frau des späteren Sonnenkönigs. Die Hochzeit fand mit großem Pomp in der Église Saint-Jean
Baptist zu Saint-Jean-de-Luz statt. Eigens dazu wurde die Kirche erweitert und ein neuer
Eingang in die Mauer gebrochen, durch den das Brautpaar hinauszog. Danach wurde er
zugemauert. Das Portal ist noch zu sehen. Seitdem ist diese Kirche die größte und schönste im
Baskenland.
Es regnete, als wir den Bus zu einem kurzen Stadtrundgang verließen. Unter dem Regenschirm
kann man keine Stadt genießen. Der Blick ist eingeschränkt, vor dir beschirmte Leute, an
Engstellen Gedränge, man muss die Füße um Pfützen lenken und achten, andere Passanten nicht
mit dem Schirm zu belästigen. Wir eilten zur Kirche. Das Innere war duster, als wir eintraten.
Logisch, von außen drang nur wenig graues Licht durch die bunten Glasfenster. Nur einmal kurz
leuchteten die elektrischen Lichter auf, und das Kircheninnere zeigte sich in seinem Glanz. Die
Decke ist als umgekehrter Schiffskiel gestaltet. Dreistufige Pracht und Heiligenvielfalt im reich
gegliederten, dem der Saint Eugénie in Biarritz ähnelnden Chor. Zum Hochaltar führten Stufen
hinauf. An den Längsseiten prangten mit Säulen gestützte Emporen und verrieten etwas von der
gewaltigen Größe und Raumtiefe dieser Kirche. Es roch nach Weihrauch und Kerzenwachs,
muffig und dumpf. Die Reisegruppe verkrümelte sich. Martina war schon voraus. Ich blieb noch
einen Augenblick stehen, drehte mich um. Ein Moment der Stille, des Verharrens, eine Sekunde
Besinnung. Wie wohl das tut! Man braucht Zeit, um sich in der Schweigsamkeit eines
Gotteshauses zu besinnen und in sich zu gehen. Die hatten wir jetzt nicht. Ich gab mir einen
Ruck. Weiter.
Wir bekamen von hier aus ein wenig Freizeit und bummelten auf eigene Faust durch die
regennassen Straßen des Ortes. Saint-Jean-de-Luz hat am Meer kilometerlange Strände. Die
Grand Plage umrandet eine geschützte Bucht, in die das Flüsschen Nivelle mündet. Der Ortsteil
links des Flusses heißt Ciboure. Dort ist im Hause Nr. 12 am Hafenkai Maurice Ravel2
2
Ravel, Maurice, französischer Komponist, * 7. 3. 1875 Ciboure, † 28. 12. 1937 Paris; Schüler von G. Fauré, lebte
zurückgezogen, ohne öffentliche Stellungen; mit C. Debussy Hauptvertreter des musikalischen Impressionismus,
nahm in seinen „Jeux d'eau“ 1901 bereits alle Errungenschaften des impressionistischen Klavierstils vorweg, war
aber stärker als Debussy vom Zeichnerisch-Konstruktiven bestimmt und gelangte in klassizistischen Spätwerken
(„Sonate für Violine und Cello“ 1920—1922) zu Vereinfachung und Radikalität der Polyphonie. Viele Werke
Ravels haben spanischen Einschlag („Alborada del gracioso“ aus dem Klavierzyklus „Miroirs“ 1905; „Rhapsodie
espagnole“ 1907; das musikalische Lustspiel „L'heure espagnole“ 1911 und Ravels bekanntestes Werk, der
„Boléro“ 1928). Ravel war ein blendender Instrumentator und schuf die viel gespielte Instrumentation der „Bilder
einer Ausstellung“ von M. Mussorgskij. Weitere Werke: Ballett „Daphnis et Chloé“ 1912; Ballettoper „L'enfant et
les sortilèges“ 1925; Werke für Gesang, zahlreiche Klavierwerke (2 Klavierkonzerte; Sonatine 1905; „Gaspard de la
Nuit“ 1908; „Valses nobles et sentimentales“ 1911; „Le Tombeau de Couperin“* 1914—1917), Kammermusik
(Streichquartett* 1902/03).
© Rolf Bührend, Februar 2005
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geboren. Zur Erinnerung: Er hat den weltbekannten Bolero komponiert. Und anderes. Aber die
aufreizenden, sich stetig steigernden Stakkati dieses Boléro, die kennt ein jeder.
Obwohl sicher noch Saison war, hatten sich die Badegäste in Regensachen gehüllt und streiften
ebenfalls wie wir durch die Geschäfte und Kaufläden. Schöne alte Häuser fielen mir auf. Überall
vor den französischen Fensteraustritten schmiedeeiserne Ziergitter. Oft waren die, meist grün
oder braun gestrichenen Rollläden, ebenfalls für die französischen Städte ein typisches
Fassadenelement, noch verschlossen, als wollte man den grauen Tag heute nicht wahrnehmen.
Ich kaufte ein paar Ansichtskarten und lenkte unsere Schritte zurück über den breiten
verkehrsreichen Boulevard Victor Hugo zur Markthalle, Les Halles. Hier herrschte ein buntes
Treiben. Hier pulsierte das Leben der Bewohner, die sich an den Ständen die Ware frisch vom
Anbieter empfehlen lassen.
Welches herrliche vielfältige und
lebhafte Bild! Das machte richtigen
Spaß
zu
schauen:
Fromages,
Poissonnerie, Traiteur, Rôtisserie,
Pâtisserie,
Bijoux,
Boucherie,
Charcuterie, Produits régionale.3
Nicht zu vergessen Obst und Gemüse
frisch vom Umland. Laute Rufe der
Händler übertönen das Gemurmel.
Bleibe ich stehen, werde ich sofort
aufs
Korn
genommen.
Oft
unterdrücke ich mein Verlangen,
näher zu treten, um nicht die
eindringlichen Angebote der Händler
ablehnen zu müssen. Wir sind ja satt
Les Halles in Saint-Jean-de-Luz
und brauchen nichts.
Dann war die kurze Zeitspanne mal wieder um. Martina suchte nach einem WC, ich wollte das
Office de Tourisme suchen. Die gaben uns Auskunft und einen schönen Stadtprospekt, so dass
ich mich heute noch einmal in diesen kleinen hübschen Doppelort vertiefen kann. Neben dem
Fremdenverkehrsamt liegt auch gleich das Geburtshaus von Ludwig XIV., an der Rue Mazarin
Ecke Rue de l’Y.
Ich werfe einen letzten Blick auf den Fischerhafen und nach Ciboure hinüber auf den
Seglerhafen, den die Nivelle ausbeulen musste, ehe sie von den Menschen in den Ozean
entlassen wird. In den Bus und ab. Ich winke im Geheimen ein letztes Mal der Atlantikküste.
XV. Pau
V
on der Küste weg fahren wir westwärts in das Pyrenäenvorland hinein und brauchen
nicht lange, bis wir in Pau sind, Hauptstadt des Départements Pyrénées- Atlantique.
Seit 1464 ist Pau Hauptort der Grafschaft Béarn gewesen, einer Region, die es nach der
Revolution gab und sich als Landschaftsbezeichnung bis heute erhalten hat. Pau liegt auf einem
Plateau über dem Gave- Tal und wurde Mitte des 19. Jahrhunderts von den Engländern als
klimatisch reizvoller Luftkurort „entdeckt“. Seitdem ist es ein beliebter Sommer- wie auch
Winterurlaubsort. Engländer sind hier Stammgäste. Es gibt Golfplätze hier, sogar einen eigenen
Rugbyplatz haben sie angelegt. Es ist eine bodenständige Region, ein kleines Weinanbaugebiet.
Das Rindvieh auf den Weiden ist beige gefärbt. Die Gave de Pau mündet nach etwa 120 km in
die Adour und diese bei Bayonne in den Atlantik.
Vor dem Parkplatz im Tal des Flüsschens Gave wächst über ein paar alten Häusern wie eine
riesige Mauer der gedrungene Komplex des Stadtschlosses empor. Überhaupt, wir müssen nach
oben, um in die Stadt zu gelangen.
3
Käse, Fischwaren, Feinkosthändler, Grillrestaurant; Kuchen, Gebäck; Schmuck, Fleischerei, regionale Produkte
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Wir steigen viele Stufen empor, bis wir auf die Höhe des Plateaus kommen. Von hier soll man
die schneebedeckten Gipfel der Hochpyrenäen sehen können. Heute ist es diesig und schwül,
und wir sehen kaum die andere Talseite und ahnen nur in der Ferne die mächtige Gebirgskette,
die Frankreich von Spanien trennt. Es gibt Industrie hier, Metall-, Leder- und Textilindustrie.
Davon sehen wir nichts. Das Gewirr von Gleisanlagen unten im Tal lässt aber einen großen
Umschlagsplatz vermuten. Ich will in den wenigen Stunden, die uns hier vergönnt sind, das
historische Pau erleben. Ich belese mich:
Jeanne III. d’Albret, von 1555 – 1572 Königin von Navarra, lebte hier im Schloss, beherzte
Frau des schwachen Antoine de Bourbon und Mutter Heinrichs IV., der hier in Pau 1553 geboren
wurde. Dieser ehelichte zwei Monate nach dem Tode seiner Mutter 1572 Marguerite de Valois,
die Tochter Heinrichs II. und Schwester des französischen Königs Karl IX. Diese Hochzeit
nahmen die Königinmutter Katharina von Medici und König Heinrich III. zum Anlass, die
meisten Hugenottenführer ermorden zu lassen. Die hugenottischen Hochzeitsgäste, etwa 2000 in
Paris, wurden auf Veranlassung der Brautmutter ermordet. In der Provinz waren es infolge
fanatischer Hetze über 30 000 Protestanten, die ums Leben kamen. Diese Bluthochzeit vom 23.
zum 24. August 1572 ist als Bartholomäusnacht in die Geschichte eingegangen.
Nachzulesen bei Alexandre Dumas in „Die Königin Margot“(La Reine Margot).
Heinrich IV.4 entkam den Verfolgungen der Bartholomäusnacht. Er wurde 1589 König von
Frankreich, der erste der Bourbonen- Linie. Er schwor 1593 dem protestantischen Glauben ab,
wurde Katholik. Sein berühmter Spruch „Paris ist eine Messe wert!“ 1598 gewährt er den
Hugenotten politische und religiöse Gleichberechtigung. Er schuf durch Hebung der
Königsmacht die Grundlagen für den Absolutismus in Frankreich und durch seine
Expansionspolitik gegen das Habsburger Deutschland die Anfänge für das französische
Vormachtsstreben in Europa. Am 14. Mai 1610 ist er durch einen Fanatiker namens Ravaillac
ermordet worden. Über sein kämpferisches Leben und schaffensreiches Wirken kann man bei
Heinrich Mann in „Henri Quatre“ und bei Robert Merle („Fortune de France“)nachlesen.
Ich erinnere mich eines Buches, das in meinem Bücherschrank seit über dreißig Jahren steht,
„Das Heptameron“ von Margarete von Navarra. Wer war sie, diese Poetin der Liebe?
Meine Recherchen ergaben: Sie wurde am 11. April 1492 geboren, ist die Schwester von Franz I.
und in zweiter Ehe mit Heinrich d’Albret, König von Navarra, verheiratet. Also ist sie das! Sie
gilt als französische Dichterin, ist Schutzherrin der Renaissancedichter und der Protestanten. Ihre
Novellensammlung „Heptaméron des nouvelles“ brachte sie 1559 heraus.
Ich finde noch eine berühmte Geschichtsperson im Geburtsregister des Ortes:
Hier in Pau wurde 1763 Graf Jean Baptist Bernadotte geboren. Er begann mit 17 Jahren als
einfacher Soldat, avancierte später bis zum Revolutionsgeneral und Marschall unter Napoléon,
wurde 1810 zum schwedischen Kronprinzen ernannt, nahm an der Völkerschlacht 1813 bei
Leipzig gegen Napoléon teil und war von 1818 -1844 als Carl XIV. Johann König von
Schweden. 1813 führte er den Oberbefehl über die Nordarmee der Verbündeten. Er griff erst am
18. Oktober 1813 in der Entscheidungsschlacht bei Leipzig ein. Mit 95 000 Mann stand er als 4.
Kolonne bei Mockau und Taucha und ging in Richtung Paunsdorf – Schönefeld gegen die
Franzosen vor. Bei den Kämpfen um Paunsdorf, Sellerhausen und Stünz trugen die Korps der
4
Heinrich IV., Heinrich von Navarra, König von Frankreich 1589—1610, * 13. 12. 1553 Pau, † 14. 5. 1610 Paris
(ermordet); erster König aus dem Haus Bourbon, zunächst Hugenottenführer. Die Hochzeit Heinrichs mit
Margarete von Valois (1572) nahmen die Königinmutter Katharina von Medici und König Heinrich III. zum
Anlass, die meisten Hugenottenführer ermorden zu lassen ( Bartholomäusnacht). Heinrich wurde 1593 Katholik
(„Paris ist eine Messe wert“) und gewährte im Edikt von Nantes 1598 den Hugenotten politische und religiöse
Gleichberechtigung. Er schuf durch Hebung der Königsmacht die Grundlagen für den Absolutismus in Frankreich
und durch seine Expansionspolitik gegen Deutschland (Habsburg) die Anfänge für das französische
Vorherrschaftsstreben in Europa.
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Schlesischen Armee, diesmal unter Bernadotte, entscheidend zum Sieg der Verbündeten bei. Sie
erzwangen Napoleons Entschluss zum Rückzug und damit eine Wende in Europa.
Ich beschreibe das so genau, weil Leipzig meine Heimat ist. Was es doch für Querverbindungen
in der Geschichte gibt!
Wir konzentrieren uns zunächst auf das Prunkstück
der Stadt, den Boulevard des Pyrénées. Er ist 1 km
lang und erstreckt sich vom Schloss bis zum Kurhaus
im Park Beaumont, der schon auf Veranlassung
Napoleons angelegt wurde und eine grandiose
Aussicht auf die Pyrenäen bietet. Palmen stehen hier
in großen Kübeln. In Blumenrabatten blühen
subtropische Pflanzen.
Unter einem Brunnen mit Kinderfiguren setzen wir
uns auf eine Bank, ruhen uns aus. Martina ist
erschöpft und braucht eine Pause. Dann folgt sie mir
willig. Die Kirche St. Martin sehen wir, davor das
Monument aux Morts, ein Denkmal für die
Gefallenen beider Weltkriege. Überall in Europa
haben sie Opfer gefordert.
Wir haben die Augen und den Blick nach rechts auf
die Berge. Links stehen weiß gestrichene Villen mit
protzigen Fassaden. Dann ein Durchblick auf die
Stadt, ein wunderschöner Platz öffnet die Sicht zur
Stadt, auf das Hôtel de Ville.
Am Ende des Boulevards bieten sich dem Auge ein weitläufiger Park und darin das Palais
Beaumont, Kurhaus, Kongresszentrum, Spielcasino oder alles gleichzeitig, ein Riesenkomplex in
bester Lage.
Wie sah das seinerzeit, 1927, Kurt Tucholsky in seinem Pyrenäenbuch?
„…Sie haben sich bei der Stadt ein „Palais d’Hiver“ aufgebaut, eine Scheußlichkeit aus Glas und Eisen, ein
verstaubter Baccarat- Saal gähnt mit eingemummten Fauteuils, und wer verloren hat, sieht sich die
Innenausstattung an und stirbt am Schlag.
Das Kurkonzert spielt noch immer wie eine Spieluhr, jetzt haben sie eine Carmenouverture unter, sie hört
sich an wie „Schlaf, Kindchen, schlaf…!“ Die Damen wandeln, die Männer trinken Bier und stärkende
Limonade, sanfte Winde wehn. Oben steht Heinrich der Vierte und lächelt…“
Keine Zeit, schade, wir kehren um.
Wir kommen von der Rue Louis Barthou in die
Rue Henri IV.
Wir kommen am Rathaus vorbei, es ist fast 13
Uhr. Links von uns dieser wunderschöne
Platz., Place Royale, der Platz von vorhin,
andere Seite. Es war der Paradeplatz, der den
königlichen Absolutismus des 17. Jahrhunderts
preisen sollte. Herrliche Schäferhunde spielen
mit ihren Herren. Er ist bepflanzt mit
hundertjährigen Linden und bietet Schatten
und Erholung und den kostenlosen Blick auf
die Berge…
Wie beschrieb das Tucholsky?
Pau, Place Royale, von der Rue Henri IV. gesehen
„PAU. Von der Terrasse der Place Royale in Pau über die Ebene zu sehen – auf die Gebirgskette der
Pyrenäen, das ist wie eine Symphonie in A- Dur. Man sieht weit an den Bergen entlang – das Mittelstück
der großen Wand wird sichtbar. Mit Graten und Spitzen, hohen Nasen und graden Linien, mit den
geschwungenen Vorbergen und davor stehen die kerzengraden Pappeln. Vom Gebirge her weht der Wind.
Das ist schön…
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Drehe ich mich herum, so steht er da, mit dem Rücken zu mir: Er. „Er“ ist in Pau allemal Heinrich der
Vierte. Hier ist er geboren, hier hat er gelebt. Das ist nun nicht einfach, zu einem fremden Fürsten in
Beziehung zu treten…“
Wir stehen dann am Schloss der Könige von Navarra. Eine Steinbrücke führt hinein. Ich konnte
Tucholsky nicht folgen, als er 1927 hier das Museum besuchte und auf seine unnachahmliche
Art schrieb:
„…Das Schloß ist restauriert, aber trotzdem gut erhalten. Es hängen da flandrische Gobelins, vor denen
man gar nichts mehr sagt…Das hohe holzgeschnitzte Geburtsbett steht noch da, in dem Heinrichs Mutter
mit dem Großvater sang, um den Schmerz der Wehen zu übertönen, mit Wein hat man den Kleinen
abgerieben und genetzt, als er erschien. Es ist ihm sehr gut bekommen…Neben dem Bett hängt die
Totenmaske…“
Man muss Tucholsky lesen und mit ihm fühlen. Ich komme dann nicht mehr von ihm los.
Heute gibt es immer noch das Museum. Bis dahin ist der Schlosskomplex natürlich über
Jahrhunderte zu dem gewachsen, was er heute darstellt, wurde verändert, zerstört, umgenutzt,
Die kleine, von Holzpalisaden umgebene Festung (daher stammt auch der Name der Stadt:
„paû“ = Pfahl im Béarner Dialekt) wurde im 12. Jahrhundert erbaut und verwandelte sich im 13.
und 14. Jahrhundert auf Grund seiner strategischen Lage und der Schönheit des Ortes zu einer
bedeutenden Zitadelle. Zwei Namen, Gaston Phœbus und Gaston IV. stehen für die Entwicklung
der Burg und des kleinen Festungslagers zur Hauptstadt des souveränen Staates Béarn.
Ich bedaure es sehr, dass wir so wenig vom Schloss sehen dürfen. Die Gruppe formiert sich
schon in Richtung Bus auf dem Parkplatz an der Gave. Provisorische Mittagsmahlzeit mit
Würstchen und Minutensuppe von Conny. Weiterfahrt.
XVI. Lourdes
B
isher hat uns in Pau die Sonne beschienen. Jetzt, als wir in Richtung Pyrenäen fahren,
trübt es sich ein. Wolken bedrohen unseren Aufenthalt. Aber es hält sich, nicht umsonst
glaubt man hier besonders an Wunder.
Wir fahren in Lourdes ein, neugierig aus dem Fenster äugend. Es scheint eine normale
Kleinstadt zu sein. Sie ist alles andere als eine normale Stadt: Sie ist der berühmteste Pilgerort
der katholischen Welt, neben der Wohnung des Papstes natürlich. Die Straßen sind voller
Menschen, es herrscht Gedränge. Die Straßen sind gestopft voll von Touristen und Pilgern, ich
weiß sie noch nicht zu unterscheiden, es fallen schon die Rollstühle und seltsamen Gefährte auf,
in denen Behinderte zu den Stätten ihrer Wunder gelangen wollen.
Unser Falk hat Mühe, den großen Bus bis vor das Hotel zu lenken, so, dass wir keine großen
Wege für die schweren Koffer haben. Im Hôtel Alba, Avenue de Paradis, steigen wir ab. Direkt
neben der Straße fließt die Gave de Pau vorbei. Wir kennen sie schon.
Im Vestibül sehen wir was los ist. Glitzernde Vitrinen mit Devotionalien jeder Art und Größe, zu
jedem Preis, in allen Materialien und in allen denkbaren Varianten; Marienstatuen, Heilige,
Papstbilder, natürlich die Bernadette; gedruckt, beklebt, gestickt, bemalt, gepunzt; auf Tassen,
Tüchern, T- Shirts, Metalltellern, Flaschen, Fähnchen und Kerzen; für die Armen auf Papier und
Plastik, für die Reichen in Gold, Silber und mit Edelstein gefasst. Lourdes ist mit 400 Hotels die
drittgrößte Hotelstadt Frankreichs. Welche materielle Basis hat hier der Glaube!
Wie beschreibe ich nun meine Gefühle zu dieser Zeit an diesem Ort? Es ist für mich ein großer
Moment, da ich ihn, eben über Tucholsky, schon vierzig Jahre kenne. Nun darf ich selbst hier
sein! Jedes seiner Worte sind mir im Gedächtnis, als ich mich mit Martina, nachdem wir das
Zimmer eingerichtet hatten, der Conny zu einem Stadtgang anschloss.
Wie hat es Tucholsky damals, 1927, erlebt? Ich darf ihn zitieren, keiner kann es besser
beschreiben als er:
„…In den kleinen schmutzigen Straßen ist noch kein rechtes Leben, da gehen und kommen einzelne Leute,
die Pilger schlafen wohl noch, denn mitternachts ist eine Messe, und während der ganzen Nacht knien
Betende in der Basilika.
Jedes Haus ist ein Hotel; vom mittlern Gasthof bis zur Ausspannung sind alle Arten vertreten, und in jedem
zweiten Haus ist ein Andenkenladen. Aber alles das will ich jetzt gar nicht sehen. Zur Grotte! Zur Grotte!
Nun wird das Gewühl stärker. Wagen quetschen sich zwischen den Leuten hindurch, die elektrische Bahn
poltert, noch mehr Läden, noch mehr Straßenverkäufer, die Gruppenaufnahmen, Andenken, Kerzen und
Vanille feilhalten - die ganze Luft riecht nach Vanille. Da: die Basilika. Eine moderne hohe graue Kirche,
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rechts und links mit zwei weit ausladenden Rampen, die den Platz wie zwei Arme umfassen. Einzelne
Leute gehen durch einen Torbogen der Rampe zur Grotte. Und da sind auch die ersten Kranken.
Sie wanken auf Krücken, sie schleppen sich am Stock, sie werden auf Wagen dorthin gebracht, zweirädrige
Sitzstühle, an denen vorn ein blaues Schild hängt: „Schenkung von Fräulein M. P. 1904.“ Die Wägelchen
werden von Krankenträgern geschoben: das sind Leute, die einen Ledergurt um die Schultern gehängt
haben, es ist der Tragriemen, an den sie die Bahren knüpfen. Ich gehe ihnen nach.
Rechts ist eine Hügellandschaft, von einem Eisenbahndamm durchzogen, mit einem einsamen Häuschen.
Links ragt die Längsseite der Kirche auf, Bäume stehen davor, und unter ihnen schallt es. Da stehen die
Leute und beten…
76 Jahre später gehen wir den gleichen Weg, und das Bild hat sich kaum gewandelt. Gut, wir
sahen keine Elektrische. Dafür aber Hotel an Hotel, Absteige an Absteige, Brasserien, Cafés,
Restaurants, Geschenkeläden en masse, alles dreht sich um einen Gegenstand, in ausgeklügelter
Vielfalt: La Boutique de Cadeaux, Café St- André Notre Dame de Lourdes, Au Chapelet de la
Vierge, Negozio Italiano, L’Ermitage…Nicht nur die Sinne, auch der Magen…
Die Krankenwagen, Rollstühle und Schiebekarren für die, die im Liegen transportiert werden,
sind ein wenig moderner geworden. Aber nur wenig, denn ich selbst musste an einer kleinen
Steigung mit Schieben helfen und erntete so ein echtes Körnchen von dem Dank im Voraus, der
unbeantwortet gegen den Himmel verpufft.
Hier im Gewimmel des Vorplatzes der großen neogotischen Basilique Supérieure5 geht es zu wie
auf einem Volksfest. Schwerfällig schieben sich Alte, Behinderte durch die Menge. Es wird
gerempelt, sich entschuldigt, gedrängt. Was ist eigentlich hier los? Ich weiß es noch nicht.
Aufgeregt, lärmend schwirren junge Menschen durcheinander, kleine Pulks von Leuten scharen
sich um ein Fähnlein. Sie tragen bunte Halstücher, ihre Führer Schilder in allen Sprachen,
meistens englisch, französisch, spanisch, italienisch; auf allen steht dasselbe, jetzt sehen wir auch
ein deutsches: „Pilger für einen Tag“. Ein junger Mann hält es hoch, blickt freundlich suchend
um sich. Wir sind es, die er treffen will. Er stellt sich kurz vor. Er käme aus einer Gemeinde im
Münsterland, er machte das hier freiwillig, gewissermaßen um sein Seelenheil. Er studierte an
einem Seminar, wollte später Priester werden. Wir zogen mit ihm los, an die heiligen Stätten.
Zuerst führte er uns in die südlich der Esplanade liegende, 1958 geweihte, unterirdische
Basilisque Souterraine St-Pie X.6 Es ist ein gewaltiger und nüchterner Betonbau unter der Erde,
80 m breit und 200 m lang, der Platz hat für 20 000 Gläubige. Wir sehen vorn, durch einen Wald
von kantigen schräg gestellten Betonsäulen, die den Boden darüber stützen, ganz weit weg, am
Altar, eine Gruppe einem Priester zuhören. Wir gehen leise hinten herum den betonierten,
rollstuhlgerechten Umgang zum anderen Ende, wie durch ein riesiges nüchternes Garagentor ans
Tageslicht, stehen vor dem kleinen Museum Ste. Bernadette. Davor, über immergrünem Efeu
kniet sie, im Nonnenschleier, den Blick nach oben, in Marmor, die Heilige Bernadette.
Wir gehen hinein. Unser Führer schleust uns in den
Menschenstrom, der das kleine Gebäude schier zu sprengen
drohte und gibt uns eine halbe Stunde. Hier informiert uns
zunächst ein großes Modell über die geografische Lage.
Lourdes liegt in einem Bogen der Gave de Pau, die wir
schon gesehen haben. Wir erfahren, dass sie sogar
umgeleitet wurde, um den Ort an die Erfordernisse der
Pilgerzüge anzupassen und die Basiliken zu bauen. Es gibt
auch einen Kreuzweg mit vierzehn gusseisernen Figuren,
der auf einen Calvarienberg hinaufführt.
Dann versuchen wir, auf Zehenspitzen, oder wartend bis
ein Blick frei wird, die Erinnerungsstücke zu besichtigen,
5
6
Basilique Supérieure, frz. Obere Basilika
Basiliques Souterraine St- Pie X., frz. Die Unterirdische Basilika des Heiligen Pius X.
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die noch aus dem kargen Leben der Bernadette Soubirous
erhalten sind.
Bilder in Glasmaltechnik, Bilder ihres Geburtshauses, wie es einmal aussah, der väterlichen
Mühle, ihrer Familie, ihres Paters Peyramale, der ihre Erscheinungen gedeutet hat, sie populär
und glaubhaft zu machen half. Einige erleuchtete, in Email gearbeitete Szenen ihrer achtzehn
Erscheinungen, die sie hatte. Lassen wir Kurt Tucholsky erzählen. Er hatte schon 1927 eine
andere Sicht, als sie heute noch in den offiziellen Hochglanzprospekten an die gläubigen und
ungläubigen Massen herangebracht wird. Und hier ist seine Geschichte der – zu seiner Zeit
noch – seligen Bernadette:
„Vor siebenundsechzig Jahren fing es an. Lourdes war damals "ein Haufe trüber Dächer, von traurigem
Bleigrau; so stehen sie da, unterhalb der Straße eng zusammengedrückt". …
In Lourdes lebte zu dieser Zeit eine kleine Müllerstochter, Bernadette Soubirous, sie war vierzehn Jahre alt.
Das Kind war immer krank, es litt an Asthma, an Atemnot, an schweren Hustenanfällen. Die Alten hatten
viele Kinder und wenig Brot, es ging ihnen nicht gut. Im Sommer hütete die Kleine die Schafe in Bartrès,
in der Nähe von Lourdes, bei einer Frau, die ihr Kind verloren und die kleine Soubirous genährt hatte.
(Diese Frau ist noch am Leben.) Lesen und schreiben konnte sie nicht - aber an kalten Wintertagen, wenn
in den Hütten abends kein Feuer brannte, um zu wärmen, und kein Licht, um zu leuchten, versammelten
sich die ärmeren Bauernfrauen und ihre Kinder in der kleinen Kirche zu Lourdes, und da erzählte der Curé7
fromme Geschichten, von göttlichen Erscheinungen, wunderbaren Quellen, Segen und Heilungen der
Gebenedeiten - - Die Pyrenäen sind reich an solchen Legenden. Ihnen gemeinsam ist stets: die plötzlich
auftauchende Erscheinung, meist eine weiße Frau, sie vertraut dem ahnungslosen Hirten ein gutes
Geheimnis an, das der nie verraten darf, sie gibt ihm einen Auftrag, sie zeigt ihm eine Quelle, die Quelle
heilt Kranke. Um Lourdes wimmelt es: Unsre Liebe Frau in Barbazan, Unsre Liebe Frau von Nestè,
Médoux, Bétharram, Garaison, Bourisp - so viel Namen, so viel Wundererscheinungen, weiße Frauen,
Heilquellen, Geheimnisse. In der abendlichen Kirche, wohlgeborgen vor den Schneestürmen, im Flimmer
der Kerzen, die die Schatten im Halbdunkel auf Goldgrund tanzen ließen, saß die Kleine und sog in sich
auf, was es da zu hören gab. Manchmal war sie traurig: in ihrer Atemnot hatte sie husten müssen und das
Schönste nicht gehört.
Die Mühle von Lacadé (Elternhaus), so wie sie zur
Zeit der Erscheinung war
Der Bruder ihrer Ziehmutter war ein Priester, er
brachte oft bunte Bildchen mit und auch die Bibel
und Heiligengeschichten, die das Mädchen nicht
lesen konnte ...
Aber die Bilder konnte sie betrachten, die schönen Bilder mit der Heiligen Mutter Maria in weißem
Gewande, mit den Rosenornamenten als Schmuck, die ihr fromme Maler zu Häupten gesetzt hatten, und sie
sah sich diese Bilder gern an. Das, was ihr die Priester an solchen Winterabenden erzählten, war ihr
geistiges Leben, denn sie war noch nicht eingesegnet und wußte weiter nichts von Religion als diese vagen
und frömmelnden Historien. Da war von Gottvater die Rede, von der Heiligen Jungfrau, von Jesus und von
der Dreieinigkeit und wohl auch von der unbefleckten Empfängnis.
Denn drei Jahre vorher, am 8. Dezember 1854, war von Pius IX. das Dogma der Conceptio immaculata
verkündet worden, das beinahe so viel Aufsehen gemacht hat wie das von der Unfehlbarkeit des Papstes.
Diese Tatsache findet sich in der gesamten populären Bernadette-Literatur verschwiegen. Wir werden
sehen, warum.
Mühle von Boly (Geburtshaus von
Bernadette) zur Zeit der Erscheinungen
7
Curé, frz. (katholischer) Pfarrer
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Am Donnerstag, dem 11. Februar 1858, fror es in Lourdes, der Himmel war grau, die Bauern machten, daß
sie ihre Arbeit draußen beendigten und beeilten sich, in die Hütten an den Herd zu kommen. Der Müller
Soubirous brauchte sich nicht zu beeilen: es war kein Holz im Hause. Die Kinder sollten Holz holen.
Bernadette ging in die Kälte hinaus, ihre jüngste Schwester Toinette und eine Freundin, Jeanne Abadie,
begleiteten sie. Die drei stiegen an den Abhängen herum, überquerten den Bach, der jetzt abgeleitet, am
Eisenbahndamm entlang fließt, und kamen schließlich in die Grotte. Winterstille und Geriesel von
trockenem Laub. Da hörte sie ein dumpfes Geräusch. Sie hob den Kopf...
"Ich konnte nichts mehr sagen, und ich wußte gar nicht, was ich denken sollte, denn als ich den Kopf zur
Grotte wendete, sah ich an der Felsöffnung einen Busch, aber nur einen, hin- und herschwanken, wie wenn
großer Wind wäre. Beinah zu gleicher Zeit kam innen aus der Grotte eine goldene Wolke, und danach: eine
junge und schöne Dame, so schön, wie ich niemals eine gesehen hatte. Sie stellte sich an der Öffnung auf,
oberhalb des Buschs. Sie sah mich an, lächelte und machte mir ein Zeichen, näher zu kommen, grade wie
wenn sie meine Mutter wäre!“
Die beiden kleinen Begleiterinnen hatten nichts gesehen, nur allein Bernadette. Erst war es in ihren
Berichten "etwas Weißes", dann eine Dame, dann eine wunderschöne Dame, mit weißem Gewand, blauem
Gürtel und gelben Rosen zu Füßen - aber die sprach zunächst nicht, sie lächelte. Bernadette ging immer
wieder in die Grotte. Die Mutter wollte das nicht. Die Grotte stand in keinem guten Ruf, Liebespaare
pflegten sich dort zu verstecken, und wenn man wieder einmal am Morgen leere Flaschen und sonstige
schöne Sachen dort gefunden hatte, stießen sich die Bauern in die Rippen und grinsten: "Heute nacht haben
sie wieder Dummheiten in der Grotte gemacht!" Aber Bernadette ging wieder und wieder hin.
"Sie" erschien ihr achtzehnmal.
Beim drittenmal sprach die Dame. Sie bat die Kleine, während vierzehn Tagen in die Grotte zu kommen.
Bernadette versprach das. Und dann: "Trink aus der Quelle und wasch dich in dem Wasser!" - Es war aber
keine Quelle da, das Kind kratzte die Erde auf, da lief ein dünnes Rinnsal über die Erde. Die Wunderquelle
war geboren. Und später: "Sage den Priestern: sie sollen hier eine Kapelle bauen und in Prozessionen
hierher kommen!" Und nun auf inständiges Fragen, endlich, endlich: "Ich bin die Conceptio immaculata."
Die Dame, die dies gesagt hatte, sprach das bäurische Platt. "Qué soy ér' Immaculada Councepslou." Und
da war Bernadette schon nicht mehr allein.
Die Sache war durchgesickert, die Polizei mischte sich ein, mißtrauisch, liberal, halb aufgeklärt und
durchaus dagegen. Der Priester des Ortes war vorsichtig, skeptisch, außerordentlich klug. "Ein Wunder!
Ein Wunder!" verlangte er. Und vor der Namensgebung: "Sage deiner Dame, daß ich sie nicht kenne - sie
solle sich vorstellen." Sie stellte sich vor, und nach jeder Halluzination wurde das Publikum größer, der
Glaube stärker, die Legendenbildung wilder.
Bei alledem hat man sich die kleine Bernadette
als ein bescheidnes, artiges, schwächliches
Kind zu denken, das kein Wesens aus der Sache
machte. Sie hatte einen schweren Stand: der
Geistliche wollte nicht heran, die Polizei
drohte, sie einzusperren, wenn dieser Unfug
nicht aufhörte, und das Dorf verlangte seine
Wunder. Ein alter Abbé, der als kleiner Junge
sie noch gekannt hat, zeigte mir in Lourdes eine
Fotografie, die angeblich an der Grotte während
der Ekstase aufgenommen sein soll - ein
offenbar gestelltes Bild, ohne jeden visionären
Zug in dem kleinen Bauerngesicht. Das arme
Ding mit seinen Läusen unter dem Kopftuch,
bekam von allen Seiten zugesetzt, es prasselte
nur so auf sie herunter: Klagen, Bitten,
Beschwörungen, Segenswünsche ... Schon
Familie Soubirous. Im Mittelpunkt des Bildes:
wollten einige durch Handauflegen von ihr
Bernadette mit der weißen pyrenäischen Kapuze
geheilt werden.
(Foto von 1866)
Ein Zug, ein einziger in diesen zahllosen Berichten ist rührend, zeigt, wie tief sich die Halluzination in das
Kind eingefressen hat und beweist ihre wirkliche Herzensunschuld. Sie hatte dem Steuereinnehmer Estrade
und seiner Schwester ihre Geschichte erzählt: "Also, die Dame bat mich, vierzehn Tage lang in die Grotte
zu kommen!“ „Sag mal genau, wie sie gesprochen hat!" sagte der Steuereinnehmer. „Die Dame sagte:
Wollen Sie so gut sein...“ Und hier unterbrach sich Bernadette, senkte den Kopf und flüsterte: "Die
Madonna hat Sie zu mir gesagt..."
Und nun gings los.
Die Presse nahm sich der Affäre an, die Artikel für und wider setzten ein ohne Ende, und die Polizei ließ
die Grotte mit Brettern versperren. Die Gegend stand auf dem Kopf.
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"Ein Wunder! Ein echtes Wunder! Hat sie nicht von der Conceptio immaculata gesprochen? Aber das Kind
hat das Wort nie gehört, kann es gar nicht gehört haben!" - Die Bernadette- Literatur legt auf diesen Punkt
den allergrößten Wert. Man kann nur Erinnerungen produzieren, während man halluziniert, sagen sie, (was
falsch ist) - dieses schwierige Wort und der noch kompliziertere Begriff seien dem Kinde unbekannt
gewesen. Nein, sie waren das nicht. Man wird nun verstehen, warum die Bernadette- Traktätchen so
ängstlich darüber schweigen, daß das Dogma schon drei Jahre, ex cathedra verkündet, vorlag. Es war also
nicht nur möglich, sondern höchst wahrscheinlich, daß das Kind diesen Ausdruck von den Priestern
aufgeschnappt hat, ohne zu begreifen. Und man weiß, wie Latein auf die wirkt, die es nicht verstehen.
Die Grotte gesperrt? Streik der Bauarbeiter, Rumor unter den Bauern, die Grotte mußte wieder geöffnet
werden. Bis zum Kaiser drang der Lärm, denn nun war aus den Halluzinationen eines kranken Kindes eine
hochpolitische Affäre geworden. Kulturkampf? Napoleon III. tat das, was er immer getan hatte: er zögerte.
Aber die Kaiserin lag ihm in den Ohren, es war das wohl auch kein casus belli8, die innre Politik erheischte
Frieden ... Er gab nach. Der Polizeikommissar wurde versetzt, der Präfekt von Tarbes wurde versetzt - das
Land hatte sein Wunder. Die Prozesse prasselten. Die ersten Heilungen wurden ausgerufen.
Denn die Quelle war da, das war kein Zweifel. Jetzt war es eine große Quelle geworden: sie gab
zwölfhundert Hektoliter am Tage her. Nun wollen sogar die orthodoxesten Katholiken nicht, daß
Bernadette dieses Wasser aus dem Nichts gerufen habe. Der Abbé Richard hielt schon im Jahre 1879 dafür,
daß nicht das Kind die Quelle erschaffen habe, sondern Gott - die Kleine habe nur durch das Wunder eine
bestehende Quelle entdeckt. Leute, die mit einer Wünschelrute umgehen, wissen etwas von den
Prädispositionen gewisser Personen zu sagen, die auf Wasser, Metalle und Steinarten reagieren.
Herr Fabisch aus Lyon setzte der Jungfrau eine Statue, eben jene, die heute noch in der Grotte steht. Er ließ
sich von Bernadette die Erscheinung beschreiben, war tief gerührt von der weichen Frömmigkeit der
Kleinen und lieferte das Äußerste an Talentlosigkeit. Die Statue hat siebentausend Francs gekostet, genau
die gleiche Summe zuviel. Als man Bernadette das Werk zeigte, lief sie zunächst fort, ein beachtliches und
gutes Zeichen von Kunstverstand. Dann wurde sie beruhigt, noch einmal an die Figur herangeführt, die
aussieht, wie wenn sie aus Seife wäre, und man fragte sie: "Ist das deine Jungfrau, so, wie du sie gesehen
hast?" - Und sie: "Keine Spur." Aber Fabisch kassierte ein, und die Priester aus Lourdes stellten auf…
…Bernadette blieb bei ihrer Familie, und als sie es dort nicht mehr ertragen konnte vor Besuchen, Fragen,
Verhören, Freunden und Feinden, die sie alle, alle sehen wollten, als sie immer und immer wieder ihren
Bericht erzählen mußte, brachte man sie ins Hospital. Das hatte noch einen andern guten Grund: das
Mädchen kränkelte. Im Krankenhaus wurde sie zunächst gepflegt, die Besucher wurden ferngehalten,
später verrichtete sie Arbeiten in der Küche und machte sich auch sonst nützlich.
Die Kirche rechnet mit Jahrhunderten und in eiligen Fällen mit Jahren. Erst vier Jahre nach diesen
Erscheinungen, am 18. Januar 1862, erschien der große Hirtenbrief des Bischofs von Tarbes, des
Monseigneurs Bertrand- Sévère. "Ja", sagte der Brief.
Kollekten, Gläubige, Kirchenbauten, Zusammenlauf aus aller Welt. Die Pilgerzüge setzten in voller Stärke
ein. Im Jahre 1867 waren es schon 28 000 Menschen, die kamen. Das Wunder war im Gang.
Das ging nicht ohne die bösesten Zänkereien ab. Der Curé von Lourdes bekam den Monseigneur- Titel,
aber das tröstete ihn wenig, er fühlte sich zurückgesetzt; die Orden bekriegten sich bis aufs Messer, warfen
einander Habsucht, Neid, Mißgunst und übergroße Geschäftstüchtigkeit vor, und auch die Einwohner
wüteten umher. Die Kirche hatte in kluger Voraussicht die Grundstücke gekauft, die der Grotte
gegenüberlagen, um alle neugierige Nachbarschaft zu vermeiden. Welches Geschäft war den Lourdesen da
aus der Nase gegangen -! Was wäre das gewesen -! „Hotelzimmer mit direkter Aussicht auf die
Wundergrotte und alle Zeremonien! Abends Dancing!" Ein Jammer. Es roch nicht gut zum Himmel, was da
aufstieg.
Und dann war da diese kleine Bernadette, die der Anstrom der Neugierigen immer noch suchte. Eine
unangenehme Konkurrenz, dieses Werkzeug Gottes ... Sie durfte fernerhin nicht mehr in Lourdes leben vor allem: unter gar keinen Umständen durfte sie dort begraben liegen. Nur keine Ablenkung! Sie lebte
auch nicht mehr da, sie starb nicht da. Man hat sie nach Nevers gebracht, einer kleinen Stadt südöstlich von
Orléans, in das Mutterkloster des Ordens des Sœurs de la Charité de Nevers, und dort erlosch sie im Alter
von fünfunddreißig Jahren. Sie hat keine Wunder mehr angezeigt und auch keines tun wollen, sie war eine
schwächliche Person, die in Ruhe leben und sterben wollte. Sie ist sehr krank gewesen.
Jetzt, zu ihrer Seligsprechung im vorigen Jahr, haben sie sie exhumiert: der Körper war gut erhalten, ihr
linkes Auge, das der Erscheinung zugewendet war, soll offen gewesen sein, ihr Grab so nach Blumen
geduftet haben, daß - wie in Lourdes erzählt wird - Briefe, die dort gelegen hatten, dufteten ... Man hat sie
8
casus belli, lat. zum Krieg führendes Eriegnis
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in einem Glassarg ausgestellt, es kommen viele Gläubige. Ich habe eine Reliquie geschenkt bekommen, ein
Stückchen von ihrem Totengewand.
Eine Heilige -? Noch nicht.
In Lourdes wird ein alter Mann aufbewahrt, es ist ihr Bruder, der einen Andenken- Laden hatte und sich
vorzeitig vom Geschäft zurückgezogen hat. Er empfängt viele Besuche, will aber keine haben - er ist ein
stiller und ruhiger, etwas bäurischer Mensch. Nein, ich habe sein Ruhebedürfnis geehrt und ihn in Frieden
gelassen. Er weiß auch nicht viel von damals zu vermelden - er war sieben Jahre alt, als Bernadette ihre
Erscheinungen hatte. Aber wenn er einmal gestorben sein wird, und wenn alle persönlichen Erinnerungen
verflogen sind, wenn die Gestalt der kleinen Bernadette weit, weit hinten im grauen Nebel der Geschichte
verschwindet -: dann wird sie heilig gesprochen werden. 9 Die Kirche ist so klug...
Denn über Bernadette Soubirous, die Müllerstochter, kann man heute noch kleine persönliche
Bemerkungen machen, sie ist zu nah -. Jeanne d'Arc aber ist heilig und entlockt selbst einem so wilden
Spötter wie Bernard Shaw - außen Stacheldraht, innen Gummibonbon - ein schönes Pathos.
Das ist die Geschichte der seligen Bernadette, zu der Hunderttausende in Lourdes beten. Tagaus, tagein ...
Aber immer andre. Denn das ist das Gefährliche an der Sache: tagaus, tagein darf man dergleichen nicht
sehen. Der Mechanismus wird sichtbar
Jede pèlerinage10 ist höchstens vier, fünf Tage in Lourdes, und das ist sehr gut eingerichtet. Der längere
Aufenthalt geht auf Kosten der Intensität. Man sieht zu viel…“
Wir sind „Pilger für einen Tag“, folgen dem rosa Pappschild, das der Junge aus Westfalen
hochhält, - die rosa Farbe gibt uns als Deutsche aus - zum Geburtshaus der Bernadette
Soubirous, dem maison natale. Eng ist es hier, auch überfüllt mit Menschen. Alles ist schön
dekoriert. Man soll glauben, so hätte das alles vor 140 Jahren ausgesehen, als sie am 7. Januar
1844 geboren wurde.
Die Familie des Müllers François Soubirous wohnte in der Mühle von Boly, Bernadette bis zu
ihrem zehnten Lebensjahr. Aber zunehmend verarmend, musste die Familie mehrmals umziehen.
1857 konnte die Familie keine Miete mehr zahlen. Der Vater geriet unter falschen Verdacht des
Mehldiebstahls, wurde eingelocht, aber mangels Beweisen frei gesprochen. Die Soubirous
bezogen als neues Quartier, zu sechst, im Erdgeschoss des Hauses Sajous eine miserable Zelle
des ehemaligen Gefängnisses von Lourdes, genannt Cachot11. Wir mussten bald eine
Viertelstunde draußen in der engen Rue des Petits-Fossés stehen, bis wir uns hineinschieben
können, in diesen armseligen Raum. Unvorstellbar, wie sechs Personen hier leben und schlafen
konnten! Wirklich unglaublich, dieses Elend.
Chronologisch kam danach, als die Kirche der Bernadette ihre Gesichte als Erscheinungen
abnahm, für die Familie Besserung ihrer Lebensumstände. Sie zogen in die Mühe von Lacadé.
Wir sahen es vorher auf dem Wege zum Cachot.
Heute wird den Pilgern und Touristen noch dieses andere Haus gezeigt, das „Maison paternelle
de Ste Bernadette“, das Elternhaus der Heiligen. Ursprünglich war es die Mühle von Lacadé.
Sie gehörte dem Bürgermeister gleichen Namens in Lourdes. Im Juli 1863 mietete sie der Pfarrer
Peyramale, unter dessen sakraler Obhut Bernadette stand, für die Familie Soubirous. Einiges was
an diese Zeit erinnert, können wir noch sehen, ein niedriges Holzbett, wurmstichige, an der
Wand befestigte Holzkommoden, einen verrußten Kamin, Bilder, alte sepiafarbene Fotografien.
Bernadettes Mutter starb dort 1866, ihr Vater 1871. Ich erinnere mich: Deutsch- Französischer
Krieg, und ordne diese Ereignisse in mein Geschichtsbild ein.
Bis hierher sind wir auf den Spuren der
Bernadette in Fleisch und Blut gefolgt, jetzt
haben wir noch etwas Freizeit und wollen nun
auf den Prozessionsplatz. Die Dämmerung
macht sich bemerkbar, das Tageslicht wird
schwächer.
9
Sie wird am 18.Februar 1933 heilig gesprochen!
pèlerinage, frz. Pilgerschaft, Wallfahrt
11
le cachot, frz. Verlies, Kerker
10
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Wir haben die tägliche Nachmittagsprozession
verpasst, bekamen jetzt nur die sich
auflösenden Menschenmassen zu sehen.
Gegen den Strom der Menschengruppen, Pilgerscharen und Touristengruppen aus aller Herren
Länder, mit uniformierten Halstüchern meist oder mit einem Führer, der seine Schäfchen mit
hoch erhobenem Regenschirm oder einer Fahne zusammenhielt. Ich sehe in ihren Augen noch
die Erregung, die Emotionen sind noch am Abklingen, Gemurmel wächst zum babylonischen
Stimmengewirr. Lange genug hat sich jeder der kanonischen Disziplin untergeordnet. Vor allem
Italiener und Spanier fallen mir auf. Jetzt platzt das südländische Temperament hervor. Für uns,
die das verpasst haben, etwas beängstigend, ein Tollhaus, etwa wie zu Hause bei uns die Fans
eines Fußballvereins heiß um Sieg oder Niederlage diskutieren und man gerät in den
Gegenverkehr.
Wieder möchte ich K.T. ums Wort bitten, um das was am Nachmittag passiert war zu schildern:
„Um drei Uhr nachmittags ist der große Platz gesperrt, die Ränder summen und wimmeln an den langen
Leinen, mit denen er abgegrenzt ist. Hier wird nachher die große Prozession entlanggehen, und obgleich es
noch lange nicht halb fünf ist, stehen und sitzen da schon viele Frauen mit Kindern und auch Männer. Sie
haben sich Klappstühle mitgebracht, die man für drei Francs kaufen kann, und warten da unter den
Bäumen. Noch werden viele Kranke an die Grotte gerollt und zum Bad; nachmittags sind es die
Schwerkranken, die gebadet werden. Wieder stehen alle dichtgedrängt um den Priester, wieder ruhen die
Kranken auf den Stühlen, wieder schallen die Gebete. Lauter, lauter.
« Hosanna, hosanna au Fils de David! »12
Erst klingt mir das Wort "Hosianna" in der französischen Version fremd, dann bleibt es haften, sie sprechen
es mit vielen n in der Mitte, wiegen sich im Klang. Und nun kommen schon die ersten Fahnenträger, sie
stellen sich an der Grotte auf und singen, die Kranken werden einzeln abgefahren, man stellt sie auf den
großen Platz in die erste Reihe. Da liegen sie auf Bahren, sitzen auf ihren Stühlen. Hinter ihnen die Masse.
Halb vier Uhr. Eine riesige Prozession formt sich, die Spitze steht auf der langen Esplanade, alle haben die
Basilika im Rücken - denn sie werden erst den Rasenplatz umschreiten, mit dem Heiligen Sakrament in der
Mitte. Oben, die Plattform der Kirche, ist schwarz vor Menschen, die beiden Rampenarme sind frei und
leer. Die Träger sperren sie ab. Da kommt die Prozession.
Nach der Augenschätzung mögen es vielleicht zehntausend Menschen sein, die Nachprüfung ergibt
annähernd die Richtigkeit. Sie schreiten langsam, Gesang schallt, man kann noch nicht hören, was sie
singen.
In der Mitte des Platzes knien jetzt Priester, sie beten und alle beten nach.
"Bienheureuse Bernadette, priez pour nous!"13
alle:
"Bienheureuse Bernadette, priez pour nous!"
Der Platz braust. Spricht der Priester da vorn auf dem Platz lateinisch, so fallen alle ein, und die langen
Sätze schnurren unter den Bäumen. Beginnt er zu singen, so singen sie mit.
„Seigneur, nous vous adorons!“14
Das ist ein Franzose. Aber da kniet nun ein paar Meter weiter von ihm, schräg, ein Priester der Pilger, und
das ist ein Italiener. Und als der seine Stimme erhebt, da verschwindet alles andere neben ihm. Welch ein
Tenor -!
"Signore -!"
Ah -! Durch Mark und Bein geht diese Stimme, sie peitscht die Leute auf, sie singt ganz allein unter den
Tausenden. jetzt ist die Sache in der richtigen Kehle.
Da naht die Prozession.
Von weitem sieht man die langen Arme schwarzer Priester in der Luft herumfuchteln: sie dirigieren den
Gesang, rühren in den Massen. Brennt, Flammen -! Dann kommen sie.
Erst die Marienkinder, junge Mädchen in weißen Schleiern, sie singen mit hellen Stimmen. Man dirigiert
sie auf die Freitreppe, da bleiben sie eng gedrängt stehen, und ihre weißen Schleier zieren die weiten
Linien. Dann die Männer, sie tragen Kerzen in den Händen und singen laut. Das Sakrament. Alles fällt auf
die Knie, die Kranken neigen die Köpfe. Der Erzbischof zieht unter dem Baldachin dahin, den ein Mann in
Reitstiefeln trägt, davor die Weihrauchkessel, die ununterbrochen geschwungen werden.
12
Hosianna, hosianna dem Sohne Davids !
"Bienheureuse Bernadette, priez pour nous!" „Glückselige Bernadette, bitte für uns!“
14
„Seigneur, nous vous adorons!“ „Herr, wir beten Dich an!“
13
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Nun macht das Sakrament die Runde, und es ist ganz still auf dem großen Platz. Nur zwei Priesterstimmen
sprechen ein Gebet. Der goldne Stab wandelt langsam an den Kranken vorüber, zeigt sich, neigt sich ...
Nasse Augen, wohin ich sehe. Jetzt steht der Bischof unter seiner Geistlichkeit, grade vor dem
Haupteingang der Basilika, da fallen die Geistlichen auf die Knie, er hebt die Hand, das Glöckchen klingt...
totenstill ists unter den Bäumen. Und nun kommt der eindrucksvollste Augenblick des Nachmittags.
Der Gottesdienst hat geendet. Was nun -?
Jetzt brodeln die Leute aufgeregt durcheinander, dies ist der große Moment - hat Maria geholfen -? Sie
wollen ihr Wunder, sie suchen danach, sie stecken die Köpfe zusammen, die Luft ist geladen vor
Erwartung.
Aus einer Ecke springt es auf, wer hat zuerst gerufen
"Un miracle! Un miracle!" Alle laufen, da ist kein Halten mehr. Ein Hauchlaut der Verwunderung ertönt,
wie beim Chor im Drama, der mit leisem "Ha -" vor einem Helden zurückweicht. . . "Un miracle -! Un
miracle -!" Im Nu ist die Tür des "Bureau des Constatations" 15 umlagert.
Das liegt in einer Seitenwand der Rampe, die Tür ist zugesperrt, denn die Ärzte drinnen wissen, was sich
jetzt ereignet. Die Pilger würden die geheilte Kranke zu Boden reißen, sie betasten wollen, ihren Segen
wünschen, sich die Kleider teilen zum Andenken. Warten. Viele Frauen schluchzen…“
Bis zu den Badezellen sind wir nicht gegangen. Irgendwie fand ich das zu intim, den Kranken
und Siechen und Behinderten zuzusehen, wie sie verzweifelt als letzte Rettung ihr Heil beim
lieben Gott versuchen und sich mit dem heiligen Wasser waschen. Aber auch wir suchten den
Weg zur Grotte von Massabielle. Ich schoss mein letztes Foto. Dann hauchten die Batterien ihr
Leben aus. Ich unterdrückte einen Fluch. Das wäre es gewesen, an dieser gesegneten Stätte!
Ich bediene mich wieder der Worte Kurt Tucholskys:
„…Ich drücke mich zur Grotte hindurch.
Es ist eine kleine Felsgrotte, ein paar Meter tief, mit einem schmiedeeisernen Gitter", Entrée" und "Sortie"
steht daran, auf blauen Emailschildern in weißer Schrift,... Seitlich an der Grotte steht eine Kanzel, auf ihr
ein Geistlicher im Ornat, der die Betenden ermahnt, tröstet, anfeuert. Seine Worte hallen über die Köpfe
hinweg und zerflattern dann in der Luft. Es ist so schwer, im Freien zu predigen...
Langsam, unendlich langsam schiebt sich die Menge an der Kanzel vorbei, in die Grotte. Alle halten
Kerzen in den Händen, und da flammt ein großer Lichtständer, das Stearin tropft und bildet merkwürdige
Figuren. Zwei Meter vom Boden entfernt, in einer Höhlung oben in den Steinen, steht sie: Notre-Dame de
Lourdes, Our Lady of Lourdes, Onze Lieve Vrouw van Lourdes, Gospa od Lourda, Nuestra Seflora de
Lourdes, Miesac Mary i Lourdes, Nassa Senhora de Lourdes - die Jungfrau Maria. Hier ist sie der
Bernadette, dem kleinen Bauernmädchen aus Lourdes, zum erstenmal erschienen und hat Quelle und
Heilung vorausgesagt. Vor ihr bekreuzigen sich alle, dann küssen sie den Stein, auf dem sie steht, der Stein
ist glatt und speckig von den vielen Händen, die ihn gestreichelt haben…
Nun preßt die Menschenmauer nach vorn. Ein Altar ist aufgerichtet, da brennen die Kerzen, fortwährend
klappert Geld in die Kästen, und die Erde ist bedeckt mit Briefen, Kupfermünzen, Bildern, Blumen,
Glasperlen, Weihgeschenken. Langsam, langsam werden wir wieder herausgedrückt. Am Ausgang hängen
alte Krücken, die haben die Geheilten da aufgehängt, und ein Gipskorsett ist auch dabei.
Vor der Grotte, in Wagen und Bahren: die Kranken. Sie sitzen und liegen da, die Augen zum Himmel
aufgerichtet, die Träger beten, die sie umgeben - die Verwandten beten, manche sind halb bewußtlos und
haben die Augen geschlossen und fiebern. Sie halten Rosenkränze in den Fingern. Viele singen.
Neugierige und Touristen stehen unter den Leuten, es wird fotografiert, gesprochen, in Büchern geblättert.
Bahren im Getümmel, Krankenwagen, gestützte Kranke - alles geht leise und freundlich vor sich. An der
Kirche, an den Plätzen, überall sind im Freien Kanzeln aufgestellt, da predigen die fremden Priester, die mit
den Pilgerzügen gekommen sind, in ihren Sprachen. Und nun ist es Mittag, und dann leert sich langsam der
Platz.
So fängt der erste Tag der Pilger an, die da in den "trains blancs 16" ankommen, den großen Krankenzügen,
mit Liegevorrichtungen für die Kranken, gestopft voll, mit Krankenschwestern und Pflegern, mit dem
Bischof oder Erzbischof der Diözese, dem weltlichen Leiter, der die ermäßigten Billetts besorgt, und mit
einem Arzt. Wenn sie ankommen, verteilen sie sich in der Stadt - die großen Unterkunftsbaracken gibt es
nicht mehr.
15
16
„Bureau des Constatations“, frz. Kommission, die die Heilungen registriert und bestätigt.
trains blancs, frz. weiße Züge
© Rolf Bührend, Februar 2005
Seite 58
Die Frommen gehen gleich nach der Ankunft zum Gottesdienst, zum Quellenbad, zur "piscine"; große
Anschläge verkünden überall in der Stadt den Dienst des betreffenden Zugs, alles ist Tradition,
vorausgesehen, eingespielt…“
Was soll ich da noch hinzufügen? Das war vor korrekt 76 Jahren. Bis heute hat die Kirche da
nichts geändert. Oh ja doch, der Durchsatz ist erhöht worden, die Strukturen verfeinert, zwei
neue Kirchen gebaut und Dutzende von Hotels und Herbergen aller Art- für Zuwachs! Der
Gegenstand und seine Wunderwirkung sind geblieben. Und vieles Andere. Mit den Wundern
geht man strenger um, seit die moderne Medizin Fortschritte gemacht hat. Trotzdem, es ist eine
Industrie mit der abstrakten menschlichen Ware „Glauben“ geworden.
Wir wollten abends die Lichterprozession erleben. Wir spazierten in der Stadt in Richtung Hotel,
gingen über die Gavebrücke ein Stück links die Straße hinauf. Nun war es ganz dunkel. Überall
flammten die Lichter wie auf einem riesigen Jahrmarkt. Ich suchte nach einem passenden
Andenken, schaute mich um und fand es: Ich kaufte mir ein echtes Béret basque17. Wegen
meiner Kopfgröße musste die nach ältlichem Parfüm riechende Verkäuferin auf eine Leiter
steigen, einige Kartons vom Regal ganz oben holen und nach Form, Größe und Farbe suchen,
wie ich es mir wünschte. Endlich klappte es, auch leidlich mit der Verständigung. Hierauf
bummelten wir ins Hotel zurück, aßen zu Abend und marschierten dann gespannt und
emotionsgeladen wieder hin zur großen Basilique Supérieure.
21 Uhr sollte es losgehen. Ich lasse noch einmal K.T. für mich sprechen. Es deckt sich so mit
dem, was wir erlebten, ich könnte es nicht so anschaulich schildern:
„Für den Abend ist die große Fackel- Prozession angesetzt, kurz nach dem Abendbrot schon laufen alle
Leute in Lourdes mit kleinen Fackelchen umher, wie man sie uns auf den Kinderfesten in die Hand gesteckt
hat. Blaugedruckte Papierschirme mit dem Bildnis der Jungfrau umhüllen die Kerze. Aber bevor das
angeht, sehe ich doch noch etwas anderes.
Die Kranken können die Hospitäler nicht verlassen, sie können den Fackelzug nicht verstärken -.
Wenn der Pilgerzug groß genug ist, dann versammeln sich manchmal die Angehörigen vor dem großen
Krankenhaus und bringen ihren Zug den Kranken dar. Und das ist wohl das Erschütterndste, das ich in
Lourdes gesehn habe.
Zum Fackelzug wird das "Ave Maria" gesungen. Verfasser und Komponist ist Abbé Gaignet, ein
Geistlicher aus der Vendée18, er schuf dieses Lied im Jahre 1874. Es hat unzählige Strophen, einfache
Vierzeiler aus einer simpeln Melodie, und als Refrain ist ihm das Ave angesetzt, das in der französischen
Liedbetonung ungefähr folgendermaßen klingt:
Avé
Avé
Avé Mariaa Es ist so einfach, daß es ein Kind nachsingen kann…
… Inzwischen haben sie sich vor der Kirche und um die Kirche versammelt. Auf den Rampen stehen sie
Kopf an Kopf, die Plattform ist gedrängt voll, der Platz ist leer, aber weit unten, an der Esplanade, tauchen
Feuerfünkchen auf ... Sie fangen an.
Und da leuchtet die Basilika, ihre Konturen sind mit Glühlämpchen nachgezogen, ein Scheinwerfer erhellt
die Spitze des Turmes, der liegt in bleichem Licht und sieht aus, als verschwinde er in den Wolken, oben
auf dem Pic du Jer, einem Berg in der Nähe von Lourdes, blitzt ein Feuerkreuz. Und da setzt sich die
Prozession in Bewegung.
Hier hört jede Schätzung auf. Es ist einfach ein breiter Lichtstrom, der sich dahinbewegt, die Pünktchen
ergießen sich glitzernd über den tiefen Abgrund vor der Kirche. Bevor sie sich auf der Esplanade
versammeln, gehen sie über die Plattform, sie ziehen an mir vorbei, und ich höre alle einundfünfzig
Strophen des Marienliedes ',Espérance" - und "France" kann ich hören, und auch von der Wahrheit wird
gesungen ...
La France l'écoute
Se lève soudain.
Et se met en route
17
Béret basque, frz. Baskenmütze
Vendée, [vã'de:], westfranzösisches Département am Atlantischen Ozean, südlich der Mündung der Loire, 6720
km2, 510 000 Einwohner; Hauptstadt La Roche-sur-Yon. - Der Aufstand der konservativen Bevölkerung in der
Vendée gegen die Französische Revolution führte 1793-1796, vor allem nach der Hinrichtung Ludwigs XVI., zu
einem grausamen Bürgerkrieg.
18
© Rolf Bührend, Februar 2005
Seite 59
Chantant ce refrain :
Avé – Avé -Avé Maria - !19
Aber nun sind die letzten hier oben vorüber, und der große Feuerzug ist auf dem Platz angekommen. Sie
marschieren in Schlangenlinien, sie nähern sich auf dem gewundnen Lichtpfad immer mehr der Kirche ...
Und als sie nun alle, alle vor dem Tor der Kirche stehen, wie um Einlaß singend, da zischen einige: Ssss! es wird einen Augenblick still, und dann steigt das Credo unter den Fackeln zum Himmel.
Credo in unum Deum, Patrem omnipotentem ... Sie singen es alle, Männer und Frauen, auswendig, alle die
schwierigen lateinischen Worte, die sie französisch aussprechen: Spiritüs sanctüm ... Das steht wie ein Wall
da unten. Unerschütterlich, voller Kraft klingt das Credo.
Et expecto resurrectinom mortuorum. Et vitam venturi saeculi. Amen. Das ist ein Tag in Lourdes.
Wir stehen auch an der seitlichen Rampe, links etwa auf halber Höhe, schon lange vor 21 Uhr.
Der Vorplatz füllt sich langsam. Zunächst werden in nicht endender Folge Krankenstühle
vorgefahren, in bestimmter Ordnung aufgereiht, zurechtgerückt, fixiert. Ihre Betreuer sammeln
sich an der Seite in ebenfalls vorgegebener Sitzformation, mustergültig, diszipliniert.
Man d i e n t hier im wahren Wortsinn dem HERRN. Am Ende parken hier zwischen 800 und
1000 Krankenstühle im Carrée. Viele haben einheitliches Aussehen, längliche, blaue, dreirädrige
Karren mit blauem Verdeck, sie werden von den örtlichen Häusern gestellt. Es ist ganz dunkel
geworden. Jeder hat ein Kerzenlicht bei sich. Dann hören wir Singen ganz rechts im Dunkel, wo
von der Esplanade des Processions20 sich nun der Zug der Fackelträger nähert. Die Gläubigen
laufen in Mäandern, sie kommen nicht auf direktem Wege. Inzwischen kommen keine
Krankenstühle mehr. So können sich nun die Pilger im Fackelzug auf dem Hauptplatz vor der
Basilika, der Esplanade du Rosaire21in Reih und Glied aufstellen. Alles geht feierlich, gemessen
und ruhig zu, beinahe unheimlich wirkt manchmal die Stille. Irgendwann gegen 21 Uhr, hat sich
der Platz gefüllt. Wo kommen die alle her? Ich wage zu schätzen, zwischen zehn- und
zwanzigtausend Menschen, ein Vielfaches der Kranken und Siechen, die ich recht gut zählen
konnte von hier oben, Reihe um Reihe. Ein grandioses, die Sinne überwältigendes Lichtermeer,
eine Messe schon für die Augen. Dann fangen sie an zu singen. Siehe Tucholsky.
Benommen und beeindruckt, aber auch etwas verfroren, mit vom verkrampften Stehen steif
gewordenen Gliedern gehen wir ins Hotel. Zu später Stunde Menschen, Menschen, Menschen.
Die strenge Ordnung löst sich auf. Gedränge. Was hat es ihnen gebracht, dieser heilige Zirkus?
Viel gäbe es noch zu erzählen, doch ich will nicht in den Ruch verfallen zu kolportieren. Viel zu
viel habe ich schon übernommen.
In unserem Zimmer, das zu einem unansehnlichen Hinterhof hinaus lag, stank es nach Bratfisch,
als wir das Fenster öffneten. In der Nacht begann es eigentümlich zu rauschen. Wir horchen
hinaus: ein wolkenbruchartiger Regen hatte begonnen, unaufhörlich, stundenlang. So viel
Wasser!
XVII. Toulouse
Sonntag, 7. September 2003
Der Tag begann wie es in der Nacht angefangen hatte. Der Regen hörte nicht auf. Der Franzose
würde sagen: „Il pleut comme vaches pissent.“22 Koffer packen, zum Aufzug rollen. Routiniertes
Gedränge. Warten in der Vorhalle. Einsteigen in den Bus. Abfahrt 8.30 Uhr. Adieu Lourdes!
Als wir abfuhren, winken uns drei Hotelangestellte nach. Eine nette, freundliche Geste.
Auf unserer Reise war Lourdes der südlichste, den Pyrenäen am nächsten liegende Punkt. Nun
rollen wir nach Norden und gleichzeitig nach Westen. Der Wettergott verhüllte uns bisher die
Sicht auf die Berge. Bei Tarbes biegen wir auf die Autobahn A64 nach Toulouse ein. Wir
schauen aus dem Fenster in die verregnete Landschaft. Tarbes ist bekannt für seine Pferdezucht.
19
La France l'écoute/Se lève soudain./Et se met en route/Chantant ce refrain:/Avé – Avé/Avé Maria -,
frz. Frankreich hört sie/erhebt sich plötzlich/und macht sich auf den Weg/Singend diesen Refrain/Ave, Ave…
20
Esplanade des Processions, frz. Prozessionsplatz
21
Esplanade du Rosaire, frz. Rosenkranzplatz
22
Il pleut comme vaches pissent. Frz. wörtl. Es regnet, wie Kühe pissen.
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Es gibt ein großes Gestüt. Seit dem 17. Jahrhundert werden hier mit Araberblut vermischte
Kavalleriepferde gezüchtet, die heute natürlich anderen Zwecken angepasst werden.
Conny verweist auf die Tour de France der Radprofis, die hier in den Bergen ihre schwersten
Etappen hat. Fährt man von Tarbes das Adourtal aufwärts, durch Bagnères de Bigorre hindurch,
biegt dahinter rechts ab gelangt man zum Col de Tourmalet (2115m), einer Passstraße mit
durchschnittlich 9% Steigung am Fuße des Pic du Midi de Bigorre (2877m).
Zur Région Midi- Pyrénées
gehören die Départements
65- Hautes- Pyrénées mit
der Prefektur in Tarbes
und
31- Haute- Garonne mit
der Hauptstadt Toulouse,
die gleichzeitug die
„Capitale“, die Hauptstadt
der Région Midi- Pyrénées
ist.
Den Pic du Midi de Ossau (2885m) kann man bei gutem Wetter von Pau aus sehen. Es geht aber
noch höher hinauf, wenn man will. Den Grat, das Rückgrat der Pyrenäen gewissermaßen, und oft
Grenze zu Spanien, bilden 3000er Berge. Die höchsten Berge der französischen Pyrenäen sind
der Pic d’Aneto (3404m), der Mont Perdu (3355m), der Pic de Vignemale (3298m) und der
Néouvielle (3092m). Auf spanischer Seite liegen weitere.
Leider kommen wir um diese Bilder „Schneebedeckte Bergspitzen im Hintergrund“ herum.
Auch als wir von 11.15 – 11.45 an einer Autobahnraststätte die übliche Gesundheitspause halten,
regnet es weiter.
Wir sind noch in der Région Midi- Pyrénées, aber wechseln unbemerkt in das Département 31
Haute- Garonne hinüber. Diese Region hat noch sechs weitere Départements. Unmerklich
langsam komme ich mit dem Verwaltungssystem klar. Es ist nur schwer, die administrativen
Regionsnamen und die Landschaften auseinander zu halten, die sich oft überschneiden und
manchmal identisch sind. Frankreich überzieht ein Netz von 95 Départements, wie wir bereits
seit Paris wissen, aber wieder vergessen haben.
Conny erzählte uns, bevor wir in die viertgrößte Stadt Frankreichs einfahren. Vor der Reform der
Regionen um 1960 gehörte Toulouse noch zum Languedoc. Die Sprache weicht vom HochFranzösisch ab. Der Name bedeutet: „Die Sprache da unten“
Ihre Entstehung reicht in graue Vorzeit. Volskische Tektosagen, ein keltischer Volksstamm, von
den Germanen vertrieben, sollen sich hier 200 v. Chr. angesiedelt haben. Natürlich nahmen auch
die Römer hier Platz und nannten ihn Tolosa. Es war ein befestigter Platz an der Straße von
Narbonne nach Bordeaux. Im 3. Jahrhundert wurde die Stadt durch den heiligen Saturnin
christianisiert. Von 419 bis 506 war Toulouse die Hauptstadt des Königreiches der Westgoten.
720 müssen vor Toulouse arabische Heere gegen fränkische Christen deutliche Niederlagen
hinnehmen. (Wir wissen: 732 schlägt sie Karl Martell vor Tours.).Von 845 bis 1249 regierten die
Grafen von Toulouse. Sie hielten hier Hof und wurden zu Führern der Katharer oder Albigenser.
Über sie werde ich später berichten. Es war eine wilde Zeit, zwischen dem 11. und 13.
Jahrhundert. Graf Raimund von Toulouse brach 1096 zum ersten Kreuzzug gegen die Islamisten
auf.
1323 gründete Papst Gregor IX. die Universität. 1324 entstand die „Compagnie du Gay- Savoir“,
die Gesellschaft der Heiteren Wissenschaft, die 1694 von Ludwig XIV. zur Académie des Jeux
© Rolf Bührend, Februar 2005
Seite 61
Floraux, zur Dichterakademie erhoben wurde. Ab dem 1. Weltkrieg entwickelte sich Toulouse
zum Zentrum der französischen Luftfahrt- und Rüstungsindustrie, und ab dem 2. Weltkrieg
siedelte sich noch die Raumfahrtindustrie hier an.
Inzwischen halten wir am Place Wilson, einem grünen Rondell und steigen aus. Es regnet.
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Toulouse unterm Regenschirm. Unfreundlicher Empfang für einen Kurzbesuch. Wir bleiben in
der Gruppe zunächst hinter Conny, die uns führt. Wir überqueren die vom Verkehr durchpulste
Rue d’Alsace- Lorraine, unter der auch eine U- Bahn fährt, und laufen auf das Capitole zu, das
1753 gebaut und nach den Bürgermeistern der Stadt, den „Capitouls“ benannt wurde. In diesem
herrlichen Bauwerk sind das Hôtel de Ville und das Theater untergebracht. Es gibt einen alten
Donjon von 1529, in dem über eine kurze steile Treppe eine schwere Tür zum Touristenbüro
führt, das ich jetzt leider nicht besuchen kann, um nicht den Anschluss zu verlieren. Das Capitole
hat einen offenen Innenhof, durch den wir jetzt gehen, um gleich auf dem großen Place de
Capitole zu stehen, den wir überqueren. Der Regen prasselt mit unverminderter Macht auf die
Schirme. Es macht keinen Spaß. Wir wollen unter ein Dach! Dann hier die Rue du Taur hinunter.
Da sehen wir schon das erste Ziel: Die Basilique de Saint Sernin.
Die Rue de Taur ist eng. Taureau heißt Stier.
Vielleicht hat sie damit etwas zu tun. Die kleine
Kirche Notre Dame de Taur hat hier auf der
rechten Seite ihre Westpforte. Es gibt weiter unten
das Collège Esquila und mehrere Büchereien oder
Leihbibliotheken. Auf der linken Seite kommen
wir
an
winzigen
Cafés,
Imbissbuden,
Souvenirläden vorbei. Es duftet nach Gegrilltem
und Gebackenem. Es ist Mittagszeit. Wir haben
Hunger. Doch erst die Kunst! Wir müssen kurze
Zeit vor der Kirche warten. Wir störten sonst die
Sonntags- Messe. Dann dürfen wir durch die
kleine Seitenpforte eintreten.
Ich habe teils von Conny eine Menge über diesen
Toulouse, La Basilique de Saint Sernin
einzigartigen romanischen Kirchenbau gehört, teils
mich in der Literatur umgesehen. Also?
Es gibt wieder eine kleine Entstehungs- Geschichte zu erzählen:
Die Basilika Sankt SERNIN von Toulouse ehrt das Gedächtnis von SATURNIN, den ersten Bischof und
Märtyrer von Toulouse, der in der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts lebte. Der lateinische Name
„Saturnius", ist dann in der hiesigen Sprache des „Oc“ (Languedoc = Sprache des Oc) in „Sarni "
umgewandelt worden, später französisiert in „Sernin".
Um 250 haben es alle christlichen Bürger abgelehnt, sich den Verpflichtungen, die vom römischen Kaiser
Decius1 gemacht wurden, anzupassen und den heidnischen Göttern zu opfern.
Saturnin wurde mit den Füßen an einem Stier festgebunden, den man opfern musste, und durch die Straßen
der Stadt gezogen, bis sein Tod eintrat. Sein Körper wurde zusammengelesen und in einem Holz- Sarg
begraben.
Im Verlauf des 4. Jh. ließ der Bischof Hilaire eine kleine Holz-Basilika am Ort des Grabes aufstellen, um
das Gedächtnis seines Vorgängers zu ehren. Die exakte Stelle dieses Grabes ist unbekannt. Die Tradition
von Toulouse will, daß die gotische Kirche vom TAUR, sicher die, an der wir vorbeikamen, die Erinnerung
daran verewigt hat, aber Ausgrabungen in dieser Beziehung haben nichts Abschließendes enthüllt.
Von der Wichtigkeit, der Frömmigkeit und der Entwicklung der Nekropole überzeugt, die durch den Ruhm
und die Tugenden dieses Märtyrers hervorgerufen wird, unternahm es Bischof Silve, gegen Ende des 4. Jh.
eine neue Märtyrer- Basilika zu bauen.
Dieses Denkmal wurde unter seinem Nachfolger Exupère fertig, der die Reste von Saturnin dorthin
transferierte und sie in einem Marmor- Sarkophag im November in einem der ersten Jahre des 5. Jh.
beisetzte.
844 war eine Gemeinschaft von Domherren gegründet worden, um für den Körper des Heiligen zu sorgen
und die liturgischen Verrichtungen zu sichern.
In der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts besaß das Kapitel der Domherren von Sankt- Sernin schon
ansehnlichen Grundbesitz, der es ihnen erlaubte, die antike Basilika durch das gegenwärtige Denkmal zu
ersetzen.
1
Decius, Gaius Messius Quintus Traianus, römischer Kaiser 249-251, * zwischen 190 und 200 Budalia oder
Sirmium, † 251 bei Abrittus; ein überzeugter Vertreter und Erneuerer altrömischer Tradition; forderte das
Kaiseropfer und löste damit seit 249 die erste große Christenverfolgung im ganzen Römischen Reich aus; er fiel im
Kampf gegen die Goten.
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Mit gemischten Gefühlen gingen wir, ging ich in diese
Kirche hinein. Draußen regnete es, und rings um den
Kirchenbau lag ein Markt in den letzten Zügen, ein
„Marokkanermarkt“. Dutzende Verkaufsbuden und
Hunderte Händler und Schaulustige wimmelten in den
buntesten Farben, natürlich durch das verwaschene
Grau des Regentages gedämpft. Ihre Ware vor dem
immer noch aggressiven Regen durch Plastikhüllen
und Planen schützend, bauten sie ihre Stände schon
langsam ab, bis zum letzten Moment auf einen kleinen
Abschluss hoffend. Neugierige gab es genug.
Wir waren erst einmal froh, hier trocken ein wenig zu
verweilen, hatten also eine recht weltliche Motivation.
Conny gab uns auch gleich frei. Wir sollten 14 Uhr
wieder am Bus am Place Wilson sein. Ich nahm
Martina an die Hand und wandelte den Weg in der
Kirche, den seit Jahrhunderten die frommen JakobsPilger getan hatten. Der Jakobsweg. Wir haben in
Tours, Saintes mit ihm bereits gedankliche Berührung
gehabt (St- Martin in Tours, Kathedrale St- Pierre in
Toulouse, Marokkanermarkt am St- Sernin
Saintes).
Es gab im frühen Mittelalter vier große Jakobswege. Jerusalem, im Lande der islamischen
Araber, lag weit weg, unerreichbar für die meisten. Man brauchte in Europa ein Sanktuarium, ein
heiliges Ziel, und fand es in Santiago de Compostella. Dorthin sollte, verschiedenen Legenden
zufolge, der Leichnam des Apostels Jakobus des Älteren gelangt sein, der als erster Apostel das
Martyrium erlangt hat. König Herodes ließ ihn um das Jahr 44 nach Christi enthaupten.
Toulouse liegt am so genannten Arles- Weg. Etwa ab dem 11. Jh. führte er von Arles über
Toulouse, über den 1562 m hohen Somport- Pass und die Bischofsstadt Jaca nach Puente la
Reina, westlich von Pamplona, wo die Wege zusammen kamen, um als „Camino de Santiago“
durch die Provinzen Navarra und Kastilien, durch die alten Königsstädte Burgos und Léon nach
Galizien zu führen.
Saint- Sernin war eine Hauptetappe auf der Straße der Heiligenwallfahrt geworden, zum Jacques
de Compostelle, wie die Franzosen sagen, und die alte Kirche reichte nicht
mehr aus, um die Mengen zu empfangen, die sich einfanden.
Zwischen 1070 und 1080 begann man, den östlichen Teil der neuen Kirche
zu errichten. 1096 folgten der Chorumgang und seine Kapellen, der Chor
und sein Umgang, das Querschiff und seine Kapellen werden beendet.
Das Dom- Kapitel konnte sich dann auf die Konstruktion des zweiten Teils
des Gebäudes einlassen, die das Kirchenschiff und seine Seiten enthält
sowie die westliche Fassade mit ihren zwei Türmen.
Danach zogen sich die Arbeiten in die Länge. Es gab Modifizierungen der Struktur bis ins 14. Jh.
hinein und für gewisse Elemente sogar bis um das 16. Jh. herum. Die westlichen Türme wurden
nie vollendet. Dennoch ist dieses Bauwerk mit all seinen Ergänzungen und Restaurationen ein
Schlüssel- Denkmal der romanischen Kunst.
Die Basilika Sankt -SERNIN von Toulouse ist die berühmteste, die weiteste und die schönste
von den romanischen Kirchen des Südens, die reichste von Frankreich an Reliquien.
Was bekam ich nun zu sehen? Conny hatte uns als Besonderheit die alten Fresken empfohlen.
Ich fand dann auch an der östlichen Nordseite verblasste Wandmalereien, die romanischen
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Ursprung hatten. Sie sind sehr alt und wertvoll. Eines heißt: „Noli me tangere2“, und zeigt die
Begegnung Marias mit dem auferstandenen Jesus.
Um die Ecke im Querschiff bilden die Fresken einen Zyklus
dieser Auferstehung ab. Teile sind nicht mehr erhalten. So altso wertvoll. Das ist die eine Formel. Die andere können wir
nicht so recht nachvollziehen, die kirchengeistliche. Sie bedarf
auch eines gründlicheren Studiums als wir hier je Zeit dafür
hätten. Ein großes Gemälde zeigt den heiligen Augustin, weitere
die Kreuzigung Christi. Wir haben keinen rechten Bezug zu
diesen Ausstattungen. Was mir noch auffällt, sind die
romanischen Kapitelle an den vielen Säulen. Sie erzählen ganze
Geschichten. Wir verlassen das große Langhaus und – stehen
St- Sernin, Romanisches Kapitell
wieder im Regen.
Einmal noch laufen wir auf mein Drängen um das beeindruckende Bauwerk herum. Wir
beobachten die Marokkaner und ihr gemischtes Publikum beim Abbrechen ihrer Marktstände.
Der Fußboden sieht überall aus, als hätte ein Orkan gewütet. Abfälle jeder Art und die Hektik
und Turbulenz dieser temperamentvollen Südländer schreckten uns ein bisschen ab.
Nächstes Ziel: Das Jakobinerkloster. Es liegt im ältesten
Teil der Stadt, Vieux Toulouse, und hat eine wechselvolle
Geschichte. Wir laufen die Rue de Taur zurück, kaufen uns
jeder ein Gebäckstück oder war es ein Salatteller für jeden?
Ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls schenkte uns die
freundliche Frau am Stand eine Flasche Wasser dazu.
Unablässig strömte der Regen. Die Straßen hier waren leer
und ungastlich. Wieder waren wir froh, durch das wieder
wunderbar restaurierte Tor ins Trockene zu kommen. Die
Architektur des Äußeren ähnelt dem Stil der Norddeutschen
Backsteingotik. Es gibt sicher Verwandtschaft.
Der erste Blick galt der Kirche selbst. Einzigartig finde ich
die Zweiteilung des 28 m hohen Schiffes, das nur von einer
Säulenreihe geteilt wird, deren Kapitelle oben in das
berühmte Palmenmotiv der Rippenbögen übergehen.
Durch die Wahl von
gelben Klinkern für die
Decke und rot-braun-bunt
gebrannten für die Rippen
entsteht ein wundervoll
filigranes Netzwerk. Das
Toulouse, Église des Jacobines,
gibt so dem Kirchenraum
Eingangspforte
eine heitere Leichtigkeit,
in die die
Wirkung der Glasfenster sich steigernd einfügt. Welche
Atmosphäre muss erst einfallendes abendliches Sonnenlicht
herbeizaubern! Wie die Blätter einer Palme fächern sich die
Rippenbögen um den Pfeiler auf.
Toulouse, Église des Jacobines,
Palmenbaum- Pfeiler
2
Das Kloster der Jakobiner stammt aus der Zeit von 1229 –
1350. Das gesamte Ensemble ist ein Konvent dieses
Unterordens der Dominikaner. Seine Architektur in
Ziegelsteinen verwirklicht ein großartiges Beispiel der
gotischen Kunst im Languedoc des 14. Jahrhundertes.
Noli me tangere, „Rühr mich nicht an!“ sagt der auferstandene Jesus zu Maria, Johannes-Evangelium 20,17
© Rolf Bührend, Februar 2005
Seite 64
Trotz der äußeren Harmonie, die das Bauwerk ausstrahlt, verbirgt sich dahinter eine schwierige
Konstruktion, die nur in aufeinanderfolgenden Bauetappen gelöst werden konnte, bis sie den
Vorstellungen der Prediger- Brüder im ausgehenden 13. Jahrhundert entsprachen.
Wieder drängt sich Geschichte auf, die heftigen Kämpfe in dieser Zeit, die die katholische
Kirche gerade hier im Languedoc gegen die Häretiker oder Katharer oder Albigenser führten. Ich
werde darauf noch eingehen.
Gesamtansicht des Komplexes Jakobinerkloster: Worterklärung (von oben beginnend im
Uhrzeigersinn): Glockenturm, Kirche, Kloster, Refektorium, Kapelle Sankt Anton, Kapitelsaal .
Ein Verbindungsgang führt in den Kreuzgang. Doppelsäulen tragen ein überspringendes
Ziegeldach, von dem jetzt das Regenwasser herabrauscht. Wir blicken in den grünen Hof, in dem
ein Labyrinth von militärisch verschnittenen Buchsbaumhecken von Thuja und schlanken
Zypressen ergänzt wird. Martina sucht die Toiletten. Ich mache einige Fotos.
Die Kapelle sehen wir nicht. Das Refektorium ist noch bewohnt. Auch dieses Kloster hat
wertvolle Reliquien. Hier ruhen wieder die Gebeine des heiligen Thomas von Aquin3.
Hier wird ein Protokoll der Sitzung vom 21.10.1974 aufbewahrt, die in der Basilika St- Sernin
abgehalten wurde. Es ging um die Anerkennung der heiligen Reliquien des Thomas von Aquin
anlässlich ihrer Übertragung in die vor kurzem restaurierte Kirche. Seine Gebeine ruhen in
einem Kasten. Der Kasten ist aus schwarzem Ebenholz, das mit zwei Schlössern ausgestattet ist.
Auf dem Deckel sind die Wappen der Familie der Grafen von Aquin festgemacht. Zwei
Doktoren haben damals das Inventar der Gebeine durchgeführt, von dem es unter ihrem Diktat
die folgende Aufzählung gibt:
- Linkes Schulterblatt
- humérus und cubitus links,
- sieben Wirbel (nämlich der Atlas, drei zervikal, darunter das Siebte, zwei Brust-, ein Lenden-.)
- Os iliaque links
- Sacrum,
- Linker Oberschenkelknochen und gerader Oberschenkelknochen,
- Ein Tibia und ein Wadenbein links.
Zusammen sind es neunzehn Gebeine.
3
Thomas von Aquin, Theologe und Philosoph, „Doctor communis“, „Doctor angelicus“ genannt, Heiliger, * um
1225 Roccasecca bei Aquino, † 7. 3. 1274 Fossanova; Grafensohn, Dominikaner, studierte u. a. bei Albertus
Magnus in Köln; lehrte 1252-1259 in Paris, 1259-1268 in Italien, 1269-1272 erneut in Paris, seit 1272 in Neapel.
Thomas von Aquin war in erster Linie Theologe. In der Bibelerklärung bemühte er sich um ein sachliches
Verständnis der Hl. Schrift unter Einbeziehung der Überlieferung der Kirchenväter.
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Wir erfuhren noch etwas aus der wechselvollen Geschichte des Jakobiner- Klosters.
Das Unglück begann im 18. Jahrhundert. Die Dominikaner veränderten 1770 die Fassade, um
ein niedriges Gebäude anzubauen, das danach bis zum Jahre 1964 die kleinen Klassen des
Gymnasiums beherbergte.
Die Revolution 1789 schloss das Kloster; das Imperium teilte es 1810 der Stadt Toulouse als
Eigentum zu; Napoleon Bonaparte quartierte die Armee hier ein, die sofort die Seitenkapellen
abriss und begann, ins Schiff und ins Kloster etwa 5.000 Kubikmeter Erde zu transportieren, um
es mit den Wohnungen an der Straße in eine Ebene zu stellen. Das Gebäude schien edel genug,
um die Pferde aufzunehmen. Die Kapelle Saint-Antonin musste für eine Veterinärambulanz
herhalten. Die Paradepferde wurden in den Kapellen eingestellt, und damit sie ihre
Bequemlichkeiten hatten, installierte man in halber Höhe einen Boden, nachdem man die Fenster
zerstört oder zugemauert hatte. Das Kloster, das die Bewegungen der Pferde behinderte, wurde
zu drei Vierteln abgerissen.
In 1845 schrieb Mérimée4: „Als ich sah: mehr als fünf hundert Pferde, die ihren Hafer fressen
und genau soviel Kanoniere, und anderes, was ich nicht wage, zu sagen. Trotz der Pferde und der
Männer ist die ganze Kirche (trotzdem) noch von einer bewundernswerten Konservierung.“
Ich habe diese Infos nur von einer miesen Automatenübersetzung.
1865 stimmte das Kriegsministerium zu, mit der Stadt zu tauschen. Um Kasernen zu bauen, gab
es gegen umfangreiche Ländereien die Klostergebäude zurück. Vieles war zerstört und
verschwunden, der Boden des Schiffes, die Bögen der Kapellen waren zerstört oder eingemauert,
das Gewölbe des Kirchturms war nicht mehr vorhanden. Doch das Gebäude überlebte. Die
Ziegel schienen dauerhaft. Man hatte wie für Saint-Sernin und Heilig- Nicolas der Manie Tünche
geopfert. Die alten Malereien, die Fresken in der Kapelle Saint-Antonin waren verschwunden.
Der Decke drohte Ruin, und die hohen Teile der Strebepfeiler zersplitterten sich; die Möbel
waren zerstört oder zerstreut worden; die Kupferbrüstung einer der Kapellen war 1793
geschmolzen worden, der 1795 abgerissene Pfeiler des Kirchturms, die bronzene Grablege des
Bischofs Raimond Falgar, die Grabplatte von Jean de Bernuy waren verschwunden.
Die Baustelle wurde im Jahre 1920 eröffnet, die Bauarbeiten durften trotz vieler finanzieller
Wechselfälle nicht mehr unterbrochen werden. Die Fortschritte zum Beginn waren wie die Mittel
bescheiden…Soweit der Bericht der Jakobiner heute im Internet.
Was ich selber sah, konnte sich sehen lassen. Wir mussten wieder weiter.
Mich drängte es, in der restlichen Zeit den Weg zur
Garonne zu suchen. Ein Handzettel mit Plan der Altstadt
diente zur Orientierung. Regen immer noch.
Ungemütliches Wetter. Keine Stadt der Welt macht da
den freundlichsten Eindruck.
Dann standen wir auf dem Pont St. Pierre, einer modernen
Brücke aus Stahl und Beton mit nüchternem Geländer und
schönen Doppel- Kandelabern. Stromaufwärts sahen wir
die alten Steinbögen von Pont Neuf. Sie wurde in der Zeit
von 1543 – 1614 gebaut und ist die älteste Brücke der
Stadt. Nach der anderen Seite sah ich den Pont des
Catalans, auch eine Bogenbrücke, aber jüngeren Datums.
Vom Canal du Midi, der hier in Toulouse in die Garonne
mündet, sehe ich nichts.
Dann zwingen uns Zeit und Regen zur Umkehr. Uns fällt
auf: Heute ist autofreier Sonntag.
Autofreier Sonntag
Mérimée, Prosper, Pseudonym: Clara Gazul, französischer Schriftsteller, * 28. 9. 1803 Paris, † 23. 9. 1870
Cannes; er war Inspektor für historische Denkmale unter Napoleon III.
4
© Rolf Bührend, Februar 2005
Seite 66
Unsere Grünen würden jubeln. Polizisten sperren mit Akribie ab: „Rue barrée. Journée sans
voiture.5“ Steht auf den Schildern vor den kleinen Straßen, die in die innere Altstadt führen.
Auf etwas anderem Wege finden wir wieder durch kleine menschenleere, regennass blinkende
Gassen zur Place du Capitole zurück. Es gibt gegenüber dem Kapitol einen wunderbaren
Arkadengang mit einem Café neben dem anderen, wo man trocken auch draußen sitzen kann.
Hier sitzen sie alle, die sonntäglichen Ausflügler und schauen auf den leeren Platz wie auf eine
riesige Arena, in der allerdings jetzt absolut nichts los ist. Schaut man aber in den Arkaden unter
die Decke, dann entdecke ich wundervolle Gemälde, Darstellungen moderner Künstler mit den
unterschiedlichsten Sujets.
Wir gehen durch einen kleinen Park –trotz Regen. Wann kommen wir schon wieder hierher? Am
Parkrand, dicht bei einer Haltestelle der Straßenbahn und einem U-Bahn- Niedergang, entdecke
ich ein Denkmal aus rötlichem, schwarz gesprenkeltem Granit. Eine runde Bronzeplatte ist
eingelassen. Ein Relief zeigt ihn als jungen französischen Offizier: General Charles de Gaulle
(1890 – 1970) Libérateur de la France6.
Mit goldener Schrift ist in den Granit gemeißelt7:
Fondateur de la France
libre
Chef de la Résistance
Président
du
Gouvernement
Provisoire
de
la
République 1943 – 1946
Président
de
la
République 1959 - 1969
Die Besetzung des Landes durch die Hitlerdiktatur kommt mir in den Sinn. Was hat das
französische Volk unter den Deutschen leiden müssen. Unsere Väter und Großväter mussten es
als Feinde betrachten. Heute dürfen wir, die Söhne und Enkel, in diesem Lande zu Gast sein. Ich
werde immer daran denken, wie meine Großmutter von dem französischen Kriegsgefangenen in
ihrem Dorfe gesprochen hat. „Die fressen bei uns die ganzen Katzen weg!“, hieß es, und mir lief
als kleiner Junge ein Schauer über den Rücken. Ich muss an die Deportation der Juden aus
Frankreich denken, über die ich aus ungezählten Romanen und Filmen erfahren habe. Über die
Verfolgung der Widerstandskämpfer, eben jener Angehörigen der Résistance, die gegen Hitler
und seine regulären Truppen kämpften und von den Deutschen gnadenlos verfolgt und getötet
wurden. Ich denke auch an die zahllosen „Kolporteure“, wie es damals hieß, die sich mit
Hitlerdeutschland im besetzten Gebiet arrangierten, ums Überleben arrangieren mussten. Wie sie
durch die eigenen Leute nach Kriegsende in Frankreich verfolgt und massakriert wurden.
Heute bewundere ich dieses großartige Land und kann mir nicht vorstellen, wie und mit welcher
Berechtigung die Deutschen hier gehaust haben.
Ich fürchte nur, die Jungen heute haben das alles vergessen oder sich überhaupt nicht dafür
interessiert. So vergehen zwei, drei Generationen, und dann ziehen
sie wieder mit Gebrüll in neue Kriege und verbluten für andere.
Oder was noch viel schlimmer ist, für bloßes Geld.
Um nicht gleich wieder am Bus zu sein, riskieren wir in Eile
einen Umweg, ein Stück die Rue d’Asace-Lorraine hinunter.
Herrliche Bürgerhäuser beeindrucken mich durch ihre fast
durchgehenden schmiedeeisernen Balkonreihen. An einer
5
Rue barrée. Journée sans voiture. Straße gesperrt. Autofreier Tag.
Libérateur de la France, frz. Befreier Frankreichs
7
Fondateur…frz. Gründer des freien Frankreich,
Führer der Widerstandsbewegung, Präsident der provisorischen
französischen Republik 1943-1946, Präsident der Republik Frankreich 1959-1969
6
© Rolf Bührend, Februar 2005
13.40 Uhr
Seite 67
Straßenecke prangt ein Turm über der Ecke, halb von einer
seltsamen 24- Stunden- Uhr verdeckt, wie ich sie noch nicht sah.
Wunderbare Architektur. Sie fällt wahrscheinlich auch in die
Gründerzeit um die Jahrhundertwende zum 20. Jh.
Am Sammelplatz waren noch 10 Minuten Zeit. Die Place Wilson ist von einem grünen Rondell
geschmückt, an dessen Rand im Grün der Anlage ein weißer Gedenkstein steht. Er ist einem
Armand Silvestre gewidmet, einem – wie man so sagt – großen Sohn der Stadt Toulouse. Er
steht nicht in meinem „Nouveau Petit Larousse8“. Also eine Provinzgröße, ein Stadtvater, ein
Geldgeber oder Stifter. Wer weiß es.
In der Mitte plätschert ein Brunnen mit einem
Denkmal aus weißem Marmor: Auf einem Felsen
ruht sich ein Mann aus, den einen Unterarm locker
aufs rechte Knie gelegt. Mit der linken Hand stützt
er sich auf ein Buch und den Stein ab. Zu seinen
Füßen ruht ein Knabe oder ein Mädchen, das in
manieristischer Haltung mit dem Kopf auf einem
Tonkrug liegt, den Arm über den Kopf. Sein
breitrandiger Hut liegt neben ihm. Sein Gewand
weist ihn mindestens zurück ins 17. oder 18.
Jahrhundert. Sein aufgeknöpftes Wams hat einen
breiten Schulterkoller. Er trägt unter dem Knie
gebundene Pluderhosen. Alles an ihm ist entspannt.
Es ist ein Moment festgehalten, in dem er eine Idee
hat, einen guten Gedanken. Sein Gesichtsausdruck
über seinem gezwirbeltem Henri- QuatreSchnurrbart ist fast freundlich zu nennen, abwesend,
versonnen, versunken. Auf Hut und Kopf sitzt je
eine Krähe, Ausdruck der Negation. Stein ist Stein,
wie er auch geformt ist. Die Natur geht über
Toulouse, Denkmal an der Place Wilson
Menschenwerk hinweg, als wäre es ein Dreck.
Das gibt mir alles zu denken. Ich überlege, wer es sein könnte. Der Maler Toulouse- Lautrec ist
in Albi geboren, hat hier nur gelebt und ist verkrüppelt gewesen. Wer war es? Irgendein Wilson?
Indessen muss ich mir noch ein 50- Cent- Stück besorgen, um in eine automatische Toilette zu
gelangen, die mir ein menschliches Rühren erleichtern hilft. Die Leute im Bus sind alle schon
versammelt, schauen undurchdringlich, als ich als Letzter einsteige. Es regnet immer noch.
XVIII. Carcassonne
E
ine langweilige Autobahnfahrt auf
der A61 Toulouse- Narbonne ist
zu absolvieren. Conny erzählt uns
vom „Land der Katharer“. Sie will uns auf
einen weiteren Höhepunkt unserer Reise
vorbereiten – auf Carcassonne. Was ist
das für ein Ort? Natürlich bin ich wieder
auf französischen Internetseiten gewesen
und habe in der Geschichte gegraben.
Es regnet ganz fein, als wir an einem
Autobahnhaltepunkt parken und unsere
Gesundheitspause halten. Ich steige den
8
Nouveau Petit LAROUSSE, französisches Wörterbuch und Lexikon für alle, Librairie Larousse Paris, 1968
Carcassonne im Regendunst, von der Autobahn gesehen
© Rolf Bührend, Februar 2005
Seite 68
kleinen Hügel hinauf und sehe in der
Ferne, schemenhaft, im Dunstschleier
dieses trüben, verregneten Nachmittages
die Altstadt von Carcassonne liegen.
Zauber des ersten Eindruckes: Wie eine verwunschene Welt, so drängen sich hinter riesigen
Mauern Turmblöcke, Dach- und Kirchenspitzen ins milchige Grau, unwirklich. Vor uns, auf
Schildern, typografisch wetterfest in Aluminiumtafeln geprägt, erfahre ich die ersten
Informationen, in der fremden Sprache natürlich, über die Geschichte von Carcassonne. Ich habe
sie fotografiert und zu Hause übersetzt:
Die Stadt Carcassonne
ist konserviert. Lese ich.
Später sehe ich es. Es heißt:
Mit seinen konzentrischen Einfriedungen, gespickt mit Türmen, dieser eines
Feenmärchens würdigen Zierde, ist Carcassonne das präzise Zeugnis von zwanzig
Jahrhunderten Geschichte des Languedoc.
Hier muss ich einfügen, dass wir uns nun in der Région Languedoc- Roussillon befinden, und
zwar im Département Aude. Die Aude entspringt in den Pyrenäen, an den Flanken des Pic Carlit
(2921 m), unschiffbar und wild, durchfließt Limoux und Carcassonne und mündet nach genau
223 km bei Narbonne im Mittelmeer. Sitz der Präfektur des Departements ist Carcassonne.
Ein weiteres Schild:
Ein strategischer Platz. Die Stadt beherrscht das Terrain von Carcassonne, das zwischen
den Pyrenäen und dem Zentralmassiv sowie der mediterranen Welt und der Welt am
Atlantik die Verbindung herstellt. Diese strategische Position machte Carcassonne zu
einem der wichtigsten Siedlungsplätze im Gau Narbonne.
Die Belagerung von 1209: Eine Episode, die die entscheidende in der Geschichte der
Stadt darstellt, war die Belagerung von 1209. Erfüllt von jugendlicher Kühnheit,
engagierte sich Raymond Roger Trencavel auf Seiten der Lehnsherren, die sich gegen die
Kreuzritter stellten, im Kreuzzug gegen die katharischen Ketzer.
Erschrocken über das Vorrücken einer
Expedition, welche immer in Massakern und
Plünderungen ausartete, waren die Bauern der
Umgebung mir ihrem Vieh gekommen, um sich
in die Stadt zu flüchten. Am 1. August näherten
sich die Kreuzritter der Stadt zu Fuß und
schnitten
alle
Möglichkeiten
der
Lebensmittelversorgung ab. Die Bevölkerung
wurde nun durch Durst dezimiert. Nach 14tägiger
Belagerung verließen die Bewohner die Stadt, all
ihre Habe zurücklassend. Trencavel wird in das
Gefängnis gesperrt und stirbt einige Monate
später, in seinem eigenen Schloss. Simon de
Montfort, Anführer der Kreuzritter, nimmt von
nun an Carcassonne in seinen Besitz und verfolgt
Vertreibung der Albigenser aus Carcassonne,
weiterhin die Ketzer…
Miniatur aus dem 14. Jh.
© Rolf Bührend, Februar 2005
Seite 69
Auf dem nächsten Schild werde ich weiter eingeführt:
Carcassonne in der Art, wie wir es heute sehen, ist die gigantische Festung, wie sie
königlich im 13. Jahrhundert vollendet wird, zur Kontrolle einer Region und aller, die
kommen werden, sie sich einzuverleiben. Enorme Festungsanlagen sind realisiert
worden: Die einfachen Einfriedungen wurden aufgestockt und durch einen zweiten
Mauerring von über einen Kilometer Länge ergänzt. Der Abschnitt am Narbonner Tor,
am sanften Abhang und andere verwundbaren Stellen wurden teilweise verstärkt. Die sich
an den Burgwall drängenden Marktflecken wurden geschleift und eine Unterstadt am
anderen Ufer der Aude gegründet.
Ironie der Geschichte: Die Wirksamkeit der Festung ist nie auf den Prüfstein gestellt
worden.
Das letzte Schild spricht:
Die Hauptwerke wurden bis zum 19. Jahrhundert lückenhaft und abgerissen. Die Stadt
spielte keine militärische Rolle mehr. Fehler der Instandhaltung waren auf die Nutzung
als Steinbruch zum Bauen zurückzuführen. Es ist Prosper Mérimée (s.S. 66),
Generalinspekteur für Denkmale, zu verdanken, dass Carcassonne gerettet wurde. Sein
Freund, der Architekt Viollet-le-Duc (1814 – 1879) hat die Restauration dieses
Flächendenkmals begonnen und arbeitete daran bis zu seinem Tode. Heute kann man
diese Stätte von der Autobahn aus bewundern, wenn sie am Horizont erscheint.
Wir parken unterhalb der Mauer, spannen unsere Regenschirme auf und steigen den Hügel hinan
zum Narbonner Tor, das von zwei mächtigen Rundtürmen flankiert wird. Ohne Führung
beginnen wir nun von hier in dem mittelalterlichen Städtchen, das noch heute von etwas über
150 Leuten bewohnt ist, den Entdeckungsrundgang. Ich werde meine wenigen Eindrücke noch
schildern, doch man erlaube mir, hier einen Bericht einzuschieben, der uns diesen Mauern und
ihrer Geschichte schnell viel näher bringt:
Die Altstadt Carcassonne
Eine Festungsstadt aus dem Mittelalter.
Nach einer Stunde Fahrt vom Mittelmeer her in der Provinz Aude wird der Besucher, der sich auf der
9
Autobahn der «Deux Mers » befindet, nach dem Verlassen eines kleinen Tals, plötzlich die kolossale
Festung aus dem Mittelalter auftauchen sehen: die Stadtburg Carcassonne streckt hoch über den
Weinbergen ihre Türme und hohen Mauern, sowie tausend Jahre Wehrbaukunst empor.
Die mittelalterliche, immer noch bewohnte Stadt wird von zwei konzentrischen Festungswerken in
Ovalform eingeschlossen: 1650 Meter in äußerem Umkreis, 1250 Meter innere Festungsmauern. In der
Stadt selbst erhebt sich die herrschaftliche Burg, das Grafenschloss (Château Comtal) in einem Quadrat
2
von 80 x 40 m .
Die Gesamtheit der Festung besteht somit aus 3 km Mauern, die mit 52 Türmen und vielen
Schießscharten versehen sind.
Die Stadt öffnet sich zum Lande hin durch vier Tore, die wie in einem römischen Lager in den vier
10
Himmelsrichtungen liegen. Dem Haupttor im Osten (Porte Narbonnaise ), von zwei großen
Zwillingstürmen beschützt, geht ein Graben voraus, der vor der äußeren Mauer verwirklicht wurde. Der
Graben ohne Wasser kann heute mit Hilfe einer doppelten Zugbrücke überschritten werden. Dies ist der
zugänglichste Teil der Stadt; für den Rest des Umkreises bietet der Steilhang der Hügel einen ersten
natürlichen Schutz.
Von der Höhe ihres Hügels überragt die Stadt das Tal der Aude über dem Punkt, wo der Fluss von der
natürlichen Linie überquert wird, die den Atlantik mit dem Mittelmeer verbindet.
Die «Celtibères» (Iberischen Kelten), seit dem 6. Jh. vor unserer Ära, sowie die «Volques Tectosages»
(Bevölkerung des Alten Roms und Gallobevölkerung der Gegend von Narbonne) seit dem 4.Jh. v. Chr.
haben hier an diesem strategischen Punkt eine Zitadelle errichtet und entwickelt, um die Furt über den
Fluss zu beherrschen.
Im ersten Jahrhundert verstärken dann auch die Römer den Hügel, der eine Zeitlang ein
Festungsvorposten des Landes um Narbonne sein wird. Von diesen ersten Befestigungen sind nur noch
wenige Spuren vorhanden.
Die Geschichte, die wir in diesem herrlichen „Steinbuch“ lesen können, beginnt erst im 4.Jh.
Tausend Jahre Wehr- und Ordensbau
9
Deux Mers, frz. zwei Meere, gemeint sind das Mittelmeer und der Atlantik
La Porte Narbonnaise, frz. Narbonner Tor
10
© Rolf Bührend, Februar 2005
Seite 70
Vier bedeutende Entwicklungsperioden, die sich über tausend Jahre erstreckten - vom 4. bis zum 14. Jh.
- haben diese Stadt geprägt, die wir heute entdecken.
Während des Spät- Empire, im 4. Jh., bauten die römischen Gallier eine Festungsmauer, die so ungefähr
dem Umriss der heutigen inneren Stadtmauer entsprach; diese Stadtmauer mit einigen ihrer Türme ist
teilweise bis heute erhalten geblieben (beinahe 1/3 der ehemaligen Länge).
Das galloromanische Festungswerk wird durch Verwendung eines Mauerverbandes in kleinem Ausmaß
und durch Mauerausgleichsschichten aus rotem Backstein charakterisiert. Die Türme im Abstand von je
15 Metern sind flach gegen die innere Seite des Platzes und abgerundet gegen das offene Gelände, die
Wölbungen der Fenster und Türen sind aus Backstein.
Während der Feudalzeit, im 12. Jh. und ganz zu Beginn des 13. Jh., baute die mächtige Familie der
Vizegrafen Trencavel, Gutsherren von Béziers und Carcassonne, das Schloss in der Stadt an der
höchsten Stelle des Hügels, ließ die damals einzige Stadtmauer ausbessern, die Festungsmauer, die von
den römischen Galliern stammt.
2
Die herrschaftliche Festung, ein großes Viereck von 80 x 40 m , beherbergt den Grafenpalast und wird
von der Innenseite der Stadt durch einen Graben abgetrennt.
In der Mitte des 13.Jh., nach dem blutigen Kreuzzug gegen die Albigenser (1209) und dem Anschluss der
11
Vizegrafschaft von Carcassonne (1226), bauen Blanche de Castille und der Hl. Ludwig die äußere
Stadtmauer; dieses neue Schutzwerk wird nun völlig die galloromanische Festungsmauer einschließen,
um sie zu schützen und die Instandsetzung dieser alten Festungswerke aus dem 4. Jh., die baufällig
geworden waren und den Anforderungen der Verteidigung des 13.Jh. nicht mehr genügten, zu
ermöglichen.
Am Ende des 13. Jh. unternimmt Philippe III., genannt
12
der Kühne , im Schutz der äußeren Stadtmauer, die
sein Vater kaum beendet hatte, den Wiederaufbau des
galloromanischen Festungswerks, die von da an innere
Mauer. Der Sohn von Ludwig IX. wird daher mehr als
zwei Drittel des Bollwerks des 4.Jh. abreißen und
wiederaufbauen lassen. Dieser herrliche Bau mit den
Türmen und furchterregenden Festungsmauern wird
durch
Verwendung
von
Vorsprungssteinen
charakterisiert. Die Wehrkunst dieser Epoche erreicht
die Vollendung, und jeder Turm bildet ein
Zu Anfang des 14. Jh. ist die Stadt Carcassonne
beendet: Nichts Beträchtliches wird nach dieser Epoche
zu ihrer Verteidigung hinzugefügt. Seither hat die Stadt
Carcassonne außer einigen Einzelheiten das Aussehen
von heute.
Aus diesem von der Sonne bestrahlten herrlichen
Schmuckkästchen, das von den Festungswerken der
Stadt gebildet wird, erhebt sich ein von Edelsteinen
erleuchtetes Juwel: die Basilika St. Nazaire, ehemalige
Kathedrale von Carcassonne.
Das romanische Kirchenschiff aus dem 12.Jh. mit
wuchtigen Säulen passt sich in schöner Harmonie einem
Chor und Querschiff im gotischen Stil an und wird von
Carcassonne. In der Basilika Saint Nazaire
wunderbar bemalten Kirchenfenstern aus dem 14. und
16.Jh. erleuchtet.
Die Apsis von St. Nazaire, die mit ihren vielfarbigen Lichtern die mit kompakten Statuen verzierten Säulen
beleuchtet; erinnert an den Chor der Sainte Chapelle in Paris.
Ab 1844 beschäftigen sich Cros- Mayrevieille und Viollet-le-Duc mit der Rettung und Restaurierung
dieser Kathedrale, die durch die Darstellung des romanischen und gotischen Stils in solch harmonischer
Einheit eine der sonderbarsten von Südfrankreich ist.
Die geschichtlichen Ereignisse
11
Louis IX. oder Saint Louis, der Heilige Ludwig, König von Frankreich von 1226-1270, Sohn von Ludwig VIII.
und Blanche von Kastilien
12
Philippe III. le Hardi (1245-1285), Philipp der Kühne, König von Frankreich 1270-1285 und Nachfolger von
Ludwig IX. Er holte mit seiner Krönung die Grafschaft von Toulouse zur Krone.
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Im Verlauf der Jahrhunderte, während die Bauformen das Aussehen der Landschaft prägte, haben die
geschichtlichen Ereignisse die Menschen und ihre Kultur geformt.
Die Stadt wurde auf einem ähnlichen Hügel wie dem heutigen im 8. oder 7. Jh. vor unserer Zeit
gegründet und lag 2 km im SW über dem Fluss Aude (auf der Höhe von Mayrevieille). Es handelte sich
damals um eine Zitadelle, die von einer Erdmauer umgeben war, der am zugänglichsten Teil ein Graben
vorlag. Diese bedeutende «Siedlung» sollte die Furt über die Aude überwachen: Ihr Name: Karsac.
Im 6. Jh. v. Chr.: Das Siedlungsgebiet wird auf den heutigen Hügel «versetzt», vielleicht wegen der
Verschiebung der Furt. Diese neue Stellung wird nun auch verstärkt, während die alte Zitadelle als
Viehpferch benützt wird.
Im 4. Jh. v. Chr.: stammen die Menschen, die dort leben, vom keltischen Stamm der «Volques
Tectosages» (Bevölkerung des Alten Roms und Gallobevölkerung der Gegend von Narbonne) ab; die
Stadt heißt nun Carcasso.
118 v. Chr.: Die Römer gründen die Provinz der Narbonnaise, wozu auch Carcasso gehört.
Im 1. Jahrhundert: Bau eines römischen Castellums (?)
Ende des 3. und 4. Jh. : Bau des galloromanischen Festungswerks (teilweise heute noch sichtbar)
Im 5. Jh.: Die Westgoten dringen in die romanische Provinz der Narbonnaise ein und ergreifen Besitz
von der Stadt, über welche sie drei Jahrhunderte lang Herrscher bleiben.
Gegen 725: Jetzt besetzen die Araber das Land 34 Jahre lang (siehe: Dame Carcas)
Gegen 759: Die Franken von Pippin dem Kurzen erobern Carcassonne; ein fränkischer Graf wird zur
Verwaltung der Gegend beauftragt. Aus der Zerstückelung des fränkischen Reichs entsteht der
Feudalismus, wo drei Grafendynastien an der Spitze der Grafschaft folgen werden.
1.August 1209 - 15.August 1209: Belagerung der Stadt Carcassonne durch die Armee der Kreuzfahrer
gegen die Albigenser. Trotz des heroischen Widerstandes des Raymond-Roger Trencavel, Vizegraf von
Béziers und Carcassonne, wird die Stadt besetzt und der junge Prinz gefangen genommen. Simon de
Montfort wird zum Grafen von Carcassonne proklamiert
10. November 1209: Raymond-Roger Trencavel stirbt in seinem eigenen Schloss als Gefangener des
Simon de Montfort.
1226: Die Vizegrafschaft von Carcassonne- Béziers- Albi- Razès wird faktisch der Krone von Frankreich
angeschlossen, nach dem Abtreten des Amaury de Montfort (Sohn des Simon)
1240: Belagerung der Stadt durch Raymond Trencavel (Sohn des Raymond-Roger), um die
Wiedereroberung des Landbodens seiner Ahnen zu wagen, Misserfolg
1246: Raymond Trencavel tritt öffentlich von der Vizegrafschaft zurück zugunsten Louis’ IX., des Königs
von Frankreich
1247 - 1260: Gründung der unteren Stadt, wohin sich die Handwerker- und Handelsaktivität verlegt... und
später die politische, wirtschaftliche und ordensgeistliche Aktivität.
1335: Zu Beginn des Hundertjährigen Krieges zerstört Edward, Prinz von Gallien, der Schwarze Prinz
genannt, die untere Stadt, greift aber die Altstadt nicht an.
16. und 17.Jh.: Die Religionskriege verursachen etliche Unruhen, wirken sich aber kaum auf
Carcassonne aus, das trotz allem dem König und der katholischen Kirche treu bleibt ... bis zur
Revolution!!
1793: Die Revolution verbrennt die Archive, beseitigt die Schlosskapelle, vernichtet die Kirche der
Pfarrgemeinde St. Sernin und die Abtei der Domherren von St. Nazaire. Die Kathedrale wird verschont,
da sie von der Armee als Viehfutterscheune benutzt wird.
1844 : Beginn der Restauration von St. Nazaire durch Viollet-le-Duc auf Anregung von Jean-Pierre CrosMayrevieille hin.
1852 : Beginn der Restauration der Stadt Carcassonne durch Viollet-le-Duc nach der positiven Aktion von
Cros- Mayrevieille und Prosper Mérimée.
Verfall und Restauration
Bis zum 17. Jh. wird Carcassonne eine Furcht erregende und gefürchtete Festung bleiben bis zum
Anschluss des Roussillon an Frankreich im Jahre 1659.
Bis dahin ist Carcassonne die Grenzstadt des Königreiches Frankreich gegen Aragonien und dann gegen
Spanien. Da sich durch den Vertrag der Pyrenäen die Grenze verschiebt und sich die Artillerie
verbessert, verlieren daher die Festungsmauern ihre Bedeutung und deren Vernachlässigung ist in Gang.
Schon im 18. Jh. reißen die Bewohner der Stadt Steine aus den Schießscharten, um ihre Häuser damit
zu bauen.
Im 19. Jh. wäre die Stadt langsam verschwunden, weil Turm um Turm und Mauer um Mauer als
Steinbruch verkauft wurde (daher wurde auch die Schießscharte der Aude im Jahre 1816 abgerissen).
Es gelingt einem lokalen Historiker Jean-Pierre Cros-Mayrevieille und Prosper Mérimée durch ihr
persönliches Einschreiten beim Parlament und bei Prinz Louis Napoleon Bonaparte, die Stadt zu retten,
und man gewährt ihnen Kredite für die Restauration.
Dem berühmten Architekten Viollet-le-Duc (1814 - 1879) wird diese Rettungsarbeit anvertraut, die fast
ohne Unterbrechung von 1852 - 1910 fortgesetzt wird. Diese Arbeiten betrafen hauptsächlich die
Wiederinstandsetzung der Schießscharten, der Spitzen einiger Türme und der Dächer, ungefähr 10% des
Totalvolumens der Maurerarbeiten; es heißt, daß diese Restauration gerade in dem Augenblick
© Rolf Bührend, Februar 2005
Seite 72
ausgeführt wurde, wo noch alles gerettet werden konnte, ohne daß es nötig war, einen Wiederaufbau
durchzuführen und neue Ideen zu suchen.
Heute sehen wir daher Festungswerke aus dem Mittelalter, die, wenn auch nicht in der ganzen Welt, so
doch zumindest in Westeuropa, einzigartig sind.
Mich hat die Geschichte dieser Region in seinem Bann. Sie greift hinein in die bewegte Zeit der
Kreuzzüge, die oft nur aus deutscher Sicht eingehender dargestellt werden. Hier in diesem
Gebiet entstand eine neue Religion, der Katharismus. Hier kämpften Christen gegen Christen,
Christen gegen Mauren und Araber. Dem interessierten Leser seien jetzt zunächst vorgestellt die
Hauptpersonen in den überlieferten Dramen:
Herrscherhäuser der Grafen und Vizegrafen von Carcassonne (vereinfachte Darstellung)
Nach dem Tode von Karl dem Großen 814 werden sich die Lehens- Grafen nach und nach von der
königlichen Autorität loslösen und sich das von ihnen verwaltete Gebiet aneignen, um somit selbständig
zu werden: Titel und Ländereien werden erblich. Es entsteht das Feudalsystem.
1. Dynastie Oliba
Graf gegen 820, scheint der 1. Erb- Graf von Carcassonne zu sein.
gegen 943: Gräfin von Carcassonne, heiratet Arnaud de Comminges et Cousserans
2. Dynastie Arnaud
Graf von Carcassonne Comminges et Cousserans.
Roger Le Vieux (949 - 1012), Graf von Carcassonne, Comminges et Cousserans.
Raymond-Roger: Graf von Carcassonne, heiratet Rangarde, Erbin von Béziers.
Ermengarde: Erbin von Carcassonne und Béziers (verstorben 1105) heiratet Raymond Trencavel, Graf
von Albi.
1067 – 1083 Interregnum der Grafen von Barcelona, an die Ermengarde Carcassonne verkauft hatte
3. Dynastie
Bernard-Aton Trencavel (Sohn der Ermengarde), Vizegraf von Carcassonne, Béziers, Albi und Razès
(gewinnt Carcassonne im Jahre 1083 wieder zurück).
Raymond-RogerTrencavel (Urenkel von Bernard): 1185 - 1209, Der unglückliche Held des Kreuzzuges.
Raymond Trencavel 1207 - 1263: Urheber des Versuches der Wiedereroberung 1240.
Nachdem der Asche der Besitzer Carcassonnes gedacht wurde, die dort über 450 Jahre
Provinzgewalt ausübten, müssen nun auch einige Zusammenhänge beleuchtet und ins grelle
Licht gerückt werden. Es ist spannend wie ein Krimi!
Man darf dabei nie das leidende Volk vergessen!
Der Katharismus und der Kreuzzug
Im Laufe des 11. und 12. Jh. entwickelte sich im Süden
Frankreichs eine neue Religion, der Katharismus. Diese Religion
ist für die römische Kirche eine Irrlehre. Die Katharer und
Albigenser halten sich an zwei wesentliche Prinzipien: Gott und
Satan, aus denen der Mensch hervorgeht: Der Geist des
Menschen ist das Werk Gottes; der Körper, wie jede Materie, ist
das Werk Satans. Die Erde, das Reich Satans. ist daher die Hölle,
aber nur vorübergehend, da sie am Ende der Welt vernichtet
wird. Der Mensch kann durch mehrere Reinkarnationen gerettet
werden. die ihn nach und nach zur Vollkommenheit und zum
ewigen Leben führen.
Zu Beginn des 13.J h. ist der Süden Frankreichs auf dem Weg einer progressiven allgemeinen
Bekehrung zum Katharismus; alle sozialen Schichten sind von dieser Irrlehre betroffen. Die katharischen
Prinzipien dringen allmählich sogar in die Gewissen der Katholiken und gewisser Priester ein.
Nach dem Versagen der Ermahnungen, vor allem denen
des HL Dominikus und der Ermordung des päpstlichen
Legats Pierre de Castelnau durch einen Mann der
Grafschaft von Toulouse, brach der Kreuzzug aus. Nach
dem Aufruf des Papstes Innozenz III. bilden die Herrscher
des Nordens eine Armee, die den Süden überfällt. Die
Vizegrafschaft von Carcassonne- Béziers erhält den
ersten Schlag des Kreuzzuges: das Blutbad von Béziers
und die Eroberung von Carcassonne (1209) stellten die
ersten blutigen Episoden dieses Religionskrieges dar, der
zwanzig Jahre dauerte und der schnell zu einem
Eroberungskrieg wurde...
Die Ermordung 1208 von Castelnau, Archidiakon von
Fontfroide, hier liegend, wird der Vorwand des Kreuzzuges sein.
St. Dominique, rechts, segnet die Leiche von Pierre von
Castelnau, an seiner linken Seite der Bischof von Toulouse und,
© Rolf Bührend, Februar 2005
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mit dem Kreuz, Simon von Montfort.
Das Ergebnis daraus wird der endgültige Anschluss der Vizegrafschaft von Carcassonne 1246 an die
Krone Frankreichs und 1271 der Anschluss der Grafschaft von Toulouse.
Diese Religion hat ihre weiten Ursprünge im Orient, in Persien, während des 6. Jh. v. Chr.: Der
«Mazdeismus» lehrt die Existenz von zwei Göttern: der Gott des Lichtes oder Gott des Guten - Mazda
und der Gott der Nacht oder des Bösen - Abrimen.
Im 3.Jh. unserer Ära verfasst Manès, ein persischer Philosoph, eine Synthese vom Mazdeismus und vom
Christentum: der Manichäismus». Diese Religion wird sich ausbreiten und weiter entwickeln, und nach
einer gewissen Zeit entsteht der Katharismus.
Die Rituale der Katharer im 11. – 13. Jahrhundert
Das Wunder des Feuers. Wenn schon nicht die
Gewohnheiten aus der Epoche, man wird im Gedächtnis
behalten, wenn man ein Bild aus dieser Zeit sieht:
Der Heilige Dominique13 von den Albigensern14 widersteht der
Prüfung durch das Feuer. Der entscheidende Moment für
einen Katharer ist die „Heilige Tröstung“, mit der ihm das
ewige Heil zugesichert wird. Dieses Ritual wurde durch die
Vollkommenen an den Getreuen als bewussten Beistand
zum Tode praktiziert.
Diese Heilige Tröstung ersetzt also die Sakramente der
Katholiken. Die katharischen Priester sind leicht an den
langen Haaren und am Bart wiederzuerkennen. Sie waren
dunkel bekleidet und trugen eine Art Toga oder die
Rundhaube. Die katharische Lehre befürwortet die
Zurückholung des feudalen Systems, die Zahlung von
Steuern, die landesherrliche oder königliche Justiz.
Die Katharer hatten keinen (festen) Ort für den Kult, wenig Sakramente und lehnten Eucharistie ab. Es
war eine wandernde Geistlichkeit, die die Sakramente aushändigte und die Texte vorlas, in den Häusern,
den Schlössern und auf den Plätzen der Siedlungen.
Die rituellen Enthaltsamkeiten
Enthaltsamkeit, vegetarische Kost, Gewaltlosigkeit, Armut, geübt an der öffentlichen Rede, in der Predigt.
Instruiert von den heiligen Texten, geben die Katharer die Regeln vor. Der Vollkommene muss die
Enthaltsamkeit von Fleisch respektieren, sich jeden Geschlechtsverkehres enthalten, nur Eier und
Milchprodukte konsumieren. Der Fisch wird erlaubt. Er muss jedes Jahr drei Fasten von vierzig Tagen
absolvieren, an denen nur Brot und Wasser erlaubt sind, und Fasten auch an bestimmten Tagen
respektieren. Die Vollkommenen müssen zu zweit leben und arbeiten und müssen sich fünfmal täglich
waschen. Es ist ihnen verboten, den Eid weiterzugeben.
Die Metapsychose
Die Katharer glauben an die Metapsychose, Wiedergeburt der
Seele nach dem Tod in einem humanen Körper oder dem
eines Tieres. Die Männer, die nicht getröstet worden waren,
sahen also ihre Seele umherirren. Sie glaubten sich nach
ihrem Tode bis zu 9mal verwandeln zu können und in einem
anderen Mann, einer Frau oder einem Tier weiter zu leben.
So war es also verboten zu töten, denn in jeder Seele konnten
sie sich wiederbefinden.
13
Dominikus, Heiliger, * um 1170 Caleruega, Spanien, † 6. 8. 1221 Bologna; gründete 1215 in Toulouse eine
Predigervereinigung, aus der der 1216 approbierte Orden der Dominikaner hervorging; wirkte besonders für die
Bekehrung der Albigenser in Südfrankreich. Heiligsprechung 1234 (Fest: 7.8.).
14
Albigenser, [nach der südfranzösischen Stadt Albi], südfranzösische Sekte, Gruppe der Katharer; übten im
inneren Gemeindekreis Geistestaufe (consolamentum) und strengste Askese, verwarfen die kirchlichen Sakramente,
Altäre, Kreuze und Bilder, Heiligen- und Reliquienverehrung. Die mit blutiger Grausamkeit geführten
Albigenserkriege (1209—1229), zu denen Papst Innozenz III. aufgerufen hatte, konnten sie nicht für die Kirche
zurückgewinnen. Erst das Eingreifen des französischen Königs brach die politische Macht und die religiöse Kraft
der Albigenser; die Bewegung wurde um 1330 durch die Inquisition ausgerottet.
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Der Weltuntergang war nicht katastrophal, aber es gab ein
progressives Verlöschen. Die geretteten Seelen verließen die
Erde und alle übrigen verblieben beim Satan im Nichts...
Nun muss ich mich endlich wieder weltlichen Dingen zu wenden, nämlich der Dame Carcas,
deren Geschichte zu kennen Pflicht ist für jeden Besucher von Carcassonne:
Die Legende der Dame Carcas
Im 8.Jh., während der Besetzung der Stadt durch die Araber, soll die Dama Carcas, sarazenische
Prinzessin, Carcassonne (das damals noch nicht diesen Namen trug) gegen die Belagerung von Karl
dem Großen verteidigt haben. Diese Belagerung hat angeblich 5 Jahre gedauert. Nach dieser langen Zeit
wurde in der Festung die Nahrung knapp. Die Dame Carcas veranlasste eine Durchsuchung aller
Häuser, um sämtliche Nahrungsmittel zu sammeln, die noch bei den Bewohnern sein könnten, bevor sie
eine Entscheidung traf. Die Soldaten brachten nur einen Sack Getreide und ... ein Schwein, das eine alte
Frau in ihrem Keller versteckt hatte,
Die Prinzessin stellte sofort fest, daß es zwecklos sei, Besen- Proviant an die Bewohner der Stadt und
die Garnison zu verteilen; es gäbe nicht einen Bissen für jeden und zudem würden die islamischen
Soldaten kein Schweinefleisch essen.
Die Dame Carcas mästete das Schwein mit dem Sack Getreide
und warf es danach über die Schießscharte: Das Tier landete zu
Füßen Karls des Großen, wobei das ganze Getreide, mit dem es
gemästet worden war, aus seinem Bauch herausplatzte. Karl der
Große war entsetzt: «Wenn es sich die Araber leisten können, die
Nahrung ans dem Fenster zu werfen, dann muss wohl die Stadt
reichlich versorgt sein und es wird somit unnötig, die Belagerung
hinauszuziehen, die zumal schon zu lange gedauert hat». Und
sofort wurde der Befehl gegeben, die Belagerung aufzuheben und
ins sanfte Frankreich zurückzukehren. Aber wenn man eine Frau
ist, selbst eine Mohammedanerin, gelingt es einem besser, einer
Belagerung als dem Charme des Kaisers mit seinem gelockten
Bart zu widerstehen!!
Sicher ist, dass die Dame Carcas, als sie sah, dass sich Karl der
Große entfernte, von einer großen Traurigkeit überfallen wurde,
denn sie befürchtete, ihn nie mehr wiederzusehen; sie rief ihn
zurück, übergab ihm ihre Stadt, und alle Glocken läuteten in
vollem Schwung.
Seit dieser Zeit stammt der Name: «Carcas - sonne» = „Carcas – läutet“, nämlich Karl dem Großen.
Die Legende fügt noch hinzu, daß der Große Kaiser die Dame Carcas Roger, einem seiner treuen
Gefährten zur Frau gab; aus dieser Ehe soll die Dynastie der Trencavel entstanden sein.
Es gibt noch eine spannende Geschichte, die ich in diesem Zusammenhang loswerden muss.
Zum Teil stand sie auf dem Schild an der Autobahn, doch hier sind noch interessante Details:
Die Belagerung der Stadt Carcassonne vom Kreuzzug gegen die Albigenser
1. August 1209 -15. August 1209
Nachdem sie am 22. Juli 1209 die Stadt
Béziers verwüstet und deren Bewohner
ermordet hatten, kamen die Kreuzfahrer am 1.
August vor Carcassonne an.
Die Stadt und Umgebung sind auf dem
Kriegsfuß, und die Festungswerke werden
verstärkt, unter anderem mit den Steinen des
Speisesaals und den Chorstühlen des Klosters
St. Nazaire.
Als Raymond-Roger vom hohen Pinte- Turm
aus sah, daß sich
die
Kreuzfahrer
niederließen,
unternimmt
er
einen
Ausbruchsversuch, wird aber von Pierre-Roger
de Cabaret, einem Leutnant, Gutsherr von
Lastours, daran gehindert: „Wir werden nichts
tun und warten, bis sie unser Wasser
angreifen.“
Am 3. August bestürmen die Kreuzfahrer den
Marktflecken St. Vincent im Norden mit dem „Der Kreuzzug gegen die Albigenser“, illustriert von Moretti
unter den Arkaden am Place de Capitole von Toulouse.
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Gesang: «Veni sancte spiritus.“ Nach einem
heroischen Kampf Trencavels und seiner
Treuen bleibt diese Siedlung in Händen der
Angreifer, die dort ein Feuer legen.
Die Kreuzfahrer ziehen gegen Südwesten vorwärts, zu Füßen des Hügels und lassen sich zwischen der
Aude und der Stadt nieder, indem sie den Belagerten jeglichen Zugang zum Wasser des Flusses
verwehren.
Am 6. August versucht König Pierre von Aragonien, der sich als Oberherr der Trencavels betrachtete,
eine Vermittlung einzuleiten: umsonst.... die Bedingungen der Kreuzfahrer waren zu hart.
Am 7. August greifen die Belagerer die Schlossumgebung, die Vorstadt St. Michel an, werden aber von
der entschlossenen Widerstandskraft der Carcassonner angehalten. Der Name von Simon de Montfort
wird wegen einer heroischen Tat zitiert: Unter einem Hagel von Pfeilen rettete er einen seiner Männer,
der verletzt im Graben zurückgeblieben war.
Am 8. August wird eine Bresche in die Festungsmauer geschlagen, die den Kreuzfahrern die Eroberung
der Stadt ermöglicht. In der Nacht stecken die Soldaten des Vizegrafs das Schlossviertel in Brand, damit
die Franzosen sich nicht mit Steinen, Holz und Nahrungsmitteln versorgen können...
Nach diesen schweren Kämpfen sind die Verteidiger erschöpft und leiden daher bei der starken
Augusthitze schnell an furchtbarem Durst und Ruhr.
Raymond-Roger Trencavel muss sich zu einer Kapitulationsverhandlung entschließen, die er noch für
angemessen hält. Er begibt sich zum Lager der Kreuzfahrer, wo er als Gefangener zurückgehalten wird.
Nach dem Verlust ihres Gutsherrn öffnen die Bewohner
den Franzosen ihre Tore, diese werfen die Bewohner
hinaus
und
ergreifen
Besitz
von
«maßlosen
Reichtümern». Eine andere Version behauptet, daß die
Kreuzfahrer in die Stadt eingedrungen wären, deren
Bewohner und Verteidiger sie verlassen hätten, indem sie
durch die unterirdischen Gewölbe im Schloss Cabaret
entflohen wären.
Das war am 15. August 1209.
Simon de Montfort wird durch den Legat des Papstes
Arnaud Amalric zum Grafen von Carcassonne
proklamiert, nachdem der Herzog von Bourgogne und der
Graf von Nevers diesen Titel verweigert hatten.
Simon von Montfort, der 1215 zum Grafen
von Toulouse ernannt wird. Er wird getötet
am 25. Juni 1218, unter einer von Frauen
geschleuderten Kugel eines Katapultes.
Der unglückliche Vizegraf Raymond-RogerTrencavel stirbt
am 10. November 1209 als Gefangener von Simon, in
seinem eigenen Schloss
.
Innerhalb von zwei Jahren wird Simon de Montfort die
ganze Vizegrafschaft erobern und nachher die Grafschaft
von Toulouse angreifen.
Es folgen, man muss konsequent nun auch das noch nachlesen, weitere Kämpfe. Ich lasse noch
einen zeitgenössischen Bericht hier herein, der zeigt, wie es drei Jahrzehnte unter dem Sohn von
später weiterging:
Belagerung der Stadt anno 1240 durch Raymond Trencavel, dem Sohn Raymond-Rogers
Auszüge des Berichtes von Seneschall Guillaume des Ormes, Befehlshaber der Stadt, an die Königin
Blanche de Castille.
«An die Exzellenz und sehr edle Dame Blanche, durch Gottes Gnaden Königin der Franzosen, ihr
demütiger, ergebener und treuer Diener, Guillaume des Ormes, Seneschall von Carcassonne, grüßt!
Daß Ihre Excellenz hiermit erfahre, daß der Vizegraf (Trencavel) Carcassonne am 17. September 1240
belagert hat... wir nahmen Holz in der Vorsiedlung Gravellant (das Viertel der Schießscharte), was uns
sehr wohl tat. An demselben Tag nahmen uns die Feinde eine Mühle (die Mühle des Königs, die immer
noch existiert) ... An einer anderen Seite; zwischen der Brücke und der Schießscharte des Schlosses (die
Schießscharte der Aude wurde im Jahre 1816 zerstört) waren viele Feinde mit derart vielen
Armbrustschützen eingedrungen, daß somit niemand mehr aus der Stadt heraus konnte... Sie montierten
ihre Kriegsmaschine gegen die Schießscharte und wir bauten in die Schießscharte eine türkische
Steinritine (es entstand ein Artillerieduell)... Danach begannen sie, einen Schacht gegen die Porte
Narbonnaise zu graben, wir bauten dann einen Gegenschacht und errichteten in der Schießscharte eine
große und starke Mauer aus trockenen Steinen derart, daß die Hälfte der Schießscharte erhalten blieb
und der vordere Teil einstürzte (die Mauer aus trockenen Steinen sollte den Angriff, der durch die
geöffnete Bresche verursacht wurde, bremsen).
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Woanders ergreifen die Belagerten Besitz von einem Schachtloch, das unter einem Türmchen gegraben
worden war.
... Danach minierten sie die Ecke des Platzes Richtung Bischofshaus; durch das viele Graben kamen sie
unter eine gewisse sarazenische Mauer (vorgerückte galloromanische Verteidigung?) bis zur Mauer des
Turnierplatzes. Aber sobald wir dies bemerkten, bauten wir ein wenig höher im Turnierplatz einen guten
und starken Schanzpfahl zwischen uns und ihnen und einen anderen Gegenschacht. Danach steckten
sie ihren Schacht in Brand und warfen dabei ungefähr zehn Faden unserer Zinnen um (16 bis 18m). ..(die
Palisade, die wir in aller Eile an der hinteren Seite des Einsturzes bauten, ermöglichte uns, den Angriff zu
bremsen). Sie bauten dann auch, Madame, einen Schacht gegen die Schießscharte des Tores von
Razès. Sie bauten einen wunderbaren (unterirdischen) Weg... wir bauten einen Schanzpfahl; wir bauten
einen Gegenschacht und nachdem wir auf sie gestoßen sind, haben wir ihr Schachtloch eingenommen...
Eines Sonntags versammelten sie all' ihre Kriegsmänner, Armbrustschützen und andere und alle
zusammen bestürmten die Schießscharte über dem Schloss (wiedermals die Schießscharte der Aude)...
Wir gingen (durch den gefestigten Weg vom Schloss her) zur Schießscharte hinunter und warfen und
schleuderten eine solche Menge von Steinen, so daß es gelang, daß sie die Bestürmung aufgaben.
(Nach einer letzten verzweifelten Bestürmung)... am Montag, den 11. Oktober gegen Abend haben sie
dann davon gehört; daß Ihre Leute, Madame, uns zu Hilfe kämen; sie legten dann Brand an die Häuser
der Vorsiedlung ... all'diejenigen, die an dieser Belagerung teilgenommen hatten, verließen sie heimlich in
der Nacht, sogar die der Vorsiedlung ... Während der Belagerung fehlte es keinem unserer Leute an
Nahrung, wir hatten Getreide und Fleisch in Überfülle und hätten daher noch lange warten können.
Sie sollen wissen, daß diese Übeltäter am zweiten Tag ihrer Ankunft 33 Priester und Geistliche, die sie in
der Siedlung auffinden konnten, ermordet haben... Sie haben uns an 7 verschiedenen Stellen miniert ...
ab der Häuser (der Vorsiedlung, die sich am Hügel hochziehen bis zur Stadtmauer), auf diese Weise
wussten wir nichts, bis sie am Turnierplatz ankamen.
Ausgeführt in Carcassonne am 13. Oktober 1240»
Raymond Trencavel wird von der königlichen Hilfsarmee bis nach Montra verfolgt, wo er gezwungen wird
zu kapitulieren. Freigelassen, kehrt er nach Katalonien zurück. von wo er abmarschiert war.
In der Stadt Carcassonne wurden seit alters her bestimmte Dienste gepflegt, die zur Sicherheit
der Stadt jahrhundertelang treu eingehalten wurden:
Die Wache der Stadt: die «Mortes-Payes»
Ab 1124 hatte der Vizegraf Bernard Aton seinen Lehnsmännern eine Verpflichtung auferlegt und je nach
Umfang ihrer Besitze folgende Bedingungen angeordet:
- einige Soldaten der Stadtwache auf ihre Kosten zu verpflegen,
- dort persönlich mit Familie mindestens 4 bis 8 Monate jährlich zu leben.
Der Hl. Ludwig nimmt sich diese Sitte zum Vorbild, als er die «Mortes-Payes» einführt, «um die Stadt Tag
und Nacht zu bewachen ... wegen ihrer grenzlichen Bedeutung mit Spanien in Richtung Roussillon». Die
Belastung der «Mortes-Payes» ist erblich, abgabenfrei, mit dem Vorteil einer vorbehaltenen
Gerichtsbarkeit und der Pflicht, in der Stadt mit seiner Familie zu wohnen.
Die Kompagnie bestand ursprünglich aus 220 Männern, Sergeanten, Offizieren und Trompetern; der
Lohn betrug 1 Sou pro Tag für die Sergeanten.
Im Jahre 1418 wurde die Zahl der Wächter auf 120 herabgesetzt. Der Dienst war schwierig; hier der
Nachtdienst:
40 Männer, davon 6 Trompeter, führen ihren Nachtdienst einmal alle drei Nächte aus. 2 Trompeter stellen
sich an der Porte Narbonnaise auf für die Trompetensignale. 18 Männer und 4 Trompeter stellen sich in
den Umkreis der inneren Stadtmauer, mit Degen und Armbrust bewaffnet (9 Posten pro 2 Mann), ein
Trompeter stellt sich an je eine der vier Himmelsrichtungen.
Die Wache dauerte die ganze Nacht ohne Ablösung. Die anderen Männer machten Runden pro acht
Mann im Turnierplatz und auf der hohen Stadtmauer: 12 Runden im Winter, 6 Runden im Sommer.
Die Trompeter an den vier Himmelsrichtungen bliesen viermal nachts im Winter, dreimal im Sommer. Der
Dienst war anstrengend und die Disziplin von äußerster Strenge: jeder Sergeant, der seinen Posten
verließ, und sei es selbst, um den Brand seines Hauses zu löschen, war der Todesstrafe ausgesetzt.
Die Kompanie wurde während der Revolution 1793 aufgelöst.
Nun bin ich alles das losgeworden, was ich über die Stadt erfahren konnte.
Martina und ich bummelten indessen durch die engen Gassen. Trotz des Regens waren sie mit
ungezählten Touristen überfüllt. Diese drängten natürlich in die winzigen Souvenirläden, um
einen Moment im Trockenen zu sein, oder sie saßen in den kleinen Cafés wie angenagelt, kein
Stuhl war frei. Es roch an jeder Ecke anders, nach Backwerk, nach Gewürzen, nach Kaffee.
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Ich schwankte lange, ob wir noch das Château Comtal, das Grafenschloss, das extra Eintritt und
sicher auch etwas mehr Zeit verlangte, besuchen sollten. Ich schlug dann die Gelegenheit aus,
um noch einen Blick in die Basilika St- Nazaire zu werfen und einen generellen Überblick über
die Stadt zu gewinnen. Viel Leben herrschte an der Place du Grand Puits, dem Großen
Brunnenplatz. Mittelalterlich eng ist er, eher ein winziges Plätzchen. Man denkt an Spitzweg.
In der Basilika ist es dunkel. Kerzen brennen und schwängern den riesigen Raum mit
Wachsgeruch, der sich mit dem von der letzten Messe noch hängenden Weihrauchduft mischt
und so diesen typischen heiligen Odeur erzeugt, der dann die religiösen Reflexe hervorruft. Ich
kann mich jetzt nicht mit dem Inneren beschäftigen. Am Ausgang nimmt uns ein armer Mann
eine Spende ab. Auf einem weit vorspringenden Wasserspeier sitzt eine Krähe und schaut zu uns
herunter.
Neben der Basilika führen Stufen hoch auf die innere Stadtmauer am Aude- Tor. Von dort kann
man auf die neue Stadt Carcassonne blicken. Der Regen nahm mir den Unternehmungsgeist. Wir
lenkten unsere Schritte an einer kleinen Schule vorbei an der Place du Petit Puits, dem Kleinen
Brunnenplatz bis zur Place Marcou. Dort ist geschmückt wie zum bayrischen Oktoberfest. Die
Freisitze füllen fast den ganzen Platz, doch niemand sitzt hier; der Regen tropft unablässig von
den Schirmen und verwandelt diesen Gang in Tristesse. Ich ziehe Martina zu einem Tor in der
inneren Mauer. Wieder ein Freisitz. Der Regen platscht auf die breiten Fliesen. Schnell wieder
zurück. Weiter. Es ist alles eng hier. Eilige Touristen schieben sich durch die Gassen. Wir
fliehen hinter den inneren Mauerring und schauen uns die gewaltigen Befestigungen an. Von der
äußeren Mauer kann man weit ins Land blicken. Es macht aber alles keinen richtigen Spaß. Also
wieder zurück. An einem kleinen Bistro lese ich „Maison du Cassoulet de Castelnaudary“. Das
muss ich erklären. Ein Kursteilnehmer in der Volkshochschule, wo ich ein wenig Französisch
lerne, gab mir im Vorfeld der Reise den Tipp, genau hier einzukehren und diese regionale
Spezialität zu kosten. Das ist nämlich ein opulentes Essen, das uns die Conny für heute Abend
versprochen hatte.
Wir verließen
dieses
mittelalterliche
Städtchen mit
dem
Gefühl,
etwas
ganz
Besonderes
erlebt zu haben.
Ich nahm mir
vor, mich zu
Hause
eingehend mit
der Historie zu
beschäftigen.
Aber
nun
mussten
wir
loslassen, der
Bus wartete und
brachte uns in
die untere Stadt
Carcassonne,
die
in
Sichtweite der
© Rolf Bührend, Februar 2005
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historischen an
der Aude liegt.
Im Hotel Bristol stiegen wir ab, einem kleinen feinen Haus in englischem Stil. In den Fluren
dämpften dicke Teppiche den Schritt. Wunderschöne Möbel, herrliche Einzelstücke, ergänzten
das Interieur und vermittelten Atmosphäre. Die Zimmer waren klein, die sanitären Anlagen
ließen zu wünschen übrig. Aber es gab einen winzigen Austritt, ein französisches Fenster, wenn
man den widerspenstigen Fensterladen zurückdrehte, und wir konnten hinuntersehen auf den
Canal du Midi und eine seiner Schleusen und den Hauptbahnhof. Ich war glücklich, ihn einmal
sehen zu können, diesen Kanal! Seit Jahren träume ich mich in ein Hausboot hinein, mit dem ich
diese Wasserstraße einmal vom Mittelmeer bis Toulouse befahren möchte. Es ist möglich, ohne
Bootsschein ein Boot zu mieten. Martina traut nicht recht und fürchtet sich. Ich stelle mir einen
Urlaub auf dem Wasser ungeheuer entspannend und erholsam vor… Canal du Midi!
Ich muss ein wenig darüber berichten. Es gibt wieder einen spannenden Ausflug in die
Geschichte, etwa in das 17. Jahrhundert und sie ist verbunden mit einem Manne, nämlich
Pierre-Paul Riquet (1609 – 1680)
Er wurde vermutlich am 29. Juni 1609 in Béziers
geboren Von seiner Jugend weiß man, dass er sich nur
für Naturwissenschaften und Mathematik interessierte
und dass er lieber Okzitanisch als Französisch sprach.
Sein Vater, Staatsanwalt des Königs und cleverer
Geschäftsmann,
bewegte
ihn
dazu,
in
den
Verwaltungsapparat einzutreten, der sich um die
Eintreibung der Salzsteuer kümmerte.
Im Jahr 1630 wird er Steuerpächter. 1637 heiratet er
Catherine de Milhau, die aus einer reichen Familie aus
Béziers stammt. Gemeinsam haben sie fünf Kinder. Die
gesamte Familie siedelt nach Revel über, wo Pierre-Paul
Riquet 20 Jahre das lukrative Amt des Steuerpächters
ausübt und zu großem Reichtum gelangt.
Im Jahr 1651 ist er Untersteuerpächter der Provinz Languedoc, im Jahr 1660 wird er
Generalsteuerpächter des Languedoc und der Cerdagne, und er ist ebenfalls Kriegslieferant des
katalonischen Heeres.
Im Jahr 1661 wird er Baron von Bonrepos, in der Nähe von Verfeil, er besitzt ein Haus in Toulouse und
zahlreiche Güter und Rechte in Revel, wo er das Amt des Königlichen Richters ausübt.
Er ist ein unermüdlicher Arbeiter und besitzt herausragende Qualitäten: Er ist einfallsreich,
enthusiastisch, mutig, ein guter Beobachter, ihm wird eine große Urteilsfähigkeit nachgesagt, ein
Unternehmensgeist in Verbindung mit einer großen Gabe, Menschen wie Geschäfte lenken und leiten zu
können. Er wird ebenfalls als vorausschauend, gesetzestreu, ausdauernd (sogar dickköpfig), manchmal
ungesellig beschrieben. Dabei er ist überaus menschlich, wie seine Beziehung zu seinen Arbeitern
beweist, denen er für die damalige Zeit hervorragende Arbeitsbedingungen und Löhne anbietet.
Um 1662, Riquet ist mittlerweile 53 Jahre alt, möchte er sich seinen Kindheitstraum erfüllen und so
beginnt er das Projekt eines Kanalbaus, der das Mittelmeer mit dem Atlantik verbinden soll.
Sein gesamtes restliches Leben wird er von nun an dieser Sache widmen.
Als er am 1. Oktober 1680 in Toulouse stirbt, sind die Arbeiten fast beendet, das Mittelmeer ist nur mehr
eine Meile von der Baustelle des Kanals entfernt...
Aber erst im folgenden Jahr wird anlässlich der Einweihungsfeierlichkeiten durch die Vertreter des Königs
der Kanal vollständig "unter Wasser gesetzt".
Ursprünge des Projekts
Schon als Kind kommen Pierre-Paul Riquet die Ideen für einen Kanal zu Gehör, der die Verbindung
zwischen den beiden Meeren herstellen soll, und diese Idee sollte ihn sein Leben lang begleiten.
Dieses Projekt, das der Versammlung der Provinzstände vorgestellt wurde, war keine Neuheit: Schon zur
Zeit der Römer, unter der Herrschaft von Kaiser Augustus und Nero, kam die Idee auf, eine direkte
Wasserstrasse zwischen dem Mittelmeer und dem Atlantik zu erbauen.
Das Interesse an so einem Bau lag auf der Hand: Die Verbindung des Aude- Beckens und des GaronneBeckens konnte Waren direkt an die Atlantikküste bringen, ohne den langen Umweg (mehr als 3000 km)
über die iberische Halbinsel in Kauf nehmen zu müssen.
Verschiedene andere Projekte wurden später von den Königen Frankreichs anvisiert, aber keines hatte
die Probleme der Wasserhaltung und des Wassereinzuggebiets des zukünftigen Kanals lösen können.
© Rolf Bührend, Februar 2005
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In der Tat bestand die große Schwierigkeit des Projekts darin, schwer beladene Schiffe über die
Wasserscheide zwischen Mittelmeer und Atlantik zu befördern.
Vom Meeresspiegel aus gesehen muss der Kanal eine Schwelle von 190 m überwinden, und nur eine
regelmäßige Wasserversorgung und eine gleichmäßige Fliessgeschwindigkeit zwischen den zukünftigen
Schleusen der beiden Wassereinzugsgebiete konnte dies erreichen.
Die erste Aufgabe, der sich Pierre-Paul Riquet annahm, bestand darin, die Wasserversorgung des
Kanals sicher zu stellen. Zu diesem Zwecke durchstreifte er in Begleitung des Wünschelrutengängers
Pierre Campmas aus Revel das Bergmassiv der Montagne Noire und stellte fest, dass hier Wasser im
Überfluss vorhanden war.
Aber noch ein Problem war zu lösen: Wie konnte man die Wasser dazu bringen, sich einerseits zum
Mittelmeer und andererseits zum Atlantik hin zu ergießen?
Die Geschichte erzählt, wie er eines Abends die Erleuchtung bekam: Als er über die Möglichkeit
nachdachte, die Wasser auf der Mittelmeerseite in den Sor fließen zu lassen, der in den Ozean mündet,
wurde ihm plötzlich klar, dass er eine Wasserrinne in den Berghang graben musste. Die im Bergmassiv
der Montagne Noire aufgefangenen Wasser konnten nach Conquet geleitet werden und sich dort mit den
Wassern des Sor vereinen, dann müsste diese Wasserrinne nur bis in die Ebene fortgesetzt werden, um
den Kanal mit Wasser zu versorgen...
Die so gefundene Lösung musste jetzt nur noch durchgesetzt werden. Riquet nahm die Hilfe eines seiner
Freunde in Anspruch, Monseigneur d'Anglure de Bourmelon, Erzbischof von Toulouse, der von den
Projekt überzeugt war und sich anbot, sich bei Colbert für das Projekt einzusetzen.
Am 15. November 1662 schrieb Riquet seinen berühmten Bericht an Colbert, Oberintendant der
königlichen Bauwerke, und hier sollte die Errichtung des Canal du Midi ihren Anfang nehmen.
Man verzeihe mir die Ausführlichkeit. Ich glaube, dass gerade die näheren Umstände dieses
Kanalbaues die interessantesten Aspekte liefern:
Ein Wegbereiter
Pierre-Paul Riquet kann als Wegbereiter für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen betrachtet
werden, die zur damaligen Zeit herrschten. So erhielten seine Arbeiter 10 Pfund Lohn pro Monat, was im
Vergleich zu den gängigen Bezahlungen ein sehr gutes Gehalt war. Außerdem wurden den Arbeitern
Ruhetage gegönnt (Sonntage, Feiertage oder Regentage), die nicht von ihrem Gehalt abgezogen
wurden. Wohnraum wurde zu einem geringen Preis zur Verfügung gestellt.
Die Arbeiter erhielten ihre Werkzeuge am Tag ihrer Anwerbung und mussten sich dann für die Dauer der
Arbeiten um Pflege und Wartung der Werkzeuge kümmern.
Noch erstaunlicher aber war die Tatsache, dass das Gehalt im Krankheitsfall weiter ausbezahlt wurde.
Hier könnte man von einem Vorläufer der Krankenversicherung sprechen, einer Idee, die im 17. Jh. völlig
unbekannt war.
Die einzelnen Etappen des Kanalbaus
1662 stellte Pierre-Paul Riquet sein Projekt dem Oberintendanten für Finanzen und Bauwerke des
Sonnenkönigs Ludwig XIV., Jean-Baptiste Colbert, vor. Dieser erkannte sofort die wirtschaftliche,
politische und militärische Bedeutung eines solchen Bauwerks.
Aber die Verhandlungen ziehen sich in die Länge, der König wünscht eine finanzielle Beteiligung seitens
Riquets, und dieser muss schließlich sein privates Vermögen in die Waagschale werfen.
Colbert wiederum möchte, dass die "Etats du Languedoc", Amtsbezirke der Seneschalls des Languedoc,
sich an der Finanzierung des Kanals beteiligen.
So sind denn die Verhandlungen zäh und langwierig und schließlich muss Riquet der eifersüchtigen
Gegnerschaft des Commissaire Général aux Fortifications de France, M. de Clerville, Oberaufseher der
Befestigungsanlagen Frankreichs, standhalten, der auch an dem Projekt gearbeitet hatte, ohne jedoch
eine befriedigende Antwort auf die offenen Fragen zu finden.
Erst 1666, vier Jahre nach Verhandlungsbeginn, ordnet das königliche Edikt den Beginn des Kanalbaus
an. Das Bauwerk wird den Namen Canal Royal tragen.
Riquet finanziert die Ausgrabung der 34 km langen Wasserrinne, die die Wasser der Montagne Noire zur
Schwelle von Naurouze, der Wasserscheide zwischen Mittelmeer und Atlantik, bringen.
Nach erfolgreicher Überzeugungsarbeit der königlichen Vertreter beginnen 1667 die Grabungsarbeiten
des Beckens von St Férréol, denn zunächst muss die Wasserversorgung des zukünftigen Kanals
3
sichergestellt werden. Dieses Reservoir hat eine Speicherkapazität von 3.600.000 m und wird erst 1672
fertig gestellt.
Die an mehreren Stellen gleichzeitig begonnen Arbeiten werden von nun an in drei Abschnitten verlaufen.
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Ein erster Abschnitt, der vollständig von Riquet finanziert wird, erstreckt sich von Toulouse nach Trèbes
(in der Nähe von Carcassonne). Sobald dieser Abschnitt unter Wasser gesetzt wurde, begann zwischen
Castelnaudary und Toulouse der Postverkehr.
Die Arbeiten am zweiten, vom Staat finanzierten Abschnitt begannen am 30. Juni 1668. Auf dieser
Strecke, die Trèbes mit dem Etang de Thau verbindet, findet man wichtige Bauwerke wie die Schleusen
von Fonséranne bei Béziers und den Tunnel von Malpas bei Ensérune.
Der dritte Abschnitt bestand im Bau des Hafens von Sète (damals schrieb man "Cette"). Dieser kleine
Hafen an der Mündung des Kanals wird wichtigste Stadt und wichtigster Hafen der Region.
Am 1. Oktober 1680, zum Ende der 14 Jahre dauernden Bauzeit, stirbt Pierre-Paul Riquet in Toulouse,
geadelt, aber fast verarmt.
Der Canal Royal wird am 24. Mai 1681 eingeweiht, nachdem er einer fast 30 Tage dauernden Inspektion
standhalten musste, die von Daguesseau, Intendant des Königs im Languedoc durchgeführt wurde.
Die Arbeiter und ihre Arbeitsbedingungen
In den 14 Jahren, die die Arbeiten am Canal du Midi dauern, werden auf der Baustelle beständig
mindestens eintausend Leute, Männer und Frauen, arbeiten. Für bestimmte Bauabschnitte, wie z.B. der
Ausgrabung des Kanals zwischen Trèbes und Sète werden sogar bis zu 10.000 Arbeiter die Baustelle
bevölkern.
Für den Bau des Hafens von Sète steigt die Anzahl der beschäftigten Arbeiter auf 12.000.
Die Arbeit ist strengstens hierarchisch organisiert: Inspektoren kontrollieren Vorarbeiter, die
Mannschaften von 40 Leuten beaufsichtigen, die wiederum in Werkstätten von 200 Leuten
zusammengeschlossen sind.
Die Männer sind mit den schweren Erdarbeiten betraut, die Frauen transportieren die Erde weg.
Die Arbeitsbedingungen sind für die damaligen Verhältnisse einmalig, aber als Gegenleistung dafür wird
ein zügiges Arbeiten verlangt, damit der Bau so schnell wie möglich vorankommt.
Ist die Behandlung der Arbeiter auch für die damalige Zeit vortrefflich, so werden die Zulieferer von
Riquet nicht mit der gleichen Achtung behandelt: Fuhrunternehmer, Hufschmiede, Maurerbetriebe und
Steinbruchbesitzer müssen sich unter Bußandrohung mit Hungerlöhnen zufrieden geben.
Vom Canal Royal zum Canal du Midi
Zwischen dem 17. und 19. Jh. wurden verschiedene
Arbeiten und Änderungen durchgeführt, so die
Überquerung des Flusses Cesse (Vauban 1689-1690),
das Aquädukt von Fresquel in Carcassonne (18021810) oder die Kanalbrücke über den Orb in Béziers
(1857-1858). Insgesamt wurden 65 Schleusenanlagen
gebaut, die zusammen über 130 Schleusenbecken
verfügen. Längs des Kanals wurden 45.000 Bäume
gepflanzt, die zur Uferbefestigung beitragen und
Reisenden und Waren Schutz vor der Sonne
gewähren.
Nach dem Tode von Paul Riquet setzten sein Sohn
und anschließend der französische Meisterarchitekt
Vauban die Arbeiten fort. Die Erben von Riquet
konnten sich erst 1784 von den Schulden befreien, die
seit dem Bau des Kanals auf ihnen lasteten.
Während
der
französischen
Revolution
1789
emigrierten die Nachkommen von Riquet, ihr Wohnsitz
wurde zerstört und der Canal Royal wurde auf den
Namen Canal du Midi umgetauft.
Von der Revolution bis heute
Im 19. Jh. wird endlich die Verbindung Sète - Bordeaux hergestellt und ein reger Warenverkehr kommt
auf: Baumaterialien, Holz, Steinkohle, Ziegel, Steine, Getreide, Wein...
Die Kanäle werden pachtweise dem Eisenbahnunternehmen La Compagnie des Chemins de Fer du Midi
übergeben, und dies ist der Anfang eines ersten Niedergangs.
1898 nimmt der Staat wieder verschiedene Kanäle in seinen Besitz und schließt sie unter der
Bezeichnung Canal des Deux Mers zusammen.
Der Niedergang der Transportaktivitäten hält an, die Beförderung von Getreide und Wein, die das Leben
des Kanals seit fast dreihundert Jahren bestimmt, steht stark mit dem Schienenverkehr in Konkurrenz,
das Aufkommen der ersten motorbetriebenen Lastkähne um 1925 ändert an dieser Tendenz auch nichts
mehr.
© Rolf Bührend, Februar 2005
Seite 81
Heute wird der Kanal von den "Voies Navigables de France" verwaltet und lebt hauptsächlich vom
Flusstourismus. Viele Unternehmen bieten dem Reisenden Pauschalangebote für Schiffstouren, um den
Kanal und seine Umgebung kennen zu lernen.
Seit seiner Erbauung ist der Kanal für die Region eine nicht zu unterschätzende Quelle der
Arbeitsplatzbeschaffung.
Die regelmäßige Instandhaltung der Bauten und die manuelle Bedienung der Schleusen haben die
Schaffung von Stellen nötig gemacht, um Wartung und Sicherheit der gesamten Anlage zu
gewährleisten.
Die Entwicklung des Personen- und Warentransports hat auch zur Entstehung einer für den Kanal
spezifischen Wirtschaft geführt. Wenngleich der Warentransport fast vollständig erloschen ist, so ist mit
dem Aufkommen des Flusstourismus wieder viel Bewegung auf dem Kanal zu verzeichnen, und die
Männer des Kanals gehen weiterhin ihrer Arbeit nach.
1994 schlug die Verwaltung der Voies Navigables de France, die sich um die Bewirtschaftung des Kanals
kümmern, den Canal du Midi für die Aufnahme in das Weltkulturerbe vor.
1995 taten sich der frz. Kulturminister und die Regionen Languedoc-Roussillon, Midi-Pyrénées und
Aquitaine zusammen, um den Canal du Midi für die Aufnahme in das Weltkulturerbe anzumelden.
Nach Prüfung durch die 21 Mitglieder der aus 147 Ländern bestehenden Kommission der UNESCO
beschloss die Sitzung vom 6. Dezember 1996 die Aufnahme von 33 Stätten in die Liste des
Weltkulturerbes, darunter der Canal du Midi.
Aufgenommen wurden: Die Kanalstrecke zwischen Toulouse und dem Thau- Becken, die Schwelle von
Naurouze und das Wasserversorgungssystem der Montagne Noire sowie alle Bauten, die aus der ersten
Bauperiode stammen, die noch von Pierre-Paul Riquet durchgeführt wurde.
Schleusenwärter und Wartungspersonal
Heute arbeiten 350 Leute das ganze Jahr über an der Wartung und Bedienung der Bauten des Canal du
Midi.
In der Hauptsaison von Mai bis Oktober sind die Schleusenwärter und das Wartungspersonal eifrig bei
der Arbeit und stehen den Bootstouristen mit Rat und Tat bei der Schleusendurchfahrt zur Seite. Sie
gewährleisten das Funktionieren der Anlagen und sind jeden Tag 11 Stunden lang bei der Arbeit. Manche
Schleusenwärter wohnen kostenlos in den kleinen Häusern neben den Schleusen, die dem Staat
gehören. Als Gegenleistung müssen sie 120 Stunden pro Woche zur Verfügung stehen.
Von November bis Januar werden am Kanal große Wartungsarbeiten durchgeführt: Säubern der
Schleusenbecken, Reparatur der Schleusentore, Dichtungsarbeiten. Hierzu werden die Schleusen durch
den Einsatz von Holzwänden in die dafür vorgesehenen Einkerbungen vor der Schleuse vom Kanal
abgetrennt. Sind die Dichtungsarbeiten auf diesem Niveau abgeschlossen, kann die Schleuse geleert
werden und die Arbeiten können beginnen.
Die meisten Schleusen sind heute motorbetrieben, aber manche werden weiterhin manuell geschlossen
und geöffnet, wie z.B. die Dreifachschleuse von Laurens.
Nichtsdestoweniger bleibt der Einsatz von Personal unabdingbar, um den Verkehr zu regeln, die
Wasserhöhe zu kontrollieren und bei Unwetter die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen. Eine
wichtige Rolle der Schleusenwärter ist die Gewährleistung der Sicherheit der Bootsführer und
Passagiere, die oftmals bei der Schleusendurchfahrt unvorsichtig oder ungeschickt sind.
Schließlich sind die Schleusenwärter das verbindende Element, das dem Urlauber auf seiner Reise mit
Herzlichkeit und Zwischenmenschlichkeit begegnet.
Die Kunstbauten
Vom 17. bis 19. Jh. entwickelt sich rund um den
Kanal ein lebhaftes Treiben.
In den Häfen des Kanals findet man eine Menge
Leute, deren Tätigkeit an den Transport von Waren
geknüpft ist: Träger, Zimmerleute, Fassmacher,
Fuhrmänner,
Händler.
Der Transport der Post und der Reisenden wird
zunächst einmal per Postkahn, "La Barque de
Poste" durchgeführt. Die Verbindung Sète Toulouse
dauerte
damals
36
Stunden,
Anschlussverbindungen
mit
anderen
Transportmitteln
sind
an
den
jeweiligen
Haltestätten vorgesehen.
Später dann, im Jahr 1834, werden die "Schnellboote" ins Leben gerufen, die sowohl Personen als auch
Waren transportieren (bis zu 60 Tonnen) und die Verbindung Toulouse - Beaucaire in 115 Stunden
schaffen.
Dieser Schiffsverkehr wird nach und nach durch das Aufkommen der Eisenbahn am Ende des 19. Jh.
verdrängt.
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Der Canal du Midi dehnt seine 240 km lange Wasserstrasse quer durch die Ebene des Languedoc. Mehr als
350 Bauwerke, von denen einige bereits 300 Jahre alt sind, waren nötig, um die Probleme zu lösen, denen
sich Riquet und seine Ingenieure gegenüber sahen.
In Anbetracht der damaligen technischen Möglichkeiten
empfahl es sich, diese Hindernisse so weit wie möglich zu
umgehen. Und so ist denn auch der Verlauf des Kanals nur
selten geradlinig, er folgt eher den Höhenlinien und bietet so
eine ruhige, zauberhafte Bootsfahrt.
Jedes Mal, wenn ein Berg, ein Wasserlauf, eine Strasse
oder eine Steigung den Weg des Kanals kreuzten, musste
ein neues Bauwerk errichtet werden. So wurden 130
Straßenbrücken neu gebaut oder umgestaltet sowie
Schleusen, Aquädukte (insgesamt heute 49 Kanalbrücken),
Überlaufvorrichtungen und sogar Tunnel errichtet.
Wichtigste Voraussetzung
Alle diejenigen, die vor Paul Riquet an einem Projekt für
einen Kanal arbeiteten, der Mittelmeer und Ozean
miteinander verbindet, sind zu diesem magischen Ort
vorgedrungen. Hier liegt das Herzstück des von Riquet
erdachten Systems, denn hier liegt die Wasserscheide,
der Punkt, wo das Wasser zögernd nach Westen zum
Ozean oder zögernd nach Osten zum Mittelmeer fließt.
An dieser Stelle ließ Riquet ein großes, achteckiges
Becken errichten, in das über eine Rinne die Wasser des
Staubeckens von Saint Ferréol fließen, das seinerseits
durch die in der Montagne Noire
gefassten Quellen gespeist wird.
Dieses Becken fungiert als Reservoir, das
den Wasserfluss des Kanals nach Osten
und nach Westen hin kontrollieren und
regulieren soll.
Die Kanalbrücke über den Orb
Das Aquädukt von Répudre
In Béziers, Geburtsstadt von Riquet, hatte
die Überquerung des Orb lange Zeit ein
ernsthaftes Problem aufgeworfen. Dieses
kleine
Flüsschen
hat
einen
sehr
unregelmäßigen Wasserlauf: Im Sommer
herrscht Trockenheit, und der Winter ist die
Zeit der Hochwasser.
Dieses Problem wurde zunächst durch den
Bau von Überlaufbecken umgangen, die
einen kleinen Kanal, Schleusen und ein
Wasserauffangsystem speisen und so die
Kontinuität des Wasserlaufs gewährleisten.
Aber die starken Hochwasser des Orb beschädigten regelmäßig diese Konstruktionen.
Angesichts dieser Schwierigkeiten wurde von 1854
bis 1858 die Errichtung einer Kanalbrücke über
den Orb in Angriff genommen. Diese 12 m hohe
und 28 m breite Konstruktion erstreckt sich auf
einer Länge von 240 m.
Es handelt sich hier um eins der spektakulärsten
Bauwerke des Canal du Midi.
Sie ist die bedeutendste Kanalbrücke der Welt und
die einzige, die von Paul Riquet erbaut wurde, dem
Erfinder dieser Technologie. Sie befindet sich in
der Nähe des Dorfes Paraza im Herzen einer
wunderschönen Landschaft.
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Ihr Bau geht auf das Jahr 1676 zurück. Infolge des
schweren Hochwassers im Jahr 1999 wurde sie
kürzlich einigen Renovierungsarbeiten unterzogen.
Das Aquädukt von Fresquel
Mit diesem Bauwerk können Strasse und Kanal Seite an Seite das Flussbett des Fresquel in der Nähe
von Carcassonne überqueren. Diese Kanalbrücke besitzt drei Bögen, ihr Bau wurde 1802 begonnen und
1810 beendet.
Die drei Schleusen von Fresquel werden von einem Schleusenwärter bedient, der auf einem
Aussichtsturm sitzt.
Die Überquerung der Cesse
Die Cesse ist ein Fluss mit Wildbachcharakter. Ursprünglich wurde eine Strasse gebaut, um sie zu
überqueren, aber diese Strasse wurde nach kurzer Zeit schon von den Überläufen des Flusses
beschädigt und dann durch eine Kanalbrücke ersetzt, die Vauban 1689-1690 errichtete.
Um die überschüssigen Wasser abzuleiten wurde das Überlaufbecken, l'Épanchoir des Patiasses.
errichtet. Dieses 8 m hohe Bauwerk wird immer noch manuell betrieben.
Die Schleusen von Fonsérannes
Die acht Schleusen von Fontsérannes bilden ein
spektakuläres Gesamtwerk, das 1697 errichtet
wurde.
Es wird ein Höhenunterschied von 21,50 m auf einer
Länge von 300 Metern überwunden. Die letzte
Schleuse (die unterste) ist nicht mehr in Betrieb, sie
gab einst Zugang zum Fluss Orb.
Es handelt sich hier um eine der Attraktionen des
Canal du Midi mit dieser treppenartigen
Aneinanderreihung von Schleusen und dem
einzigartigen Panoramablick auf Béziers.
Agde und das Rundbecken
Diese runde Schleuse ist einzigartig in ihrer Form.
Sie ist gleichzeitig Schleuse und Rundverkehr. Sie
wurde 1679-1680 errichtet und kürzlich vergrößert.
Sie reguliert den Wasserzulauf des Flusses
Hérault. Ein kleiner Kanal schafft die Verbindung
zum Hafen von Agde und zum Meer.
Die mobile Brücke über den Libron
In der Nähe von Vias ermöglicht eine mobile Brücke die
Überquerung des Libron, einem kleinen Flüsschen, das
aber für seine spektakulären und zerstörerischen
Hochwasser bekannt ist.
Die ersten Bauten erwiesen sich als unzulänglich und die
vom Libron herangeschwemmten Schlammmassen
drohten den Kanal zu verschlicken. Da die Konstruktion
eines Aquädukts (Kanalbrücke) wegen des geringen
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Höhenunterschieds nicht möglich war, wurde 1858 ein
einzigartiges Bauwerk errichtet.
Es handelt sich gleichzeitig um ein Schleusensystem und
eine mobile Brücke mit Verdeck.
Eine eindrucksvolle metallene Maschinenanlage und die Trennung des Libron in zwei Flussarme
ermöglicht es, einerseits die Wasser des Libron zum Meer hin abfließen zu lassen und andererseits den
zweiten Flussarm als Schleuse für die Durchfahrt der Boote zu nutzen.
Der Tunnel von Malpas
Der Malpas- Kanal ist ein
einzigartiges Bauwerk, dank
dessen
der
Kanal
einen
scheinbar
unumgänglichen
Hügel bezwingt.
Der Tunnel wurde 1679-1680 in
den Tuffstein des Berges von
Ensérune gegraben.
Pierre-Paul Riquet, der zu
dieser
Zeit
in
starkem
Gegensatz
zu
Colbert,
Daguesseau
und
Clerville
bezüglich des Kanalverlaufs an
dieser Stelle stand, ließ schnell
und heimlich diesen Durchganggraben, um die
Richtigkeit seiner Überlegungen zu beweisen.
Der Tunnel von Malpas ist 6 m hoch, 8,5 m breit und
erstreckt sich auf einer Länge von 173 m. Heute stehen
an dieser Stelle drei Tunnel: Der Abflusstunnel für den
See von Montady, der Eisenbahntunnel und der Canal du
Midi.
In nächster Umgebung kann die antike Ausgrabungsstätte
des vorrömischen Ensérune besichtigt werden.
Rund herum liegen die Dörfer Capestang (Stiftskirche und
Befestigungsanlagen) und Poilhes (der 600 Jahre alte
Baum von Sully).
Le Somail
Le Somail ist ein großes Dorf, das seine Entwicklung dem
Verkehr des Postschiffes verdankt, das hier einen
Zwischenstopp einlegte. Le Somail zählt ungefähr 200
Einwohner und wird von drei verschiedenen Gemeinden
verwaltet.
Die Brücke Le Pont Neuf, die 1773
errichtet wurde, zeichnet sich durch die
Verarbeitung dreier Gesteinsarten, Basalt,
Sand- und Kalkstein aus.
Die
Brückenkapelle
sowie
das
Hutmuseum runden die Besichtigung von
Somail
ab.
Das
nahe
gelegene
mittelalterliche Dörfchen Mirepeisset lohnt
den
Besuch.
Dieses zauberhafte Plätzchen ist im
Sommer einer der beliebtesten und
belebtesten Orte am Kanal.
Colombiers
Unweit von Béziers liegt das Dörfchen Colombiers, dessen schöne Architektur einen Besuch wert ist.
Fernab vom Trubel des Kanals kann man Ruhe und Frieden dieses herrlichen Fleckchens Erde
genießen.
La Pointe des Onglous
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Die Pointe des Onglous markiert Anfang und Ende der Fahrt auf dem Canal du Midi. Diese Landzunge
befindet sich im äußersten Westen des Étang de Thau. Hier befindet sich ein Hafen für Schiffe und
Hausboote. Das Süßwasser des Kanals vermischt sich hier mit den brackigen Wassern des Teichs.
In das 20 km entfernt gelegene Sète gelangt man über
einen Kanal, der durch die Mitte des Teichs verläuft.
Nachts ist diese Teichdurchquerung nicht ratsam, da
der Kanal eng ist und man sich in den Schlammmassen
des Teichs verfangen könnte.
Das ist die Geschichte des Canal du Midi, eines der
berühmtesten Bauwerke Frankreichs. Man wird beim
Lesen der Beschreibungen hineingezogen in diese
Landschaft, und wen wundert es, wenn ich in mir den
Wunsch nähre, einmal, einmal ein Stückchen davon
selbst
zu
befahren
und
diese
kleinen
dreihundertjährigen Wunderwerke zu besichtigen, zu
erleben.
Bis zum Abendessen ist noch eine Stunde Zeit. Ich nehme meine Digitalkamera und tigere los.
Zuerst fotografiere ich die Hausboote an den Anlegestellen, trete neugierig näher, luge hinein. Die
Frauen sind bei der Zubereitung des Abendbrotes. Ich sehe die Fahrräder an Deck. Einige
Familien sitzen in der engen Kajüte beim Essen zusammen. Es sind schwimmende Wohnungen.
An Land gibt es Steckdosen für Strom, Wasserzapfstellen für Trinkwasser, alles kostet natürlich
Gebühren, auch der Liegeplatz, und die sind nicht gering. Ich konnte mich nicht satt sehen. Sicher
wirkte das schräg einfallende warme Abendlicht mit und die Erfüllung eines ersten Wunsches: Ich
stand am Canal du Midi. Der Regen war wie weggeblasen. Mild und weich roch hier die Luft
nach dem Brackwasser des Kanals und dem frischen nassen Laub der Bäume, die den Kanal wie
ein Halbdach überschatteten. Lange stand ich und träumte mit offenen Augen.
Doch ich hatte noch ein anderes Ziel. Ich wollte ein Bild von der Altstadt Carcassonne, ich nahm
es vorhin im Vorbeifahren in mich auf, musste es jetzt festhalten. Das konnte nur von der Brücke
über die Aude gelingen. Da hatte ich zu laufen, den ganzen Boulevard Jean Jaurès hinunter, über
den Square Gambetta bis zum Pont Neuf. Ich kam ins Schwitzen, wurde aber durch ein
wundervolles Licht belohnt und konnte so einige prächtige Bilder aufnehmen. Zurück galoppierte
ich im Schweinstrab, um 19 Uhr sollte es das Abendessen geben: Cassoulet!
Ich übertreibe nicht. Der Inhalt dieser anspruchslosen, eher rustikalen Tonschüssel, war einer der
kulinarischen Höhepunkte der Reise. Ein simples Bohnengericht mit mehrerlei Wurst, Geflügelund Fleischarten. Traditionell ragen die zwei Hühnchenschenkel aus der gebräunten Oberfläche
heraus. Auf dem Tisch stehen noch Weißbrot und eine Karaffe Wasser. Ich esse bis ich nicht mehr
kann. Nicht jeder verträgt weiße Bohnen, aber sie wurden ja schonend vorbehandelt. Und die
herrliche Fleischbrühe! Dieser Geschmack.
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Wen es interessiert, ich habe hier das Rezept übersetzt. Ob man hierzulande aber Wurst vom
Toulouser Schwein bekommt, ist fraglich:
Rezeptur des Cassoulets der Großen Bruderschaft vom Cassoulet
von Castelnaudary
Für 4 Personen:
 350 g bis 400 g trockene Blöcke
weiße Bohnen
 2 Lenden von der Ente oder einer
Gans (die je in zwei Teile
geschnitten werden)
 4 Stücke von 80 g Würste vom
reinen Toulouser Schwein
 4 Stücke von 50 g Fleisch vom
Schwein; Kniekehle, Schulter oder
Brust
 wenigstens 250 g von Schwarte
von Schwein, deren Hälfte nach
Kochen für die " Montage " des
Cassoulets angewandt werden
wird,
 ein bißchen salziger Speck, und nach Geschmack, ein Löffel einer Suppe von
Tomatenkonzentrat
 für die Bouillon: ein Geflügel- Panzer, wenn man ihn im Voraus hat, einige
Knochen von Schwein, wir salben es ein, Karotten.
Der Vorabend: die Bohnen eine Nacht im kalten Wasser wässern lassen.
Nächsten Tag, dieses Wasser wegwerfen und die Bohnen in eine Pfanne mit 3 Litern
von kaltem Wasser legen.
Während 5 Minuten zum Aufkochen zu bringen.
Feuer zurückzuziehen und das Wasser wegwerfen.
Die Bouillon vorzubereiten: Geben Sie 3 Liter von nicht-kalkhaltigem Wasser in eine
Pfanne, die geschnittenen Schwarten in breitem Riemen, der Geflügel-Panzer, die
Knochen von Schwein, die Zwiebeln und die Karotten.
Salzen und pfeffern. Während einer Stunde zu kochen.
Diese Bouillon filtrieren und die Schwarten zurückzuholen.
In diese filtrierte Bouillon die Bohnen legen, kochen, bis sie biegsam werden, aber ganz
bleiben, ungefähr 1 Stunde.
Während des Kochens der Bohnen, die Fleischteile vorbereiten. In einer dicken
Schmorpfanne-, dann die Stücke von eingemachtem Fett befreien, sie zu reservieren
an kleinem Feuer lassen.
Im übrigen Fett dann die Stücke Würste braten, sie zu reservieren zu lassen. Danach
die Stücke Schwein braten lassen, bis sie gut goldbraun werden und sie mit den
anderen Fleischteilen reservieren.
Das Fett bewahren, das im Innern der Pfanne ist.
Die Bohnen trockenlegen, aber die kochende Bouillon warm halten. Zusammen einige
Knoblauch-Schoten und den zerkleinerten Speck den Bohnen hinzufügen.
In diesem Stadium einen Löffel Suppe von Tomaten- Püree hinzufügen.
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Dann das Cassoulet hinaufbringen. In einer Tonschüssel den Boden mit Stücken der
Schwarte belegen, hinzufügen der Bohnen, oben die Fleische anordnen, und noch am
Sopran der Rest der Bohnen.
Danach die Stücke Würste in den Bohnen eindrücken.
In Abhang in der Pfanne der warmen Bouillon zu vervollständigen, die richtig die
Bohnen bedecken muss. Mit der Mühle die Oberfläche pfeffern und einen Löffel der
Suppe des Fetts, die dazu gedient hat, die Fleischstücke zu braten)) hinzufügen.
In den Ofen bei 150°/160° legen, Stufe 5 oder 6, und 2 bis 3 Stunden kochen lassen.
Während des Kochens wird sich eine goldbraune Kruste oben bilden. Man muss sie
mehrmals eindrücken, 7 Mal sagten die Fachleute.
Wenn die Bohnen hochkommen zu trocknen, fügt
man einige Löffel Bouillon hinzu. Wenn das
Cassoulet am Vorabend vorbereitet worden ist,
muss es im Ofen ungefähr bei 150° während 1½
Stunden aufgewärmt werden. Nicht zu vergessen,
ein bißchen Bouillon hinzuzufügen, (falls nicht)
einige Löffel Wasser….
Wer im Internet ein wenig sucht, kann dazu noch einige
Abwandlungen finden, für zwei Personen, für acht bis
zehn Personen, mit etwas anderen Fleischzutaten oder
etwas mehr oder weniger Karotten, Pilzen und
Zwiebeln, aber immer mit weißen Bohnen und Wurst
und Geflügel. Es war früher ein Arme-Leute-Essen…
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Ich schaue in mein Notizbuch nach Eintragungen von diesem Aufenthalt in Carcassonne:
„Martina, die nicht Cassoulet essen will, bekommt Kalbfleisch mit Pommes frites. Besonderheit
im Bad: 2 Waschbecken, ein beleuchteter Hohlspiegel. Abends: Kurzer Rundgang zum Bahnhof,
zurück über Schleusenbrücke. Sehnsucht nach Bootsurlaub wächst. Martina ist noch zu
überzeugen.“ Kein Kommentar.
An diesem Tage legten wir 286 Bus- km zurück.
XIX. Château de Flaugergues in Montpellier
Montag, 8. September 2003
bschied von Carcassonne um 8.45 Uhr. Ein letzter Blick auf die Festung der Altstadt,
dann lenken wir den Blick nach vorn und bewegen uns auf der „Autoroute des Deux
Mers“ A61 in Richtung Narbonne. Etwa 60 km sind es bis dahin. Unterwegs sehen wir
aus dem Fenster. Conny nimmt ab und zu, ihre Versorgungsgänge im Mittelgang unterbrechend,
das Mikrophon in die Hand und zeigt auf die Sehenswürdigkeiten und die Landschaft, die ich
auch nur kurz streifen will.
A
Links bilden die Ausläufer einiger Mittelgebirgsformationen den Hintergrund. Es ist das größte
zusammenhängende Weinanbaugebiet Europas, erzählt sie uns, das Minervois, mit dem alten
Dorf Minerve, das einst eine zerstörte Katharerfestung war und 1210 von Simon de Montfort
erobert wurde. 180 Katharer, die ihrem Glauben nicht abschwören wollten, wurden hier
verbrannt. Hier hat sich die Cesse ihren Weg durch das Kalkgebirge gegraben und fließt dem
Mittelmeer zu.
Windmühlen reihen sich auf den mit Weinfeldern dicht überzogenen Hängen, die im 17. und 18.
Jahrhundert weitgehend abgeholzt wurden, wie ja überhaupt mit dem Raubbau an der Natur ein
dem Menschen innewohnender Vernichtungswille über alle Zeiten hinweg zu beobachten ist.
Natürlich lässt er sich mit dem Überlebenswillen dieser höchsten Tiergattung erklären. Leider ist
der Mensch bis heute nicht so klug zu erkennen, wie die Natur zurückschlägt, automatisch,
konsequent. Hier waren es Glasbläser, die Holz brauchten. Der Wein musste in Gefäße aus Glas.
Der karge Boden nimmt zum Aufforsten nur spezielle Pflanzen an. Man hat hier die
Seidenraupenzucht angefangen. Sie war über viele Jahrzehnte Haupteinnahmequelle. Erst gab
man den Raupen die Blätter der Esskastanie, dann hat man den Maulbeerbaum aus dem fernen
Osten geholt. Die Fäden der Seidenraupe verhalfen in den Städten Nîmes, Tours, Lyon einer
aufblühenden Textilindustrie, wo sie zu edlen Stoffen verwebt werden, zu einiger Prosperität.
Wir erreichen das Autobahnkreuz Narbonne. Nach Süden geht es über Perpignan zur nahen
spanischen Grenze. Wir fahren aber nach Nordosten auf der A9, die bei Orange auf die A7
Lyon- Marseille stößt. Wir sehen die Türme von Narbonne, genauer die der Kathedrale St-Just,
die nur aus dem Chor besteht und mit 41 m einen der höchsten Kirchtürme Frankreichs hat, die
weit ins Land zeigen. Ich versuche bei 100 km/h ein Foto zu schießen. Drei Betonelemente
stellen symbolisch Katharer in Ritterrüstungen dar. Wir sind im Katharerland. Überrascht hat
mich die Information, dass Narbonne, 16 km von der Küste entfernt, seit römischer Zeit bis zur
Versandung des Hafens im 14. Jahrhundert ein wichtiger Handelspunkt am Mittelmeer war.
Narbonne wird vom Canal de la Robin durchquert, der die Aude mit dem Mittelmeer verbindet.
Dann nähern wir uns Béziers, das links von uns vorbeigleitet. Der Bus hält konstant 100 km/h
Geschwindigkeit. Es liegt auf einem Hügel, 12 km vom Meer entfernt, am Orb. Ich erwähnte es
schon. Hier wurden 1209 in den Albigenserkriegen, im Namen Gottes, 15 000 Menschen
abgeschlachtet. Das Wahrzeichen, die Kathedrale St-Nazaire, ist weithin sichtbar. Nun hat sich
auch, nach langer Zeit- es ist wie eine Begrüßung vom ganz nahen Mittelmeer - die Sonne
herausgewagt. Sie bringt die sommerlich grüne Landschaft zum Leuchten und erweckt
Sehnsucht, aus diesem Busgefängnis auszubrechen. Wir überqueren den Canal du Midi, von dem
ich schon so viel berichtet habe. Wieder und immer wieder dehnen sich riesige Weinfelder.
© Rolf Bührend, Februar 2003
Seite 88
Der Küstenstreifen rechts in Fahrtrichtung, von der Rhônemündung bis etwa zur Narbonne
Plage, das sind gut 30 km, ist seit den 60er Jahren als Touristengebiet erschlossen worden. Die
Strände sind gesäubert und zur diesbezüglichen Nutzung bebaut worden. Eine Vielzahl
Campingplätze für mobile Urlauber und Hotels sind entstanden. Sie werden von Otto
Normalverbraucher gern angenommen, sind preiswerter und bilden so den modernen Gegensatz
zur Haute Volée1 an der Côte d’Azur „nebenan“. Zentrum ist die Ferienanlage Cape d’Agde mit
über 100 000 Gästebetten, mehreren Jachthäfen und jeder Menge Vergnügungsbetriebe.
Von Agde bis Sète erstreckt sich das Bassin de Thau, ein seichtes, vom Meer durch einen
angeschwemmten oder künstlichen(?) Damm abgetrenntes Becken von fast 15 km Länge, das
wir jetzt eine Weile rechts von uns sehen. Hier werden im großen Stil Austern gezüchtet. In
langen Reihen liegen die Podeste im Wasser.
Am Fuße des 175 m hohen Hügels Mont St Clair liegt die bis Marseille größte Stadt am
Mittelmeer, Sète. Sie hat 45 000 Einwohner, ist nach dem Versanden von Narbonne nach
Marseille zweitwichtigster Brückenkopf des Nordafrikahandels und großer Fischereihafen. Der
alte Hafen wurde 1666 im Zusammenhang mit dem Bau des Canal du Midi angelegt. Wir
wissen, wie schwer es Riquet hatte, Monsieur Colbert (s. Seite 80) zu überzeugen, dass diese
Wasserstraße angelegt werden muss oder besser, dass der Staat Geld dafür opfern soll. Riquet
hat dann auch sein ganzes Kapital in dieses Projekt stecken müssen, als Initialzündung
gewissermaßen.
Viele Marokkaner kommen zur Weinlese mit der Fähre (14 Stunden) aus Marokko hierher, um
sich Geld zu verdienen. Wir sehen Sète als riesiges flaches Häusermeer, überragt von einem
ebenso riesigen Wasserturm, der auf drei mächtigen Betonsäulen ruht.
Wieder folgen kleinere Etangs2, die nur durch schmale Nehrungen vom Meer getrennt sind.
Dann nach einer kleinen halben Stunde sehen wir rechts den Airport de Montpellier. Hier gibt es
eine Autobahnrast von 10.14 – 10.45 Uhr. Ich habe sie noch in Erinnerung, da ich mir hier eine
Ansichtskarte mit dem Rezept für Ratatouille3 kaufte, das ich oft angewendet habe. Die
ausgiebige Rast war meiner Meinung nicht nötig, doch auch der Fahrer braucht Erholungszeit.
Nicht lange danach erblicken wir die ersten Häuser von Montpellier. Wir fahren von der
Autobahn ab und durchqueren diese große Stadt, die Hauptstadt des Départements Hérault in der
Région Languedoc- Roussillon.
Unser
erstes
Ziel
heute
Vormittag ist ein Weingut am
Ostrande von Montpellier, das
Château de Flaugergues.
Weinprobe. Wir wurden in
einem
Nebengebäude
zusammengenommen,
sammelten uns. Es schien mir,
als wären die Führungen, die
uns
bevorstand,
ein
wesentlicher
Teil
seines
Einkommens, so routiniert war
alles aufbereitet: ein Fernseher
mit Lautsprechern, Prospekte,
eine
Empfangsdame
in
flammend rotem Kleid, die uns
angestrengt anlächelte. Wir
lächelten
angestrengt
und
erwartungsvoll zurück.
1
Haute volée, frz. ironisch für: „Höhere Gesellschaft“, haut= hoch, voler= fliegen
Etang, frz. Teich
3
Ratatouille, frz. provenzalischer Gemüseeintopf
2
© Rolf Bührend, Februar 2003
Seite 89
Dann kam er, der Comte, Monsieur Henri de Colbert, begrüßte uns kurz in schnell dahin
genuscheltem Französisch, als interessiere es ihn nicht, ob wir das nun verstehen oder nicht.
Routine.
Es gab erst eine kurze Führung durchs gesamte Weingut, um einen Überblick zu gewinnen.
Das kleine Schlösschen lag idyllisch in einem
gepflegten Park. Niedrige, geometrisch exakt
verschnittene
Buchsbaumhecken
umsäumten
Rasenflächen, die rechts und links von hohen
Zypressen begrenzt sind. Am Eingang zu diesem
kleinen Schlossgarten plätscherte eine Fontäne
ihren dünnen Strahl in ein rundes Wasserbecken.
Rötlich- braune Kieswege führten zu einer Mauer,
die rechts und links einen Treppenaufgang zu einer
Terrasse verbarg, hinter der ein recht anspruchsloser
dreigeschossiger Bau aufragte. Ein längerer
Mittelkörper wird von zwei Risaliten gerahmt, das
Dach mit rotbrauner Mönch und Nonne gedeckt,
Montpellier, Château de Flaugergues
wie es in ganz Südfrankreich üblich ist.
Das Château gehört der Familie Colbert seit 1696. Im Innern soll es sehr schöne Möbel,
Gemälde und eine alte Bibliothek geben. Ich gehe die Außentreppe hinauf und genieße den Blick
zurück in den gepflegten Garten.
Dann folgten wir Monsieur in den mit subtropischen und tropischen Pflanzen besetzten Park. Am
Eingang dazu verwettete er eine Flasche Wein, wer diese Hecke beim Namen nennen könne: Ich
schämte mich meiner mangelnden Kenntnisse – ich hatte sie zuhause im Topf – eine Hecke aus
Myrthen! Er hatte wirklich erstaunliche Vielfalt zusammengetragen, Kokos- und Dattelpalmen,
Bambussträucher, einen Teich mit Lotusblumen, dann wieder in rotem Sand Agaven,
Wüstengräser, in Rindenmulch Zitronen- und Apfelsinenbäume…Es hatte ja auch hier geregnet,
und jetzt zu Mittag brannte die Sonne, und alles duftete, die blühenden Oleander übertrafen sich
gegenseitig, seltene Blüten überraschten uns aus dem Grün, kurz mochte man bleiben, sich
erholen, die Seele baumeln lassen.
Doch dazu waren wir nicht unterwegs. Bisher
hörten wir die Erläuterungen des begnadeten
Landschaftsgärtners Colbert, nun führte uns der
Viticulteur und Agriculteur4 Colbert. Wir gingen
hinten hinaus. Direkt hinter dem Schloss begannen
seine umfangreichen Weinfelder. Das Meer ist
nahe. Die Sonne des Südens wärmt, die von den
rollkieseligen Ton- und Kalkböden des Rhônedeltas
tagsüber gespeichert und nachts langsam abgegeben
wird. Alles das lässt hier Trauben reifen, deren
Weine seit 1985 in die Klasse A.O.C. (s. Seite 38)
eingestuft sind. Was mich erstaunte: die Rebstöcke
lagen niedrig am Boden. Der Grund: Sie werden
maschinell geerntet. Er zeigte uns stolz seine
Traktoren.
Dann versammelten wir uns zur Weinprobe. Fünf Sorten standen bereit. Etwa 20 Flaschen
standen auf einem Tisch. Zunächst erfolgte seine Einführung. Conny übersetzte brav. Wir hielten
jeder ein Glas in der Hand, das Mädchen mit dem roten Kleid und eine ganz schwarzhäutige
Schönheit gossen ein. Mr. De Colbert schaute stolz in unsere Reihen. Er wollte nun unsere
4
Viticulteur, Agriculteur: frz. Weinbauer und Landwirt
© Rolf Bührend, Februar 2003
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Geschmacksknospen prüfen. Wonach schmeckt dieser- und dieser? Wir hatten erfahren, welche
Traubensorten er anbaut, für mich zum Teil noch nie gehörte Namen:
Der 35 ha große Weingarten besteht aus den roten Rebsorten:
47% Grenache, 30% Syrah, 15% Mourvèdre, 5% Carignan, 3% Cinsault. Colbert stellt aber auch
Weiß- und Roséweine her. Die Weißweine setzen sich zu 80% aus Rolle(Vermentino), 10%
Grenache und 10% Marsanne &Roussanne zusammen.
Nun hatten wir das alles am Gaumen, auf der Zunge, zutzschelten es im Mund hin und her,
hoben die Gläser mit Kennerschaft gegen das Licht, steckten die Nasen in die Gläser,
schwenkten und beobachteten. Ein Weinkenner sagte einmal bei einer Probe: Wenn Sie ihn
hinunter schlucken, dann ist er weg!“ Weiter, eine neue Probe. „Rolf, willst du meins trinken, ich
kann nicht so viel!“ Das sind etwa zwei volle Gläser in 20 Minuten! Wir hatten seit dem
Frühstück nichts gegessen. Das Weißbrotkörbchen wurde dem Vordermann förmlich aus der
Hand gerissen. Die Welt wurde schöner. Eine angenehme Schwerkraft senkte sich auf die
Körper, verbreitete dumpfe Wohligkeit…
Nun aber wurden Preislisten, Angebotslisten ausgeteilt, herumgereicht, die Sache wurde
kommerziell. So schnell konnte ich gar nicht umschalten. Wir mussten aufstehen, wurden in die
Verkaufsräume geführt, wo es noch allerlei andere Sachen gab aus der Provence, Pasteten, Käse,
Souvenirs und natürlich Weine in allen Preislagen, vom Tafelwein bis zu den großen Grand cru
mit fünfjähriger Lagergarantie, verpackt in repräsentativen Holzkisten. Ich erstand auch eine
Flasche, auf die ich persönlich achte, dass sie ihren Platz im Weinregal nicht verlässt, bis…
Wir waren entlassen, durften auf dem
Vorplatz eine Mittagsrast halten. Ein großer
pechschwarzer Hund, lieb und zahm wie ein
Lämmchen, schaute uns gelangweilt
hinterher und döste auf den schattigen
Fliesen vor den Türen, so dass man fast über
ihn hinwegsteigen musste.
Bei laufendem Dieselmotor, Gott weiß warum das sein muss, holten wir uns von der
Marketenderin Conny jeder eine Bockwurst aus ihrem reichen Reservoir und vertraten uns
danach noch ein wenig die Beine. Beeindruckt haben mich der üppige Wuchs und die
übermannshohen, im leichten Wind wehenden Wedel des Pampasgrases.
Nun frisch gestärkt, aber etwas weinmüde, da wirkten die warmen Sitzpolster und das
gleichmäßige Motorengeräusch des Reisebusses wie Ammen, so dass nach kurzer Fahrt bald alle
in Schlaf gefallen waren. Es ging hinunter ins Rhônedelta in
XX. Die Camargue
N
un kamen wir dem Meere ziemlich nahe. Über Landstraßen niederer Ordnung erreichen
wir La Grand Motte, einen etwas anderen Ferienort, mit niedrigen kleinen neuen
Häuschen. Rechts und links und vor uns die flachen Etangs. Schon jetzt erblicken wir,
allerdings noch entfernt, Herden von Flamingos, ab und an steht ein Pferd im Pferch, Conny
weiht uns ein in die Sehenswürdigkeiten dieser in Europa ganz einzigartigen FlussdeltaLandschaft. Da sehen wir, es muss am Meer sein, den Leuchtturm von Aigues de Mortes, ein
gängiges Postkartenmotiv, das wir noch oft auf Bildern sehen werden. Eintritt Camargue.
© Rolf Bührend, Februar 2003
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Auf meiner Karte liegt der Ort im Landesinnern. Meine Frage „Warum Leuchtturm?“ ist mit
folgender Geschichte beantwortet:
König Ludwig IX. von Frankreich (Saint Louis IX.), dem Tugendhaftigkeit und Sittenstrenge
den Beinamen „der Heilige“ einbrachten, gelobte im Jahr 1244, nach Genesung von einer
schweren Malaria, einen Kreuzzug einzuberufen.
Da er an der Mittelmeerküste keinen eigenen, unabhängigen Kriegshafen besaß, umwarb er den
Abt der nahen, längst verfallenen Benediktinerabtei Psalmodi, ihm westlich des Rhonedeltas ein
Territorium abzutreten. Noch bevor das Abkommen perfekt war, ließ der König eine Stadt aus
dem Boden stampfen, in der er sich 1248 zum siebten und 1270 zum achten, für ihn tödlichen
Kreuzzug einschiffte: dies die Entstehungsgeschichte von Aigues-Mortes, der „Stadt der toten
Wasser“.
Man braucht heute, angesichts der sehr
stillen, abgelegenen Stadt, einige Phantasie,
um
sich
das
hektische
Getümmel
vorzustellen, das hier in Aigues-Mortes beim
Aufbruch
der
glaubensund
kampfbeflissenen Pilger und Kreuzfahrer ins
Aigues-Mortes mit Tour de Constance
Heilige Land geherrscht haben mochte.
Wie eine Fatamorgana ragte die Stadt mit ihren von Steuerfreiheiten und Privilegien angelockten
15.000 Einwohnern (heute sind es knapp 4 000) aus Sand, Sümpfen und Lagunen auf, einzig von
der runden Tour de Constance geschützt. Das also ist der sagenhafte „Leuchtturm“. Er sieht aus
unserer Busperspektive aus wie ein übergroßer Holzzuber mit einseitigem Henkel.
Die 1.700 Meter lange, perfekt rechteckige Stadtmauer, die heute die Hauptsehenswürdigkeit
von Aigues-Mortes ausmacht, wurde dann zwischen 1270 und 1314 von Ludwigs Nachfolgern,
dem "kühnen" und dem "schönen" Philipp, angelegt. Katholischer Glaubenseifer also als Anstoß
zur Gründung einer Stadt, in der besonders die Hugenotten für ihre religiöse Überzeugung leiden
sollten.
Die Tour de Constance mit dem sanften Namen wurde vom 16. bis zum 18. Jahrhundert zum
düsteren Kerker für glaubensfeste Protestanten.
Von trister Berühmtheit ist die Geschichte um
Marie Durand, deren Gottesglaube trotz
38jähriger Haft nicht gebrochen werden
konnte: Sie war als 15jähriges Mädchen in
diesem Turm eingekerkert worden und verließ
ihn 1768 als 53jährige Frau.
Als der Hafen jedoch verschlammte und
schließlich austrocknete, zerrann auch der
Wohlstand. Heute liegt der Ort 5 km vom
Meer entfernt, und die Bevölkerung ist auf ein
Drittel von damals geschrumpft. Was aus den
glorreichen Tagen blieb, soll jedoch äußerst
eindrucksvoll ein. Also ein lohnendes
Reiseziel nahe der Camargue!
Wir aber halten heute in Les-Saintes-Maries-de-la-Mer, Capitale de la Camargue. Natürlich habe
ich mir auch einiges zur Historie dieses Ortes zusammengetragen und schicke es meinen
persönlichen Erlebnissen vorneweg:
In dem malerischen Fischerdorf Les-Saintes-Maries-de-la-Mer in der Camargue befindet sich
die bedeutendste Wallfahrtskirche Südfrankreichs. Folgt man der aus dem 13. Jahrhundert in
einem Breviarium der Diözese Aix überlieferten Wallfahrtslegende, so sind 45 n. Chr. die beiden
Schwestern der Gottesmutter Maria Kleophas, Mutter der Apostel Jakobus d. J. und Simon
Zelotes, sowie Maria Salome, zusammen mit Maria Magdalena, Martha und Lazarus von
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Juden in Palästina auf einem segellosen Schiff ausgesetzt worden, das nach langer Irrfahrt bei
Marseille gelandet ist. Sie wurden gerettet und haben die Provence christlich missioniert.
Zentrum ihres Kultes wurde diese 542 bei Caesarius von Arles erwähnte Kirche Notre-Damedu-Radeau; seit 1838 heißt sie Notre Dames de la Mer.
Im 10. Jahrhundert hat hier vermutlich Graf Guillaume nach der Vertreibung der Sarazenen eine
befestigte Kirche errichtet.
1078 gründete die Abtei Montmajour ein Priorat. Um 1170/80 entstand der einschiffige
Kirchenbau mit seiner halbrunden Apsis, dem um 1200 Zinnenkranz und Wehrgang als Schutz
gegen Seeräuber ein bastionartiges Aussehen verliehen.
1448 hat König Rene I. d'Anjou die Reliquien der Heiligen
wieder aufgefunden. Dabei befand sich auch der Leichnam der
schwarzen Sara, die der Legende nach die drei Marien im Boot
gerettet hatte.
Daraufhin wurde die Kirche umgebaut. Ihr Festungscharakter war
überflüssig geworden, so dass man den aufragenden Wachturm für
die Seebeobachtung mit einer Michaelskapelle in eine Hochkapelle
umwandelte, wo man die Reliquien aufstellte. Außerdem ließ Rene
eine Krypta hinzufügen, das östliche Langhaus erhöhen und den
Eingang nach Westen verlegen.
Die Krypta ist der Verehrung der schwarzen Sara gewidmet,
deren Kult kirchlich nicht anerkannt ist, die aber wegen ihrer
Die Schwarze Sara
dunklen Hautfarbe zur Patronin der Zigeuner wurde.
Angehörige der Sinti und Roma treffen aus allen europäischen Ländern am 24. Mai in großer
Zahl in dem Ort ein und veranstalten am Vorabend des Hauptfestes ohne kirchliche Beteiligung
eine Prozession zu Ehren ihrer Patronin, bei der die Figur von in langen, ungegürteten Alben
gekleideten Kirchendienern aufs Meer hinausgetragen wird.
Beim Hauptfest am 25. Mai, dem Gedächtnistag der Maria Kleophas, nimmt meist der
Diözesanbischof an der Wallfahrt teil.
Seit 1862 beginnt das Fest mit einer Vesper am Vorabend; dabei wird der Schrein an einer
Winde aus der Hochkapelle herabgesenkt und von den unten in der Kirche weilenden Pilgern mit
dem Ruf »Vivent les Saintes Maries« freudig begrüßt.
Um Mitternacht wird der Kreuzweg gebetet, von drei Uhr früh an werden Messen zelebriert; für
die Zigeuner finden sie in der Krypta statt.
Nach dem Hochamt um 10 Uhr wird eine Prozession veranstaltet, in der die Segnung des Meeres
durch den Bischof von einem Boot aus im Mittelpunkt steht. Die Figuren der Marien werden von
Reitern umgeben aufs Meer hinaus getragen.
Die Bevölkerung schürzt ihre Gewänder und schreitet ebenfalls ein paar Schritte ins Wasser
hinaus. Wenn der Bischof den Segen erteilt, tauchen die Sinti und Roma ihre Kinder in die Flut,
die dann ihrer Meinung nach segenskräftig ist.
Bei dem Fest am 22. Oktober, dem Gedächtnis Maria Salomes, findet eine Wallfahrt ohne
Zigeuner statt.
Am letzten Sonntag im Juli werden die Schimmel der Gardiens5 des Courses provencales auf
dem Kirchplatz gesegnet.
Anschließend erhalten auch die Stiere in der Arena den kirchlichen Segen. Hier wird deutlich,
dass die Camargue Weideland für die berühmten Stiere der Arena von Arles ist.
5
Gardian, frz. berittener Viehhüter in der Camargue, entweder der weißen Pferde oder der schwarzen Stiere
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So oder so ähnlich hatte uns Conny auf der Fahrt hierher eingestimmt, wobei nach und nach sich
jeder im Bus aus der bleiernen Umarmung der fünf Weine des Monsieur Colberts befreite.
Wir bekamen noch einige Tipps und etwas Zeit, bis wir uns 14.30 Uhr am Bootshafen treffen.
Vom Busparkplatz zum Meer waren es nur
wenige Schritte. Dann überwältigte mich wie
ein Hammer die Sicht auf das blaue Mittelmeer
und den Mastenwald der Segler, die sich leicht
im Wasser wiegten. Die Takelage und die Segel
spielten ihre geheimnisvollen Klimpermelodien
miteinander, die Rümpfe schepperten müde an
den Gummipuffern, Wasser klatschte an den
Betonpier. Das Meer lag ruhig und bewegte sich
nur ganz leicht. Vor uns lag der Port Gardian.
Hier sollten wir bald zu einer Schiffstour zum
Die grüne Fläche ist die Camargue
Kleinen Rhône starten. Ich habe mich erkundigt:
Der Rhône ist für die Franzosen männlich, sowohl der Kleine (Le Petit Rhône) als auch der
Große (Le Grand Rhône). Da es für uns ungewohnt ist, werde ich sie feminin behandeln.
Wir folgten der Hafenstraße, der Rue Théodore Aubanel, die erst einem kleinen Platz wich, dem
Square Baroncelli.
Die Namen Aubanel und Baroncelli haben auch eine Geschichte, die ich mir aus dem alles
wissenden Internet geholt habe. Sie weckt das Verständnis für diese Landschaft und bringt
Vieles näher, was an heutiger Ausstrahlung auf mich Fremden einwirkt. Hier ist sie:
Folco de Baroncelli, Der Marquis - "Lou Marqués"
Er lebte von 1869 bis 1943. Er kam in Avignon auf die Welt als Marie-Lucien-Gabrile-Folco de
Baroncelli-de Javon. Seine Mutter war Marie-Caroline-Henriette-Thérèse-Marguerite-ElisabethLouise de Chazelles-Lunac, Patentochter der Herzogin von Berry und sein Vater ihr Ehemann
Raymond de Baroncelli. Doch später als Erwachsener verzichtete er auf Ruhm, Wohlstand und
ein bequemes Leben und wohnte in einer Hütte oder in seinem kleinen weißen Haus von Cailar
an der Grenze zwischen der Camargue und dem Languedoc. Im Rhonedelta wollte er leben und
dereinst auch begraben werden, zutiefst in jenem seltsamen Land, das die Welt nie ganz
verstehen kann.
Die ersten Kinderjahre verlebte er im Palast seiner Ahnen in Avignon. Es kam jedoch, dass er
mehr und mehr bei seiner Großmutter zuhause war, bei der Comtesse de Chazelles in Bellecôte
oder Mas de Laïau nicht weit von Nîmes. Sie lehrte ihn das Provenzalische und achtete darauf,
dass er Bräuche und Menschen respektierte. Sie legte in ihm den Grund für seine Liebe zu der
Camargue. Er war auf der Mas meist mit den Gardians und mit den Tieren zusammen und fühlte
sich zu ihnen hingezogen. Sie nahm ihn auch auf die Wallfahrt nach Saintes-Maries mit, wo er die
Zigeuner, die Fahrenden kennen lernte und sie gleich mochte. Und sie mochten ihn und daraus
wurde eine tiefe Freundschaft. Während seines ganzen Lebens bewahrte er seine sanfte Geduld
gegenüber diesem Volk, das ihn als Kind unter sich geduldet hatte. Er war den Menschen, die
von so vielen verachtet wurden, immer wohlgesinnt.
6
Schließlich lebte er wieder in Avignon, traf da mit den bedeutenden Leuten der Félibrige
zusammen, den Vorkämpfern für die provenzalische Kultur, darunter Frédéric Mistral. Er schrieb
7
Prosa und Gedichte und begann doch auch, seine Manade aufzubauen. Um die Zeit 1890/1900
war eigentlich alles, was mit Traditionen zu tun hatte, beinahe ausgestorben oder es wurde als
nicht viel wert angesehen. In der Camargue gab es immer mehr Kreuzungen zwischen den
Camargue- Tieren und anderen Rassen. Er selber sah es für wichtig an, die reinen Tiere zu
züchten, um die Art zu erhalten, die auch am besten in diesem Land überleben konnte.
1904 wurde die "Nacioun Gardiano", die Bruderschaft der Gardians gegründet, sowie die später
mit ähnlichen Zielen geschaffene Gesellschaft "Lou Riban de Prouvènço" (Band der Provence).
6
Félibrige, Literarische Schule, gegründet 1854 von einer Gruppe von Schriftstellern (Mistral, Roumanille,
Aubanel), mit dem Ziel, die provenzalische Sprache in den Rang einer Literatursprache zu erheben, benannt nach
Félibre, einem Poeten und Prosadichter in der Sprache des Langue d’oc
7
Manade, span. Manada = Herde von weißen Pferden oder schwarzen Stieren in der Camargue
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Seit 1912 führte Baroncelli das Spiel der vier Reiter durch, das er "L'Espervier" (der Sperber)
nannte.
So baute er schließlich seine Zucht auf und bewahrte die Traditionen und die Kultur und
begeisterte mit der Zeit auch andere dafür. Aber es gab immer wieder Rückschläge, und es war
alles andere als ein einfacher Kampf. Er wurde oft belächelt, oft nicht ernst genommen, oft sah es
so aus, als könnte es nicht gelingen. Der erste Weltkrieg machte wieder alles zunichte, und er
musste ganz von vorne beginnen, was bis dahin immerhin schon aufgebaut worden war. Damals
wurde davon gesprochen, die Abrivaden und andere Bräuche ganz fallen zu lassen. Aber er
kämpfte weiter dafür. Er lebte mit den Gardians und nicht als adeliger Herr. Er gehörte ganz zu
ihnen und eroberte auf diese Weise ihren Respekt und ihre Achtung.
Als ihn einmal ein reicher Bankier fragte, was er mit Reichtum anfangen würde, antwortete er:
"Ich würde die Camargue für meine Freunde in den Saintes-Maries-de-la-Mer kaufen und den
Leuten von Cailar alle Weideplätze an den Ufern des Vistre schenken." Der Mann wollte wissen,
was denn für ihn selber. Darauf kam die Antwort: "Ich hätte gar keine Wünsche mehr, wenn
meine Tiere wohlgenährt und meine Freunde zufrieden wären. Was ich selber brauche, mein
Herr, lässt sich nicht mit Geld kaufen." Seine Haltung rechnete ihm das Volk der Camargue hoch
an. Er führte auch viele schon vergessene Bräuche und Feste wieder ein, weil sie wichtig für das
Land waren.
Nach dem ersten Weltkrieg folgten viele festliche Veranstaltungen in der Provence und im
Languedoc, die Baroncellis Land und ihn selber in aller Welt berühmt machten. Damals hatten
seine Stiere die größten Erfolge in der Arena, und nach einigen Jahren des Erlahmens weckten
die Stierspiele wieder die frühere Begeisterung der Volksmenge.
Seine berühmtesten Stiere: Provence und Vovo.
1930, als man den hundertsten Geburtstag von Frédéric Mistral festlich beging, war eine Zeit des
wirklichen Hochs auch für Baroncelli und seine Anliegen. Er zeigte vor vielen wichtigen Leuten
die Pferde- und Stierspiele der Provence. Eine Zeit des größten Triumphes.
Dann kam die Zeit des Alterns. Schwere Unfälle, eine Lungenentzündung, von der er sich
einigermaßen wieder erholte, aber am meisten zu schaffen machten ihm die Schändlichkeiten der
Welt. Der zweite Weltkrieg kam. Baroncellis Gesundheit litt auch sehr unter dem Entsetzen über
das Weltgeschehen. Und außerdem drangen fremde Truppen in die Camargue ein, sein Mas
wurde besetzt, er verlor dabei viele wertvolle Schriftstücke. Man schlachtete täglich Tiere aus
seiner Herde und aus der seines Schwiegersohnes Henry Aubanel. Es war ein qualvolles
langsames Sterben.
Doch er blieb ein Kämpfer und starb als solcher. Er fasste den Plan, mit den übrig gebliebenen
Tieren ein Spiel vor den Kriegsgefangenen zu veranstalten. Er ritt also zum letzten Mal nach
Toulon. Seine Pferde liebte er so sehr, dass er sie bei Transporten in Eisenbahnwaggons immer
selber begleitete. Nun geschah bei Rognac ein Zusammenstoss. Er wurde zu Boden geworfen
und von einem Pferd am Bein verletzt. In Toulon sagte er aber niemanden etwas von der
Verletzung. Die tiefe, bis auf die Knochen reichende Wunde infizierte und entzündete sich. Nach
der Rückkehr von diesem letzten Reiterspiel musste er das Bett hüten.
Er starb am 15. Dezember 1943.
Unter den Trauernden waren alle Schichten des Volkes vertreten: Arme und Reiche, Niedere und
Adelige, Zigeuner und Gardians und sogar Offiziere in Uniformen. Obgleich das Tragen von
Uniformen von der Besatzungsmacht verboten war, kümmerte sich an diesem Tag niemand
darum.
Sein Heim, der "Simbèu" war nicht mehr. Schwer getroffen litt die Camargue unter der
Besetzung. Als endlich der Krieg ein Ende nahm, blutete sie aus vielen Wunden: Minenfelder,
Gräben, Stacheldraht, Fußangeln, Zerstörung. Die Stiere waren in die Crau geflohen, wo auch
die letzten Pferde ein klägliches Dasein fristeten. Von der ganzen Herde überlebten nur einige
wenige Tiere.
Doch eines Tages gab es den Simbèu wieder, nicht genau an der gleichen Stelle, an der der alte
gestanden hatte, aber genau nach dessen Art wieder gebaut. Die Stiere und Pferde kehrten
zurück. Und als man die erste Abrivade durchführte, schöpften alle neue Hoffnung, die gemeint
hatten, dies alles nie mehr zu sehen.
Und dann ging man daran, Baroncellis letzte Ruhestätte dort zu bauen, wo er bestattet sein wollte
8
- inmitten seiner Herden im Frieden der Sansourïs . Es ist die letzte Wohnung dessen, der schon
8
Sansouïr, frz. Salzsteppe
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als Kind die Sonne mit fröhlichem Lächeln begrüßte, und es soll ihr deshalb nichts Trauriges
anhaften.
An einem schönen Julimorgen des Jahres 1951, am Tag vor dem Vierginenco- Fest, schmückt
sich Arles zum Empfang ihres Meisters.
Sechzig Reiter, mehr als hundert Gardians und fünfzig Razeteurs begleiten den Kondukt, der die
Rhone überschreitet und seinen Weg durch die Camargue nimmt. Nun ist Baroncelli wieder in
seinem Reich.
Die Zigeuner erwarten den Zug. Diese Nacht wird Baroncelli wieder unter ihnen sein in der Krypta
der heiligen Sara, wie das erste Mal vor unzähligen Jahren. Am nächsten Morgen drängt sich die
Menge zur Kirche. Überall sieht man die Dreizacke der Gardians und die Trachtenhauben der
provenzalischen Mädchen. Aus aller Welt sind alte Freunde und Verehrer Baroncellis gekommen.
Das Heimatlied "Coupo Santo" erklingt. Unter der Eskorte von hundert Gardians und vieler
Camargesen und Zigeuner tragen sieben Gardians - die letzten sieben, die Baroncelli gedient
hatten - den silberbeschlagenen Sarg auf ihren Schultern zur Grabstätte, die im
Abendsonnenschein leuchtet.
Seinen letzten Willen hat Baroncelli zwei befreundeten Zigeunerführern anvertraut:
"Wenn die Zeit gekommen sein wird, sollt ihr meinen Leib in der Erde der Saintes-Maries
begraben, den Kopf gegen die Herdstelle gelehnt, die das Symbol meines glühenden Lebens ist,
und die Füße gegen die Kirche der heiligen Frauen gerichtet. Denn dort will ich ruhen."
Ein Sonnenstrahl trifft den Stein und lässt das Wappen Baroncellis golden aufleuchten. Es trägt in
provenzalischer Sprache den Spruch:
"RACO D'O, TANT QUE T'A JOUNENCO AU TAU GARDARA SA CRESENCO, IEU
PROCUMENTE, SARAI TOUN BREU E TOUN BLOUQUIE"
"Geschlecht von Oc, solange deine jungen Männer ihren Glauben an die Stiere bewahren, will ich
dein Schild und Talisman sein".
Das ist die rührende Geschichte eines großen Sohnes der Camargue, Folco de Baroncelli, der
dieses Stück Natur mit seinen charakteristischen Tieren, den weißen Pferden und den schwarzen
Stieren und seinen Bräuchen, Traditionen und Festen zu dem gemacht hat, was wir heute
vorfinden.
Ich müsste, als wir unmittelbar neben der Stierkampfarena eine öffentliche Toilette suchen, auch
noch etwas zu den Stierkämpfen sagen. Ich erwähnte schon, die französischen sind anders als die
spanischen, aber ich war nicht dabei, also lasse ich es.
Wir besteigen also das Schiff, „Les Quatre
Maries“, und voll gespannter Erwartung
verlassen wir den von einer Molenzunge
geschützten Hafen. Wir schwammen auf dem
Mittelmeer! Was für ein Gedanke. Ein
winziges Stück auf offenem Mittelmeer. Wir
tuckerten westwärts, das Boot begann etwas
zu schaukeln, auf die Mündung des Kleinen
Rhône zu. Am Fuße der mächtigen
Felsblöcke, die die Hafenmauer bilden,
warfen Angler ihre weiten Angeln aus.
Ich sah an den weißen Knöcheln einiger Fäuste, die sich um die Reeling oder andere Stangen
klammerten, dass der Wellengang des offenen wenn auch küstennahen Meeres nicht jedermanns
Geschmack war. Ich schaute besorgt auf Martina. Ihr schien es noch zu bekommen.
Die Schaukelei hörte auf, als wir plötzlich nach Norden abbogen und rechts und links die Ufer
der kleinen Rhône auf uns zukamen. Nun begann das einzigartige Naturschauspiel, dem
allerdings hier am Tage viele Dutzend Male auf vielen Booten Zuschauer zugeführt werden. Die
Folge ist, dass man die eigentlichen Akteure, die vielen Vertreter der Tierwelt, nur versteckt
sieht. Die Vögel kennen die Menschen. Sie haben ihre Fluchtdistanz. Was kann ich bei dieser
Fahrt flussaufwärts nu beobachten? Monoton klingt das Geräusch des Schiffsdiesels. Wir sitzen
vorn. Vor uns rauscht das grünliche Wasser des Flusses, teilt sich am Bug und hinterlässt hinter
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uns beträchtliche Wirbel, die schnell die Ufer erreichen und die dortigen Wasservögel in ihrer
Ruhe aufscheuchen oder überhaupt nicht stören. Ich nahm mein Fernglas und suche die
Randzonen des Ufers ab. Achtung dort, ein Fischreiher! Der erhebt sich und entschwebt mit zwei
drei mächtigen Flügelschlägen ins nahe Gebüsch. Routine für ihn. Möwen schwärmen aufgeregt
um unser Boot.
Für sie sind wir interessante Abwechselung für ihre
karge Flussnahrung. Vielleicht, ja eigentlich immer
fällt für sie etwas menschliches Futter ab.
Auf einem ausgebleichten Baumstamm, sicher vom
letzten Hochwasser hier angespült und Teil des
Ufers geworden, steht stolz, den Kopf uns
abgewandt, ein Silberreiher. Wir gleiten vorbei in
kurzer Distance. Er zögert, bleibt dann aber stehen,
hält ein Auffliegen für zu energieaufwendig. Ein
erfahrener Vogel. Hier kann ihm nichts passieren.
Da am linken Ufer plötzlich sehen wir ihn, den Taureau, den ersten schwarzen Stier! Er guckt zu
uns, nicht sonderlich beeindruckt. Schiffe sind für ihn ebenso gewohnte Begegnung wie vorhin
dem Vogel. Aufgeregt fotografiere ich was das Zeug hält. Zuerst sehe ich nur den Stierkopf aus
dem dichten hohen Gebüsch herausragen. Unbeweglich wie eine in die Natur eingefügte Trophäe
sieht er aus, wie ein Denkmal. Dann tritt er
heraus und zeigt sich in seiner ganzen Größe. Er
weidet das Gras am Ufer, das besonders fett ist.
Aufmerksam beobachtet ihn ein Kuhreiher.
Symbiose oder Zufall, dass sie so nahe
beieinander sind?
Das dichte Ufergebüsch lichtet sich zeitweise.
Wir können nun weiter landein eine ganze Herde
der schwarzen Stiere sehen. Alle tragen sie die
Hörner nach vorn und oben gebogen, vorn
gefährlich spitz zulaufend. Übrigens, ganz
schwarz sind sie nicht, eher ins dunkle rötlichbraun gehend. Sie tragen jetzt Sommerfell.
Nun muss man nicht glauben, dass sich zum Wohle und Attraktion der Touristen alle wilden
Tiere hier bei jedem vorbeifahrenden Schiff am Ufer wie zur Parade zeigen. Die höher gelegenen
Salzsteppen sind durchweg trockener als die Uferzonen hier und tragen einen kargen Bewuchs.
Hier wird der größte Teil der berühmten Camargue- Stiere und der halbwilden Pferde gezüchtet.
In den Steppen wird teilweise auch Reis, Mais, Weizen und Wein angebaut, und an einigen
Stellen finden sich Salzpfannen und Salzwasserlagunen, auf denen viele seltene Vogelarten
brüten: Flamingos, Dünnschnabelmöwen, Lachseeschwalben, Tafelenten, Stelzenläufer und
Säbelschnäbler.
Der Fluss zieht viele an, doch in der großen Fläche dieses großen Naturparks Camargue leben
noch viele Vogelarten, die bei uns fast schon als ausgestorben gelten: Sperber, Milan, Seeadler,
aber auch Kormorane, die die Fischer nicht so lieb haben, weil sie ihre Konkurrenten sind,
Löffelreiher, Schmuck- und Brautenten, Bekassinen mit ihren langen Schnäbeln und viele
andere.
Die Sumpf- und Seenlandschaft der Camargue im Delta der Rhone gehört zu den drei
bedeutendsten Feuchtgebieten Europas. Es ist ein Gebiet von außerordentlichem botanischem
und zoologischem Interesse - allein über 300 Zugvogelarten sind hier schon belegt.
In den Süßwassersümpfen leben Rohrdommeln, Zwergdommeln, Purpur-, Nacht-, Rallen-, Kuhund Seidenreiher sowie Rohrweihen. Weitere Brutvögel sind die Bienenfresser, die Blauracken
und die Häherkuckucke. Steht in der Literatur über die Camargue und gehört gewusst. Und noch:
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Die Camargue, zweifellos eines der wichtigsten Vogelschutzgebiete in ganz Europa, besitzt
zudem eine faszinierende Amphibien-; Schlangen und Echsenfauna und eine Fülle von Insekten
und anderen Wirbellosen. Es gibt verschiedene Eulenarten, unsere heimatlichen Störche halten
hier ihr Winterquartier Auf den Etangs halten sich Hunderte, ja Tausende von rosa Flamingos
auf, die in dem salzigen Wasser gründeln und das Plankton herausseihen. Der Ornithologe findet
hier 60 ha geschützte Fläche und kann hier seine Beobachtungen anstellen.
Uns begegnen andere Ausflugsboote, die zurückkommen. Die Fahrt dauert etwa eineinhalb
Stunden. Das ist ganz ordentlich lang. Wir gewöhnen uns an die schöne Landschaft. Wieder ein
paar Stiere, direkt am Ufer. Der Fluss führt wenig Wasser, Folge des trockenen heißen Sommers.
An seinen Flanken künden eingestürzte Hochufer und angespülte Baumstämme von der
reißenden Kraft des Wassers bei Hochstand. Dann gelangen wir zum Umkehrpunkt unserer
Fahrt. Das Boot legt an und macht an einer Reihe in den Fluss getriebener Baumstämme fest.
Wir dürfen aber nicht von Bord. Direkt vor uns liegt die Koppel einer größeren Herde, nun sehen
wir auch die berühmten weißen Pferde. Es sind auch Stiere dabei. Man sagt, die unterschiedliche
Intelligenz lässt sie gute Kameradschaft halten. Wovor nun die eine Art die andere bewahrt, ist
mir entfallen.
Jetzt zaubern warmherzige Frauen Brot und Brötchen herbei und locken so die Tiere direkt ans
Ufer. Ob es ihnen gut tut? Es sieht hier alles sehr schmutzig aus. Pfützen vom letzten Regen
verschlammen den Boden, in den die Tiere ihren Kot getreten haben. Ihre Felle sind ruppig und
räudig. Ich bin ein wenig enttäuscht. Ich muss bedenken, dass sie bei Wind und Wetter hier
draußen sind. Nach dem Fotogewitter entspanne ich mich. Wir haben die Attraktionen der
Camargue gesehen, ihre Aushängeschilder, einige Vogelarten, die Pferde und die Toreaus, die
Stiere. Nach einer kurzen Pause legt unser Boot wieder ab und tuckert, nun mit halber Kraft, die
Strömung nutzend, wieder zurück.
Naturschutzgebiet
Camargue
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Der Regionalpark umfasst das gesamte Gebiet südlich der Stadt Arles zwischen der Petit und
der Grand Rhone. In seinem Zentrum liegt der große Etang de Vaccarès, der zusammen mit
den Seen und Sümpfen südlich des Etang das staatliche Naturreservat bildet. Die ökologischen
Verhältnisse der Camargue sind sehr vielgestaltig, denn der Park umschließt Brackwasserseen,
Uferwälder, Dünen, Küstengebiete und Salzsteppen (Sansouire), und dazu kommen noch
vereinzelte brackige Tümpel und Sümpfe.
Zwei weitere wichtige Reservate liegen in dieser Region: Das so genannte Kaiserliche Reservat
ist im Westen des staatlichen Reservats gelegen; es besteht vorwiegend aus Wasser und wird von
der Stadtverwaltung von Les-Saintes-Maries-de-la-Mer unterhalten; das andere befindet sich
im Osten und beherbergt die Biologische Station Tour du Valat unweit von Le Sambuc. Die
Station ist Privateigentum und zuständig für die Erforschung der Biologie der Camargue, vor
allem des interessanten Vogellebens.
Eine für Mensch und Tier sehr wichtige Pflanze ist das Schilfrohr. Es ist im Süßwasser fast
überall dominant, dient als Versteck, Lebensraum und Nistplatz für Vögel, als Futterpflanze für
Pferde und Rinder sowie zum Decken der traditionellen weiß gekalkten Häuser der Gardians.
Schilfdächer finden sich allerdings mittlerweile vor allem auf den touristisch genutzten
Cabanes9.
Manche Besucher, die die Camargue nur aus der Bildbandperspektive kennen, sind enttäuscht,
nicht mehr Vögel zu sehen.
Wir bekamen aber relativ viel zu sehen. Ich war begeistert von der Fahrt, sie vermittelte einen
ersten Eindruck und stellte eben diese Bilderbuchwerbung ins rechte Licht. Die Pferde sind nicht
ganz weiß, die Stiere nicht ganz schwarz. Und dennoch ist die Camargue eines der letzten
Refugien – wenn auch nicht unberührter – Natur.
Auf der Rückfahrt konnte ich die seltsame
und ehemals sehr wehrhafte Kirche in
voller Breite bewundern. Dort mussten wir
hin! Wir legten an und bekamen Freizeit.
Die Stadt war sehr belebt. Martina zog es
in den engen Straßen in die Boutiquen mit
Kleidung, ich zog den köstlichen Duft
frischer Backwaren in die Nase und rang
mit meinem Appetit. Letztendlich trennten
wir uns, nachdem ein genauer Treffpunkt
ausgemacht war. Etwa an der Post, am
Kreisverkehr,
steht
ein
Denkmal,
charakteristisch für die Region: Ein Lanze
tragender, überlebensgroßer Gardian treibt
einen Camargue- Stier. In doppeltem Sinne herausragend sind die langen spitzen, nach oben
zeigenden Hörner.
Ich löse ein Ticket für 2 Euro und steige hinauf auf das Kirchendach. Saint-Maries-de-la-Mer
liegt mir zu Füßen. Ich blicke hinunter in das Gewimmel der engen Gassen, der Blick schweift
dann über die roten Dächer, über den Mastenwald im Seglerhafen unendlich weit hinaus auf das
in der späten Nachmittagsstunde silbern glitzernde Mittelmeer. Ich steige über den Dachgrat –
man muss Acht geben, dass man nicht abrutscht - blicke mich auf der Landseite um. Es ist
unbeschreiblich, dieser Blick über das flache Land der Camargue bis zum Horizont. Belohnung
für den Aufstieg und weiterer Höhepunkt des Tages.
Martina winkt mir von unten. Ich steige ab. Nun will ich in die Kirche hinein.
9
Cabane, frz.Hütte, Baude, Häuschen, Bude; in der Camargue typisches, schilfgedecktes, weiß getünchtes
Wohnhaus
© Rolf Bührend, Februar 2003
Seite 99
Was mich in dieser Kirche beeindruckt sind Bilder, Bilder
unter Glas, die alle einen einzigen Inhalt haben: Die
wundersame Errettung der vier Marien durch die schwarze
Sara. Man sieht in schäumende Gischt gehüllte Boote mit
händeringenden Frauen, umgeben von seltsamen aber
hilfreichen Wundererscheinungen am Himmel, geflügelte
Frauen. Der Marienkult ist in der christlichen katholischen
Kirche weit verbreitet. Dann die Krypta. Man sieht sie im
Altarraum, geht ein Paar Stufen hinunter und – fängt an zu
schwitzen. Hier sind tropische Temperaturen durch die
unzähligen Kerzen, zu denen jeder gläubige Besucher
mindestens eine hinzufügt. Der Sauerstoff ist knapp. Man
ringt bald nach Atem und muss wieder hoch, hinaus, an die
frische Luft. Am Ausgang grüßt noch ein Heiliger in frommer
brauner Kutte mit Kapuze. Ist es der Heilige Franziskus? Er
trug jedenfalls ein Franziskaner- Habit, aber einen weißen
Strick. Hier trägt er ein schwarzes Band um die Hüften. Sein
Geheimnis bleibt mir verborgen.
Wir versammeln uns alle wieder und werden nun noch etwa 70 km bis nach Nîmes fahren. Wir
tangieren Arles, halten aber nicht an. Arles, das Herz der Provence. Vincent van Gogh.
Stierkampf. Ich muss meine Gedanken ordnen. Von wo sind wir heute eigentlich gestartet? Von
Carcassonne!
Es waren 289 km, drei Stunden reine Fahrzeit, aber wie viel Erlebnisse lagen dazwischen! Wir
steuerten in Nîmes in einem Gewerbegebiet einen nüchternen Zweckbau an. Billig- Quartiere.
Unterbringung mit Massencharakter. „Nîmotel la brandade“. Kofferschleppen. Zimmerbezug.
Einige Hundert Leute in einem gepresst vollem Speisesaal. Massenabspeisung, die man schnell
vergessen möchte. Bettgang. Augen zu: Bilderparade des Tages.
XXI. Nîmes
Dienstag, 9. September 2003
er Nîmes kennen lernen will, muss sich einige Tage hier aufhalten. Und wer einen Ort
so richtig in seiner Lebensart erfahren möchte, muss Kontakt zu seinen Bewohnern
haben, und das nicht nur für kurze Zeit. Das blieb uns auf dieser Reise für alle Orte
versagt, die wir berührten. Berührung ist wohl ein zutreffender Begriff, der unser Erleben
veranschaulicht. Wir durften die Orte nur sehen, berühren, mit den Füßen ertasten. Erleben ist
etwas viel Intensiveres. Da kommt die Sprache hinzu, mit der ich vertraut werden möchte. Ich
durfte mich orientieren, ein erstes Bild aufnehmen, meine bisherigen Vorstellungen von diesen
Orten damit verquicken. Das ist schon viel, ein guter Anfang. Etwas bleibt dann haften. Die
großen Klischees ordnen sich ein. Die kleinen persönlichen Erlebnisse fügen sich hinzu. „Weißt
du noch? Du musstest damals so dringend, wie lange wir gesucht haben…?“ Das macht es auch
aus, das Reisen.
Nîmes ist Hauptstadt des Départements Gard im Languedoc-Roussillon. Nîmes ist eine 2000 Jahre
alte Römerstadt, eine der wenigen Städte Frankreichs mit dem Zirkumflexzeichen über dem i,
dem „accent circumflexe“. Antike Bauwerke aus dieser Zeit sind noch heute erhalten: Das
Amphitheater, das Maison Carrée, der Tempel der Diana, ein Stück römische Stadtmauer und vor
allem der Aquädukt Pont du Gard. In Nîmes sagen sie von sich selbst:
W
" Nîmes est posée sur un carrefour d'Histoire et d'échanges humains… Passage obligé du Rhône
vers l'Espagne, de l'Espagne vers l'Italie, de l'Océan à Rome ou à Venise, Nîmes a bien été
obligée d'épouser l'histoire de l'Europe : tous les pèlerinages, toutes les guerres, toutes les
invasions, tous les commerces sont passés dans sa plaine (...)" Christian Liger (Nîmes sans visa)
" Nîmes liegt auf einer Straßenkreuzung von Geschichte und Menschenströmen… Die Passage führte von
der Rhone gegen Spanien, von Spanien gegen Italien, vom Ozean in Rom oder Venedig; Nîmes ist immer
verpflichtet gewesen, sich an die Geschichte Europas zu binden: alle Wallfahrten, alle Kriege, alle
Invasionen, aller Handel sind in seiner Ebene vorbeigegangen...“ Christian Liger (Nîmes ohne Visum)
© Rolf Bührend, Februar 2003
Seite 100
Eine Stadtführerin geleitete uns ein knappes
Stündchen in der Römerstadt Nîmes, dem
antiken Nemausus, um uns einen Hauch
davon zu zeigen. Es war noch früh, gegen 9
Uhr. Leider gingen wir vorbei an dem
mächtigen Kolosseum. Es ist 133 m lang
und 101 m breit. Die zweistöckige Fassade
mit 60 Arkaden ist 21 m hoch und trägt
Traversen, die insgesamt 20 000 Menschen
Platz
boten.
Jagdspiel,
Tierund
Gladiatorenkämpfe fanden hier statt. Es ist
gut erhalten, war in der Antike durch Zelte,
die an Seilen über das Oval gezogen
wurden, überdacht. Heute wird es im Winter
ähnlich mit einem mobilen Überbau
geschützt. Bei Veranstaltungen fasst es
heute noch etwa bis 7000 Personen. Im
Nîmes, Amphitheater
Vorbeigehen höre ich das imaginäre
Brausen des Schreis, wenn der Stier besiegt
ist.
Von der Place des Arènes treten wir in den historischen Stadtkern ein. Wir gehen nicht den
breiten Boulevard Victor Hugo, sondern entlang der Rue de l’Etoile, die Sternstraße. Die
Gewerbetreibenden begannen gerade ihre Läden zu öffnen, die Auslagen davor zu ordnen,
herauszuräumen. Ein blauer Himmel strahlte über der Stadt. Ein herrlicher Tag stieg herauf.
Noch frisch vom Besprengen mit Wasser glänzte das glatte Pflaster in den Gassen, durch die wir
geführt wurden. Auf dem Place du Marché fasziniert mich ein Brunnen, an dem wir kurzen Halt
machen. Aus dem geborstenen Stumpf einer römischen Säule quillt Wasser. Ein mächtiges
Krokodil liegt in der Lauer. Zwei tropische Wasservögel stehen am Rande des kleinen Beckens.
Eine Fächerpalme vervollständigt die Illusion an Ursprünge, an die erinnert wird. Es stellt die
Wappenbilder der Stadt Nîmes dar: das Krokodil und die Palme.
Die Gasse öffnet sich zu einem kleinen Platz. Wir
stehen vor dem Maison Carrée, einem gut
erhaltenen korinthischen Tempel aus der
Römerzeit, erbaut etwa im 1. Jahrhundert und
zwar zu Ehren Gaius und Lucius Caesar, der
Enkel- und Adoptivsöhne des Kaisers Augustus.
Er ist der einzige heute noch vollständig
erhaltene Tempel der Antike. Auf seinem
erhöhten Fundament beherrschte er einst das
Forum der antiken Stadt, das von einem großen
Säulengang umgeben war. Wir steigen die Stufen
hinauf und treten ein. Ein großes Bild erinnert an
den damaligen Zustand, wie es hätte aussehen
können unter den Römern.
1992 wurde mit originalen „Leistenziegeln“ das Dach wieder antik nachgebildet, es entstand eine
getreue Reproduktion mit Falz- oder Hohlziegeln, handgefertigt. Wir machten einen kurzen
Rundgang im Innern. Museale Stücke aus der Römerzeit wurden bewahrt, Nachbildungen, echte
Säulenreste, Bruchstücke, Marmorköpfe, Schrifttafeln in Französisch und Englisch. Die nähere
Beschäftigung bedarf der Kenntnisse der Römerzeit.
Schon hier war die Führung zu Ende. Mit Stadtplan, den Conny jeder Familie in die Hand
drückte, war es kein Problem sich zurecht zu finden und auch erleichternd, allein noch ein wenig
die Stadt zu erkunden.
© Rolf Bührend, Februar 2003
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Wasser zieht immer an, auch diesmal mich. Martina überließ mir die Wahl des nächsten Zieles.
Die nahen Gärten verhießen Schatten und Sehenswürdigkeiten. Wir strebten zum Park.
Entlang der kleinen Rue de Auguste gelangten wir zu einem grün bepflanzten Rondell, dem
Square Antonin, das eine Statue des Kaisers Antoninus10 zierte. Ein künstlicher Wassergraben
lenkt uns eine lange schattige Allee hinter zu den Jardins de la Fontaine. Vorn lese ich an einem
Pfeiler unter dem sich um die Palme windenden Krokodils eine Gedenkschrift, die den Opfern
einer Überschwemmung vom 3. Oktober 1988 gewidmet ist: « En Hommage aux victimes et
sinistres des inondations de 3 octobre 1988.“11 Welches Wasser, bleibt mir unklar.
Es ist wochentags am Vormittag gegen 10 Uhr. Die Gärten sind leer. Ein weiträumiges
Parkgelände mit Wassergräben, Brunnen und steinernen Balustraden öffnet sich. Das Gelände
steigt an. Hinter hohen Bäumen steigen Wege steil an, die zum höchsten Punkt führen, den wir
leider nicht aufsuchen können: Den Tempel der Diana. Es ist das romantischste und gleichzeitig
rätselhafteste Bauwerk des römischen Nîmes. Es gehörte zum kaiserlichen Heiligtum. Seine
Funktion ist nicht bekannt. Uns sitzt wieder einmal die Zeit im Nacken. Wir wollen noch etwas
von der Innenstadt sehen. Nochweiter oben hätten wir den höchsten Punkt von Nîmes entdecken
können, die Tour Magne. Er ist der mächtigste und prachtvollste Turm der alten Stadtmauer, 32
m hoch, dreistöckig, wobei das letzte Geschoss nicht mehr existiert. Er verspricht – für spätere
Besucher – eine Aussicht ersten Ranges. Wir eilen im Park zurück, noch einen letzten Blick die
enorm breite Achse der Avenue Jean Jaurès werfend, die sich kilometerweit bis an den
Sichthorizont hinzieht, eine Pracht- Allee, die einer Großstadt würdig wäre.
Wir kommen an einem schattigen kleinen Platz vorbei, wo ich eine Gruppe Männer beim
Boulespiel beobachten kann. Mit großem Ernst und Eifer stehen sie, in der linken Hand,
Handfläche nach vorn, die schwere Kugel, mit der rechten gestikulierend, mit dem Partner die
Chancen diskutierend. Es geht gemessen zu. Dann holt der eine aus, schwingt einige Male vor
und zurück und wirft das runde Eisen in den festgestampften Sand, trifft oder trifft nicht. Es gilt
ja, die gegnerischen Kugeln wegzutreiben und die eigenen nach vorn ins Ziel zu bringen. Ich
bleibe eine kleine Weile stehen. Boule ist von Südfrankreich bis nach Spanien hinunter
Volkssport im schönen Sinne. Ich habe noch nie Frauen dabei beobachtet. Es ist eine
Männerdomäne, es verbindet, ist geruhsam, lässt Zeit zum Schwatzen, weil es ohne den Faktor
Zeit gespielt wird und unterhaltsam. Ob es dabei um Geld geht, konnte ich dort nicht in
Erfahrung bringen. Nun habe ich mich aber um fachlichen Rat gekümmert, den ich hier
weitergeben möchte. Der uninteressierte Leser mag es übergehen. Für mich war es neu:
Boule oder Pétanque? Boule heißt auf Deutsch schlicht und einfach "Kugel". Im Laufe der Zeit
entwickelten sich vor allem in Frankreich verschiedene Kugelspiele. Die populärste Variante dieser "Jeux
de Boules" ist Pétanque, das auch in Deutschland gespielt wird.
Zur Geschichte der Boule-Spiele Die Entwicklung der Boule-Spiele reicht Jahrhunderte zurück. Ihren
Anfang nahmen sie in Form unterschiedlicher Kugelspiele, die in zahlreichen Ländern von allen
Schichten der Bevölkerung ausgeübt wurden.
Schon im 13. Jahrhundert wurde in Frankreich mit Holzkugeln Boule gespielt. Hierbei ging es darum, die
Kugel möglichst nahe an ein Ziel zu platzieren, entsprach also in etwa den heutigen Versionen.
10
T. Aelius Hadrianus Antoninus Pius, geboren 86 bei Lanuvium in Latium , stammt aus einem Geschlecht, das in
Nîmes zu Hause war, römischer Kaiser von 138 – 161. Er heiratete 110 Faustina die Ältere. Nach Hadrians Tod 138
übernahm er dessen Herrschaft, wurde römischer Kaiser, vergöttlichte Hadrian und erhob Marc Aurel zum Cäsar. Er
erhielt den Beinamen „Pius“(der Fromme). 141 verlor er seine Gattin. Er verschob den Limes in Britannien und
Germanien nordwärts, kämpfte gegen Britannier, Alanen und Parther, schlug Aufstände in Numidien und
Mauretanien nieder, förderte die Reichsverwaltung, ordnete das Rechtswesen, kümmerte sich um Finanzen und
Steuern und unterstützte die von Katastrophen heimgesuchten Städte wie z.B. Ephesus. Mit einer Alimentenstiftung
für Mädchen ehrte er Faustina. Am Forum Romanum entstand der Tempel des Antoninus und der Faustina. Er starb
im Jahre 161. Seine Portraits beherrschte im Antlitz die aequanimitas, die Gleichmut. Das war des Herrschers letzte
Parole vor seinem Tode. Man möge sie in dem Standbild am Square Antonin suchen und – finden!
11
En Hommage …, frz. In Ehrung der Opfer und Verunglückten der Überschwemmungen von 3.Oktober 1988 ".
© Rolf Bührend, Februar 2003
Seite 102
1369 verbot Karl V. dieses Spiel, weil er die Staatssicherheit gefährdet sah, da die Soldaten anstatt
Bogenschießen zu üben, ihre Freizeit dem Boule-Spiel widmeten.
Die Pariser Synode von 1697 untersagte allen Geistlichen, in der Öffentlichkeit Boule zu spielen.
Genauso wie das Spiel verfolgt wurde, gab es andererseits auch öffentliche Unterstützung. Die berühmte
Fakultät von Montpellier bestätigte im 16. Jahrhundert den Wert des Boule-Spiels für die Gesundheit: "Es
gibt keinen Rheumatismus oder andere ähnliche Leiden, die nicht durch dieses Spiel vereitelt werden
können, es ist für jede Altersstufe geeignet:" Ludwig XI. wusste das auch und spielte häufig Boule, und
der bekannte Generalfeldmarschall Turenne galt als unschlagbar.
Die Popularität des Spiels stieg im 19. Jahrhundert stark an. Es wurde nicht mehr nur auf Wiesen
außerhalb der Stadt gespielt, sondern überall, wo Platz war, in den Straßen und auf den Marktplätzen.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann man in Lyon das "Boule Lyonnaise" zu spielen.
1894 wurde dort auch der erste Wettbewerb veranstaltet, bei dem über 1000 Spieler drei Tage lang um
die Plätze rangen.
1906 wurde der erste Verband gegründet. In Italien entwickelte sich eine weitere Version, das "Boccia".
Gespielt wird auf 4,50 m breiten und 28 m langen, speziell präparierten Plätzen. Die Kugeln sind aus Holz
und haben unterschiedliche Farben, um sie auseinander halten zu können. Im Jahre 1898 wurde in Turin
der erste Boccia-Verband gegründet. In Frankreich gibt es heute einige unbekannte regionale Spiele
sowie das bereits erwähnte "Boule Lyonnaise", das "Jeu Provençal" und das jüngste, aber heute
populärste aller Boule-Spiele: "Pétanque". Die Spielidee ist immer die gleiche, es wird versucht eine oder
mehrere Kugeln näher an eine Zielkugel zu platzieren als der Gegner. Unterschiedlich sind die
Spielregeln, das Gewicht der Kugeln und die Abmessungen des Spielfeldes.
Die bekanntesten Boule-Spiele
Das Boule Lyonnaise Das Ende des 19. Jahrhunderts aufgekommene Spiel wird heute in großen Teilen
Frankreichs praktiziert. Es ist jedoch nicht so populär wie Pétanque, u.a. weil für Boule Lyonnaise ein
großer, besonders präparierter Spieluntergrund benötigt wird. Man spielte zu Beginn - wie schon im
Mittelalter- mit Holzkugeln. Diese waren, um eine höhere Widerstandsfähigkeit zu erhalten sowie um rund
zu laufen, mit Nägel beschlagen. Ab 1923 wurden die Kugeln aus einer Bronze-Aluminium-Legierung
hergestellt, heute sind sie hauptsächlich aus Stahl. Ihr Durchmesser muss zwischen 9 und 11 cm liegen,
und sie müssen ein Gewicht zwischen 900 und 1400 g aufweisen. Die Zielkugel muss innerhalb einer
Zone zwischen 12,5 und 19,5 m zum Liegen kommen. Für die Ausführung des Wurfes hat der Spieler 7
m zur Verfügung, in denen er Anlauf nehmen kann. Das Boule Lyonnaise ist eine sehr sportliche Form
des Boule-Spiels. Es gehört viel Training dazu, eine knapp 1,5 kg schwere Kugel über eine Distanz von
bis zu 19,5 m zu werfen und damit noch eine gegnerische Kugel zu treffen.
Das Jeu Provençal Das Boule Lyonnaise
wurde immer bekannter, machte sich auf den
Weg die Rhône abwärts und erreichte
schließlich das Mittelmeer. Dort angekommen,
wurde dem Reglement erst einmal die Strenge
genommen, und die Kugeln wurden kleiner und
leichter (zwischen 600 und 900 g). So entstand
ein neues Kugelspiel in der Provence und wurde
deshalb "Jeu Provençal" genannt. Auch hier ist
viel Bewegung mit im Spiel. Beim Punktieren
macht der Spieler aus einem Abwurfkreis heraus
einen großen Ausfallschritt nach rechts oder
links und zieht das andere Bein nach. Die Kugel
muss gespielt werden, bevor das Nachziehbein
den Boden berührt, es wird also auf einem Bein
stehend geworfen. Man muss gleichzeitig ein
Gleichgewicht finden und die Kugel bis zu 22 m
Nîmes, Männer beim Jeu Provençal
weit gezielt werfen.
Beim Schießen nimmt der Spieler drei Schritte Anlauf aus dem Kreis und schießt die Kugel auf einem
Bein stehend ins Ziel. Diese Art des Boule-Spiels ist wie seine Lyoner Variante sehr anspruchsvoll.
Das Pétanque Das Spiel entstand im Jahre 1910 in La Ciotat, einem kleinen Städtchen an der Côte
d´Azur. Ein sehr guter, schon etwas älterer Spieler des Jeu Provençal musste zuschauen. Sein Rheuma
plagte ihn, und er konnte weder den Ausfallschritt vollziehen noch konnte er die drei Schritte Anlauf zum
Schuss nehmen, zu stark waren seine Schmerzen. Dennoch wollte er seinen Sport nicht aufgeben, und
es kam ihm die Idee, die Wurfdistanz um einiges zu verkürzen und zudem ohne Anlauf im Stehen zu
spielen. Man stand in einem Abwurfkreis und spielte auf eine Entfernung von 6 bis 10 m. Von der
Abwurfposition - man musste mit geschlossenen Füßen im Kreis stehen - leitete sich auch der Name des
Spiels ab. Die Bezeichnung für "geschlossene Füße" heißt auf französisch "pieds tanqués", auf
© Rolf Bührend, Februar 2003
Seite 103
provenzalisch hieß es "ped tanco". Diese beiden Wörter sind schon bald zu einem verschmolzen:
Pétanque. Da das Spielfeld keinen strengen Regeln unterzogen wurde, eröffneten sich große
Möglichkeiten, dieses Spiel auszuüben. Man war nicht mehr beschränkt auf ein genau eingeteiltes
Spielfeld auf einem bestimmten Platz, sondern man spielte auf Plätzen vor Kirchen, in Parks und auf
ungepflasterten Dorfstraßen
Als ich den Regelkatalog mit 39 Artikeln sah, verzichtete ich auf das nähere Studium, stellte aber
fest, dass ich die Franzosen um diese Leidenschaft etwas beneide. Wir kegeln dafür
wettergeschützt.
Martina lässt nicht locker. Nun möchte sie ihren Interessen folgen, was ja nur gerecht ist. So
folgten wir dem Quai de la Fontaine in seiner Verlängerung und gerieten in die belebte Altstadt.
Am modern gestalteten „Centre Commercial“, einer Kaufpassage, zog sie mich die Treppe
hinauf und hinein. Wie ein Raubtier seine Beute, witterte sie Boutiquen. Hier war es die Marke
Camaieu, die sie mit einem Pullover beglückte. Ich musste etwas dolmetschen, was wiederum
mich etwas erfreute und nützlich machte. Als Mann ist man ja in einer Boutique hilflos und
verloren. Allein würde ich mich da nie hin verirren. Martina war noch nicht ganz zufrieden. Wir
zogen jetzt mit ihren Augen weiter. Ein Schuhgeschäft musste genau gemustert werden. Doch
halt, da wieder: Camaieu. Ich konnte ihr gerade noch androhend – wir mussten zum Treff! zurufen. „10 Minuten, dann bin ich weg.“ Ich blieb auf einer Bank vor dem Geschäft sitzen, das
Laufen strengte an. Wir hatten bis zum Bustreff genau noch 20 Minuten. Die Hälfte davon war
großzügig. Dann waren 10 Minuten um. Martina war nicht zu sehen. Ich ging in den Laden
hinein. Unten niemand. Ich stieg die Treppe hoch, schaute, suchte. Keine Martina. Während ich
im Laden suchte, war sie aber aus dem Laden geschossen, wollte mich holen- und sah mich
nicht. Jetzt brach bei ihr die Panik aus: Allein in Frankreich ohne zu wissen, wie sie zum Bus
findet, ohne ein Wort Französisch. Wo war ich? Fast weinend kam sie in den Laden zurück, wo
sie durch Zufall auf mich traf…Erlösung. Beinahe Zusammenbruch. Dennoch Kauf. Hektik. Wir
müssen los!
Fast im Laufschritt pesten wir los, ich wollte nun
noch die Kathedrale sehen. Mein Plan führte mich
hin.
Ich
kaufte
in
einem
kleinen
Schreibwarenladen zwei Ansichtskarten. Blick zur
Kathedrale. Foto. Weiter, den breiten Boulevard
Amirtal
Courbert
hinunter,
vorbei
am
Archäologischen Museum und Museum für
Naturgeschichte, von deren Fassade mich zwei
Musen grüßten. Die eine hielt eine Mandoline in
der einen und grüßte gewinnend mit der anderen
Hand: „La Musique“ . Eine Taube schwebte über
ihr. Die andere hielt eine Palette und schaute
prüfend in die Ferne: „La Peinture“, die Malerei.
Fotos. Weiter. Es war unbefriedigend, beinahe
kulturlos.
Dann konnten unseren Bus schon sehen, an der
breiten Esplanade Charles de Gaulle. Hier stand
ein mächtiges Denkmal, nach vier Seiten sitzende
Gestalten, die die vier großen Flüsse Frankreichs
verkörpern, die Garonne, die Seine, der Rhône, die
Loire, drei Frauen, ein Mann.
Über allen stand stolz eine römische Frauengestalt, als Krone das Maison Carrée. In der rechten
Hand stützt sie ein Schild mit den Wappenbildern Nîmes, des Krokodils und der Palme.
Ich wusste, dass wir jetzt nun den Pont du Gard aufsuchen würden und freute mich darauf. Ich
wusste aber nicht, wie weit weg er von Nîmes liegt und dass wir über eine halbe Stunde fahren
mussten, um dorthin zu gelangen.
© Rolf Bührend, Februar 2003
Seite 104
Erst auf der Karte habe ich mir die Entfernung verinnerlicht: 25 km nordöstlich von Nîmes liegt
dieses wohl bekannteste und besterhaltene Bauwerk seiner Art, der Aquädukt Pont du Gard. Er
brachte in römischer Zeit Quellwasser der Eure bei Uzès in einer 50 km langen Leitung nach
Nîmes. Der Pont überspannt das weite Tal des Gard oder Gardon mit einer 275 m langen
Steinbrücke aus drei übereinander liegenden Bogenreihen, die von Flussniveau bis oben 49 m
hoch ist.
Wir fuhren auf einen Parkplatz, wurden erst einmal aufgefordert, unsere Mittagsmahlzeit
einzunehmen. Damit wuchs die Spannung. Noch hatten wir nichts gesehen. Die Sonne schien.
Wir saßen auf einem Stein und löffelten eine Tomatensuppe, dazu Bockwurst mit Weißbrot,
Notverpflegung aus dem Bus, aber preiswert und zeitsparend, ganz in meinem Sinne.
Dann durften wir. Der Weg führte
vom Parkplatz am linken Ufer durch
eine
Touristenfalle:
Gaststätten,
Museum, Toilettenanlagen, Kino,
Ausstellungen…Dann kamen wir in
die Natur und dann sahen wir ihn, den
Pont du Gard. Seit meiner Jugend
wusste ich davon, kannte sein
„Hochzeitsbild“. Jetzt durfte ich näher
treten, ihm „unter den Rock schauen“.
Zunächst liefen wir auf der Straße
Pont du Gard, vom rechten Ufer gesehen
über der ersten Bogenreihe, und ich
war enttäuscht, dass wir nicht höher hinauf durften. Ich hörte Leute sagen, dass man früher auch
ganz oben die Brücke überqueren konnte. Die Touristen, zu denen ich mich ja nun selber zählen
muss, haben aber zu viel zerstört. Der Wasserkanal ist ja teilweise noch ausgekleidet und mit
Platten abgedeckt. Ich kann es mir lebhaft vorstellen: Wo Touristen sind, bleibt Müll und
Zerstörung zurück, mindestens Abnutzung, Abrasion. Der Massentourismus hat schon ganz
andere Kunstwerke zerstört, abgesehen davon, was die lieben Mitmenschen, diese Bestien, im
Kriege vernichten oder aus religiösem Wahn oder aus Gewinnsucht oder aus Dummheit…
Einen Trost gab es, einen Aussichtspunkt am rechten Ufer, den man ersteigen konnte. Ich
begeisterte Martina, die mir willig und ergeben folgte. Durch dichtes Gebüsch, über Stock und
Stein führte der noch vom letzten Regen schlammige Weg steil nach oben. In Gänsereihe
kletterten wir geduldig die 50 Meter aufwärts. Endlich oben. Verschnaufen. Wir hatten ja wieder
keine Zeit, denn eine Reihe unserer Mitfahrer blieben unten und waren schon wieder auf dem
Rückweg. Dann übersahen wir das ganze Flusstal, jetzt auf ausgetrocknetem Tiefstand. Die weiß
gewaschenen Uferzonen ließen aber erkennen, dass der Gardon bei Hochwasser sehr gefährlich
werden konnte. Der Blick reichte weit hinein ins Land des Languedoc. Ich versuche, einen
Moment abzuschalten, schließe die Augen, ziehe tief die Luft ein, versenke mich, schaue noch
einmal ins Rund, über die herbe Mittelmeerlandschaft der Garrigue, verabschiede mich
gewissermaßen. Ein Ruck…Zurück. Weiter. Abgehakt. Was soll man machen? Gar nicht oder
so?
Ich hole mir noch einen Prospekt. Mehr Werbung als Information. So viel finde ich noch:
Auf der Baustelle (38 – 52 n. Chr.) waren 1000 Männer beschäftigt. Mehr als 50 000 Tonnen
Steine wurden verarbeitet. Bis zum 3. Jahrhundert wurden die Thermen von Nîmes täglich über
diese 50 km lange Fernleitung mit 35 000 m3 frischem reinem Quellwasser versorgt.
Schon im 4. Jahrhundert wurde der große Aquädukt in der Gegend des Flusses Lône dann
teilweise zerstört. Zu Anfang des 6. Jahrhunderts wurde er endgültig außer Betrieb genommen.
Heute zählt er zum unverzichtbaren Weltkulturerbe.
Wir steigen in den Bus und richten unser Augenmerk auf das Nachmittagsprogramm.
© Rolf Bührend, Februar 2003
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XXIII. Avignon – Palais du Papes
V
om Pont du Gard bis nach Avignon hinüber waren es vielleicht 25 km, ein
Katzensprung, aber wir wechselten in eine andere Region, die Verwaltungseinheit
Provence-Alpes-Côte d’Azur und erreichten mit der Stadt Avignon am Rhône die
Hauptstadt des Départements Vaucluse. Die große ewig junge Dame mit dem schwarzen
Bubischnitt taucht auf, Mireille Matthieu, der Spatz von Avignon:
Ihre Musik klingt unmerklich in deinen Gedanken auf, man ertappt An einem Sonntag in Avignon
der Musiker in Avignon.
sich beim Summen, das erste Klischee, als wir die lange spielt
Da brennen tausend Laternen am Fluß
Platanenallee zum Parkplatz hinter der langen Stadtmauer entlang und alle Mädchen, die träumen heut'
fahren. In Deutschland ist die Stadt wohl am ehesten über dieses von einem Kuß.
Lied bekannt, das von der Liebe träumt, das einen Sonntag An einem Sonntag in Avignon,
kommt die Liebe nach Avignon,
beschwört, mit Musik und die Traurigkeit vertreibt mit der da
da ist die Einsamkeit vorbei.
Verheißung, endlich die Liebe zu finden. Und natürlich vor allem O c'est si bon, o c'est si bon,
und es geschieht so allerlei,
auch „Sur le pont d’Avignon…“
an einem Sonntag in Avignon.
Es ist beeindruckend, dass die gesamte Altstadt noch mit einer
bist nie mehr so jung wie heut,
völlig intakten Stadtmauer (4 km) umzogen ist. Viele Tore führen Du
bleib nicht allein, nimm Dir die Zeit
hinein.
und komm mit mir, es ist nicht weit,
und komm mit mir nach Avignon.
An einem Sonntag in Avignon,
spielt der Musiker in Avignon.
Dazu im Kreis dreht sich das
Karussell;
bist Du noch traurig, steig ein, und das
ändert sich schnell.
An einem Sonntag in Avignon,
da kommt die Liebe nach Avignon.
Da ist die Einsamkeit vorbei
O c'est si bon, o c'est si bon,
und es geschieht so allerlei,
an einem Sonntag in Avignon.
Du bist nie mehr so jung wie heut,
bleib nicht allein, nimm Dir die Zeit,
und komm mit mir, es ist nicht weit,
und komm mit mir nach Avignon.
Da ist die Einsamkeit vorbei,
O c'est si bon, o c'est si bon,
und es geschieht so allerlei,
An einem Sonntag in Avignon …
Avignon, Papstpalast, Hauptfassade mit Porte des Champeaux
Sur le pont d'Avignon,
67 Jahre war die Stadt Sitz des Heiligen Stuhls und Zentrum der
L'on y danse, l'on y danse,
Christenheit. Avignon wurde zum magischen und kulturellen
Sur le pont d'Avignon
Mittelpunkt Europas. Mitte des 14. Jahrhunderts stieg die
L'on y danse tout en rond.
Les beaux messieurs font comme ça
Et puis encore comme ça.
Sur le pont d'Avignon,…
Les belles dames font comme ça
Et puis encore comme ça.
Sur le pont d'Avignon,…
Les officiers [ou les soldats] font
comme ça...
Les bébés font comme ça ...
Les bons amis font comme ça...
Les musiciens font comme ça ...
© Rolf Bührend, Februar 2003
Einwohnerzahl innerhalb von 35 Jahren von etwa 6000 auf
30.000. In der Zeit wirtschaftlicher und kultureller Blüte, zeigte
sich aber auch die Vergänglichkeit des Reichtums. Die
Verschwendungssucht
der
Päpste,
Korruption
und
Ämterschacher, beschleunigten den Autoritätsverlust des
"Heiligen Stuhls" von Avignon.
1309 siedelte sich der Papst Klemens V. hier an.
Wir haben von 13.30 – 16.00 Zeit. Zweieinhalb Stunden für eine
solche Stadt! Vor dem Palast der Päpste bietet eine kleine
Diesel- Eisenbahn auf Gummirädern eine Stadtrundfahrt an. Wir
tuckern über die Place d’Horloge, den Uhrmacherplatz in die
Rue de la République, kehren dann in einem engen
Gassengewirr, über winzige Plätze, wo den Verkehr hindernde
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Säulen- Poller vom Fahrer mit E- Karte wie durch Zauberhand für uns in die Erde versenkt
werden, vorbei an Hunderten Besuchern auf den mit bunten Standschirmen überschatteten
Freisitzen, nach 20 Minuten zum Palaisplatz zurück.
© Rolf Bührend, Februar 2003
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Wenigstens ein kurzer Überblick! Vorher musste ich Martina das Zugeständnis machen, bei
„Camaieu“ einzutreten, um – endlich, welche Freude, welcher Stolz! – als Dolmetscher tätig, mit
ihr den roten Pulli zu erwerben, den sie in Nîmes vergeblich gesucht hatte.
Dann standen wir vor dem Wahrzeichen von Avignon.
Der Palast der Päpste wurde im 14. Jahrhundert ein Symbol der Ausstrahlung der Kirche auf den
christlichen Westen. Wie begann seine Geschichte?
Vom alten bischöflichen Wohnsitz Jean XII. auf dem Domfelsen über der Rhône ist nichts
geblieben als ein Plan.
Die Arbeiten am „alten“ Palast von Benedikt XII. begannen 1335 mit der Konstruktion eines
Bergfriedes außerhalb des Palastes, dem „Turm der Engel“(la Tour des Anges), um den man
Privatwohnungen flankierte, und der durch einen Wall geschützt war, dann erbaute man die
Große Kapelle (la Grande Chapelle), parallel zum Dom (la Cathédrale Notre-Dame des Doms).
Von 1338 bis zu 1342 reißt man wieder Teile ab und baut die verschiedenen Flügel des alten
bischöflichen Palastes um ein Kloster wieder auf, das von zwei starken Türmen flankiert wird,
die dem Palast das Aussehen einer strengen und starken Festung verleihen. Danach behält der
Bau sein Gesicht bis heute.
Ab 1335, in weniger als zwanzig Jahren erbaut, ist der Papstpalast hauptsächlich das Werk von
zwei Erbauer-Päpsten, Benedikt XII. und seinem Nachfolger Clemens VI.
Das heutige UNESCO- Denkmal begründete den wichtigsten
gotischen Palast der Welt, schon von den Dimensionen her:
15 000 m2 Bodenfläche, er enthielt im Volumen 4 gotische
Dome!
Sieben Päpste und mehrere Gegenpäpste haben in Avignon
residiert:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
Clemens V. (1305 - 1314) (seit 1309 in Avignon)
Johannes XXII. (1316 - 1334) (in Avignon)
Benedikt XII. (1334 - 1342) (in Avignon)
Nikolaus V. (1328 - 1330) (Gegenpapst in Avignon)
Clemens VI. (1342 - 1352) (in Avignon)
Innozenz VI. (1352 - 1362) (in Avignon)
Urban V. der Glückliche (1362 - 1370) (in Avignon)
Gregor XI. (1370 - 1378) (in Avignon)
Clemens VII. (1378 - 1394) (Gegenpapst in Avignon)
Benedikt XIII. (1394 - 1409 und 1417) (Gegenpapst in Avignon)
Clemens VIII. (1423 - 1429) (Gegenpapst in Avignon)
Benedikt XIV. (1425 - 1430) (Gegenpapst in Avignon
Das Kloster Benedikt XII.
Die sogenannte "Babylonische Gefangenschaft" endete 1376. Das Große Abendländische
Schisma12 (1378—1417), während dessen zeitweise drei rivalisierende Päpste einander
gegenüberstanden, erschütterte die päpstliche Autorität vollständig. Die Reaktion hierauf war das
Vordringen des Konziliarismus13. Seine Anhänger vertraten die Oberhoheit des Konzils über den
Papst. Das vom deutschen Kaiser Sigismund einberufene Reformkonzil von Konstanz (1414—
1418) schien den Sieg des Konzilsgedankens zu bedeuten…
Wie man aus der Tabelle und den Jahreszahlen sieht, wollten einige kirchliche Würdenträger
ihre Pfründe in Avignon nicht aufgeben. Eine verworrene Geschichte um Macht und Einfluss in
Kirche und weltlicher Politik…Damals war der Buchdruck noch nicht erfunden. Man schrieb
alles noch von Hand. Das Schießpulver, angeblich vom Franziskanermönch Berthold Schwartz
erfunden, kannte man schon.
12
Schisma, [das, griechisch, „Spaltung“], kirchliche und rechtliche, aber nicht lehrmäßige Trennung und Bildung
selbständiger Teile in einer Kirchengemeinschaft. Besonders bekannt sind:
1. Morgenländisches Schisma, erfolgte zwischen der morgenländischen und der abendländischen Kirche 867,
endgültig 1054.
2. Abendländisches oder Großes Schisma (1378-1417), als 2 bzw. 3 Päpste gleichzeitig den Primat beanspruchten.
13
Konziliarismus, die Lehre, daß die allgemeinen Konzile über dem Papst stehen; praktisch angewandt vom
Konstanzer Konzil. Das 5. Laterankonzil 1516 entschied gegen die konziliare Theorie zugunsten des Papsttums.
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Für ein horrendes Eintrittsgeld verschafften wir uns Eintritt. Nicht alle unsere Mitreisenden
wollten das ausgeben. Wir bekamen einen „Murmler“ mit, der an Hand der Raumnummer uns
Erklärungen in deutscher Sprache lieferte. Vorausgesetzt, man hat Zeit, ist er sehr nützlich. Wir
standen wie üblich aber wieder unter Druck, daher hielt er uns nur auf. Also touchierten wir nur
die riesigen Räume, die Hallen, Korridore, Kabinette, Säle, Vorhöfe, Kapellen, blieben mal hier,
mal da stehen stiegen Stufen hinauf und hinab und schauten. Dieser Palast ist äußerst spärlich
möbliert, ja fast ohne Mobiliar. Er besticht durch seine Monumentalität, seine Wucht, seine für
den ersten Besuch unübersehbare Größe. Wir tappten, geführt und gelenkt durch Pfeile, Seile
und Zahlen, durch die alten Gemäuer und ließen unseren Emotionen freien Lauf. Ich weiß nicht
was Martina empfand. Es war alles leer, groß, mächtig und unpersönlich. Ungewöhnlich.
Zunächst beeindruckte uns der Konsistoriensaal, 34 Meter lang und 10 Meter breit, einer der
wichtigsten Säle des Palastes. Hier tagte im 14. Jahrhundert das Konsistorium, einst Oberster Rat
und höchstes Tribunal der Christenwelt. Hier wurden Könige und Fürsten empfangen, vom
Pontifex neue Kardinäle ernannt, Urteile gesprochen. Der Saal brannte 1413 völlig aus, so dass
die Fresken an den Wänden ausgemerzt sind. Dafür hängen jetzt dort wertvolle Gobelins. Die
Stirnseite zieren Papstportraits. Die schwere Holzbalkendecke – man bedenke die Spannweite! –
und das durch die hohen Bogenfenster einfallende Licht schmücken den leeren Saal.
Eine Seitentür führt in die berühmte Kapelle St-Jean, deren fast quadratischer Grundriss von
einem hohen gotischen Gewölbe überspannt ist. Die Flächen zwischen den bemalten
Rippenbögen und die Wände sind mit wunderschönen, gut erhaltenen Fresken aus der
christlichen Heilsgeschichte überzogen, ein frappierender Kontrast zu dem leeren Saal.
Nun führten uns Treppen hinaus und nach oben. Wir blickten in den Innenhof des Klosters von
Benedikt XII. Hier ruhten wir auf einer Bank etwas aus, tranken einen Schluck und kauten einen
Bissen.
Von hier tritt man nun in den Großen Speisesaal, den Grand Tinel, den „magnum tinellum“. Er
ist mit 48 Meter noch länger als der darunter liegende Konsistoriensaal, ebenfalls seinerzeit
ausgebrannt und völlig leer. An der Stirnseite zeugt noch ein Kamin von seiner Bestimmung.
Hier wurden die Speisen gewärmt, bevor sie zur päpstlichen Gasttafel gereicht wurden.
Von einem Balkon führt ein Gang zur Haute Cuisine, der Oberen Küche.
In dieser päpstlichen Küche, die Klemens
VI. bauen ließ, imponierte mir der hohe
Kamin. Er hat die Form eines riesigen
umgestülpten Trichters. Die gewaltigen
Ausmaße entsprachen dem uneinnehmbaren
Charakter der Papstfestung. Der „Murmler“
erklärte uns: ‚Einmal aber, während der
Belagerung 1398, diente eben dieser
Kaminschacht einer Handvoll feindlicher
Soldaten unter Führung eines gewissen
Geoffry Boucicaut als Durchschlupf in das
Innere des Gebäudes. Das Geräusch einer zu
Boden fallenden Leiter erregte die
Aufmerksamkeit der Palastwache, die nach
kurzem Gefecht die kleine Schar der
Avignon, Pferde im Papstpalast
Eindringlinge gefangen nahm.’
Über der Kapelle St-Jean liegt die Kapelle St-Martial. Sie überraschte uns wieder mit herrlichen
Fresken und einem gotischen Fenster. Seine tiefe Leibung ließ die über einen Meter dicken
Mauern erkennen. Durch verschiedene Zimmer, ein Prunkzimmer, das mit fünf großen
Wandteppichen geschmückt ist, das päpstliche Schlafzimmer sowie ein mit Jagdmotiven an
Wand und Decke bemaltes Hirschzimmer gelangten wir in die leere Große Kapelle, la Grand
Chapelle. Hier wirkt nur die Architektur. Sie besticht mit reiner südländischer Gotik. Sieben
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Joche mit Spitzbogengewölben führen ihre Rippenbögen in Bündelpfeiler, die mit der kahlen
Mauerwand verschmelzen.
Wir traten durch das Portal der Großen Kapelle auf eine Art Loggia heraus und sahen durch ein
offenes Fenster, das so genannte Vergebungsfenster nach unten. Von hier sprachen die Päpste zu
der im Ehrenhof versammelten Gemeinde ihren Segen. Sicher waren da auch weltliche
Würdenträger bei ihm. Die breite Treppe mit ganz flacher Steigung und zurzeit dort hingestellte
Pferdemodelle lassen vermuten, dass diese hoch zu Ross hinaufritten. Oder waren es Wächter
oder noch ganz andere. Seltsam und geheimnisvoll.
Ich habe bis heute den Sinn dieser Pferde an diesem Ort noch nicht herausgefunden. Wir gingen
diese breite Treppe hinab und gelangten schließlich in den Großen Audienzsaal. Er ist 52 m
lang, 15,80 m breit und 11 m hoch. Eine aus 5 Bündelpfeilern bestehende Säulenreihe trägt ein
klassisches gotisches Rippengewölbe. Die Seitenschübe der Gewölbe enden in Übermannshöhe
in schönen Kapitellen mit Tiermotiven in der dicken Wand, die den Druck aufnimmt. Es ist
duster und es gab noch verblasste Fresken an den Decken, eine Art Sternenhimmel, und ich
erinnere mich vage, dass man mich auf Teile originalen Fliesenfußbodens hinwies. Hier fanden
die großen Prozesse statt, versammelten sich die dreizehn Kirchenrichter, die das Tribunal der
„Sacra Romana Rota14“ bildeten. Wir traten ans Tageslicht und stehen wieder auf dem riesigen,
von Treppenabsätzen geteilten Palaisplatz.
Gegenüber dem Papstpalais steht ein wunderschöner Barockbau. Es ist das Hôtel des Monnaies,
heute Sitz des Konservatoriums, erbaut 1619 als Logis für die päpstliche Gesandtschaft des
Kardinals Scipione Borghese, dessen Wappen mit Adler und Drachen noch gut zu erkennen ist.
In der Folge diente es als Kaserne der Kavallerie und während der französischen Revolution als
Hauptquartier der Gendarmerie.
Ich wollte den schäbigen Rest unserer
verbleibenden Zeit verwenden, wenigstens noch
ein Foto vom Pont de Bénezet einfangen. Dazu
mussten wir unter der dicken Stadtmauer durch.
Wir sahen schon den wartenden Bus. Moment,
wir kommen! Schnell das Bild geschossen.
Leider war es uns nicht vergönnt, uns näher mit
diesem nach dem Papstpalast bekanntesten
Bauwerk Avignons zu beschäftigen. Aber ein
winziges Stück seiner Geschichte und seine
Avignon, Le Pont Bénezet
Legende und will ich hier einfügen.
Es sind die Rudimente eines im Mittelalter gewaltigen Brückenbaues über die Rhône. Sie
ersetzte einen Flussübergang aus Holz. Diese erste Brücke der romanischen Zeit des 12. Jh. ist
bis an den vierten Bogen während der Albigenserkriege 1226 von Ludwig VIII. zerstört worden.
Sie war die natürliche Grenze zwischen Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich
Deutscher Nation und der einzige Übergang über die Rhône. Im 13. Jh. wurde sie aus Stein
wieder erbaut. Von ehemals 22 Bogen existieren nur noch vier. Hochwasserfluten haben sie oft
beschädigt. Im 18. Jh. wird der Verkehr über die Brücke eingestellt. Die kleine Kapelle erinnert
an die Legende, die diesem steinernen Zeugnis der Geschichte seinen Namen gab:
15
Ein junger Hirte mit Namen Bénezet kam 1177 von den Bergen des Ardèche herunter. Er sah sich als
Abgesandter Gottes, um eine Brücke in Avignon zu bauen. Im Anfang hielt man ihn für einen Narren,
aber er hatte eine vom Himmel herab gekommene Stimme gehört, die ihm diktierte: „Bénezet, nimmt
deinen Bischofsstab und gehe bis Avignon hinunter, die Hauptstadt am Rand des Wassers. Du wirst mit
den Einwohnern sprechen, und du wirst ihnen sagen, daß man eine Brücke bauen muss.“
14
Sacra Romana Rota, lat. Heilige Römische Runde, kurz genannt die Rota; Tribunal aus der Zeit des Pontifikats
Johannes XXII. (1331)
15
Ardêche, hier südöstl. Ausläufer des Cevennen- Gebirges; heute Département, Hptst. Privas, Reg. Rhône-Alpes
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An einem Fest- Sonntag, während der Bischof von Avignon seine Segnung auf dem Vorhof von Notre
Dame gibt, befragt ihn Bénezet: „Bischof, Herr, ich werde vom Allmächtigen angewiesen, um eine Brücke
auf der Rhone " zu bauen...“
Von den Einwohnern verspottet, wird der Hirte vom Prälaten vor die Herausforderung gestellt, einen
enormen Stein auf seine Schultern zu laden und ihn in die Rhone zu werfen. Bénezet zögert keinen
Augenblick, und unter dem Blick der verblüfften Menge hebt er den Steinblock auf, bevor er ihn ins
Wasser wirft. ‚Geholfen, sagt man seitdem, hat ihm eine göttliche Eingebung, und ein in goldenes Licht
getauchter Engel.’
Diese schöne Sage von Sankt Bénezet ist in der volkstümlichen Inbrunst aufgegangen. Die Konstruktion
der Brücke hat eine ganz andere Herausforderung an die Elemente gestellt.
Die Reste dieser Brücke St Bénezet sind das älteste Bauwerk des 12. Jahrhunderts an der Rhone
zwischen Lyon und dem Mittelmeer.
Wir hetzen zurück. Adieu, Avignon! Aufsitzen. Die Tour de France rollte weiter. Ich verdrehte
lange noch den Hals, um von dieser wundervollen Stadt noch einen Zipfel zu erhaschen.
Nun hatten wir eine lange Fahrt vor uns, die uns auf der A7 nach Norden bringen soll. Das
Wetter hatte sich gebessert. Als wir ankamen, drohte Regen. Ich drehe mich um, blicke zurück.
Weit im Hintergrund grüßen noch einmal die Pyrenäen. Rechts auf hohem Fels türmen sich alte
Festungen.
Ich will noch erwähnen, dass gegenüber Avignon auf der linken Rhôneseite Villeneuve-lezAvignon mit dem Fort St-André, dem Kartäuserkloster Val de Bénédiction, der Tour Philippe le
Bel und der Stiftskirche Notre-Dame mit Kloster ein Tagesprogramm für weitere Besuche winkt.
Dank der Brücke St-Bénezet ließen sich die Kardinäle und Mitglieder des päpstlichen Hofes
bevorzugt hier drüben nieder und bauen hier ihre Residenzen und Paläste. Fort André diente zur
Grenzbefestigung, und das „Val de Bénédiction“ wurde das größte Kartäuserkloster Europas.
Unterwegs:
Orange wird passiert, bleibt zurück. Wir verließen die Region Provence-Alpes-Côte d’Azur und
fuhren hinein in die Region Rhônes-Alpes. Oranges ist bekannt durch seine Namen gebenden
ockerfarbenen Felsen. Die nächstgrößere Stadt, die wir durchfahren, ist Montélimar. Schon aus
der Ferne sieht man die riesenhohen, dampfenden, Angst machenden Kühltürme des
Atomkraftwerkes Cruas im Norden der Stadt. Montélimar ist bekannt für seinen Nougat, der aus
Honig und Pistazien gemacht wird, eine Spezialität. Rechts kann man in weiter Ferne die
Voralpen ahnen. Hinter Valence biegt die A49 nach Grenoble ab. Ab hier etwa rechts der Rhône
dehnt sich die Dauphiné16, eine geschichtsträchtige Landschaft. Wir haben die Rhône immer
links von uns, bis wir sie bei Vienne auf beeindruckenden Brücken einige Male kreuzen.
Nach drei Stunden etwa landeten wir in der Hauptstadt des Départements Rhône und
zweitgrößten Stadt Frankreichs, in Lyon. Sie ist fortwährend in Konkurrenz mit Marseille.
XXIV. Lyon
D
ie große Stadt Lyon erreichen wir in der beginnenden Dämmerung. Es ist noch hell
genug zu sehen von den zwei Flüssen, die sich hier vereinigen; die Saône mündet in
Lyon in die Rhône, Wir unter- oder überqueren ihre Brücken, werden vom riesigen
Häusermeer verschlungen. Bevor wir das Stadtgebiet erreichen, tangieren wir einen der größten
Chemiestandorte Frankreichs. Erdölraffinerie, Frankreichs größtes Zentraltanklager,
hochstrebende Destillationskolonnen, Rohrbrücken, Bürogebäude, Forschungseinrichtungen der
Petrolchemie, Schienen, Behälterwaggons. Eisenbahnbrücken, Straßenbrücken, Viadukte,
Steigungen. Conny zeigt uns schnell noch im Fahren oben auf dem Berg die Basilika Notre16
Dauphiné, historische Landschaft im südöstlichen Frankreich, zwischen Rhône und italienischer Grenze; 2
Hauptlandschaften: 1. Oberdauphiné, von den Zentralalpen (im Pelvoux-Massiv 4103 m) bis zu den westlichen
Kalkalpen; 2. Niederdauphiné Schotterflächen des Alpenvorlands mit fruchtbaren Tälern (Getreide-, Wein- und
Olivenbau, Seidenraupenzucht).
Geschichte: Die Dauphiné wurde im frühen Mittelalter Lehnsfürstentum des Königreichs Burgund. Die seit 1163
dort herrschende Familie Albon nannte sich im 12. Jahrhundert Dauphin von Viennois. 1349 wurde sie mit
kaiserlicher Zustimmung an Frankreich verkauft unter der Bedingung, daß jeder französische Thronerbe Titel und
Wappen der Dauphiné tragen und dass das Land seine Grenzen behalten solle.
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Dame-de-la-Fourvière von Lyon. Und sie beginnt ihr Wissen über diese Stadt auszukramen. Wir
erfahren, dass der erste Webstuhl zwar in Tours, der zweite aber dann in Lyon stand. Wir wissen
ja schon, dass die Seidenraupenzucht in der Provence die traditionsreiche Seidenindustrie nach
sich zog. Lyon ist heute noch Hochburg der Seidenweberei. Davon erzählt das Museum
„Maison de Canuts“. Das Wort „Canuts“ ist schwer zu übersetzen, zusammengesetzt aus Canne
und Use, das bedeutet so viel wie Stock benutzen. Gemeint sind wahrscheinlich die
Weberschiffchen oder andere „Stöcke“, die beim Seidenweben benutzt werden. Canuts weben
noch heute von Hand an den Prestige- Stoffen, sie haben die Benutzung, die Gewohnheiten und
die Gesten der Handwerker von früher gespeichert. Einen vornehmen Stoff erkennt man an den
schillernden Reflexen. Die Seide wird mit den zartesten Farben und den lebhaftesten Tönen einer
üppigen pastellfarbenen Palette gefärbt. Gedruckt oder mit der Hand gemalt, werden die edlen
Stoffe mit reichen Motiven oder künstlerischen Gemälden geschmückt. Vom Kokon bis zum
Velours aus Genua oder Damaskus, im Labyrinth der Seidenfabrik, das Haus der Canuts ist dem
Faden der Seide gewidmet und führt den Besucher durch die Geschichte und die Techniken
dieser wunderbaren Faser, die vor 4500 Jahren von einer chinesischer Prinzessin entdeckt
wurde17.
Conny nennt berühmte Namen wie die der Brüder Lumière18, Erfinder der Cinematographie. Es
gibt ein Museum, in dem seltene Vorführgeräte gezeigt werden, unter anderem den
Cinématographe No. 1. Oder sie nennt Ampére19, dessen Namen jeder kennt und von dem alle
nichts wissen, ich eingeschlossen.
Sie erwähnt Antoine de Saint- Exupéry20, dessen „Kleiner Prinz“ nun jeder kennt. Er ist ein
Sohn der Stadt.
Dann geraten wir oben am Berg schon in Vorortstraßen und landen bald im „Hôtel TULIP INN“
unweit der Metrostation „Gorge de Loup“. Es ist dunkel. Wir verzichten auf einen Spaziergang
im Finstern in der fremden Stadt, bleiben im Hotel und gehen nach dem Abendessen zeitig
schlafen.
Mittwoch, 10. September 2003
Voller Spannung auf die neuen Entdeckungen in Lyon besteigen wir gegen 9 Uhr den Bus, der
uns hinunter ans Ufer der Saône und dann über eine steile Straße, die durch einen langen Tunnel
führt, hinauf auf die Höhe, wo weit über der Stadt die Basilique Notre-Dame-de-Fourvière
thront. Wir gehen an die Balustrade und schauen im Gegenlicht der Sonne nach Osten auf die
Altstadt, die sich vor grauer Zeit zwischen die beiden Flüsse gedrängt hat. In der Ferne verliert
sich der Blick im Dunst des frühen Tages. Es blendet, ich muss die Augen mit der Hand
schützen. In der Basilika- es ist ja ein katholisches Haus – staune ich über den reichen Schmuck
an Malereien und Mosaiken. Die Ausstattung der Kirche ist prächtig. Erbaut wurde sie von 1872
– 1896 auf dem ältesten Siedlungskern der Stadt, dem 130 m hohen Hügel von Fauvière.
17
Seide: Im Jahr 1958 gruben Archäologen Teile eines Bambuskorbes aus, in dem sich die ältesten bekannten
Überreste von Seidenstoff befanden. Die Datierung der Entstehungszeit ist unsicher, sie liegt möglicherweise
zwischen 2850 und 2650 v. Chr. Die Funde stammen aus Qian Shanyang im Südosten des heutigen China;
hergestellt wurde das Gewebe von Menschen, die vor den Chinesen dort lebten. Der Stoff ist fein gewebt, mit 72
Fäden pro Zentimeter, und das Garn wurde von domestizierten Seidenraupen gewonnen. Bei diesem
handwerklichen Niveau muss die Kunst der Seidenweberei in dieser Region zwischen 3000 und 2500 v. Chr.
entstanden sein.
18
Lumière, Gebrüder Auguste (* 19. 10. 1862 Besançon, † 10. 4. 1954 Lyon) und Louis (* 5. 10. 1864 Besançon,
† 6. 6. 1948 Bandon, Var); französischer Erfinder photographischer Produkte und des Kinematographen (13. 2. 1895
patentiert). Mit diesem Apparat, der gleichzeitig Filmkamera, Kopiergerät und Projektor war, führten die Gebrüder
Lumière am 28. 12. 1895 in Paris erstmalig öffentlich Filme vor.
19
Ampère, André Marie, französischer Mathematiker und Physiker, * 22. 1. 1775 Polcymieux (Lyon), † 10. 6.
1836 Marseille; entdeckte die magnetischen Wirkungen in der Umgebung stromdurchflossener Drähte, erklärte den
Magnetismus durch Molekularströme, unterschied zwischen Elektrostatik und Elektrodynamik.
20
Saint- Exupéry, Antoine de, französischer Schriftsteller und Flieger, * 29. 6. 1900 Lyon, † 31. 7. 1944 (bei
einem Aufklärungsflug über Korsika); heroischer, brüderlich empfindender Humanist, der die Technik als Mittel
ansah, „Welt, Mensch und Freundschaft zu entdecken“: „Südkurier“ 1929, deutsch 1949; „Nachtflug“ 1931, deutsch
1932; „Wind, Sand und Sterne“ 1939, deutsch 1939; „Der kleine Prinz“ 1943, deutsch 1950; „Brief an einen
Ausgelieferten“ 1944, deutsch 1948; „Die Stadt in der Wüste“ (posthum) 1948, deutsch 1951.
© Rolf Bührend, Februar 2003
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Beim Stöbern habe ich noch einen berühmten Namen gefunden, den man mit dieser Stadt in
Verbindung bringen kann: François Rabelais. Dieser Mann ist mit seinem barocken Spott- und
Schelmenroman „Gargantua & Pantagruel“ als großer Dichter bekannt geworden. Dieses Buch
steht schon seit 35 Jahren in meiner Bibliothek. Jetzt lese ich noch einmal nach, dass Rabelais
nach seinem Medizinstudium 1532 von Montpellier nach Lyon ging und dort das Amt eines
städtischen Hospitalarztes übernahm. Neben lateinisch-medizinischen Schriften veröffentlichte
er im gleichen Jahr das erste Buch seines berühmten Romans „Die schrecklichen und
erstaunlichen Taten und Abenteuer des hochberühmten Pantagruel, Königs der Dipsoden und
Sohnes des mächtigen Riesen Gargantua“. Mit dieser köstlichen Satire hat er sich ein ewiges
Denkmal gesetzt- nicht nur für Lyon!
Wenn nicht alles chronologisch exakt nacherzählt ist, möge man es mir nachsehen. Über Lyon
gibt es viel zu berichten. Jeder Reiseleiter fängt in der grauen Vorzeit an. Die beginnt in den
meisten französischen Städten in der römischen Ära. So auch hier.
Ehemals befanden sich an der Saônemündung zwei keltische Siedlungen – bis die Römer kamen:
43 vor Chr. gründete ein gewisser Munatius Plancus am Zusammenfluss von Rhône und Saône
die römische Kolonie Lugdunum. Irgendwie davon leitet sich der heutige Name Lyon ab. Sie
war Hauptstadt von Gallien unter dem Römischen Reich. Oberhalb der Altstadt, auf den Hügeln
von Fourvière, haben die Römer ihre Spuren hinterlassen.
Lugdunum wurde nach dem Modell Roms erbaut. Es gab eine Basilika, zwei Theater, ein Circus,
Bäder und Thermen, einen Kaiserpalast, ein Forum und ein komplettes Netz von Aquädukten,
das im 4. Jahrhundert von Räubern zerstört wurde, die die Bleiröhren stahlen.
Das Amphitheater von "Lugdunum" stammt aus dem 2. Jahrhundert nach Christi und ist
erstaunlich gut erhalten. Es hatte 11000 Sitzplätze. Jetzt fasst es noch 5000. Früher führten
römische Dichter und Denker hier ihre Dramen auf, heute dient das Amphitheater im Sommer
als Open-Air-Bühne für Konzerte und Aufführungen. Wir haben es nur im Vorbeifahren von
außen ahnen können. Unterhalb der Ruinen von Lugdunum fließt die Saône.
Lyon ist eines der ältesten Zentren der französischen Fayence-Herstellung; seit 1512 wird hier
Fayence gefertigt, anfangs wohl von italienischen Einwanderern. Die Erzeugnisse des späten 16.
Jahrhunderts erinnern an zeitgenössische Majolica aus Urbino.
Nach der Aufhebung des Ediktes von Nantes1 musste die Mehrzahl der protestantischen
Seidenfabrikanten Lyon verlassen. Mit einer furchtbaren Strafaktion endete ein versuchter
Aufstand gegen die revolutionären Jakobiner. Als Vergeltung ordnete der Konvent 1793 die
Zerstörung großer Teile von Lyon sowie Massenhinrichtungen an. 6000 Bürger kamen dabei
ums Leben. Seit dem 17. Jahrhundert wurde der Hügel Fourvière zu einem viel besuchten
Marien- Pilgerort.
Im späten Mittelalter entwickelte sich Lyon zu einem der wichtigsten Handels- und
Bankenplätze in Europa, im 19. Jahrhundert zum Zentrum der industriellen Explosion im
französischen Südosten, zum Beispiel mit der Textilindustrie.
Während des Zweiten Weltkrieges wurde von Lyon aus die gesamte Résistance organisiert,
heute liegt die Bedeutung der Lyon- Agglomeration als zweitgrößtem Stadtverband Frankreichs
(Einwohner: Stadtzentrum ca. 445.500, im Ballungsraum ca. 1.349.000) vor allem in der
nationalen Wirtschaft. Von da an wird die Stadt in ihrer wechselvollen Geschichte geprägt durch
ihre wirtschaftliche Dynamik und die strategische Lage im europäischen Verkehrssystem.
Das bekannteste Unternehmen aus Lyon dürfte die Großbank Credit Lyonnais sein, deren
Hauptsitz sich in einem markanten Hochhaus im Osten der Stadt befindet, das seiner Form
wegen Crayon (Bleistift) genannt wird.
Daneben ist Lyon ein wichtiger Standort des Pharma-Unternehmens Aventis, dessen Vorläufer
Rhône-Poulenc seinen Hauptsitz in Lyon hatte.
1
Das Edikt von Nantes, erlassen am 13. 4. 1598 von Heinrich IV., gab den Hugenotten volles Bürgerrecht und
beendete die Hugenottenkriege; der Katholizismus wurde Staatsreligion. Das Edikt wurde 1685 von Ludwig XIV.
aufgehoben.
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Lyon ist Sitz der internationalen Polizeibehörde Interpol.
Heute wird Lyon von der UNESCO als ein Schatz der Menschheit betrachtet. Es steht auf dem
gleichen Rang namhafter Städte wie Venedig, Prag oder St. Petersburg. Die zwei Jahrtausende,
die zwischen dem römischen Lugdunum und der heutigen Stadt liegen, haben einen
außergewöhnlichen architektonischen Schatz am Zusammenfluss der Saône und der Rhône
gestaltet. Fourvière, die Basilika und der gallisch-römische Park, das Renaissance-Viertel des
alten Lyon um die Kathedrale Saint-Jean, die Halbinsel, die sich in der Zeit der großen
klassischen und kaiserlichen Epoche gebildet hat, die Abhänge der Croix-Rousse, die für die
Seidenverarbeitung entworfen wurden.
La Croix-Rousse ist eine hoch gelegene Arbeitervorstadt, die Anfang des 19. Jahrhunderts für
die Canuts, die Seidenweber, erbaut wurde. Sie hatten hier ihre sperrigen Webstühle im Hause,
für die eigens die Zimmerdecken und Eingangstüren erhöht gebaut wurden. Bis zu 60 000
Webstühle fertigten hier einen großen Teil der Lyoner Seide, die in alle Welt ging.
Das alte Lyon, Vieux Lyon, zog uns nun in seinen
Bann. Eine nette Stadtführerin in weißen Hosen und
roter Jacke, mit kurzem Haarschnitt, die schwarze
Tasche salopp über die Schulter geworfen, zeigte uns
die nach Venedig zweitgrößte Renaissance- Altstadt
Europas. St. Petersburg oder Prag mögen noch den
gleichen Rang haben. Sie schmiegt sich unterhalb des
Hügels Fourvière rings um die Kathedrale St-Jean und
liegt auf der Saône- Halbinsel, die sich in der Zeit der
großen klassischen und kaiserlichen Epoche im 19.
Jahrhundert gebildet hat. Die Kathedrale Saint Jean
ist gotischen Ursprungs. 1220 wurde mit dem Bau
begonnen, Ende des 14. Jahrhunderts wurde die Kirche
fertig gestellt.
In den Gassen reiht sich ein Restaurant an das andere.
Jetzt am Morgen haben noch die wenigsten geöffnet.
Die Gassen sind relativ leer. Außer den 50 Menschen
unserer Gruppe, und das ist schon schlimm trüben keine
größeren Menschenmassen unsere Entdeckerfreude.
Die beginnt bei mir an den Fassaden, die mit
Lyon, Kathedrale Saint Jean und
Basilika Notre-Dame-de-la-Fourvière
Konsollaternen, schmiedeeisernen Gaststubenschildern
und natürlich mit wundervollen Fenstern sich
schmücken.
Das Pflaster ist alt und aus Kopfsteinen. Öffnet sich die Gasse
auf einen kleinen Platz, flutet Licht, erzeugt Grün Kontraste zur
rötlichen Farbe der Häuser. Wir treten in einen engen
Hauseingang
und
erleben
einen
der
Traboules,
Verbindungsgänge von einer Straße zur anderen, überdachte
schmale Durchgänge, die das ganze Stadtviertel durchzogen und
damals die trockene Lagerung der Seidenballen ermöglichten.
Die Eingänge der Traboules liegen oft versteckt hinter
Hofeingangstüren und waren für Außenstehende nicht leicht zu
finden. Man kann sich gut vorstellen, dass sich hier der
französische Widerstand gegen die deutschen Besatzer
versteckte.
Wir finden in den Höfen Treppentürme mit offenen Fenstern im
italienischen Stil, gotische Bögen, Rippengewölbe mit reich
verzierten Schlusssteinen, heute noch selten erhaltene
Kreuzfenster, italienische Laubengänge. Ich bin verzaubert und
bedaure, dass ich über kein Weitwinkelobjektiv verfüge.
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Beeindruckend ist die Rue de la Juiverie, die Judenstraße. Spielten die Juden auch eine Rolle in
der Vergangenheit? Sicher waren sie als Händler hier dominant.
Wir bekommen eineinhalb Stunden freie Zeit, lösen uns von der Gruppe und bummeln bei
schönstem Sonnenschein über den Pont Bonaparte hinüber in die zwischen den zwei Flüssen
liegende Altstadt. Am Quai des Célestins war Wochenmarkt. Schatten spendende Platanen und
die bunte Vielfalt der Gemüse- und Obststände, das kaufende und schauende Publikum, das
flirrende und wirrende Licht unter den Bäumen, der Blick hinüber über die Saône auf St-Jean
und den Hügel Fourvière, strahlten einen Zauber aus, der nicht zu beschreiben ist. Auf
Rohrstühlen saßen junge Leute, tranken ihren Kaffee, plauderten, es spielte sich das heitere
französische Leben ab, für das ich mir gerne selbst die Zeit nehmen möchte, daran teilzunehmen.
Ich zog Martina weiter. Interessiert schaute auch ich auf die vielen fremden Gemüsesorten, Kohl,
Knollen, Wurzeln und bunten Früchte, das Obst und die Südfrüchte, die es hier nicht so weit wie
bis zu uns haben, die herrlichen Blumen, die uni oder in allen Farben des Regenbogens gebunden
grelle Farbkleckse in das Grün der Gemüsekisten setzten. Da gab es Stände mit Gewürzen, mit
Fisch, Muscheln, Krabben und Austern. Da verkaufte einer nur Nüsse jeder Art, Pistazien;
Maronen brutzelten auf einem Grill, ein anderer bot Pilze an.
Hier stellen aber auch Handwerker, Buchhändler, Antiquare, Künstler ihre Werke zum Verkauf.
Wer hat nicht schon einmal einem Maler über die Schulter geschaut, wenn er auf der Straße eine
schöne Frau konterfeit, hat mit naivem Laienverstand verglichen, ob Ähnlichkeit erzeugt wird?
Und hat nicht dabei die Zeit vergessen? Wer geriet nicht schon einmal in Versuchung, einen
größeren Betrag auszugeben, um ein handgemaltes Bild, dessen Farben noch nicht trocken sind,
zu erstehen? Ich musste mich mit Gewalt losreißen, denn der Verstand sagte mir: Wochenmärkte
kannst du woanders auch sehen. Hier solltest du dich um anderes kümmern.
Wir lenkten unsere Schritte in Richtung
Rathaus, ein erster Orientierungspunkt. Wir
verfolgten das Saône- Ufer weiter über den
Quai St-Antoine, den Quai de la Pêcherie bis
zum Pont Feuillée, über den – meinen Augen
entwöhnt – umweltfreundliche O- Busse rollten.
Hier bogen wir rechts ab, überquerten den
Quai und befanden uns binnen kurzem auf dem
Hauptplatz vor dem Hôtel de Ville, der Place
de Terreaux. Rechts steht das wuchtige
Museum der Schönen Künste. Geradeaus
erhebt sich das monumentale Rathaus, es
beherrscht die "Place des Terreaux". 1672
wurde es – kurz vor der Fertigstellung – von
einem verheerenden Feuer zerstört. Erst
dreißig Jahre später wurde das "Hôtel de Ville"
wieder aufgebaut. Seine kuppelbekrönte
Fassade wurde im Jahre 1700 vom großen
Baumeister Mansart2, der Gottfried Semper
Frankreichs, entscheidend verändert. Unterhalb
der Kuppel wendet sich Henry IV., stolz zu
Pferde sitzend, im Relief, dem Volke zu.
Lyon, Hôtel de Ville, Kuppel mit Henry IV.
2
Mansart, Hardouin-Mansart, Jules, französischer Baumeister, *16. 4. 1646 Paris, †11. 5. 1708 Marly; Großneffe
und Schüler von François Mansart; seit 1685 erster Hofbaumeister Ludwigs XIV., leitete seit 1679 den Bau des
Schlosses in Versailles, entwarf u.a. den Invalidendom in Paris (1693-1706); führte als erster das Mansardendach
ein.
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Hinter dem Zentralkörper befindet sich ein Ehrenhof, den wir aber nicht besuchen.
Mehr interessiert mich auf der linken Seite des Platzes der Vierflüssebrunnen. Auf einem Felsen,
die (französische) Erde darstellend, thront Mutter Frankreich, ein Kind an ihrer Seite. Sie hält die
Zügel von vier Pferden, die aus diesem Felsen herausbrechen und wild schnaubend mit weit
ausgreifenden Hufen nach allen Seiten in das Wasser des Brunnens springen. Dazu hier diese
kleine Historie:
Die Gemeinde Lyon beschließt 1889, die Aufstellung eines neuen Brunnens auszuschreiben. Sie
nimmt Bartholdi3 in Anspruch - dessen berühmtes Kind nichts weniger als die Freiheitsstatue in
New York ist. Der Brunnen, den der Lyoner Magistrat bei ihm bestellt, wird zuerst aber für die
Stadt Bordeaux verwirklicht, die dann aber das Projekt wegen seines Preises ablehnte. Auch
"Panzer der Freiheit" genannt, symbolisiert der Brunnen daher die Garonne und ihre 4 Zuflüsse
(la Pique, la Neste, le Salat, l’Ariège) die sich vereint als Garonne in den Ozean werfen. Nach
einem Übergang durch die Weltausstellung von Paris wird er auseinander genommen, um
schließlich 1892 für Lyon zusammengesetzt und im Westen der Place des Terreaux errichtet zu
werden. Nun steht er zwischen Rhône und Saône und begeistert hier die Besucher und die
Lyoner. Und über die Symbolik denkt kaum einer lange nach. Ich hatte gedacht, es waren die
vier großen Flüsse Frankreichs gemeint, etwa so wie in Nîmes.
Nun wollten wir noch etwas von der Stadt sehen.
Ich konnte Martina überreden, zur Oper zu
gelangen. Dann mussten wir auch die
Grundrichtung zur Place Bellecour halten, denn
die ihn tangierende Rue Col. Chambonnet führte
wieder direkt zum Pont Bonaparte, unserem
Ausgangspunkt. Also marschierten wir auf der
sehr belebten Rue du Président Herriot. Ich
vermutete die Oper irgendwo links, also bogen
wir links ab, suchten, standen vor der Industrieund Handelskammer, keine Oper.
1756 beginnt die Geschichte des Lyoner
Opernhauses. Das heutige Theater verbindet
neoklassizistische Elemente mit zeitgenössischer
Architektur.
Atemberaubend
die
Dachkonstruktion. Heute weiß ich: Sie befindet
sich genau in Verlängerung des Rathauses. Und
wir hätten auf kürzestem Wege das Ufer und
sehenswerte Blicke auf die Rhône erreicht! Die
Rhône ist im Bereich der Stadt nicht schiffbar. Es
gibt aber sehr interessante Brücken in Stahl oder
Beton. So aber endeten die letzten Stunden in
Lyon mit einem nicht minder interessanten
Blick auf Lyon vom Hügel Fourvière
Ladenbummel und einem Salat an der Place
Die Tonne rechts vom Rathaus ist die Oper
Bellecourt. Zur festgesetzten Zeit erreichten wir
wieder unseren Eberhardt- Bus.
XXV. Die Abtei Cluny
S
eitenweise könnte ich noch Fakten über Lyon zusammentragen und auch noch einige
persönliche Eindrücke. Dabei fällt mir jetzt ein, dass das Trennungs- Erlebnis von
Martina in der Boutique Camaïeu nicht in Nîmes, sondern hier in Lyon passierte.
Dichterische Freiheit. Es gibt derzeit etwa 400 Boutiquen dieser Mode- Kette in Frankreich. Und
Martina war auf sie aufmerksam geworden und hatte bereits einige Stücke erworben.
3
Bartholdi, Frédéric Auguste, französischer Bildhauer, *2. 4. 1834 Colmar, †4. 10. 1904 Paris; monumentale
Brunnen und Denkmäler in Colmar, Paris, Bordeaux u.a.; Hauptwerk: Freiheitsstatue im Hafen von New York,
1886 aufgestellt.
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Unsere Tagesreise sollte noch einen Höhepunkt für mich bieten. Auf
unserem Weg nach dem heutigen Nachtlager in Dijon stand der Besuch in
der Abtei Cluny auf dem Programm. Wie viel hatte ich davon schon
gelesen! Wie heftig drängten sich mir dazu alle Querverbindungen wieder
auf, solche Namen wie Bernard von Clairvaux, Abaelard und Heloise,
Cluniazenser und Zisterzienser Mönche, Architektur der Romanik.
Cluny liegt im südlichen Burgund, etwa 15 km von der großen Saône- Rhône- Achse entfernt, in
dem kleinen nord- südlich verlaufenden Tal der Grosne, einem Nebenflusse der Saône.
Wir fuhren von Lyon aus auf der A7 nach Norden über Villefranche-sur-Saône bis Mâcon und
bogen dort nach Nordwesten ab. Von Mâcon waren es noch 20 km. Wir hielten auf einem
großen Parkplatz. Der Himmel war verhangen. Durch ein Tor in einer alten Mauer gelangten wir
in ein weitläufiges Terrain, der Weg stieg etwas an, bis wir an einem Museum Halt machten. Ich
war anfangs enttäuscht. Ich hatte mir mächtige Klostergebäude vorgestellt. Ich erblickte ein
Gemenge von alten Häusern und Ruinen, im Mittelgrund einen hohen und einen weniger Hohen
Turm. Das sollte das mächtige Cluny sein, das mir immer vorgegaukelt war?
Conny stand auf der Treppe vor dem Museum,
sammelte unsere Schar und fragte, wer einen
Rundgang und demzufolge Eintritt bezahlen möchte.
Sofort spaltete sich der Haufen. Es waren nur wenige,
die spontan ja sagten. Zauderer, Uninteressierte,
Sparer und Banausen erklärten, dass sie die zwei
Stunden einen Rundgang durch das Städtchen machen
wollten. Selbst Martina wollte sich von mir trennen.
Ich ließ das aber nicht zu. Solch einmalige
Gelegenheit, auf den Spuren der Geschichte zu
wandeln. Nach entrichtetem Obolus betraten wir das
Klostergelände. Wir stiegen einige Stufen hinab und
wurden auf die Stümpfe von mächtigen Säulen
aufmerksam. Sie gehörten zur Vorkirche, deren Türme
sich
dahinten
am
Blickhorizont
erhoben.
Unvorstellbare Größenordnungen ließen sich erahnen.
Trotzdem erschloss sich mir kein Grundrisskonzept
für diesen Komplex, weder für die Kirche noch für die Unvorstellbare
Anordnung von Gebäuden. Zu wenig war noch Größenordnungen…
kompakt erhalten.
Ich schaute mir einzelne Rudimente an. Viele Namen sind mir fremd, zum Beispiel gelangten
wir als nächstes zum Gelasius- Palast. Seine Fassade besticht uns heutige, die nur noch
hässliche Glas- Beton- Fassaden sehen müssen, mit seiner stolzen Reihe von Maßwerksfenstern.
Dann tauchten wir in das Dunkel dieser
Räume, standen vor Vitrinen, die als
Holzmodell den Korpus des ehemaligen
Klosterkomplexes zeigten. Hier erfuhr ich,
dass es Cluny in drei Epochen oder Stufen
gegeben hat. Dann gelangten wir in die Reste
der Kirche, sahen die ungeheuren Dimensionen
von Höhe und Breite der Abmessungen, und
nur an Hand von Modellen oder Zeichnungen
ließ sich noch erkennen, was hier einmal
gestanden und die religiöse Welt des
Mittelalters beherrscht hat.
Ich habe mich zu Hause eingehend über die Geschichte von Cluny informiert und möchte nun
einiges hier wiedergeben, zunächst zu meiner Erinnerung und auch der des geneigten Lesers.
© Rolf Bührend, Februar 2005
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In einem bewaldeten Tal der Grafschaft
Mâcon wurde am 11. September 910 die
Abtei Cluny gegründet. Neunhundert Jahre
später, fast auf den Tag genau, wurde die
majestätische Kirche in die Luft gesprengt
- Größe und Zerfall eines Klosters, dem
man den Beinamen Zentrum der Welt oder
das zweite Rom verliehen hatte,
Herrlichkeit
und
Zerstörung
einer
Abteikirche, die bis zum Wiederaufbau von
Sankt-Peter im Vatikan die größte Kirche
der Christenheit war. Ein Grund für die
enorme Machtausdehnung des Klosters war
die Gründungscharta, die der Abtei Cluny
außergewöhnliche Garantien zugestand; hinzu kam das politisch-religiöse Umfeld, das seine
Blüte begünstigte.
Der Abt, der im 12. Jahrhundert wie ein Monarch über ungefähr 10.000 Mönche herrschte, war
sein eigener Herr. Er musste sich niemandem unterwerfen, weder dem Bischof noch dem König,
denn das Kloster und seine Güter standen unter dem Schutz des Papstes.
Diese Güter brachten beträchtliche Einnahmen, denn die Wüste, die dem Kloster zu
Anbauzwecken geschenkt worden war, war in Wirklichkeit ein ehemaliges Landgut mit einigen
Bauernhütten. Das Gebiet, das von einem Fluss durchzogen wurde, umfasste Felder, Weinberge,
Gemüsebeete, Wald und Mühlen.
Da die Mönche nicht zu harter Feldarbeit herangezogen wurden, konnten sie umso besser der
Reform des Benedikt von Aniane folgen, der das Gebet wieder in den Mittelpunkt gestellt hatte.
Die Charta verpflichtete die Mönche, Bedürftige und Pilger täglich zu unterstützen, eine Arbeit,
die sich schnell zur wichtigsten Aktivität des Ordens entwickelte. Im 11. Jahrhundert
vervielfältigte die Abtei an den Pilgerstraßen und -orten ihre Priorate mit Nachtquartier, um so
den Gotteswanderern den ohnehin beschwerlichen Weg zu erleichtern und gleichzeitig die
wachsende Religiosität im Abendland zu fördern. Der Orden dehnte sich polypenartig bis nach
Nordspanien aus, drängte spirituell und ökonomisch die muslimische Bevölkerung in den Süden
zurück und half beim Neuaufbau der kirchlichen Strukturen.
Cluny passte sich im religiösen und wirtschaftlichen Leben dem entstehenden Feudalismus an.
Das verhalf dem Orden zu seiner raschen Blüte, besiegelte allerdings auch später seinen
Untergang. Mit diplomatischem Geschick gelang es den Mönchen, Vertrauensbeziehungen zu
den Adeligen der Provinzen und den Großen des Abendlandes zu entwickeln und aufrecht zu
erhalten.
Diese schätzten die Neutralität des Klosters und bewiesen dies mit großzügigen Spenden. In den
Konflikten, die das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das Königreich Frankreich, das
Papsttum und die Lehnsherren miteinander austrugen, wurden die Äbte von Cluny als
Schiedsmänner berufen, deren Leben und Ansehen eng mit dem Orden verknüpft war. Von 954
bis 1109 führten die Äbte Mayeul, Odilo und Hugo - jeder von ihnen war ein halbes Jahrhundert
im Amt - die Kongregation zu ihrem Höhepunkt.
Cluny besaß das bedeutendste Geldvermögen in Europa und herrschte über 2.000 Besitztümer,
die sich von der Lombardei bis nach Schottland erstreckten. Es besaß auch einen unermesslichen
Schatz sakraler Goldschmiedearbeiten. Als die Umstände es erforderten, zögerte man nicht,
daraus Münzen zu gießen. Das unglaublich hohe Lösegeld, das von den Sarazenen für Abt
Mayeul gefordert wurde, ist zum Beispiel so aufgebracht worden.
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Clunys Macht bewies sich nicht zuletzt in der
unvergleichlichen intellektuellen Neugier, die diese
Elitegemeinschaft beseelte. Dort wurden die
Erneuerungen der Wissenschaften, das Studium der
antiken Kulturen und die Übersetzung des Korans in
die lateinische Sprache toleriert und gefördert.
Seinen Einfluss auf die romanische Welt beweist das
Kloster auch im Bereich der Architektur und Plastik.
Der Stil der Abteikirchen Cluny II und Cluny III, wie
sie der Architekt und Archäologe K. Conant nannte,
der ihre Überreste über Jahrzehnte studierte, ist fast
nur in der näheren Umgebung wieder zu finden.
Das majestätische Cluny III, das 187 Meter lang war, umfasste fünf Schiffe und zwei
Querschiffe, von denen heute nur noch letztere teilweise und als kümmerliche Überreste erhalten
sind. Nur der majestätische achteckige Glockenturm, der auch Weihwasserturm - Eau-Benite genannt wird, erhebt sich noch stolz und erinnert an die vergangene Pracht.
Cluny wurde mit Urkunde vom 11. September 910 durch Herzog Wilhelm III. von Aquitanien
als Benediktinerkloster gegründet. Dabei verzichtete Herzog Wilhelm auf jede Gewalt über das
Kloster und schloss jegliche Einmischung weltlicher oder geistlicher Gewalt in die internen
Angelegenheiten des Klosters aus (Exemption).
Für die Verhältnisse des 10. Jahrhunderts war dies eine
enorme Neuerung. Er ernannte lediglich den ersten Abt und
erlaubte dem Konvent danach eine freie Abtswahl. Diese beiden
Kriterien, Exemption und freie Abtswahl, trugen wesentlich zur
Entfaltung Clunys bei. Diese Neuerungen sowie eine strenge
Auslegung der Benediktusregel machten Cluny zum Ausgangsund Mittelpunkt der cluniazensischen Reform, in deren Blütezeit
etwa 1.200 Klöster mit rund 20.000 Mönchen zu Cluny gehörten.
Von 927 bis 1157 wurde Cluny von fünf einflussreichen Äbten
regiert, die zugleich Freunde und Ratgeber von Kaisern,
Königen, Fürsten und Päpsten waren:
 919-927
Berno von Baume
 927-942
Odo von Cluny
 942-964 (948)
Aymardus
 964-994
Maiolus
 994-1049
Odilo
 1049-1109
Hugo von Cluny
 1109-1122
Pontius
 1122-1156
Petrus Venerabilis
Bereits der erste Abt, Berno, brachte Reformideen aus seinem vorherigen
Kloster mit. Unter ihm entstand der Cluniazensische Verband. Sein
Nachfolger, Odo, baute den Verband aus. Dabei wurden entweder neue
Priorate von Cluny aus gegründet oder die Kommunität einer bereits
bestehenden Abtei schloss sich Cluny an. Auch wurden Bitten von
adeligen Klosterherren an Odo herangetragen, in ihren Klöstern Reformen
nach dem Vorbild Clunys durchzuführen. Dafür verzichteten die Adeligen
auf ihren Einfluss auf diese Klöster. Im Cluniazensischen Verband gab es
vier Stufen von eingegliederten Klöstern: In Prioraten war der Abt von
Cluny direkter Oberer. Geleitet wurden diese Priorate von einem Prior, der
dem Abt von Cluny gegenüber ein Treuegelöbnis ablegen musste.
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Die nächste Stufe war die der inkorporierten Abteien. Die Abteien dieser Stufen unterschieden
sich von Prioraten dadurch, dass sie einen eigenen Abt hatten, der aber dem Abt von Cluny
unterstand und diesem ein Treuegelöbnis leisten musste. Die dritte Stufe war die der abhängigen,
von Cluny kontrollierten Abteien. Dies waren in der Regel große Abteien mit intaktem
Wirtschaftsbetrieb, die vorher dem Papst unterstellt waren und die dieser zu Reformen Cluny
übergab und dabei die je eigene Rechtsstellung einer Abtei zu Cluny festlegte. So ernannte etwa
der Abt von Cluny den Abt einer solchen Abtei oder war doch bei seiner Ernennung wesentlich
beteiligt. Die vierte Stufe war die der Abteien, die die Lebensgewohnheiten von Cluny
übernahmen, aber selbständig blieben. Die klösterliche Disziplin im Verband wurde durch die
Kontrolle der eingegliederten Klöster durch den Abt von Cluny aufrechterhalten.
Die Liturgie stand in Cluny im Vordergrund. Mit der Zeit wurde das Chorgebet immer
umfangreicher. So betete jeder Mönch unter Abt Hugo täglich 215 Psalmen, gegenüber den von
Benedikt in seiner Regel vorgesehenen 37 Psalmen täglich. So wurde wegen des umfangreichen
liturgischen Dienstes insbesondere die Handarbeit von den Mönchen vernachlässigt, die sich
dazu Konversen ins Kloster holten. Bei der Liturgie stand das Totengedenken weit oben an. Abt
Hugo führte als allgemeinen Gedächtnistag für alle Verstorbenen den Allerseelentag ein, der
später auch in der Weltkirche begangen wurde und bis heute begangen wird.
Auch die Abteikirche von Cluny (I)wurde den
Anforderungen des vermehrten liturgischen
Dienstes angepasst und zweimal umgebaut,
einmal unter Abt Odilo (981) (Cluny II) und
ein weiteres Mal unter Abt Hugo (1089)
(Cluny III).
Dieser dritte Bau, war bis zum Wiederaufbau
von Sankt-Peter im Vatikan der größte
Kirchenbau der Christenheit mit einem
fünfschiffigem
Langhaus
und
zwei
Querschiffen, von denen heute nur noch
letztere teilweise erhalten sind. Ihre
Entwicklung verdankt die Abtei in besonderer
Form den ersten 6 Äbten.
Abt Hugo (der 6. der eben genannten) vergrößerte die Kirche (bis ins 16. Jh. war sie die größte
der Christenheit) um ein Vielfaches.
Durch seine Prachtentfaltung übte Cluny auch eine hohe Anziehung auf Adelige aus, sodass das
Kloster reiche Schenkungen von Vermögenden bekam. Jedoch wurde trotz der äußeren Pracht
immer Wert auf strenge Askese gelegt. Der Abt beispielsweise hatte nicht, wie Benedikt in seiner
Regel erlaubt und es auch sonst praktiziert wurde, eine eigene Wohnung im Klosterbereich,
sondern lebte mit den Mönchen.
Unter Abt Petrus Venerabilis begann der Niedergang Clunys. Es setzte eine Phase der
Stagnation in der Ausbreitung des Cluniazensischen Verbandes ein. Außerdem zeigten einige
Klöster des Verbandes Verselbständigungstendenzen. Hinzu kam die Auseinandersetzung mit
Bernhard von Clairvaux und den späteren Zisterziensern.
Bei diesem Bernhard von Clairvaux4 möchte ich gern noch verweilen, zumal er mir bei
meinem Besuch im Stift Heiligenkreuz bei Wien und im Kloster Altzella bei Nossen ins
Gedächtnis gerufen wurde, natürlich auch in Verbindung mit dem damals weit verbreiteten
4
Bernhard von Clairvaux, Heiliger, * um 1090 Fontaines bei Dijon, † 20. 8. 1153 Clairvaux; 1115 erster Abt des
Zisterzienserklosters Clairvaux-sur-Aube, gründete 68 neue Klöster seines Ordens; Gegner
Abaelards,
bedeutender Theologe und berühmter Prediger; übte durch die Erneuerung des kirchlichen Geistes bei Adel, Klerus
und Volk großen Einfluss auf seine Zeit aus; Begründer der mittelalterlichen Mystik; gewann 1146 König Konrad
III. zur Teilnahme am 2. Kreuzzug. Heiligsprechung 1174 (Fest: 20. 8.), Erhebung zum Kirchenlehrer 1830.
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Orden der Zisterzienser5. Bernhard war ein Reformer, auch des Kirchenbaus selbst. Er sah die
kreuzförmige Basilika mit einschiffigem Chor und Querschiffskapellen, aber ohne Westturm vor.
Ordenskirchen mussten anders aufgebaut sein als Bischofskirchen. Darüber schrieb er: „Die
Kirche glänzt in ihren Bauten und darbt in ihren Armen; sie überzieht ihre Mauern mit Gold und
lässt ihre Kinder nackend davongehen. Die Scherflein der Bedürftigen werden genommen, um
den Reichen einen Augenschmaus zu bereiten… Was soll das bei Armen, bei Mönchen, bei
Männern des Geistes?“
Cluny hieß das Mutterkloster, wo sich dieser Reformwille entzündet hatte, der einen neuen
Aufschwung in Citeaux (davon abgeleitet Zisterzienser) auslöste. Seit 1122 nahm die CiteauxBewegung selbständige Formen an und Bernhard setzte sich maßgeblich dafür ein.
Was hat es nun mit Abaelard6 auf sich? Ich nannte ihn als den Namen, der mir im
Zusammenhang mit Cluny auffiel. Ich kannte seine Geschichte aus einem Buch von Luise Rinser
„Abaelards Liebe“7. Er war Zeitgenosse Bernhards, kollidierte in einigen seiner theologischen
Schriften mit dessen Auffassungen. Sein Hauptvergehen war die fleischliche Liebe zu Heloise.
Ich zitiere dazu seine Geschichte, der Verfasser möge es verzeihen, aus dem Internet, weil sie ein
beredtes Beispiel unglücklicher Liebe zweier Menschen ist und, wenn man sie liest, 900 Jahre
weggewischt sind wie mit einem Tuch:
Abaelard und Heloise
Sie gehören zu den bekanntesten Liebespaaren des
Mittelalters. Heloise ist um 1100 wahrscheinlich in
Paris geboren. Bewundert wegen ihrer Liebe zu den
Wissenschaften, wuchs sie bei ihrem Onkel Fulbert in
Paris auf traf dort 1117 Abaelard, wurde von ihm
schwanger und heiratete ihn heimlich. Nach dem
tragischen Ende ihrer Beziehung zog sie sich 1118 auf
seinen Wunsch in die Abtei Argenteuil zurück und
wechselte später mit dem ganzen Konvent in das - von
Abaelard gegründete - Kloster Paraklet über, das sie als
Äbtissin zu einem vitalen geistlichen Zentrum machte.
1164 starb sie dort.
Abaelard kam 1079 in Le Pallet bei Nantes in der
Bretagne als Sohn eines Ritters zur Welt. Er stieg zu
einem der berühmtesten theologischen Lehrer seiner
Zeit auf verehrt und verfolgt wegen seiner Bemühungen
um eine vernunftorientierte Begründung des Glaubens.
5
Zisterzienser, auch Bernhardiner, katholischer Mönchsorden, als Reformbewegung aus dem Benediktinerorden
hervorgegangen, 1098 von Robert von Molesme im Stammkloster Cîteaux gegründet; durch Bernhard von
Clairvaux wesentlich gefördert; päpstliche Approbation 1119. Der Zisterzienserorden zeichnete sich anfangs durch
besondere Strenge und Einfachheit in der Lebensweise aus; vorbildliche Bodenbewirtschaftung führte bald zu
großem Reichtum. Die Zisterzienser waren maßgebend an der Kultivierung und Christianisierung der Slawenländer
östlich der Elbe beteiligt, verloren aber bis zum 19. Jahrhundert den größten Teil ihres Besitzes. Heute hauptsächlich
in Seelsorge und Unterricht tätig. An der Spitze des Ordens steht der Generalabt, Sitz: Rom. Zu den bekanntesten
deutschen Zisterzienserklöstern gehören das Priorat Birnau und die Abteien Marienstatt im Westerwald und
Himmerod. - Ordenskleid: weiß mit schwarzem Skapulier und Cingulum. Weiblicher Ordenszweig:
Zisterzienserinnen, seit etwa 1125. Aus einer Reformbewegung im Zisterzienserorden gingen die Trappisten hervor.
6
Abälard, [abe'lar] Abélard, Abaelard, Abaillard, Peter, Philosoph und Theologe der Frühscholastik, * 1079 Palais
bei Nantes, † 21. 4. 1142 Kloster St.-Marcel (Saône); vermittelte durch den Konzeptualismus im Universalienstreit;
wurde mit seiner Schrift „Sic et non“ beispielgebend für die scholastische Methode; der Ethik gab Abälard neue
Maßstäbe, indem er Gesinnung und Gewissen als die ausschlaggebenden Kriterien bezeichnete. Einige seiner
theologischen Lehren wurden kirchlich verurteilt (1121, 1141). Abälard führte ein unstetes Wanderleben und wurde
auch durch seine Liebschaft mit Héloise (* 1101, † 1164) bekannt.
7
Luise Rinser „Abaelards Liebe“, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt/M. 1993, auch im Original:
„Abaelard, Die Leidensgeschichte und der Briefwechsel mit Heloisa“, Verlag Lambert Schneider, Gerlingen
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Seite 121
Seine Affäre mit Heloise endete mit seiner Entmannung durch Gewalttäter, die ihr Onkel Fulbert
gedungen hatte.
Nach einigen Jahren des Exils in der Abtei St. Denis, im Paraklet und im bretonischen Kloster
St. Gildas de Rhuys kehrte Abaelard 1135/36 auf seinen Pariser Lehrstuhl zurück. Seine Werke
wurden jedoch von den Synoden zu Soissons 1121 und Sens 1140 verurteilt, ohne daß er sich
verteidigen konnte. Als ihn der Papst vorübergehend zum Schweigen verdammte, flüchtete
er sich in die Abtei Cluny und starb dort am 21. April 1142. Nach der Verurteilung seiner
Schriften durch das Konzil von Sens am 25. Mai 1141 und seiner endgültigen Verurteilung
zu Klosterhaft und ewigem Schweigen durch den Papst am 16. Juli 1141 wurde Peter
Abaelard überraschend von Großabt Petrus Venerabilis in Cluny aufgenommen und stand
fortan - bis zu seinem Tode - unter dessen Schutz.
Heloise bestattete ihn in ihrem Kloster Paraklet, wo sie selbst ihre Ruhestätte fand. Während der
Französischen Revolution wurde das gemeinsame Grab verwüstet. Heute ruhen beide auf dem
Pariser Friedhof Pere Lachaise.
»Vergiss nicht, daß ich dir gehöre!«
Abaelard und Heloise
(von Christian Feldmann)
Paris zu Anfang des 12. Jahrhunderts: Unter den mächtig aufblühenden Städten Europas ist die
französische Metropole wohl die interessanteste. Wimmelndes Leben überall, Kaufleute und
Troubadoure, Marktweiber und Musikanten, Professoren und Straßenmädchen. Mitten aus
überschäumender Lebenslust flackern abergläubische Ängste auf. Mondäne Vergnügungen
locken Tür an Tür mit den Hochschulen und Klöstern, die Paris zu einer Drehbühne
europäischen Geistes machen.
Doch in diesem Jahr 1117 hat Paris seinen Skandal, der die scheinbar durch nichts zu
erschütternde Weltstadt aufwühlt wie ein verzehrendes Feuer: die Liebesgeschichte zwischen
dem knapp vierzigjährigen prominenten Theologen Petrus Abaelardus und der sechzehnjährigen
Heloise, Nichte eines Domherrn von Notre-Dame. Natürlich machen bald die wildesten Gerüchte
die Runde, doch das ungleiche Paar schert sich überhaupt nicht um den Tratsch. Im Gegenteil,
Abaelard nutzt seine brillante Formulierungsgabe dazu, glühende Liebeslieder auf Heloise zu
texten, die bald auf allen Pariser Gassen und Plätzen gesungen werden. Seine Studenten grinsen
über den kindisch gewordenen Professor, der seine Vorlesungen über die Logik plötzlich mit
anstößigen Beispielsätzen zu würzen beginnt.
Die tragische Liebesgeschichte von Abaelard und Heloise ist von Jahrhundert zu Jahrhundert
immer wieder neu erzählt worden. Der Zyniker Voltaire ließ sich von ihr erschüttern, die
Literaten der Romantik erfanden zahllose Variationen für das alte Motiv. Denn welches
Menschenschicksal aus dem Mittelalter wäre geeigneter, die Phantasie zu beflügeln?
Heloise soll ebenso schön wie intelligent gewesen sein; der Abt von Cluny bescheinigte ihr
später einen »leidenschaftlichen Hang zu echter Bildung«, Disziplin beim Studium und ein
umfangreiches Wissen. Abaelard ist jedoch offenbar nicht bloß wegen seiner Redegabe und
Gelehrsamkeit attraktiv für sie gewesen: »Welche Frau, welches Mädchen sehnte sich nicht nach
dir, wenn du fort warst, entbrannte nicht für dich, wenn du in ihre Nähe kamst?« Natürlich war
es Heloise, die ihn so anhimmelte: »Welche Königin hätte mich nicht um mein Glück, um das
Lager meiner Liebe beneidet?« Abaelard war der Sohn eines Ritters aus der Bretagne. Die
Wissenschaften fesselten ihn so, daß er auf sein Erbe verzichtete, um sich nur noch Studium zu
widmen. Ein glänzender Denker mit einer Vorliebe für Spekulationen und neue Wege, aber
arrogant und unduldsam, überwarf er sich mit all seinen Lehrern. Früh schon zur lebenden
Legende geworden, geschätzt wegen seiner Geistesgaben, gefürchtet wegen seines Charakters,
musste er seine erste Schule am Seine-Ufer außerhalb von Paris gründen. Erst später erhielt er
einen Lehrstuhl in Paris, wo ihn der Domherr Fulbert in sein Haus holte - als Erzieher für seine
liebreizende Nichte Heloise.
© Rolf Bührend, Februar 2005
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»Die Bücher lagen aufgeschlagen vor uns«, wird er sich als alter Mann an die knisternde Erotik
dieser Schulstunden erinnern, »doch unser Gespräch bewegte sich mehr um die Liebe als um die
Philosophie, und es kam schließlich mehr zum Austausch von Küssen als von Worten der
Weisheit. Immer öfter strebten meine Hände zu ihrem Busen hin statt zu den Buchseiten. Und
weit mehr als in den Schriften lasen wir eins in des anderen Augen.«
Die Beziehung zwischen dem alternden, umschwärmten Gelehrten und dem aufblühenden
Mädchen mit seiner kultivierten Intelligenz muss von eigenem Reiz gewesen sein. Beide waren
sie intellektuell neugierig, nicht bereit, sich bürgerlichen Moralvorstellungen anzupassen, aber
absolut erfahren in der erotischen Praxis. Abaelard: »Die Wonnen, die wir erfuhren, waren um so
gewaltiger, als wir sie beide noch nie gekannt hatten und gar nicht müde werden konnten.«
Und an diesem amourösen Glück lässt der Verseschmied Abaelard in seinem verliebten Stolz
ganz Paris teilhaben. Als der würdige Fulbert endlich entdeckt, was sich da hinter seinem
Rücken angebahnt hat, nimmt die Geschichte die Züge eines Melodrams irgendwo zwischen
Shakespeare und Bauerntheater an: Der Professor Abaelard entführt seine als Nonne verkleidete
Heloise bei Nacht und Nebel zu seiner Schwester in die Bretagne. Dort bringt sie einen Sohn zur
Welt, dem die glücklichen Eltern den Namen Astrolabius geben: »der nach den Sternen greift«.
Abaelard willigt in eine heimliche Eheschließung ein, um den wütenden Fulbert zu besänftigen.
Doch da sperrt sich plötzlich die bisher so fügsame Heloise. Nein, sie will diese Heirat nicht. Zur
damaligen Zeit war es einem Kleriker und Kanoniker zwar durchaus noch nicht verboten zu
heiraten. Aber einem so erleuchteten Philosophen, umschmeichelt sie den Geliebten, könne man
die »Belästigungen« des Ehestandes doch nicht zumuten: »Bedenke doch, wie leicht es dann
geschehen kann, daß du, gerade ganz versunken in deine Studien, durch das Quengeln kleiner
Kinder gestört wirst!« Ein richtiger Philosoph, da ist sie ganz hartnäckig, muss die Dinge dieser
Welt fliehen.
Ob sich hinter soviel selbstloser Demut nicht eine massive Kritik an der Institution Ehe verbirgt
(die damals gar nicht so selten war und viele Frauen zur Flucht vor einer Dienstbotenexistenz im
Haushalt ins Kloster trieb)? Sie wäre viel lieber seine Geliebte als seine Gattin, hat Heloise
ihrem ratlosen Bräutigam gestanden. Und als der sich endlich doch mit seinem Heiratswunsch
durchsetzt, schreit sie unter Tränen ihre Enttäuschung heraus: »So bleibt es uns denn nicht
erspart, uns zu verlieren! Und vielleicht unseliger zu werden, als wir selig miteinander waren!«
Sie behält leider Recht. Denn während der erleichterte Fulbert überall die Nachricht von der
endlich in Ordnung gebrachten Verbindung ausstreut, leugnet das Liebespaar die Eheschließung
standhaft ab. Als Abaelard seine Braut auch noch im Kloster Argenteuil versteckt, wird es ihrem
Onkel dann doch zuviel, und die romantische Liebesgeschichte nimmt ein schreckliches Ende:
Abaelard wird nachts in seinem Haus überfallen und bei vollem Bewusstsein entmannt. Ein im
12. Jahrhundert gar nicht so ungewöhnlicher Racheakt.
Gedemütigt zwar, in seiner Männlichkeit für immer zerbrochen, unterwirft der autoritäre
Liebhaber Heloise noch einmal seinem Willen: So wie er sich verstört in die Abtei St. Denis bei
Paris flüchtet, muss Heloise in Argenteuil den Nonnenschleier nehmen. Bitter weinend, aber
entschlossen schreitet sie dem Altar zu, trotzig ein Klagelied des heidnischen Dichters Lukian
zitierend: Jahre später wird sie Abaelard ihre grausame Enttäuschung gestehen: »Ich hätte doch
keinen Augenblick gezögert, dir selbst in die Hölle vorauszugehen oder nachzueilen ... Meine
Seele war ja nicht mehr bei mir, allein nur bei dir.«
Doch nun wächst die kaum 20jährige Heloise weit über sich hinaus. Sie wird eine vorbildliche
Ordensfrau, später sogar Äbtissin. Aus den Jahren 1134/35 ist uns ein erschütternder
Briefwechsel mit Abaelard erhalten, der zeigt, wie überlegen sie dem einstigen Lehrer im
bewussten Durchleben ihrer Liebe ist. Abaelard nämlich verdrängt, vergisst und verrät, was
ihnen so teuer gewesen war. Er passt sich den neuen Verhältnissen an, macht das gemeinsam
genossene Glück als »unreine Begierde« und »widerwärtigste Wollust« herunter, liefert seinen
© Rolf Bührend, Februar 2005
Seite 123
Sittenrichtern eifrig Selbstkritik und peinlich anmutende Reue, wobei er sogar seiner Kastration
einen Sinn als »Beweis ausgleichender Gerechtigkeit schon auf Erden« abgewinnt: Die Gnade
Gottes, so schreibt er, »heilte mich von der Sinnlichkeit, indem sie mich dessen beraubte, mit
dem ich ihr frönte«.
Ganz anders Heloise. Während er zu Kreuze kriecht, lässt sie sich ihre Gefühle nicht verbieten.
Während er sich kalt von dem so schnell vergangenen Jahr voller Zärtlichkeit und Leidenschaft
distanziert, erhält sie Erinnerung daran ein Leben lang als kostbares Geschenk: »Die
Liebesfreuden, die wir zusammen genossen, waren so beseligend süß für mich, daß ich sie nicht
verurteilen noch aus meinen Gedanken vertreiben kann. Wohin ich auch gehe, sie drängen sich
mir in den Sinn, die flüchtigen Erinnerungsbilder, sie schüren mein Verlangen, verfolgen mich
noch im Schlaf ... Und statt voll Reue zu beweinen, was ich getan, kann ich nur seufzen um das,
was ich verlor.«
Sie akzeptiert ihr Schicksal, das Leben im
Kloster betrachtet sie nicht als lästige Pflicht,
sondern als Chance, Gott nahe zu kommen. Aber
sie ist bereit zu falscher Reue. Statt ihre
Erinnerungen durch geheuchelten Abscheu zu
beschmutzen, legt sie die ganz unbändige
Zuneigung ihrer Seele zu Abaelard in die Hände
Gottes: »Es ist einzig und allein die Liebe« stellt
sie kategorisch fest, »durch die sich die Kinder
Gottes von denen des Teufels unterscheiden!«
Dabei ist sie in ihrer Wahrnehmung ebenso
kritisch (Abaelard habe ihr wohl eher
Sinnlichkeit
als
Herzensneigung
entgegengebracht, stellt sie bitter fest) wie
nüchtern und fair: »In der Sünde waren wir zu
zweit gewesen, aber du allein hast dafür
gezahlt«, merkt sie zu seiner Kastration an. »Es
Alltag der Mönche in Cluny,
war wirklich nicht gerecht, daß du als schuldig
Miniatur aus dem Miroir historial von Vincent de Beauvais,
dastandest vor wem auch immer, vor Gott wie
15. Jh., Chantilly, Musée Condé
vor jenen Verrätern.«
Aber gleichzeitig ist die junge Ordensfrau souverän genug, ihre Gefühle zuzulassen und den
Gefährten von einst um Zeichen der Liebe zu bitten - »auch wenn du nur noch mit Worten bei
mir sein kannst statt leibhaftig«. Rührend, wie sie ihn erinnert: »Vergiss nicht, daß ich dir
gehöre!« und verschämt wie ein Schulmädchen gesteht, sie habe stets mehr Angst davor gehabt,
ihm zu missfallen als Gott.
Tatsächlich gelingt es der ebenso sanften wie selbstbewussten Heloise, den sich an seine
Führungsrolle klammernden, in seiner Männlichkeit zutiefst unsicher gewordenen Abaelard zu
einer erstaunlich reifen, seiner Zeit weit vorauseilenden Anerkennung weiblicher Würde zu
führen! Selbstkritisch erinnert er an das tapfere Ausharren der Frauen unter dem Kreuz, wo die
Jünger erschrocken auseinander gestoben seien. Abaelards überraschende Erklärung dafür: Die
Frauen seien eben mehr der Wirklichkeit zugewandt, während es die Spezialität der Männer sei,
endlos über die Realität zu debattieren...
Zwingt ihn die Trennung von der Geliebten dazu, sich ganz in die Welt der philosophischtheologischen Ideen zurückzuziehen? Oder ist es nicht auch der Ermutigung durch Heloise und
dem fruchtbaren Briefkontakt der beiden Querdenker zuzuschreiben, daß Petrus Abaelardus jetzt
im Exil zur Höchstform aufläuft? Seine »Ethik«, Bibelkommentare, eine Fragment gebliebene
»Theologie«, eine Einführung in die wissenschaftlichen Methoden - sie alle zeigen Abaelard
klarer, kompromissloser, strahlender denn je als einen, der selber denkt, statt die klassischen
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Autoritäten nachzubeten. Konsequent wie kaum ein Theologe vor ihm bringt er die Vernunft im
Nachdenken über Gott und die Bestimmung des Menschen zu Ehren. Habe doch Christus selber
gesagt: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben«, und nicht »Ich bin das, was einmal für
immer festgeschrieben wurde«!
Dass der Startheologe aus Paris freilich Elemente der Wahrheit auch in außerchristlichen
Denkansätzen findet, verzeihen ihm seine missgünstigen Kollegen ebenso wenig wie seine
Überzeugung, für die Erbsünde sei nicht der einzelne Mensch verantwortlich zu machen,
sondern nur Adam. Zu gefährlich scheint Abaelards Dialogfreudigkeit (in seinem letzten Buch
lässt er doch tatsächlich einen Juden, einen Christen und einen muslimischen Philosophen
miteinander diskutieren); zu ungewohnt seine Ansicht, in der antiken Philosophie gebe es schon
Bilder und Vorahnungen, die später im Christentum ihre endgültige Klärung und Erfüllung
gefunden hätten; zu verdächtig sein Wunsch, Ungläubige lieber mit Vernunftargumenten zu
überzeugen statt mit dem Schwert zu missionieren.
Anstoß erregt auch seine - von Heloise geteilte - Gesinnungsethik: Nicht nur auf die Tat an sich
kommt es an, sondern auch auf die innere Einstellung, auf die dahinter stehende Absicht mehr
als auf das äußere Verhalten.
So gesehen, kann dieselbe Handlung gut sein oder auch schlecht, je nachdem, in welcher
Gesinnung sie ausgeführt wird. Abaelard: »Gott achtet nicht auf das, was wir tun, sondern auf
den Geist, in dem wir es tun.«
Sie werfen ihm wieder einmal Arroganz und Eigensinn vor. Sie pochen auf die gewiss
vorhandenen Schattenseiten seiner schillernden Persönlichkeit, denen sich jetzt im Alter auch
noch ein richtiggehender Verfolgungswahn beigesellt. Die Bescheidenheit, die sich in seinen
Schriften oft genug auch zeigt, fällt da leicht unter den Tisch: Wie der kleine David gegen den
ungeschlachten Goliath ziehe er mit dem Schwert der Logik los, hat er geschrieben. »Wir maßen
uns nicht an, die ganze Wahrheit zu lehren, sondern allenfalls den Schatten, den die Wahrheit
wirft, ja fast nur ein Gleichnis für sie.«
Umsonst. Ohne ihm Gelegenheit zur Verteidigung zu
geben, hat eine Synode in Soissons sein Buch über die
Dreieinigkeit verdammt: Der Legat des Papstes hat es
unbesehen verbrennen lassen. An treuen Schülern hat es
ihm freilich nie gefehlt, und auch Heloise sieht er
wieder, als ihre Nonnengemeinschaft in die von ihm
gegründete Einsiedelei Paraklet in der Champagne
einzieht. Heloise wird Äbtissin und macht den Ort zu
einem Zentrum geistlichen Lebens; ihre Beziehung zu
Abaelard beschränkt sich darauf, ihn für Vorträge und
als Hymnendichter anzuwerben.
Denn der rastlose Gelehrte hält sich schon wieder
woanders auf. Er ist Abt von St. Gildas de Rhuys
geworden, einsam an der wildzerklüfteten bretonischen
Küste gelegen. Den derben, verlotterten Mönchen fällt
er mit seinen Moralpredigten so auf die Nerven, daß sie
ihm Gift in den Messkelch mischen - Gott sei Dank
ohne Erfolg. Nein, so hat er sich das Leben in
idyllischer Einsamkeit nicht vorgestellt. Erleichtert
Kapelle von Jean de Bourbon, entstanden
nimmt er das Angebot an, wieder in Paris zu lehren 1460, Haus- und Grabkapelle des Erbauers
wo freilich die alten Rivalen schon auf ihn lauern.
Ihre Reihen führt jetzt Bernhard von Clairvaux an, eine der faszinierendsten Gestalten des
Mittelalters, radikaler Bußprediger und glühender Mystiker, kraftvoller Denker und Anreger
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schlichter Volksfrömmigkeit in einem, Verteidiger der Meinungsfreiheit und fanatischer
Kreuzzugsprediger gegen Ketzer und Muslime. Genauso kompliziert wie Petrus Abaelardus,
wird er zu dessen unversöhnlichem Gegner. Er sendet eine Liste von Abaelards Irrlehren an den
Papst, der den unbequemen Franzosen auch zu ewigem Schweigen verurteilt - und dieses Urteil
später auf die Fürsprache des Abtes von Cluny, wo Abaelard Zuflucht gefunden hat, wieder
aufhebt. Ein Jahr später ist Petrus Abaelardus tot.
Heloise überlebt ihren geliebten Freund und Lehrer um 22 Jahre. Der großherzige Abt Petrus
Venerabilis von Cluny ist von ihrer Anhänglichkeit so erschüttert, daß er Abaelards Leichnam
heimlich in Heloises Kloster Paraklet überführen und dort bestatten lässt: »Nun hat Gott ihn vor
dir zu sich genommen«, tröstet er die Äbtissin, »und wird ihn in seiner Güte bewahren, bis ihr
einst wiedervereint seid.«
1164 ist es soweit: Heloise findet ihre letzte Ruhestätte neben dem so lange Betrauerten. Mehr
als die dürre Chronik weiß eine wunderschöne Legende: Als die tote Heloise neben Petrus ins
Grab gelegt wurde, soll dieser seine Arme weit geöffnet und die endlich wiedergefundene
Geliebte in seliger Freude an sich gezogen haben.
Ausschnitte aus ihren Briefen
Zweiter Brief: Heloise an Abaelard:
(...)Aber noch nicht genug, ich traue mich kaum es zu sagen, meine Liebe schlug um in
Wahnsinn; sie opferte in hoffnungslosem Verzweifeln das eine einzige Ziel ihrer Sehnsucht.
Ohne Zaudern - Du, Du gabst ja den Befehl - brachte ich mein altes Gewand und mein altes Herz
zum Opfer, um aller Welt zu zeigen, wie ich Dein eigen sei mit Leib und Seele. Gott ist mein
Zeuge, ich habe je und je in Dir nur Dich gesucht, Dich schlechthin, nicht das Deine, nicht Hab
und Gut. Ein festes Eheband, eine Morgengabe - habe ich je danach gefragt? Du bist mein
Zeuge, nicht meine Lust, nicht mein Wille war je mein Ziel, nein, nur Deine volle Befriedigung.
In dem Namen 'Gattin' hören andere vielleicht das Hehre, das Dauernde; mir war es immer der
Inbegriff aller Süße, Deine Geliebte zu heißen, ja - bitte zürne nicht! - Deine Schlafbuhle, Deine
Dirne. Die tiefste Erniedrigung vor Dir versprach die höchste Huld bei Dir, und ich brauchte so
in meiner Niedrigkeit Deinen Ruhmesglanz auch nicht zu trüben. In dem Trostbrief an den
Freund hast Du meines Herzens wahres Wollen nicht ganz verschwiegen, um Deinetwillen; es
war Dir da nicht zu wenig, den und jenen der Gründe zu nennen, die mich den Ehebund
bekämpfen hießen, um den Liebesbund zu retten. Herr Gott, sei Du mein Zeuge, wenn der Kaiser
käme, der Beherrscher der ganzen Welt sich herabließe, mich zu ehelichen, wenn er mir dabei
die ganze Erde verschriebe und verbriefte zum ewigen Besitz: ich möchte doch lieber Deine
Dirne heißen - und wäre noch stolz darauf - als seine Kaiserin. (...)
(...) Als Du zu Gott Zuflucht nahmst und zu seinem Dienst, da tat ich, wie Du getan, nein, ich
nahm den Schleier vor Dir. Als hättest Du an Lots Weib, das rückwärts schaute, denken wollen erst brachtest Du unserem Gott in mir ein Opfer, ich musste zuerst den Schleier nehmen und das
klösterliche Gelübde ablegen, ehe Du Dich selber Gott weihen mochtest. Ich will es Dir offen
sagen, es tat mir bitter weh, ich wurde über und über rot vor Scham, daß ich darin so wenig
Vertrauen bei Dir fand. Ich wäre doch, weiß Gott, ohne Zaudern auf Dein Geheiß in die Hölle
Dir sogar vorausgeeilt oder doch nachgestürzt. Ich war doch nicht mehr Herr meiner Selbst, in
Dir, nur noch in Dir war es und ist es, ist es jetzt mehr als je! Ist mein Selbst nicht bei Dir, so ist
es nirgends, und ohne Dich hat es kein Sein und Wesen. Lass mein Herz doch bei Dir sein, bitte,
bitte, und bei Dir behütet sein! Es fühlst sich schon behütet, wenn Du ihm ein freundliches
Gesicht machst, wenn Du Liebe mit Liebe vergelten magst, mein Großes mit Deinem Geringen,
mit Deinem schönen Wort mein opfervolles Tun. (...)
(Aus: Abaelard Die Leidensgeschichte und der Briefwechsel mit Heloisa. Verlag Lambert Schneider Heidelberg
1979. Übertragen von Eberhard Brost)
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Cluny I
Cluny II
Wer in Cluny sich eine Vorstellung erarbeiten will, wie es einmal ausgesehen hat, kommt um die
Modellbetrachtung nicht herum. In neuerer Zeit gibt es Computergrafiken, virtuelle
Darstellungen, die natürlich archäologisch fundiert sind, die die räumliche Vorstellung ungemein
unterstützen.
Die Skizzen sind unterschiedlich im Maßstab. Jedoch sieht man, wie eng sich anfangs die Bauern
und Handwerker um das schützende Kloster geschart haben und wie später das Kloster diese
unter seinen Schutz hinter seine Mauern nahm. Erst Cluny III mit der 187 m langen Abteikirche
wird den Aufbau der Gesamtanlage abschließen.
Ich habe mich wieder hinreißen lassen, einen tiefen Blick ins Mittelalter zu tun. Es ist so
spannend nachzuforschen, wie Menschen sich um Erkenntnis bemüht und um Wahrheit
gerungen haben. Wir Heutigen sind auch nur ein winziger Bruchteil der Menschheitsgeschichte
und keinen Deut klüger als die vor 1000 Jahren, wenn es uns nicht gelingt, Frieden zu halten und
uns auf das Wesentliche zu konzentrieren, nämlich allen Menschen auf dem Erdball ein würdiges
Leben zu sichern. Ich habe in meinem Leben wenig Anzeichen dafür entdecken können. Zu
wenig. Dummheit, Kleingeist, Egoismus, Machtgier, Habsucht, Neid, Gewinnstreben, Gewalt,
Hoffart und Mordlust, die ganze Büchse der Pandora8. Kein Licht am Ende des Tunnels?
Doch und doch! 13 km nördlich von Cluny liegt das Dorf Taizé. Dieser Name gewinnt seit dem
Ende des Weltkrieges an Bedeutung, wenn es um die Hoffnung um Völkerverständigung geht.
Ich hörte das erste Mal davon beim Kirchengesang und von meinem Neffen Andreas, dem
Pfarrer. Er erzählte mir von Taizé. Auch Conny erwähnte es. Darf ich noch davon erzählen?
In Taizé gründete Frère9 Roger 1940 eine internationale ökumenische Communauté 10. Die Brüder engagieren sich,
ein Leben lang materielle und spirituelle Güter zu teilen, in Ehelosigkeit zu leben und einen schlichten Lebensstil zu
führen. Heute gehören zur Communauté an die hundert Brüder aus über 25 Nationen, Katholiken und aus
verschiedenen evangelischen Kirchen.
Kern des täglichen Lebens in Taizé bilden drei gemeinsame Gebete. Die Brüder leben von ihrer Arbeit. Sie nehmen
für sich selber keine Spenden, keine Geschenke an. Einige von ihnen leben in kleinen Fraternitäten 11 mitten unter
den Armen.
Seit Ende der fünfziger Jahre kommen zunehmend Jugendliche nach Taizé. Zu Tausenden nehmen sie an den
wöchentlichen Jugendtreffen mit Gebeten und Gesprächsgruppen teil. Die Brüder von Taizé unternehmen auch
8
Pandora, [griechisch, „Allgeberin“], nach Hesiod die erste Frau. Hephaistos erschuf sie im Auftrag des Zeus und
stattete sie mit den Gaben aller Götter aus. Epimetheus heiratete sie gegen den Rat seines Bruders Prometheus.
Einem Gefäß („Büchse der Pandora“), das Pandora öffnete, entwichen alle Übel und überkamen die Menschen. Im
Gefäß blieb die Hoffnung zurück.
9
Frère, frz. Bruder
10
Communauté, frz. Gemeinschaft
11
Fraternitäten, frz. Bruderschaften
© Rolf Bührend, Februar 2005
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Besuchsreisen und bereiten kleinere oder größere Jugendtreffen in Afrika, Süd- und Nordamerika, Asien und in
Europa vor. Sie sind Teil eines „Pilgerwegs des Vertrauens auf der Erde“.
Alles begann 1940, als Frère Roger mit fünfundzwanzig Jahren sein Geburtsland Schweiz verließ und nach
Frankreich zog, in das Land seiner Mutter. Viele Jahre hindurch hatte eine Lungentuberkulose sein Leben
beeinträchtigt. Während der langen Krankheit reifte in ihm die Eingebung, eine Gemeinschaft ins Leben zu rufen, in
der täglich Einfachheit und Güte des Herzens gelebt werden.
Beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hatte er die Gewissheit, daß er – wie seine Großmutter es während des
ersten Weltkriegs getan hatte – ohne zu zögern Menschen zu Hilfe kommen müsste, die Schweres durchzumachen
haben. Er ließ sich im Dorf Taizé nieder, das unweit der Demarkationslinie lag, die Frankreich teilte: eine gute Lage,
um Menschen aufzunehmen, die vor dem Krieg flüchteten. Freunde in Lyon gaben die Adresse von Taizé an
Menschen, die Zuflucht suchten, weiter.
In Taizé hatte Frère Roger mit einer bescheidenen Anleihe ein Haus mit Nebengebäuden gekauft, das seit Jahren
leer stand. Einer seiner Schwestern, Geneviève, schlug er vor, ihm bei der Betreuung zu helfen. Unter den
Flüchtlingen, die sie beherbergten, waren auch Juden. Es gab kaum etwas, auch kein fließendes Wasser, weshalb sie
das Trinkwasser vom Dorfbrunnen holten. Das Essen war mager und bestand unter anderem in Suppen aus
Maismehl, das bei der benachbarten Mühle billig zu haben war.
Aus Rücksicht auf die Gäste betete Frère Roger allein; oft sang er fern des Hauses im Wald. Um bestimmte
Flüchtlinge, Juden oder Agnostiker 12, nicht in Verlegenheit zu bringen, erklärte Geneviève jedem einzelnen, daß er
gegebenenfalls lieber allein in seinem Zimmer beten sollte.
Frère Rogers Eltern wussten, daß seine Schwester und er in Gefahr waren, und baten einen Freund der Familie,
einen französischen Offizier im Ruhestand, ein Auge auf sie zu haben. Er kam dieser Bitte gewissenhaft nach und
teilte ihnen 1942 mit, daß sie entdeckt worden seien und unverzüglich abreisen müssten. Frère Roger konnte 1944
zurückkehren. Er war nun nicht mehr allein; zwischenzeitlich hatten sich ihm die ersten Brüder angeschlossen und
mit ihm ein gemeinsames Leben begonnen, das nun in Taizé fortgeführt wurde.
1945 baute in der Gegend ein junger Mann einen Verein auf, der sich um Kinder kümmerte, die ihre Familie im
Krieg verloren hatten. Er ersuchte die Brüder, eine bestimmte Zahl von ihnen in Taizé aufzunehmen. Eine
Gemeinschaft von Männern konnte aber keine Kinder betreuen. Deshalb bat Frère Roger seine Schwester
Geneviève, erneut nach Taizé zu kommen und den Kindern Mutter zu sein. Die Brüder luden sonntags auch
deutsche Kriegsgefangene aus einem in der Nähe errichteten Lager ein.
Allmählich schlossen sich weitere junge Männer den ersten Brüdern an. Ostern 1949 banden sie sich endgültig zum
gemeinsamen Leben, in Ehelosigkeit und großer Einfachheit. Heute zählt die Communauté de Taizé an die hundert
Brüder, Katholiken und aus verschiedenen evangelischen Kirchen. Sie stammen aus über fünfundzwanzig Ländern.
Durch ihr einfaches Dasein ist die Communauté ein konkretes Zeichen der Versöhnung unter gespaltenen Christen
und getrennten Völkern.
Die Brüder der Communauté de Taizé bestreiten ihren Lebensunterhalt ausschließlich mit dem Erlös ihrer Arbeit.
Sie nehmen keine Spenden an. Ihre persönlichen Erbschaften behalten sie nicht, sondern sie werden durch die
Communauté den Armen gegeben.
Seit den fünfziger Jahren leben einige Brüder an benachteiligten Orten der Erde und sind dort Zeugen des Friedens,
an der Seite von Menschen, die leiden. Derzeit wohnen Brüder in Armenvierteln von Asien, Afrika und Südamerika.
Sie leben in den Verhältnissen der Bewohner mit und versuchen unter den Ärmsten als ein Zeichen der Liebe zu
leben, mit Straßenkindern, Gefangenen, Sterbenden und Menschen, die von zerbrochenen Beziehungen und
Verlassenheit gezeichnet sind.
Auch Kirchenverantwortliche kommen nach Taizé. Papst Johannes-Paul II., drei Erzbischöfe von Canterbury,
orthodoxe Metropoliten, viele Bischöfe, unter anderem die 14 lutherischen aus Schweden, und andere
Verantwortliche waren bei der Communauté zu Gast.
Mit den Jahren nahm die Zahl der Besucher in Taizé zu. Seit Ende der fünfziger Jahre kamen immer mehr junge
Menschen nach Taizé. Seit 1966 wohnen im Nachbardorf Schwestern von St. André, eine vor über siebenhundert
Jahren gegründete katholische Gemeinschaft. Sie übernahmen einen Teil der Aufgaben bei den Treffen. Seit einigen
Jahren arbeiten auch polnische Ursulinen mit.
Ab 1962 reisten Brüder und auch Jugendliche von Taizé aus unaufhörlich in die Länder Mittel- und Osteuropas, um
dort ohne Aufhebens Menschen zu besuchen, die ihre Heimatländer nicht verlassen konnten. Nach dem Mauerfall
und den Reiseerleichterungen haben die längst vertieften Kontakte mit den Christen der Ortskirche eine noch
größere Bedeutung.
12
Agnostizismus, griech. Lehre von der Unerkennbarkeit der Dinge und der Wirklichkeit, vor allem auch des
Absoluten; meist vertreten im gemäßigten Positivismus. Auch Kants Lehre von der Unerkennbarkeit des „Dinges an
sich“ und von der Unmöglichkeit von Gottesbeweisen wird als Agnostizismus bezeichnet.
© Rolf Bührend, Februar 2005
Seite 128
Von Anfang Februar bis Mitte November kommen jede
Woche Jugendliche aus verschiedenen Erdteilen auf den
Hügel von Taizé. Sie suchen in Gemeinschaft mit vielen
andern nach einem Sinn für ihr Leben. Sie sind
unterwegs zu den Quellen des Vertrauens auf Gott. Sie
machen sich auf einen inneren Pilgerweg, der sie
ermutigt, Vertrauen unter den Menschen zu stiften.
In manchen Sommerwochen kommen mehr als 5000
Jugendliche aus 75 Ländern zu diesem gemeinsamen
Abenteuer zusammen. Es ist nicht zu Ende, wenn sie
wieder zu Hause sind: Sie haben eine erneuerte
Einfühlsamkeit für das innere Leben und sind eher
bereit, Verantwortung zu übernehmen, wo es darum
geht, die Erde bewohnbarer zu machen. Und geben das
weiter.
In Taizé sind die Jugendlichen bei einer Communauté
Auf dem Hügel von Taizé
von Brüdern zu Gast, die sich mit einem lebenslangen Ja
auf die Nachfolge Christi eingelassen haben.
Auch zwei Schwesterngemeinschaften arbeiten bei den Treffen mit. Mitte jeden Tages bilden die drei gemeinsamen
Gebete mit vielen Gesängen und einer Zeit der Stille, zu denen alle zusammenkommen, die auf dem Hügel sind.
Jeden Tag geben Brüder der Communauté Bibeleinführungen, danach ist Zeit zum persönlichen Nachdenken, bilden
sich Gesprächsgruppen, übernehmen die Jugendlichen verschiedene Arbeiten, die bei den Treffen anfallen. Es ist
auch möglich, eine Woche ganz in die Stille zu gehen und das eigene Leben im Licht des Evangeliums zu
betrachten.
Nachmittags finden thematische Treffen statt, bei denen die Quellen des Glaubens und die Gegebenheiten der
pluralistischen Gesellschaften in der heutigen Welt miteinander in Verbindung gebracht werden: „Ist Verzeihen
möglich?", „Globalisierung als Herausforderung", Wie kann ich auf den Ruf Gottes antworten?", „Welches Europa
wollen wir?" und vieles mehr. Es gibt auch Zusammenkünfte, bei denen bildende Kunst und Musik eine Rolle
spielen.
In Taizé hören Jugendliche aus der ganzen Welt mit viel Zeit und Ausdauer einander zu. In den Begegnungen stellt
sich heraus, daß es bei aller Vielfalt der christlichen Überlieferungen und der Kulturen gemeinsame, einmütige
Wege gibt, eine tiefgehende Einheit. Es werden tragfähige Grundlagen für konkrete Engagements gelegt, in der von
Spaltungen, Gewalt und Vereinsamung gezeichneten Welt Vertrauen zu bilden und Frieden zu stiften.
In Taizé machen sich alle auf einen „Pilgerweg des Vertrauens auf der Erde". Es wird also im Umfeld der
Communauté keine fest organisierte Bewegung aufgebaut. Jede und jeder ist eingeladen, zuhause weiterzuleben,
was während der Woche wichtig geworden ist, für das eigene innere Leben und für gemeinsame Schritte mit vielen
anderen, die auf derselben Suche nach dem Wesentlichen sind.
Gibt das nicht Hoffnung? Ich finde nur, dass dieser Weg über die Kirche leider nur die wenigsten
Jugendlichen erreicht. Die meisten sind Opfer des Zeitgeistes, und der wird vom Geld und seinen
unseligen Folgen vorgeschrieben. Soweit Taizé! Ganz in der Nähe von Cluny.
Was haben wir noch gesehen? Wie will man
sich in einer dreiviertel Stunde hier vertiefen?
Wir
erlebten
die
Faszination
des
klassizistischen Kreuzganges in Cluny III,
Licht und Schatten seiner Wandelgänge. Gut,
ich bekam ein Gefühl und Respekt für die
gewaltigen Ausmaße dieser Anlage, die Dicke
der Mauern, die Höhe der Ruinenreste. Das
Kirchenschiff war 30 Meter hoch! Noch im 19.
Jahrhundert konnte man die große Apsis mit
den
fünf
radialen
Chorkapellen
nachempfinden.
Modell von Cluny III
Die Kapitelle fanden wir noch im ehemaligen Getreidespeicher und Weinkeller des Klosters,
entstanden im 13. Jh. Dessen Dachstuhl (1275) ist interessant. Sein gotisches Gespärre ist aus
Eichenbalken tonnenförmig ausgebildet und hat immense Spannweite. Es ist ein
Ausstellungsraum, in dem wir verschiedene Modelle vorfinden. Die acht Kapitelle des Chors der
© Rolf Bührend, Februar 2005
Seite 129
Apsis von Cluny III sind vorhanden, ein Lapidarium13 der Romanik ersten Ranges. Andere
Kapitelle zeigen Adam und Eva, das Opfer Abrahams, Akanthusblätter, Fabeltiere, biblische
Symbole. Das ist wohl einmalig.
Vor dem Speichergebäude stehen große irdene Töpfe mit lebenden Gewürzpflanzen, wie sie
wohl von den Mönchen damals angebaut wurden. Das zu erriechen und bestaunen in seiner
Vielfalt und mancher Seltenheit ist allein ein botanischer Leckerbissen.
Ich kaufe ein Prospekt und einige Ansichtskarten und überrede Martina noch zu einem kurzen
Umweg in das Städtchen Cluny, das eine schöne romanische Kirche besitzt. Wir gehen durch das
Ehrentor wieder in die Anlage hinein, und ich konnte nicht umhin, in allerletzter Viertelstunde
noch einen Blick in das Museum zu werfen, das ja ehedem die Residenz des Abtes Jean de
Bourbon war. Die reiche Pracht der Innenräume dieses Prälaten- Palastes kam der eines
weltlichen Fürsten gleich: Es gab einen Gardesaal und einen Empfangssaal, Wohngemächer,
Küchen, Kreuzgang und Kapelle. Treppen in Außentürmen verbanden die langen Saalfluchten,
die mit prächtigen Kaminen ausgestattet waren. Als ich einen fotografieren will, wurde ich
verwiesen und vermahnt. Es war nicht erlaubt. So wurde meine Entdeckerfreude noch etwas
gedämpft. Abschied von Cluny. Es ist 15.30 Uhr. Marsch zum Bus. Weiterfahrt nach Dijon.
XXVI. Dijon
A
ls hätte das Wetter uns diesen Besuch in Cluny nicht vergällen wollen, fing es aber jetzt
an, je weiter wir nach Norden fuhren, immer schlechter zu werden, bis es dann, als wir
gegen 19 Uhr in Dijon vor dem Hôtel Campanile vorfuhren, gewaltig zu regnen anfing.
Ein nasser Empfang in der Hauptstadt des Départements Côte d’Or in der Region Bourgogne.
Insgesamt sind wir heute 261 km gefahren. Wir bezogen Zimmer, schleppten die Koffer hoch,
richteten uns für eine Nacht ein, das heißt entnahmen ihnen nur das Notwendigste. Das
Abendessen war wie auf der ganzen Reise eine Strapaze: Massenabfertigung für fünfzig Leute.
Hauptgang Fisch. Ich musste erst mit mangelhaftem Französisch der hübschen Kellnerin
verständlich machen, dass sie uns etwas anderes bringen möchte, was dann auch klappte.
Donnerstag, 11. September 2003
ir konnten „lange“ schlafen. Erst 8.00 Uhr Petit Déjeuner. 10.00 – 12.00 Stadtführung.
Wieder darf ich mich mit einer neuen Region, mit einer für mich neuen Stadt
beschäftigen.
Über das Weinland Burgund will ich mich nicht auslassen, über seine Produkte ist es hinlänglich
bekannt. Aber über seine Geschichte habe ich mich etwas informiert. In der Schule wurde sie mir
schmählich verschwiegen, obwohl sie zur deutschen Geschichte gehört. Das Burgund, französisch
La Bourgogne, ist eine historische
Landschaft, heute eine große französische
Region
mit
über
1,6
Millionen
Einwohnern, sie umfasst die Départements
Côte d'Or, Níèvre, Saône-et-Loire und
Yonne. Wir befinden uns heute in ihrer
alten Hauptstadt Dijon. Ihr Kernland ist das
fruchtbare
Saônebecken,
natürliches
Durchgangsland
mit
wichtigen
Verkehrswegen zum Oberrheinischen
Tiefland (Burgundische Pforte), zum
Seine- und Loirebecken (Canal du Centre)
und zum Rhônegebiet.
W
Das erklärt für diesen Landstrich geografisch die Wanderwege der Völker im 3. Jahrhundert
im Norden Europas, als die Römer den gesamten Mittelmeerbereich beherrschten.
13
Lapidarium, Sammlung von Steindenkmälern, Grabsteinen, Sarkophagen, Altären, Grenzsteinen, Skulpturen u.ä.
© Rolf Bührend, Februar 2005
Seite 130
Durch diese Burgundische Pforte sind sie marschiert, die Burgunder, kommend aus dem
Landstrich, in dem wir heute wohnen. Seltsam, man könnte also sagen, heimische Gefilde. Die
Burgunder sind ein ostgermanischer, ehemals aus Skandinavien stammender Volksstamm, der in
der 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts n. Chr. den Rhein erreichte und um Worms ein Reich gründete.
Allerdings wurde der größte Teil dieses Volkes 436 im Kampf um die römische Provinz Belgica
vernichtet (historischer Kern der Nibelungensage), der Rest siedelte 443 zwischen Genfer See
und Rhône mit der Hauptstadt Lyon.
Das seit 461 bestehende Reich der (germanischen) Burgunder wurde
534 von den Franken unterworfen. Das Königreich Burgund
entstand aus der Erbmasse des Fränkischen Reichs. Um 934 wurden
Nieder- und Hochburgund zum Königreich Burgund vereinigt. In
der Folgezeit ergaben sich enge Beziehungen zum deutschen
Königtum, dessen Lehnsoberhoheit anerkannt wurde: 1156 heiratete
Kaiser Friedrich I. (Barbarossa) Beatrix von Burgund
(Freigrafschaft Burgund), 1178 wurde er in Arles zum König von
Burgund gekrönt. Im späten Mittelalter kamen die westlichen Teile
von Burgund unter französische Herrschaft, formal bestand jedoch
die Lehnshoheit des Reichs weiter.
Région Bourgogne heute
Das Herzogtum Burgund wurde unabhängig von den burgundischen Königreichen gegründet.
1032 fiel es an eine Nebenlinie der Kapetinger1; nach deren Erlöschen wurde es 1363 von König
Johann dem Guten dessen jüngstem Sohn Philipp (dem Kühnen) übertragen. Damit begann die
große Zeit des Herzogtums Burgund; Philipp gewann durch Heirat Flandern, das Artois und die
Freigrafschaft Burgund dazu. Seine Nachfolger, Johann ohne Furcht und Philipp der Gute,
dehnten ihre Macht weiter aus, besonders in den Niederlanden. Karl der Kühne hatte eine
glänzende und machtvolle Stellung unter den europäischen Herrschern inne; er unterlag jedoch
1476 den Eidgenossen und fiel 1477 bei Nancy im Kampf gegen den Herzog von Lothringen.
Um das Erbe entbrannte ein Kampf zwischen Habsburg und der französischen Krone. Der
spätere Kaiser Maximilian I., der die Erbtochter Maria von Burgund geheiratet hatte, konnte die
Herrschaft in den größten Teilen behaupten. Die Bourgogne fiel an Frankreich.
Das wars. Wie viele unbekannte Menschen in diesem Krimi einbezogen waren, verschweigen
die Geschichtsschreiber, zumal sie sowieso das gemeine Volk immer dabei auslassen. Erwähnt
werden die Lenker der Massen, die hoch zu Ross die Ziele ihrer Interessen vorgeben. Wer hat
eigentlich heute diese Rolle inne? Die Politiker? Sie verwalten nur den Reichtum. Nein, sie sind
nur willfährige Marionetten der wirklich Mächtigen. Und das sind die, die den Reichtum
besitzen.
Wir trafen uns vor dem Office de Tourisme an der Place
Darcy. Ich angelte mir noch schnell einen Stadtprospekt.
Dieser dient mir heute als nachträgliche Orientierung. „Der
Rundgang der Eule“, ist er überschrieben. Er soll den
„Charme“ von Dijon vermitteln. Ich benutze ihn jetzt.
Hinter dem Fremdenverkehrsamt beginnt der Jardin Darcy.
Er wurde 1880 rund um einen Wasserspeicher angelegt, den
der Ingenieur Henry Darcy 40 Jahre zuvor gebaut hatte, um
die Stadt mit Wasser aus dem Tal Val Suzon zu versorgen.
Ich staune, wieso der Eingang von einer blendend weißen
Skulptur eines Eisbären bewacht wird.
1
Kapetinger, französisches Königsgeschlecht von 987-1328, in Nebenlinien mit Unterbrechung bis 1848 (Valois
1328-1589; Bourbon 1589-1792 und 1814-1830; Orléans 1830-1848). Die Kapetinger leiten ihren Namen von
Hugo Capet ab, dem es erstmals gelang, die französische Krone seinem Haus zu erhalten.
© Rolf Bührend, März 2005
Seite 131
Ich erfahre, dass er zum Andenken an François Pompon, einem berühmten Tierbildhauer hier
aufgestellt wurde.
Am Eisbären vorbei verlässt man den Garten durch ein wunderschönes Gittertor und schaut auf
die Porte Guillaume, das so genannte Wilhelmstor, ein Triumphbogen aus dem 18. Jahrhundert.
Dahinter beginnt die Rue de la Liberté, eine der größten Einkaufsstraßen Dijons. Wir biegen aber
vorher ab in die Rue de la Poste und erblicken das Achtung gebietende Gebäude La Poste
Grangier2. „TELEGRAPHES- POSTES- TELEPHONES“ steht oben und lässt keinen Zweifel an
seiner Bestimmung. Ich bewunderte es als architektonisches Meisterwerk, das einem
Fürstenpalast gleichkommt, es ist ein Bau im Jugendstil mit Pagodendach.
Wir kamen in die Rue Musette und erblickten
einen seltsamen Aufzug. Aus der Kathedrale
Notre Dame quoll ein Défilée Uniformierter mit
Fahnen, ernst, feierlich, würdevoll, ohne Musik.
Sie gingen im Gleichschritt. An ihrer Brust
prangten zahlreiche Orden. Dahinter reihten sich
Leute ein. Es war ein langer Zug. Die Passanten
blieben stehen. Mir gingen Gedanken in den
Kopf. Ich rätselte. Was feierte man? Wer waren
die Teilnehmer. Ich konnte es nur ahnen. Bis
heute habe ich es nicht erfahren können.
Veteranen aus dem Weltkrieg? Aber heute, zum
11. September? Vielleicht ist Dijon im Herbst
1944 schon von den Deutschen befreit worden?
Als dieser Zug an mir vorbei marschierte, fühlte
ich: Hier schlägt das Herz dieser Menschen. Hier
feiern sie die Wiederkehr ihrer nationalen
Freiheit, das Ende der Besetzung durch die
Deutschen. Und zu den Deutschen gehöre ich, zu
den ehemaligen Feinden. Und wieder fühle ich
ganz stark: Du darfst jetzt hier Gast sein! Unsere
Väter waren noch gehasste Feinde.
Einige hundert, vorwiegend ältere Menschen, zogen schweigend vorbei. Dann löste sich alles
auf, wie ein Spuk.
Wir näherten uns der Kathedrale Notre Dame. Sie stammt aus dem 13. Jahrhundert. Hier sind
vor allem die drei Reihen Wasserspeier zu bewundern, die durch hohe Bogenfenster getrennt
sind. Jeder Speier ist anders gestaltet. Tiergestalten, Narren und allerlei Fabelwesen führen das
Regenwasser vom Gebäude weg – denkt man! Aber es sind falsche Wasserspeier. Sie dienen nur
zur Zierde. In dieser Form hatte ich das noch nicht gesehen. Es gibt eine Geschichte zu den
Wasserspeiern:
Nur noch wenige an den Seiten der Kirche sind aus dem 13. Jahrhundert erhalten geblieben. Der
Sage nach soll ein Wucherer auf Brautschau von einem herabstürzenden Wasserspeier an der
Fassade erschlagen worden sein. Seine Rechtsnachfolger sollen den Abbruch der restlichen
Wasserspeier durchgesetzt haben…Erst 1881 erhielt der Bildhauer Lagoule den Auftrag, die
noch heute sichtbaren falschen Wasserspeier zu entwerfen. Blendwerk!
Oben thront die Turmuhr „Jacquemart“. Der Herzog erbeutete diese Turmuhr im Jahre 1383 in
Courtrai und schenkte sie Dijon als Dank für ihre Unterstützung im Flandernfeldzug. Im 17. Jh.
machte man sich über das „Zölibat“ der Turmuhr Jacquemart lustig und verhalf ihr kurzerhand
zu weiblicher Gesellschaft in Form einer „Jacqueline“. Im 18. Jh. belustigte sich das Volk über
deren „Kinderlosigkeit“, und bald wurde ein Uhrwerk „Jacquelinet“ entworfen, dem sich im 19.
Jh. eine „Jacquelinette“ hinzugesellte, um die Viertelstunden zu schlagen.
2
Grangier: Platz und Gebäude wurden nach Henri und Sophie Grangier benannt, die der Stadt einen Großteil ihres
Vermögens hinterlassen haben.
© Rolf Bührend, März 2005
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Auf dem Weststrebepfeiler der Kapelle an der Kathedrale, die im 15. Jh. von der reichen Familie
Chambellan angebaut wurde, ist in Kopfhöhe eine kleine Eule eingelassen. Früher war sie sicher
aus Stein. Heute ist sie aus Bronze und glänzt durch ständige Streicheleinheiten wie Gold in der
Sonne.
Im Laufe der Jahrhunderte ist die Eule für Passanten, die mit der linken Hand sie
berühren, zum Glücksbringer geworden. Das Volk liebt sie, und eine Unzahl von
Dijonnais, Jugendliche und Alte liebkosen sie mit der linken Hand, indem sie
heimlich einen Wunsch aussprechen, den ihnen die Eule erfüllen soll. Die
Ursprungserklärung, warum sie Glück bringe, ist verloren gegangen. Seine
Existenz
ist
ebenfalls
Gegenstand
zahlreicher
Interpretationen.
Hier
ist
die
erste
Deutung,
die
man
vertreten
kann:
Die Eule symbolisierte im Altertum die Weisheit. Es ist im Übrigen der durch
Athéna gewählte Vogel, die Göttin der Weisheit, denn die Eule bleibt wach und
sieht deutlich in der Dunkelheit. Die Notre-Dame-Kirche von Dijon im Mittelalter
La Chouette
ist jene der Gemeinde, und die Bürgermeister sind logisch vernünftige und weise
Männer.
Wir berührten folgende sehenswerte Stellen:
1)
3)
4)
5)
6)
7)
Jardin Jarcy
Porte Guillaume
Die Post an der Place Grangier
Les Halles – Die Markthallen
Place François Rude
Rue de Forges : Hôtel Aubriot Nr. 40, Maison
Maillard Nr. 38, Hôtel Chambellan Nr.40
8) Notre Dame
9)
Die Eule. Sie berührte ich mit der linken
Hand und wünschte mir etwas!
© Rolf Bührend, März 2005
10) Maison Millière
11) L’hôtel de Vogüé
12) Place du Théâtre
14) Tour de Bar – Das Rathaus
15) Palais des Ducs et des Etats de Bourgogne –
Herzogspalast und des Staates Burgund
Musée des Beaux Arts (Kunstmuseum)
17) Place de la Libération
18)
Palais
de
Justice
Justizpalast
Seite 133
Eine andere, dem symbolischen Christentum nähere Interpretation der Eule ist ebenfalls
möglich: Die Christen des Mittelalters meinten, daß die Juden nach dem Beispiel der Nachtvögel
die Dunkelheit vorziehen. Diese Eule, die in diesem Fall die Juden symbolisiert, wird in den
Norden der Kirche (Seite ohne Sonne, ohne Licht) und außerhalb des katholischen Heiligtums
(Ablehnung des Judentums) gesetzt. Eine andere Tatsache kann diese Auslegung unterstützen:
Notre-Dame war im Mittelalter von einem Markt umgeben, und die Aktivität allein, die den
Juden zu dieser Zeit erlaubt ist, war der Handel mit Geld.
Oder es ist vielleicht ganz einfach die Unterschrift eines Künstlers oder eines Handwerkers, der
an der Konstruktion der Kirche teilgenommen hat? Mit der Bezeichnung Chouet?
Die kleine Gasse heißt denn auch Rue de la Chouette1.
Ein paar Schritte weiter sehen wir ein höchst imposantes Haus, das Hôtel de Vogüé. Es ist eines
der schönsten Bürgerhäuser der an altehrwürdigen Häusern wahrlich reichen Stadt. Erstmals
wurde ich der bunten glasierten Dachziegel gewahr, die hier in Burgund die Dächer historischer
Bauten so wunderbar zieren. Es hat einen Innenhof und einen Garten aus dem 17. Jahrhundert.
Es wurde für den Parlamentsvorsitzenden Etienne Bouhier gebaut, später an die Familie Vogüé
1782 verkauft. Heute ist es Stadtbesitz und für Veranstaltungen genutzt.
Wir brauchten uns nur zu drehen, da sahen wir das wahrscheinlich älteste noch erhaltene Haus
Dijons, das Maison Millière. Es glich einem Hexenhaus. 1483 von einem Händler Guillaume
Millière gebaut, hat es bis heute sein mittelalterliches Aussehen bewahrt, der Laden im
Erdgeschoss, die Wohnung des Handwerkers im Obergeschoss. Noch heute besteht die Fassade
aus Holzfachwerk mit Ziegelfüllung. Auf dem Dachfirst thronen eine Katze mit erhobenem
Schwanz und eine sitzende Eule (seltsam, Eulen werden immer als sitzend abgebildet!). Die
wurden aber erst im 20. Jh. angebracht. Das Häuschen ist an sich schon eine Attraktion. Es wird
häufig für Filmaufnahmen genutzt, zum Beispiel wurde für eine Verfilmung des „Cyrano de
Bergerac“ mit Gérard Depardieu hier gedreht.
Unsere sympathische Stadtführerin wies uns auf die Intimität und besondere Atmosphäre des
Antiquitätenviertels hin, das sie uns nach dem Rundgang noch ans Herz legte. Es hat enge
Gassen, in denen die Häuser nach oben auskragen, eines sich ans andere lehnt, die Fußwege ein
Mann breit sind. Schon die Straßennamen wie Rue Verrerie (Glaswaren), Rue du Marchés-auxPorcs (Schweinemarktstraße), Rue des Tondeurs (Schafschererstraße) erinnern an das hier
ansässige Handwerk.
Wir schauten von der Place François Rude hinein in die engen Gassen und wünschten uns
wieder einmal mehr Zeit. Dieser Platz wurde im Jahre 1904 nach dem Abriss eines
altertümlichen Häuserblockes gebaut. Seinen Namenm verdankt er dem berühmten Bildhauer
aus Rude aus Dijon, dessen Geburtshaus hier steht und dessen Relief „LA Marseillaise“ den
Triumphbogen von Paris schmückt.
Wir standen auf der Place des Ducs, auf dem Herzogsplatz, im Rücken des Herzogspalastes,
einer kleinen verkehrsberuhigten Insel mit etwas Grün. Plötzlich ertönte aus einem offenen Tor,
das in einen dunklen Flur in den Palast führte, ein Trompetensignal. Die junge Französin wollte
uns gerade etwas über dieses Bauwerk sagen, da hub eine Fanfare die ersten Töne der
Marseillaise an. Wir standen still und lauschten, weiteres Gespräch verbot sich von selbst.
Hundertstimmiger Gesang klang auf, und die Männer von vorhin hoben ihre Nationalhymne
empor und trugen sie hinaus zu uns, inbrünstig, stolz, triumphierend, kraftvoll. Dieses schlichte
spritzige Lied der französischen Revolution ist mir sowieso sympathisch und ein Ohrwurm, ich
höre es gerne, aber in diesem Moment, mit dem Hintergrund der Fahnenparade vor Notre Dame,
den ernsten Männern mit ihren Orden und Fahnen und den plötzlich in mir auftauchenden
Bildern aus der Geschichte, den Leiden der einfachen Menschen in den unseligen Kriegen- da
quoll in mir das Wasser hoch, ich musste mich beherrschen, um nicht mit nassen Augen
1
chouette: frz.(Schleier-) Eule, als Adjektiv: gut, sympathisch; als Ausruf : Prima, fabelhaft!
© Rolf Bührend, März 2003
Seite 134
dazustehen. Ich weiß nicht, wie meine Reisegefährten in diesem Augenblick fühlten,
sekundenlang vielleicht ähnlich, wir tauschten uns darüber nicht aus. Ich bin seit jeher etwas
neidisch gewesen auf den Nationalstolz der Franzosen. Worauf sollte ich als Deutscher stolz
sein? Auf das, was Deutschland seit 1871 in Europa veranstaltet hat?
Wir gehen in den Palasthof hinein, einen von dreien, den
mit dem Tour Bar, dem Rathausturm. Dieser Turm ist
einem mittelalterlichen Bergfried nachempfunden. Sein
Bau begann 1365 unter Philipp dem Kühnen und verdankt
seinen Namen René von Anjou, Herzog von Bar und
Lothringen, König von Ungarn, Jerusalem und Sizilien,
der von 1431 bis 1437 in diesem Turm eingekerkert war.
Er bildet den ältesten Teil des Palastes.
Der derzeitige Palais des Ducs et des Etats de
Bourgogne war ursprünglich nichts weiter als eine an das
galloromanische Castrum angrenzende Residenz. Philipp
der Kühne, der erste der vier großen Herzöge, baute es
1366 wieder auf. Danach wurde es von den folgenden
Herzögen ständig vergrößert. Philipp der Gute erbaute die
herzoglichen Gemächer und den Terrassenturm, der heute
seinen Namen trägt. Im 17. Jahrhundert begann die
klassische Umstrukturierung des Palastes nach Plänen von
Jules Hardouin Mansart. Der Umbau wurde erst im 19.
Jh. fertig.
Heute beherbergt er das Museum für Schöne Künste. Martina lotste mich hinein, weil sie mal
musste. Dann gingen wir in den zweiten Hof des Palastes, den zentralen Teil. Dort standen
unsere Veteranen von vorhin. Ich konnte Kameras entdecken, deutsche Kameras. Ich entdeckte
Reporter vom Bayrischen Rundfunk und Fernsehleute von der ARD, einige Offizielle, sicher
auch Stadtobere, aber wir kannten sie ja nicht. Einen Rundgang im Palast zielten wir nicht an, so
schauten wir uns noch ein bisschen um und traten mit Trennungsblick auf das Palais des Etats
auf einen der schönsten königlichen Plätze Frankreichs, die Place de la Libération. Halbrund
angelegt, bildet dieser 1685 geschaffene Platz, den bis zur französischen Revolution ein
Reiterdenkmal Ludwig XIV. zierte, das aber zu Kanonen eingeschmolzen wurde. Von hier blickt
man zu dem mächtigen Justizpalast hinüber, der ehemalige Sitz des Burgunder Parlaments.
Dijon, Rue des Forges Nr. 38
Maison Maillard
© Rolf Bührend, März 2003
Wir sammeln uns noch einmal zum letzten
gemeinsamen Gang in der Rue des Forges, der Straße
der Schmiede, nahe beim Herzogspalast. Drei Häuser
sind es, die wir uns genauer ansehen. Die Nummer 38
ist das Maison Maillard, genannt das Milsand- Haus.
1560 für den Bürgermeister von Dijon gebaut, hat es
heute eine herrliche Renaissance- Fassade. Sie wird von
einer Fülle von Tiermotiven geschmückt. Besonders
wird gern geachtet auf den „Burgunder Kohlkopf“ und
die Figuren mit Halstuch. Das sind die beiden
berühmtesten Motive des Künstlers Hugues Sambin,
der gleichermaßen als Architekt, Schreiner und
Zeichner zu rühmen ist.
Daneben, das Haus Nr. 40, Hôtel Aubriot, war lange
Zeit Depot für die Geldreserven der Stadt. Zu seiner
Zeit, nämlich im 13. Jahrhundert, war Guillaume
Aubriot für das in den Kellern untergebrachte
Münzwechslergewölbe verantwortlich.
Seite 135
Wir gehen in den Hof dieses Hauses, finden ein
Fremdenverkehrsamt in den historischen Räumen. Es ist
das Hôtel Chambellan. Diese herrlichen Patrizierhäuser
werden hier Hôtel genannt. Im Winkel des Hofes führt
eine offene Treppe nach oben auf eine Galerie und ins
Hausinnere, und wir erleben ein Meisterwerk der
Renaissance, einen Gärtner mit einem steinernen Korb,
aus dem die herrlichen Rippenbögen eines gotischen
Gewölbes sprießen. So etwas ist heute nicht mehr
möglich. Man glaubt sich in Italien. Laubengänge in den
Innenhöfen, Treppentürmchen mit offenen Fenstern,
Zierbögen, Maßwerk, Säulen mit verspielten Kapitellen,
mehrfach gegliederte Bögen über den Türen…Das Auge
muss so viel erfassen, das Gehirn speichern. Jede Stadt
hat so viel Geschichte und Geschichten anzubieten. Man
sollte das Angebot annehmen! Ich habe einige
aufgegriffen.
Wir bummelten nun für etwa eine Stunde auf eigene
Faust. Mein Ziel war die Kirche zum heiligen Michael,
die Église St-Michel. Sie ist ein Werk dewr Spätgotik
(1499 – 1530) und befindet sich nicht weit weg vom
Herzogspalast, ganz in der Nähe sahen wir das Theater
und die Industrie- und Handelskammer, le Chambre de
Commerce am Theaterplatz. Wir betraten die Kirche, in
die einige Stufen hinunterführten. Das tiefe Bogenfeld
Dijon, Rue des Forges Nr. 40,
des Hauptportals beeindruckte mich mächtig. Sieben
Hôtel Aubriot
Reihen Dienste stützten sechs reich
gekläubelte Kapitelle auf jeder Seite. Von da aus fuhren, immer paarweise auf zum Jüngsten
Gericht. Im Zenit des Bogens klaffte ein schlotähnlicher Kanal vielleicht von einem Meter
Durchmesser, dessen Innenrand ebenfalls ausgeschmückt war. Nach oben verlor sich dieser
Schlot im schwarzen Schattenreich. Vielleicht gibt es eine andere richtige Deutung. Ein kleines
echtes Meisterwerk!
Im Kircheninnern gab es nichts Bedeutendes. Ich habe mich nur an einem wunderbaren
Glasfenster erfreut, das ich auch fotografierte. Das Innere einer Kirche hat für mich immer etwas
mit Andacht zu tun, mit Besinnung und Atemholen vom schnellen Lauf der Welt draußen. Selbst
das konnten wir hier nicht verwirklichen- wollten wir nicht anderes versäumen. Zügig eilten wir
zurück, das Andere zu sehen. Manchmal frage ich mich wirklich, ob das der richtige Weg ist, das
Leben zu leben.
Wir schlenderten die Rue de la Liberté zurück und schlugen den Weg zur Markthalle ein, in der
Hoffnung, noch etwas Obst oder einen anderen Leckerbissen zu erhaschen. Natürlich wanderten
die Blicke links und rechts in die Schaufenster. Dabei fiel uns auf, das in einem Geschäft wahrscheinlich d a s Geschäft – nur Senf angeboten wurde: Dijon- Senf. Der welterfahrene
Gourmet wird jetzt verächtlich die Mundwinkel hochziehen: Was das weiß der nicht? Ich wusste
es nicht und stand an der Quelle allen Senfes. Ob Mostrich, la moutarde, la mostaza, la senape,
de mosterd, mustard, горчица, hořčici, sennep, hardal…Hier wurde er „erfunden“. Hier ruhen
die Wurzeln seiner Tradition. Ich nahm auch ein Töpfchen mit, als Lehrlingseinstand. Ich musste
mich einfach schlau machen, eine Wissenslücke füllen. Hier sind das Ergebnis und die
Geschichte von dem Senf aus Dijon:
Die Herzöge Burgunds hatten die Angewohnheit, ihre Gäste mit einem Fass Senf als
Abschiedsgeschenk zu entlassen.
© Rolf Bührend, März 2003
Seite 136
Es nimmt daher nicht wunder, dass der Name Dijon fast ein Synonym für Senf geworden
ist. Das französische Wort für Senf, moutarde - Mostrich, kommt vom lateinischen
mustum - Most, das wiederum den Saft frisch gepresster Trauben (französisch verjus)
bezeichnet, mit dem die Senfsamen gemischt werden, um die Senfpaste herzustellen.
Senf bereichert schon lange die Küchen.
Die Griechen und Römer aßen ihn gerne zu gebratenem Fleisch, und Plinius lobte ihn
überschwänglich.
Da Dijon an der europäischen Handelsstraße für Gewürze lag, kamen seine Bürger früh
mit exotischen Kochzutaten in Berührung.
So wurden auch der Senf und das pain d'epices beliebt, das lebkuchenähnliche
Gewürzbrot, für das die Stadt ebenfalls berühmt ist.
Die erste urkundliche Erwähnung stammt aus dem Jahre 1336, als Herzog Eudes III. ein
Bankett zu Ehren von König Philipp VI. von Frankreich gab.
Aus der Abrechnung ergibt sich, dass dabei über 250 Liter Senf verbraucht wurden.
Und Ludwig XI. von Frankreich verreiste wohl nie ohne seinen höchstpersönlichen
Senftopf.
Qualitätsmaßstäbe für Senf gab es schon im Jahre 1390, aber erst 1630 wurde in Dijon
die Gilde der Senfmacher gegründet. In jenen Tagen wurde Senf oft zu Hause hergestellt,
und die Verwendung von Senfmühlen war allgemein üblich.
Alle Zutaten - Senfsaat, Essig und Salz - waren leicht erhältlich.
Senfsaat kam aus dem Saône- Tal, Essig war ein Nebenprodukt der Weinherstellung, und
das Salz kam aus dem Jura.
Senfsaat konnte man frisch in den Senfgeschäften kaufen. Die Bürger kamen Tag für Tag
mit ihren eigenen Töpfen, um sie füllen zu lassen.
Anfänglich wurde nur Essig für die Herstellung benutzt, aber im Jahre 1756 ersetzte Jean
Naigeon, ein Senfhersteller in Dijon, den Essig erstmals durch verjus, den Saft unreifer
Trauben.
Durch den verjus unterscheidet sich der Senf aus Dijon von anderen Sorten, und durch
diese Kombination erhält er seinen besonderen Geschmack und begründete seinen Ruf.
Heute wird im Burgund keine Senfsaat mehr angebaut, sie stammt aus den USA, Kanada
und Ungarn.
Der Begriff "Dijon" bezieht sich also eher auf den Herstellungsprozess als die Herkunft
der Zutaten. Noch ungefähr 70 Prozent des in Frankreich verkauften Senfs stammen von
hier.
Die Herstellung ist einfach.
Die Samen werden gepresst und dann in verjus oder leicht fermentierten Wein eingelegt.
Danach wird die Mischung gemahlen; für feinen Senf werden die Samenhülsen durch
Zentrifugieren entfernt.
Je dunkler die Samen, desto schärfer der Senf.
Heute wird Senf aus Dijon in einer Vielzahl von Geschmacksrichtungen angeboten: mit
Estragon, grünem Pfeffer, Kräutern oder Schalotten.
Durch Erhitzen verliert er seine Schärfe und wird deswegen in der Küche erst gegen Ende
der Kochzeit hinzugefügt.
Senf wird nicht schlecht, er verliert jedoch an der Luft seine Kraft und sollte daher nur in
kleinen Gefäßen zum baldigen Verbrauch gekauft werden.
Außerdem ist Senf auch wegen seiner Heilkräfte berühmt: Er regt den Appetit an und
lindert Kopfschmerz, Fieber und Asthma…
Wir stehen vor dem Feinkostladen „Boutique Maille“ mit der Schriftzeile „MOUTARD
MAILLE“. Sein Angebot ist für Kenner mindestens so spannend wie ein Antiquitätenladen für
leidenschaftliche Sammler. Erstklassige Würzstoffe bietet er für die Eigenhersteller, Senf mit
erstaunlichen Geschmacksnoten, zum Beispiel mit schwarzer Johannisbeere oder mit
außergewöhnlichen Ölen (Nyons, Toscana…), in originellen Geschenksets mit Steingutartikeln,
Senf mit Weißwein, frisch zubereitet und wie im 18. Jahrhundert im Spender serviert…
© Rolf Bührend, März 2003
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Wir erreichten die Markthalle, kurz
bevor sie ihre Tore schloss. Es war
mittags 12 Uhr, die Marktzeit
vorüber. Die Händler räumten ihre
Stände ab, zogen Planen über die
Bestände, die liegen blieben,
schlossen
ab.
In
diese
Aufbruchstimmung stürmten wir
durch die große Halle und gewannen
einem freundlichen Mann noch
einige saftige Pfirsiche ab, die uns
den Durst löschten. Die Halle selbst
ist ein gepflegtes Bauwerk aus der
Jugendstilzeit, ein zweckdienliches
Dijon, Les Halles (Markthallen)
Kunstwerk aus Gusseisen und Glas,
der Sockel mit bunten Keramikziegeln ausgemauert. Sicher blieb sie vom Krieg verschont. Bei
uns in Deutschland muss man solch Zeugnisse aus der großen Zeit zwischen 1871 und 1914
suchen.
XXV. Beaune- Hôtel Dieu
G
enau 14 Uhr sollten wir uns wieder am Bus zum zweiten Teil des Tagesprogramms
einfinden: Fahrt nach Beaune. Am späteren Nachmittag sollte noch eine Weinprobe
stattfinden. Unser Reisetag war wieder voll gepackt bis oben hin. Wir fuhren durch die
Bourgogne. Rechts und links dehnten sich endlose Weinfelder, die auf den Höhen dahinter sich
bis an den Horizont zogen. Weinland Burgund.
Wir fuhren Autobahn, lernten nebenbei das französische Mautsystem kennen: Péage und Télé
péage. Mit Münze und mit Karte. Falk, unser Busfahrer, hat auf etwa 3400 km, die wir auf
Frankreichs Autobahnen zurückgelegt haben, genau 279,80 € Mautgebühren bezahlt. Das würde
für einen PKW ungefähr 200 € bedeuten. Wer Zeit hat, kann Nationalstraßen benutzen, die meist
parallel verlaufen. Wir hatten heute keine. Die Tour de France rollt.
Parken in Beaune. Conny geleitete uns zu dem wohl bekanntesten Gebäude der Stadt, dem
Hôtel-Dieu. „Palast für die Armen“, wird diese umfangreiche Anlage genannt. Was versteckt
sich darin?
Das Hôtel-Dieu ist ein Hospital. Es wurde im Jahre 1443 vom Kanzler des Herzogs von
Burgund, Philipps des Guten2, Nicolas Rolin, gebaut. Rolin war auf seinen Reisen nach Flandern
besonders von der Architektur der Nordkrankenhäuser stark beeindruckt. Nach dem
Hundertjährigen Krieg3 litt Beaune unter Hunger und Armut. Dreiviertel der Stadt waren
praktisch mittellos. Um ihr Seelenheil zu gewinnen- vielleicht war auch ein großes Stück
schlechtes Gewissen dabei – beschlossen der Kanzler und seine Frau, Guigone de Salins, ein
Hospital für die Armen zu gründen. Sie versahen es mit eigenen Einnahmequellen, Weinbergen
und Salinen, und beauftragten zahlreiche Künstler mit der Dekoration und Ausstattung.
Mit seinen gotischen Fassaden und seinen farbigen Dächern gilt es heute als Juwel der
mittelalterlichen burgundischen Architektur. Schon in Dijon hatten wir solche Dächer gesehen.
Hier bewunderten wir sie in Reinkultur.
2
Philipp III., Philipp der Gute, Herzog von Burgund, französisch Philippe le Bon, le Duc de Bourgogne,14191467, * 31. 7. 1396 Dijon, † 15. 6. 1467 Brügge; kämpfte 1420-1435 auf Seite der Engländer gegen Frankreich.
Durch den Erwerb des Hennegaus, der Picardie, Brabants und Hollands errichtete er einen mächtigen Staat zwischen
Frankreich und Deutschland; Burgund wurde zum europäischen Kultur- und Wirtschaftszentrum.
3
Hundertjähriger Krieg, der Krieg zwischen England und Frankreich 1338—1453 (mit Unterbrechungen).
Er begann, als der englische König Eduard III. den französischen Königstitel annahm; zeitweise beherrschten die
englischen Könige ganz Frankreich. Nach dem Friedensschluss 1475 behielt Großbritannien noch Calais bis 1558
und die normannischen Inseln.
© Rolf Bührend, März 2003
Seite 138
Eine weitere Besonderheit des Hôtel-Dieu ist, dass die Schwestern des Hospitals von Beaune
vom Mittelalter bis in die Neuzeit, genau bis 1971, ohne Unterbrechung, dieses Haus vorbildlich
geführt haben. Sie haben zahlreiche Kranke in mehreren großen Sälen aufgenommen und
gepflegt. Das Hôtel-Dieu ist schnell bei den Armen, aber auch bei den Reichen bekannt und
berühmt geworden. Dank ihrer Gaben konnte sich das Hospital durch den Bau neuer Säle und
die Stiftung von Kunstwerken vergrößern und verschönern. Es ist zu einem „Palast für die
Armen“ geworden.
Mit Ausnahme eines Altersheimes ist seine medizinische Tätigkeit von 1971 an in ein modernes
Krankenhaus verlegt worden. Als Bewirtschafter von 61 ha Weinbergen, welche im Laufe der
Jahrhunderte geerbt wurden, organisiert das Hospital jährlich seit 1859 die berühmteste
Weinversteigerung der Welt. Soweit die Geschichte dieser Sehenswürdigkeit.
Wir marschierten also schnurstracks vom Busplatz, dem Parking Louis Véry an der Tour de
l’Hôtel-Dieu, einem Teil der die ganze Stadt umschließenden mittelalterlichen Stadtmauer zur
Place de la Halle, betraten an der ziemlich nüchternen Straßenseite des Hospitals durch eine
unscheinbare Pforte den Komplex, schoben uns an der Kasse vorbei -50 Personen! - und
befanden uns im Großen Armensaal.
Plan der Altstadt Beaune. Der gelbe Ring ist die 3 km lange, zum Großteil noch intakte Stadtmauer
(Remparts). Wir hielten uns vorwiegend im Bereich der Place de les Halles (i) auf
© Rolf Bührend, März 2003
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Der Große Armensaal mutete an wie das
schlichte Langhaus einer Kirche. Über
den hölzernen Zugbändern der gewölbten
Holzdecke erhob sich der freie Raum des
Daches,
verziert
mit
christlichen
Symbolen. Wenige Bogenfenster ließen
nur spärlich das Tageslicht ein, so dass
der Eindruck eines Kirchenraumes noch
verstärkt wurde, zumal an der Stirnseite
eine
bis
ins
Dach
reichende,
bogenförmige Türöffnung den Blick auf
das bunte Glasfenster einer Kapelle frei
ließ. An den Seiten sind die Betten
angeordnet, in Längsrichtung gereiht, an
Beaune, Hôtel-Dieu, Großer Armensaal
die 25 Betten rechts und links.
Vom Fliesenboden des leeren Mittelteiles erhebt sich ein durchgehendes Holzpodium vor der
Bettenreihe. Vor jedem Bett stehen ein winziges viereckiges Tischchen und ein Stuhl. Die Betten
sind weiß bezogen, von einer roten Tagesdecke überspannt. Die Kojen sind mit Holz
ausgekleidet und mit roten Vorhängen versehen. Ein durchgehendes rot verkleidetes Holzpaneel
schließt oben die Bettenreihe ab. Vom Kopfende jeder Koje ragt ein Holzkreuz in den leeren
Kirchenraum.
Wir treten durch die Bogentür in die Kapelle Saint Anne. Hier werden Heilige verehrt. Betstühle,
Beichtstühle, Altar, Heiligenbilder, das ganze Programm. Von da aus gelangen wir seitlich
hinaus in einen Kreuzgang, der die Sicht auf den Innenhof freigibt. Jetzt wir die ganze Schönheit
des Hospizes offensichtlich. Ein geräumiger, mit Kopfsteinen gepflasterter Hof erstreckt sich
und hält im Geviert die einzelnen Trakte zusammen.
An der Seite der wichtige Sockel eines
Brunnens, rein gotisch der Überbau mit der
Zugeinrichtung. Die Säulen des relativ
schmalen, L-förmigen Kreuzganges stützen ein
Obergeschoss, das sicher für die Unterkünfte
der Schwestern gedient hat. Wir wurden in
zwei kleine, an der Schmalseite des Hospizes
liegende Säle geführt.
Der Saal Saint Hugues war den reichen
Kranken vorbehalten. Entsprechend ist er auch
viel reicher und mit anderem Komfort
ausgestattet. Der Raum wurde von Hugues
Beaune, Hôtel-Dieu, Saal Saint Hugues
Bétault 1645 eingerichtet.
Er stiftete ihn als Wohltäter, sicher nach geheilter Krankheit. Gemälde bilden verschieden
Wunderheilungen ab, unter anderem die von Christus in Bethesda in Jerusalem. Man sieht
natürlich den Unterschied in der Behandlung gegenüber den mittellosen Armen.
Es schloss sich der Saal Saint Nicolas an, der dazu bestimmt war, die schwer, in Lebensgefahr
schwebenden Kranken aufzunehmen. Er trennte die Behinderten und Todkranken von den
Leichtkranken. Er war von beschiedenen Ausmaßen und beherbergte 12 Betten für Kranke
beiderlei Geschlechts, was Ludwig XIV. bei seinem Besuch 1658 zutiefst schockierte. Er stellte
daraufhin eine Rente von 500 Pfund für das Hôtel-Dieu aus, um Umbauten für die Trennung von
Männern und Frauen vorzunehmen. Heute ist es ein Museumsraum. Man dringt zu tief ein, ein
Zeitproblem, beschäftigte ich mich mit den Exponaten. Geräte, religiöse Gegenstände,
medizinische Instrumente, Handarbeiten von Patienten.
Die Küche zeigt plastisch, mit lebensechten Puppen und vielen originalen, noch bis vor kurzem
benutzten Geräten, die doch recht anstrengende Arbeit zur Ernährung von Patienten und
© Rolf Bührend, März 2003
Seite 140
Personal. Hier herrscht Gedränge in diesem kleinen Raum. Alle wollen fotografieren. Den
großen gotischen Kamin mit zwei Feuerstätten oder den historischen Bratenwender von 1698.
Oder den über hundertjährigen Küchenherd mit den als Schwanenhals geformten
Wasserauslässen. Dann treten wir auf den sonnenüberfluteten Ehrenhof hinaus. Und werden
wieder hinein gelenkt in die Apotheke, die einen Überblick über den pharmazeutischen Bereich
bot, der ja für ein Hospital lebenswichtig war. Die Apotheke hat zwei Säle. Der erste beherbergt
den Bronzemörser des Beauner Apothekers Claude Morelot aus dem Jahre 1760 und Gemälde
über Tätigkeiten aus der Arbeit des Apothekers dieser Zeit. Im zweiten Saal sehen wir eine
Sammlung von Steinguttöpfen, in welchen Salben, Pillen, Öle oder Sirup aufbewahrt wurden.
Glasbehälter enthalten noch „spezifische“ Mittel, von denen einige zum Träumen verleiten:
Kellerasselpulver, Krebsaugen, Brechnusspulver, Eigentümlichkeitselixier…
Es geht die Geschichte, dass zu Zeiten des Kanzlers Rolin das Hôtel-Dieu weder Arzt,
Apotheker noch Chirurg vor Ort hatte. Es kamen die in der Stadt niedergelassenen Praktiker, am
Anfang kostenlos- ihre Kunst stand im Dienste der Armen. Die Gemeinschaft der
Klosterschwestern des Krankenhauses hatte die Macht inne. Manchmal kam es zu Konflikten:
Nicolas Rolin selbst spürte, was eine Frau mit Charakter vermag. In den vierzig Jahren als
Kanzler der Herzöge der Bourgogne hatte er es mit Heinrich V.4, Bedford5, Gloucester6, Isabeau7
und Jacqueline8 von Bayern, Karl VII.9, Gilles de Rais10, Jeanne d’Arc11…aufgenommen, aber
sein großer Alptraum war Mutter Alardine Gasquière, Äbtin der Kongregation. Es bedurfte
sogar eines päpstlichen Eingriffs, damit die heilige und gefürchtete Tochter einige Abkommen
akzeptierte. Selbst Stifter haben es nicht leicht.
Nun bin ich durch die Fußnoten und diese Geschichte, die ja eine Zeit aufrührt, die wir nicht
kennen, die die Ereignisse des Hundertjährigen Krieges zwischen England und Frankreich, und
Gestalten auf die Bühne zwingt, die wir ebenfalls nicht kennen, vom Pfade unseres eigenen
Erlebnisweges im Hôtel-Dieu abgekommen.
Von den Zinkbechern und dem Porzellan der Apotheke führte uns der Besucherweg wieder in
den Ehrenhof und dann in die letzte Besichtigungs- Station, den Saal Saint Louis. Er wurde auf
4
Heinrich V., König von England 1413—1422, * 29. 8. 1387 Monmouth, † 1. 9. 1422 Vincennes; Sohn von
Heinrich IV. von England; versuchte ein letztes Mal mit großem Erfolg, die Herrschaft über Frankreich zu erringen
(Sieg bei Azincourt 1415 und Friede von Troyes 1420), nahm den Titel eines Königs von Frankreich an und
heiratete die Tochter Karls VI. von Frankreich.
5
Bedford; eigtl. Jean de Lancastre, Herzog von Bedford (1389-1435), Bruder Heinrichs V. Er wurde in England
Leutnant, dann Regent von Frankreich für seinen Neffen Heinrich VI.(1422). Der Vertrag von Arras 1435 ruinierte
seine Unternehmungen in Frankreich.
6
Gloucester, Titel eines Earl und seit dem 14. Jahrhundert eines Herzogs, konnte an nachgeborene Prinzen und
Adoptivkinder des englischen Königshauses verliehen werden. Bedeutende Herzöge von Gloucester waren
Humphrey (* 1390, † 1447), der die Regentschaft für den unmündigen König Heinrich VI. übernahm,
7
Isabeau, Isabel, Königin von Frankreich, Frau Karls VI., * 1371, † 29. 9. 1435 Paris; Herzogstochter; 1392
Mitregentin für den geisteskrank gewordenen König; nach dem Tod ihres Gatten (1422) ohne Einfluss.
8
Jacqueline oder Jacoba de Bavière (1401-1436), Herzogin von Bayern, Gräfin von Hainaut, Holland, Frisland und
Zeeland. 1428 erkannte sie den Herzog von Burgund als Erben an.
9
Karl VII., König von Frankreich 1422—1461, * 22. 2. 1403 Paris, † 22. 7. 1461 Mehun-sur-Yèvre, Département
Cher; von den Engländern seiner Thronrechte beraubt; seit dem Auftreten der Jeanne d'Arc, der er die Krönung in
Reims verdankte (1429), siegreich, vertrieb er die Engländer 1453 endgültig (bis auf Calais) aus Frankreich.
10
Gilles de Rais, Marschall von Frankreich (1400-1440), wegen seiner unzähligenVerbrechen unter Kinder erregte
er großes Aufsehen. Er wurde in Nantes exekutiert.
11
Jeanne d'Arc, Jungfrau von Orléans, Heilige Johanna, La Pucelle, * um 1411 Domrémy, an der oberen Maas,
† 30. 5. 1431 Rouen; erwirkte, durch „göttliche Stimmen“ veranlasst, die Anerkennung König Karls VII. als
rechtmäßigen Herrscher und vermochte ihn aus seiner Lethargie zu reißen. Sie wurde als „Retterin Frankreichs“
(1429 Entsatz von Orléans und Krönung Karls VII. in Reims) am Ende des Hundertjährigen Krieges gegen die
Engländer verehrt; 1430 von Burgundern, den Verbündeten Englands, gefangen genommen und für eine hohe
Geldsumme an England ausgeliefert. Vom französischen Hof im Stich gelassen, wurde sie in einem Prozess in
Rouen unter Leitung des Bischofs von Beauvais wegen Hexerei und Ketzerei verurteilt und verbrannt. Ein
Revisionsprozess hob das Urteil auf (1456). 1909 Selig-, 1920 Heiligsprechung (Fest: 30. 5.). Im 19. Jahrhundert
wurde Jeanne d'Arc zur französischen Nationalheldin.
© Rolf Bührend, März 2003
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Anregung von Louis Bétault 1661 geschaffen, an Stelle einer Scheune und schloss den Hof des
Hôtel-Dieu an der Schmalseite ab. Er diente auch als Gärkeller bei der Weinerzeugung. Hier
befanden sich auch die Backöfen des Hospizes. Täglich wurde unter dem Torbogen Brot an die
Armen verteilt. 1828 schloss man mit den Bäckern von Beaune einen Vertrag ab, dass sie diese
Pflicht übernahmen. Die Backöfen veralteten und erlaubten die neue Nutzung als Teil des
Museums. An den Wänden hängen schöne Wandteppiche: Eine Serie von sieben Bildern, gewebt
in Tournai12, erzählt das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Eine andere, fünfteilige aus Brüssel die
Geschichte vom heiligen Jakob. Alle sind sie aus dem 16. Jahrhundert.
Dann treten wir anschließende wie in ein Heiligtum in das im Dunkeln gehaltene Kabinett mit
dem Polyptychon13. Hier erwartet uns ein besonders wertvolles mittelalterliches Relikt, der
mehrflügelige Altar des Belgiers Van Weyden14. Dieser Altar wurde vom Kanzler Rolin bestellt
und dem niederländischen Maler Roger van Weyden zugeschrieben. Er stand erst in der Kapelle
des Hospizes und wurde den Kranken aber nur sonntags und an Festtagen gezeigt. Er stellt das
Jüngste Gericht dar und ist besonders durch seine intensive Darstellung der Menschen berühmt.
Beaune, Altar „Das Jüngste Gericht“, (geöffnet:) Christus als Richter majestätisch im Purpurmantel. Mit der erhobenen rechten Hand, in
der er eine blühende weiße Lilie hält, macht er den Auserwählten Zeichen. Im Gegensatz dazu zeigt die Linke als Zeichen der Missbilligung
nach unten: „Entfernt Euch von mir, zum ewigen Feuer verdammt…“ Zu Füßen des Christus umgeben vier Posaunen- Engel, die das
Jüngste Gericht verkünden, den Erzengel Sankt Michael. Strahlend im Kontrast seines weißen Kleides und seines scharlachroten Mantels
wägt er mit unbewegtem Gesicht die Auserwählten ab. Links des Regenbogens bittet die Jungfrau Maria für die Sünder um Gnade. Hinter
ihr sechs Apostel und vier Heilige. Rechts Johannes der Täufer, sechs Apostel und drei Heilige. Links von Christus die erschrockenen und
verzweifelten Verdammten, rechts von ihm die Seligen, die zum Paradiese gehen. Ein Werk Roger van der Weydens.
12
Tournai, flämisch Doornik, Stadt in der belgischen Provinz Hennegau, an der Schelde, 67 900 Einwohner;
romanisch-gotische Kathedrale (12./13. Jahrhundert) u. a. mittelalterliche Bauten; Textil-, Teppich-, Metall-,
Zement-, Nahrungsmittelindustrie.
13
Polyptychon, [das; griechisch], in der Antike eine mehrteilige, zusammenklappbare Schrifttafel; später ein
Altarwerk mit mehr als zwei Flügeln.
14
Weyden, Rog(i)er van der, Roger de la Pasture, niederländischer Maler, * 1399 oder 1400 Tournai, † 18. 6. 1464
Brüssel; spätestens 1436 Stadtmaler in Brüssel, 1449/50 in Italien. Weydens Werk bildet im Rückgriff auf die
Monumentalität der Hochgotik einen Höhepunkt der altniederländischen Malerei. In seinen Altarbildern treten
Landschafts- und Innenraumgestaltung und Detailschilderung zurück hinter der Charakterisierung der Figuren in
Ausdruck, Haltung und Farbe. Hauptwerke: Kreuzabnahme um 1435-1440, Madrid, Prado; Marienaltar (2
Exemplare, eines davon in Berlin, Staatliches Museum; Teile des anderen in Granada, Capilla Real; New York,
Metropolitan Museum); Jüngstes Gericht, um 1442-1450, Beaune bei Dijon, Hospital; Bladelin- Altar mit der
Anbetung des Kindes, um 1450-1452, ebenda; Dreikönigs-Altar, um 1460, München, Alte Pinakothek.
© Rolf Bührend, März 2003
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Es war eine schwere, religiöse Zeit, die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert. Zu dieser Zeit
schämten sich die Menschen weder ihrer Krankheit noch hatten sie Angst vor dem Tod. Er
begleitete sie ganz anders als heute, viel natürlicher und selbstverständlicher. Aber die Menschen
fürchteten, ihre Seelen zu verlieren und hielten demütig die Regeln ein, die ihnen die christlichkatholische Kirche vorgab. Es war die Zeit der Vorreformation. Am Horizont dämmerte die neue
Zeit…Noch aber spiegelt der Altar die furchtbare Auslese von Seligen und Verdammten wieder,
die einst nach dem Tode beim Jüngsten Gericht gehalten wird. Angst und selig machender
Glauben. Albrecht Dürer schnitt 1498 seine Apokalypse ins Holz, die Offenbarung des Johannes.
1498 stirbt Karl VIII., und Ludwig XII. übernimmt in Frankreich die Macht. Und ab 1500
rechnet man die Neuzeit. Das Mittelalter ist zu Ende. Amerika ist entdeckt. Bücher werden
gedruckt und verbreiten die vorrangig kirchlich verbrämte Lehre in Windeseile. Die Klöster
verfallen… Heute ist die Zeit der Furcht und Herausforderung weg. Leider auch der Demut…
Wir kauften im Laden des Hospizes, wo alles, aber auch annähernd alles an Hôtel-DieuDevotionalien, womit sich Geld machen lässt, als Andenken verscherbelt wird, einige
Serviettenringe aus Holz, verschiedene Farben und einen Prospekt, aus dem ich einiges
übernommen habe. Man sehe mir das nach.
Uns blieben noch 20 Minuten Zeit, zu wenig, um einen ausgiebigen Stadtrundgang zu
unternehmen, zu viel, um gleich zum Bus zu laufen. Die Sonne schien verlockend warm. An
Hand des Stadtplanes verschafften wir uns noch einen Überblick über das Städtchen, doch es
gelang nicht so recht, noch etwas festzuhalten. Es blieb wieder nur die unbestimmte Sehnsucht,
wieder einmal hierher zu kommen, um auch andere Dinge zu treiben, ein Museum zu sehen, eine
der vielen Weinstuben zu probieren, in einem gemütlichen Hotel zu übernachten, an der
Stadtmauer spazieren zu gehen. Es blieb beim hektischen Erhaschen einiger Blickpunkte.
XXVIII. Clos de Vougeot
U
ns trug der Bus nun wieder zurück auf die route nationale 74 in Richtung Dijon nach
Norden. Rechts und links dehnen sich bis zum Horizont die Weinfelder und
Weinberge. Wir halten dann unvermittelt vor einem Gehöft, das sich linker Hand aus
dem Grün der Reben heraushob. Ich möchte es als bodenständig bezeichnen. Das Haupthaus war
eingeschossig und seine Wände völlig von immergrünem Efeu eingerahmt. Nur die weißen
Fenster und im mächtigen Walmdach drei Dachgaupen ließen es freundlich erscheinen. Eine
Tafel informierte uns:
VOUGEOT: Les Clos Vougeot et son
Château, son complexe sportif ; Camping,
Commerces, Caves de Dégustations1
Mit unseren Worten: Wir befanden uns auf einem eingeschlossenen Weingut (Clos =
geschlossen, abgeschlossen, eingezäunter Weinberg), das sportliche Aktivitäten bietet, auch
Campingmöglichkeiten, mit Weinen handelt und in seinen Weinkellern Verkostungen
durchführt. Es gibt einen nahe gelegenen Ort, der Vougeot heißt. Das verriet mir ein Lageplan
auf dem Schild, und es verriet dem Weinkenner die Ortslage der hier erzeugten Weinsorten.
Mit 50 Leuten ist eine Weinverkostung keine gemütliche Sache, sondern ein Durchläufer. Alles
drängelt sich in den engen Räumen, zumal wir hinunter in den Keller gebeten wurden, in die
Caves, die Weinkeller. Man führte uns in einen breiten, korbbogenförmig gewölbten Kellergang,
dessen Wände schwarz mit Mikrobenschimmel überzogen waren, der über Jahre vom
Alkoholdunst erzeugt wird. Rechts und links lagern je eine Reihe beschilderter Weinfässer, die
die hiesige Produktion vorstellen. Durch offene Bogentüren in meterdicken Wänden blickten wir
in ein Labyrinth unterirdischer Räume, in das Fasslager und das Flaschenlager. Immer wieder
beeindrucken mich die Lagerzeiten, bis ein guter Wein ausgereift ist, die Geduld, die ein Winzer
mit diesem Getränk haben muss, die vielen Arbeitsgänge, bis ein Wein zum Genuss reif ist.
1
Dégustation, frz. Weinprobe, Verkostung
© Rolf Bührend, März 2003
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Ich habe gelernt, dass ein Wein mindestens fünf Jahre alt sein muss, bis er wirklich gut ist. Wir
trinken ihn immer viel zu jung.
Danach drängten wir uns in einen größeren Raum, der von einem riesigen runden Tisch fast
ausgefüllt wurde. Er bestand aus dicken, grob gehobelten Eichenbohlen. In der Mitte prangte ein
scheinbar uralter Leuchter, voller Kerzenunschlitt, mit Staub und Spinnweben überzogen. Er
vermittelte eine gespenstische Stimmung. Im Raum brannten nur einige Wandleuchten und
erhellten ihn kaum. In die Tischplatte waren kleine runde Untersatzschalen eingelassen. Ich
zählte an die fünfzig. Einige Brotkörbe enthielten die unvermeidlichen Brocken Weißbrot, die
man zwischen den einzelnen Proben nehmen sollte, damit sich der Geschmack neutralisiert.
Man war also auf ganze Busse eingerichtet. Wir standen in
Zweierreihen um den Tisch. Zwei, drei Hilfskräfte des
Hauses schenkten ein. Jeder erhielt ein Glas. Ein Mensch,
der leidlich Deutsch sprach, erläuterte mit schnellen Worten
die erste Wein- Sorte. Insgesamt waren es wohl fünf, die
man uns vorstellte, zwei junge Jahrgänge, einen oder zwei
mittlere und einen Schluck eines guten, eines grand cru2.
Schluck. Mhm. Schluck. Indessen wurde die nächste Flasche
erläutert, man goss wieder nach- die nächste Sorte. Ich
übernahm den Rest von Martinas Part. Fünf Sorten, zehn,
zwölf, fünfzehn Schluck. Schnell ein Stück Brot, wir hatten
ja nichts Richtiges zu Mittag gegessen. Noch ein Stück Brot,
noch ein Schluck. Die Sinne sind angespannt, man will
hinter das Geheimnis kommen über die Unterschiede, die
Tannine herausschmecken, das Aroma finden, nach dem der
oder der Wein kommt. Sind es Cassis, Johannisbeeren oder
hat er mehr Säure?
Zunächst prüfen die Augen, man sucht eine Lichtquelle,
blickt durch das Glas, dann hängt man die Nase hinein,
prüft das Bukett. Die Probe wird durch Schwenken leicht in
Umdrehungen gebracht. Rinnt sie zäh die Glaswand
herunter oder fließt sie schneller? Das sagt etwas über den
Alkoholgehalt aus. Dann nimmt man einen kräftigen
Schluck, behält ihn aber im Mund. Von vorn nach hinten
benetzt man die Geschmackspapillen, zutschelt den
Schluck kräftig einige Male durch, bis sich das Innenleben
des Weines mitgeteilt hat. Was melden die einzelnen
Sendestationen dem Gehirn? Wenig Genaues, ich bin Laie,
kenne das Vokabular nicht. Ich erfahre, und in mir quillt
Ehrfurcht hoch, dass wir gerade jetzt einen Grand cru der
Côte-de-Nuits genießen, ich lerne, dass das Vougeot eine
Spitzenlage im Burgund ist. Es wird über Lagen geredet,
über deren Differenzierung, über Böden. Nach dem fünften
Schluck versuche ich herauszufinden, was den Unterschied
zum ersten ausmacht.
Ich versuche mit geschlossenen Augen herauszubekommen, ob diese Probe mehr oder weniger
fruchtig schmeckt oder wonach sonst und kann
mich nicht entscheiden. Trotz alledem und nebenbei wird das Leben fröhlich und beschwingt und
zwar berauschend schnell!
Dann ist es auch schon vorbei. Es geht einen anderen Gang die Stufen hinauf. Wir werden nun in
die Verkaufsräume geführt. Das nette romantische Personal vom Keller verwandelt sich in lauernde
2
Grand cru, frz. großes Gewächs, bezeichnet in Burgund eine Spitzenlage
© Rolf Bührend, März 2003
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Verkaufstiger. Natürlich gibt es einen Zusammenhang zwischen dem künstlich durch Opferung
einiger Flaschen erzeugten Nebel im Besuchergehirn und dessen Brusttasche. Und ich habe volles
Verständnis dafür. Die Winzer leben davon. Es gibt große Konkurrenz, und die wird nicht kleiner,
seitdem nun Weine aus Australien, Kalifornien und Südafrika neben den klassischen spanischen,
griechischen und italienischen die französischen Weine auf dem Markt bedrängen, die deutschen
und österreichischen nicht zu vergessen.
Ganz nebenbei erfahren wir von Conny auf der Rückfahrt, dass im Burgund nicht nur Weintrauben
gedeihen, sondern auch Kirschen und Johannisbeeren. Aus letzterem wird der fruchtige CassisLikör gemacht, der mit Weißwein gemischt zum Mode- Apéritif Kir wurde (mit Champagner
gemixt heißt er Kir- Royal), und der viele Desserts abrundet. Weitere Delikatessen sind das saftige
und zarte Fleisch der Rinder, die im Charolais3 aufwachsen, der Schinken aus dem Morvan, meist
als „jambon persillé“ in Aspik mit reichlich Petersilie serviert, die Weinbergschnecken
„escargots“, gekocht in Chablis und mit herrlich knoblauch- angereicherter Kräuterbutter serviert,
„crème de noix“, Walnuss-Cremesuppe, der bereits bekannte Senf aus Dijon und „Charolles“,
kleine runde Käse, meist aus Ziegenmilch.
Apropos Chablis, zum berühmten Anbaugebiet im Norden Burgunds mit trockenen Weißweinen
aus der Chardonnay- Traube: Von Petit Chablis über Chablis, Premier Cru Chablis bis Grand Cru
Chablis reicht die Palette der Klassifizierung im Burgund. Aus dem Süden des Burgunds stammt
übrigens auch der bei uns immer beliebtere Beaujolais, ein leichter, fruchtiger Rotwein aus der
Gamay- Traube, den man jung trinken sollte. Alkoholreicher ist der Supérieur. Der Beaujolais
Nouveau, der neue Beaujolais, wird auch Primeur genannt. Die besseren Beaujolais Villages
stammen aus verschiedenen Gemeinden des Burgunds.
Bei solchen Betrachtungen verlief die Rückfahrt. Alles schwatzte, die Zungen waren gelockert,
dann nahm uns eine leichte Müdigkeit in ihren Arm, und plötzlich waren wir wieder in Dijon. Es
hatte angefangen zu regnen, als wollte der Wettergott uns die Entscheidung erleichtern, ob wir die
kurze restliche Zeit bis zum Abendessen noch einen Bummel in die Stadt machen sollen. Wir
blieben also im Hotel. Die zurückgelegten 79 Buskilometer fielen heute nicht sehr ins Gewicht.
Ich versuchte im „Le Figaro“, der in der Hotelhalle auslag, das Wetter für morgen ausfindig zu
machen, schrieb sechs Ansichtskarten an drei Elternteile und drei Kinder und gab sie an der
Rezeption mit Briefmarken versehen ab. Einige sind – nach Aussagen der alten Leute – nicht zu
Hause angekommen?
Dann warteten wir, übervoll mit Eindrücken, auf das Abendessen. Danach das Übliche:
Kofferpacken, etwas Fernsehen. Ich glaube, an diesem Abend spielte die französische
Nationalmannschaft gegen Slowenien und gewann mit 2:0. Schlafen.
Freitag, 15. September 2003
XIX. Colmar
W
ie schnell ist die Zeit vergangen! 12 Tage liegen bereits hinter uns, was für eine Fülle
von Impressionen! Über sechzehn Städte und Orte haben wir schon kennen gelernt,
besser beschnuppert, einen ersten Eindruck gewonnen, und vielleicht das Dreifache an
Sehenswürdigkeiten bewundern dürfen. Heute Morgen führte uns nun die Route eindeutig gen
Westen in Richtung Deutschland. Eine letzte Etappe sollte das Elsass sein. Wir werden noch
Colmar sehen, in Riquewihr eine letzte Weinverkostung erleben und abends in Straßburg sein,
um morgen in die Heimat zurück zu fahren.
Bei heftigem Regen packten wir die Koffer in den Bus, huschten Deckung suchend hastig auf die
vertrauten Plätze im Fahrzeug und verließen dank des schlechten Wetters nicht sehr traurig
Dijon. Frank, der Fahrer, benutzte die Autobahn A39 südwärts bis Dole. Dort bogen wir
endgültig nach Westen ab und befuhren jetzt die A36 in Richtung Besançon. Von Dole sahen wir
3
Charolais, Monts du Charolais, ostfranzösisches Bergland in Burgund, nördlicher Ausläufer des Zentralplateaus,
bis 774 m hoch; Gneis- und Granitplateaus, an den aus Jurakalk bestehenden Vorbergen Weinbau. Auf seinen
saftigen Weiden wird eine besondere weiße Rinderrasse gezüchtet, die für gutes Fleisch bekannt ist.
© Rolf Bührend, März 2003
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nichts. Die nächste interessante Stadt, die wir auf der schnellen Autostraße passierten, und in
deren Nähe wir an einer Raststätte die übliche Pause erhielten, war Besançon sur le Doubs. Der
Regen ließ nach, je mehr wir nach Nordwesten fuhren. An der Raststätte besorgte ich mir etwas
Papier über Besançon. Ich stellte an Hand des Planes fest, dass es einen Besuch lohnt.
Die Altstadt schmiegt sich in einen Bogen des Flusses Doubs. Im Norden dehnen sich die großen
Waldflächen der südlichen Vogesenausläufer. Die Stadt war zu Zeiten Ludwigs XIV. von dessen
Baumeister Vauban4 mit einer Zitadelle zur Verteidigung versehen worden. “Die Anhöhe ist
selbst für Vögel so gut wie unzugänglich”, meinte der römische Kaiser Julian vor mehr als 16
Jahrhunderten, als er den von einer Fluss-Schleife des Doubs umschlossenen Felssporn erblickte.
Auch heute scheint die von dem bedeutenden Festungsarchitekten Vauban unter König Ludwig
XIV. nach dem Frieden von Nijmegen auf dem Massiv errichtete Zitadelle uneinnehmbar.
Die Ursprünge der Stadt gehen über zwei
Jahrtausende bis in die Gallische Zeit zurück.
Julius Cäsar beschrieb damals schon Vesontio
als bemerkenswerte Stadt.
4
Sébastien Le Prestre de Vauban
wurde 1633 in Saint-Léger de Fourgeret (Nivernais)
geboren. Schon früh zeigte er eine Begabung für
Mathematik und Architekturzeichnung. 1651 trat er als
Besançon
Kadett ins flandrische Regiment des Frondeurs Condé.
Die Fronde (1648-1652) war einer der vielen Versuche der französischen Adeligen zwischen dem Tod Heinrichs IV.
(1610) und der vollen Regierungsübernahme Ludwig XIV. (1661), den Absolutismus wieder rückgängig zu machen.
Ironie der Geschichte: Der spätere Generalinspekteur aller königlichen Festungen kämpfte als Kadett gegen seinen
künftigen Dienstherrn. Nach seiner Gefangennahme 1652 gewann Mazarin höchstpersönlich den jungen Vauban für
die Sache des Königs. Ab 1655 arbeitete Vauban als Ingenieur unter Louis-Nicolas de Clerville, dem
Generalinspekteur der französischen Festungen. 1667 gewann er die Gunst des Königs, als er vor dessen Augen
maßgeblich mitwirkte, die Stadt Lille nach nur sieben Tagen Belagerung zu erobern. Prompt wurde er beauftragt,
die eroberte Stadt wieder neu zu befestigen. Es mutet uns schizophren an, daß der gleiche Mann Festungen baut und
belagert. Vauban hat im Laufe seines Lebens 120 Festungen neu errichtet oder überarbeitet. Gleichzeitig hat er 48
Belagerungen erfolgreich durchgeführt. 1697 musste Vauban vor Ath eine Festung belagern, die er selbst gebaut
hatte! 1678, nach dem Tod seines Vorgesetzten Clerville, wurde Vauban dessen Amt eines Generalinspekteurs der
französischen Festungen übertragen. Als Siebzigjähriger (1703) erhielt er den Titel eines Marschalls. Vauban war
auch auf anderen Gebieten des Ingenieurbaus tätig. So leitete er etwa den Bau eines Aquädukts von Maintenon nach
Versailles (1684-1685). Seine Hauptdomäne aber blieb der Festungsbau. An der Küste kamen natürlich noch die
Probleme des Hafenbaus hinzu. Bei der Gestaltung von Garnisonskirchen und Stadttoren erwies sich Vauban auch
als veritabler Zivilingenieur.
Vauban wusste aus eigener Erfahrung, daß jede Festung erobert werden kann. Aber er glaubte, daß eine Garnison
von 4000 Mann der sechsfachen Gegnerzahl auf mindestens 2 Monate widerstehen könne. Zeit genug für den
König, Entsatztruppen zusammenzuziehen, Zeit genug manchmal auch, um den Feind bis zum Eintritt der
Winterpause hinzuhalten. Es zeichnete Vauban gegenüber vielen seiner Militärkollegen aus, daß er sich sehr um
Leib und Leben seiner Soldaten kümmerte. Er unternahm alles, um unnötiges Blutvergießen zu vermeiden. Die
Kriegspolitik Ludwig XIV. bildete eine enorme wirtschaftliche Last für sein Land. Nach der Niederlage bei Corbie
gegen die Spanier (1636) wurde die französische Armee von 25.000 auf 250.000 Soldaten vergrößert. Die Steuern
stiegen dadurch bis 1648 aufs Dreifache, bis 1700 nahmen sie nochmals um 50% zu. Gleichzeitig waren die
Adeligen und die hohe Geistlichkeit, die Ludwig XIV. politisch entmachtet hatte, von der Steuer praktisch befreit.
Am Hof in Versailles lebten 4000 Höflinge! 1715, nach dem Tod des Sonnenkönigs, war der Staatshaushalt um 18
Jahresbudgets überzogen. Der patriotisch denkende Vauban versuchte sich mit einer Studie über eine Steuerreform
auch als Volkswirt. Er schlug vor, alle Stände gleichmäßig zur Besteuerung heranzuziehen. Als er seine Schrift beim
König einreichte, verspielte er sich schlagartig dessen Gunst. Vauban war neben seinem holländischen Gegenspieler
Menno von Coehorn der bedeutendste Festungsingenieur seiner Epoche. Zwar erschienen seine beiden
Festungstraktate (geschrieben um 1670 bzw. um 1700) erst über ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod (1707),
aber schon vorher kursierten Abschriften davon, und einer seiner Mitarbeiter, der Chevalier de Cambray, brachte
bereits 1692 ein Buch über die "Methode Vauban" heraus…Was für ein wackerer Mann!
© Rolf Bührend, März 2003
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Noch heute zeugt die Porte Noire, ein Marc Aurel gewidmeter Triumphbogen aus dem 2.
Jahrhundert, von der Bedeutung Besançons als Hauptstadt der Séquanie5. Vom Mittelalter bis
zum 19. Jh. spielte Besançon als Metropole Lothringens auf religiösem Gebiet eine bedeutende
Rolle. Bereits zu Anfang des 13. Jh. führte es den Titel „Gemeinde" und erhielt 1302 den Status
einer Freien Reichsstadt. Unter Karl V. erreichte sein „Bisantz“ im 16. Jh. den Höhepunkt seiner
Macht.
Schon ab der Höhe von Dole befinden wir uns in der Region Franche-Comté, die in die vier
Départements Haute Saône (Präfektur Vesoul) im Norden, Jura (Präfektur in Lons-le-Saunier)
im Süden, im Zentrum das Département Doubs (Besançon) und im Osten das kleine Territoirede-Belfort (Belfort) eingeteilt ist. Wir durchqueren diese Region nur auf der Autobahn A36.
Ich muss einen Besuch im Soll- Register meiner Reisewünsche eintragen.
Ich bleibe in Gedanken noch in Besançon. Nicolas Perrenot de Granvelle, Ratgeber Karls V.,
hinterließ der Stadt kostbare Bauwerke, darunter vor allem das Palais Granvelle. Von 1648 bis
1668 geriet Besançon unter spanische Herrschaft und wurde dann durch die Eroberung der Stadt
durch Ludwig XIV. im Jahre 1674 und dem Frieden von Nimwegen 1678 endgültig französisch.
Der Name des Granvelle brachte mich auf eine andere interessante Gedankenebene.
Es gibt über den niederländischen Maler Pieter Bruegel den Älteren mindestens drei Bücher6,
in denen die Autoren die wenigen bekannten Fakten aus seinem Leben mit den historischen
Umständen, unter denen Bruegel seine Werke hervorbrachte, in Romanform setzten. Vermeulen
benennt den Kardinal und Erzbischof Granvelle7, der angeblich sich des Pieter Bruegel schon
als Knaben annimmt und ihn dem Maler Pieter Coecke in die Lehre gibt. Fortan liegt Bruegels
Leben in der Hand des grausamen Kirchenfürsten, der im Hintergrund der turbulentesten und
grausamsten Epoche der niederländischen Geschichte die Fäden zieht. Man kann vermuten, dass
er ihn zeugte und ihn beschützte, denn mehrfach hätte er Gelegenheit gehabt, ihn wegen seiner
ketzerischen Zeichnungen und Bilder auf den Scheiterhaufen zu bringen. War es nur der
Kunstliebhaber oder auch der Vater Granvelle, der den Pieter Bruegel beschützte? Diese dunkle
Stelle der Geschichte wird keiner lichten. Es ist aber spannend, darüber zu lesen und gleichzeitig
seine Bilder zu schauen!
Trotz all dieser Betrachtungen sahen wir keinen Zipfel von Besançon.
Wir fuhren weiter die eintönige Autobahn, passierten auf der Fahrt die schon erwähnte
Burgundische Pforte, französisch Porte de Bourgogne, auch Trouée8 de Belfort, eine bis 28 km
breite und hügelige Senke zwischen den Vogesen im Norden und dem Jura im Süden. Zwischen
Montbéliard und Bedford rücken die Berge der Vogesen näher. Der höchste mit 1426 m ist der
Grand Ballon, der Große Belchen. Um ihn herum gruppieren sich noch einige Tausender, der
Ballon d’Alsass (1250m), der Petit Drumont (1221m), der Rossberg (1191m), der Baerenkopf
(1074m). Ihre grünen runden Kuppen verschmolzen am Horizont mit dem blassblauen Himmel.
Dann bog die Route nach Norden ab, und wir hatten nun die Vogesen zur Linken als ständigen
Begleiter. Ich hatte sie einmal kurz kennen und lieben gelernt. Irgendwann einmal waren sie mit
5
Sequanie: Landschaft links der Saône. Ihre Hauptstadt war Besançon. Die Sequaner waren ein Keltenstamm um
Besançon (Vesontio); riefen 72 v. Chr. Ariovist zur Hilfe gegen die Haeduer nach Gallien; 58 v. Chr. von Cäsar
besiegt und seitdem unter römischer Herrschaft.
6
Gerhard W. Menzel „Pieter der Drollige“, Roman um Bruegel, den Bauernmaler, Mitteldeutscher Verlag HalleLeipzig 1979
Michael Frayn „Das verschollene Bild“, Deutscher Taschenbuch Verlag München 2001
John Vermeulen „Die Elster auf dem Galgen“, Ein Roman aus der Zeit Pieter Bruegels, Verl. Diogenes, 1994
7
Granvelle, Antoine Perrenot de Granvelle, spanischer Staatsmann, * 20. 8. 1517 Besançon, † 21. 9. 1586 Madrid;
Sohn von Nicolas Perrenot de Granvelle; 1550 als Nachfolger seines Vaters Staatssekretär Karls V., dann Philipps
II.; ging in den Niederlanden als Berater (bis 1564) Margaretes von Parma scharf gegen die Protestanten und den
niederländischen Adel vor; 1560 Erzbischof von Mechelen und 1561 Kardinal, 1571—1575 spanischer Vizekönig
von Neapel.
8
Trouée, frz. Schneise, Durchbruch, Lücke
© Rolf Bührend, März 2003
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dem Schwarzwald vereint, bis tektonische Kräfte den Rheingraben absenkten und auch für die
Völker eine natürliche Grenze schufen. Hier in der Enge der Burgundischen Pforte wurde der
Rhein- Rhône- Kanal angelegt, auf französisch Canal du Rhône au Rhin, ein ostfranzösischer
Schifffahrtskanal zwischen dem Rhein bei Straßburg und der Saône bei Saint-Symphorien-surSaône, er ist 324 km lang und wurde 1810 - 1833 erbaut; seine Bedeutung als Transportweg ist
allerdings gering. Es gibt auffällig viel Wald hier, ursprünglichen unberührten Wald, so scheint
es fast. Ab und zu lichtet er sich und lässt kleine Ortschaften in der Vorbeifahrt auftauchen und
wieder vom Wald verschlucken.
Nun sind wir schon im Elsaß, Region Alsace, die verwaltungsmäßig in die zwei Départements
Bas-Rhin (Strasbourg) und Haut-Rhin (Colmar) geteilt ist, also Unterrhein und Oberrhein.
Wir ließen Mulhouse, ehemals Mülhausen, rechts liegen, bekamen nur seinen gewaltigen
Güterbahnhof mit den für mich immer hässlich anmutenden Gleisanlagen zu sehen: wucherndes
Unkraut zwischen den Schienen, alte halb verfallene Stellwerke, rostende Gleisbrücken,
Lagerschuppen, Güterzüge. Keine Farbe. Industrie. Kein Anblick für den romantisierenden
Reisenden.
Im Süden von Mulhouse dehnt sich der Sundgau, eine Landschaft im Süden des Elsaß. Er ist ein
Hügelland zwischen Vogesen, Oberrheinischem Tiefland und Jura mit dem Zentrum Mulhouse.
Hier werden Obst, Getreide und Futterpflanzen angebaut und Rinder gezüchtet. Es ist nicht weit
bis zur Schweizer Grenze und nach Basel.
Das alles vermittelte uns Conny von Zeit zu Zeit durchs Mikrofon, um uns zu bilden und die Zeit
nicht lang werden zu lassen.
Die Geschichte des Elsaß ist schon bemerkenswert. Viele Besucher finden hier noch überall
Deutsch sprechende Bewohner, viele Deutsche glauben, es wäre immer noch eine deutsches
Land, etwa wie die Tiroler nie ihr Südtirol im Gedächtnis an Italien ausliefern. Diese Region ist
aber auch in der Vergangenheit gebeutelt worden. Sie lag im Kreuzverkehr der europäischen
Völker.
Ursprünglich von Kelten bewohnt, seit 58 v. Chr. römisch
(von Cäsar unterworfen), wurde das Elsaß in der
Völkerwanderungszeit alemannisch, seit 496 von den
Franken unterworfen und christianisiert; bei der
Reichsteilung im Vertrag zu Meersen 870 kam es zum
ostfränkischen (deutschen) Reich und gehörte seit 925
zum Herzogtum Schwaben.
Nach dem Untergang der Staufer zerfiel es in die
Landgrafschaften Niederelsaß und Oberelsaß. Im
Westfälischen Frieden 1648 wurden die habsburgischen
Besitzungen an Frankreich abgetreten, Ludwig XIV.
dehnte seine Oberhoheit auch auf diese kleineren
Herrschaftsgebiete aus.
Die Freie Reichsstadt Straßburg wurde besetzt, doch blieb
die Verbindung mit Deutschland bestehen.
In der Französischen Revolution 1793 wurde das Elsaß
Frankreich eingegliedert. Im deutsch- französischen Krieg
wurde es von Deutschland zurückerkämpft.
1871-1918 war das Elsaß Teil des deutschen Reichslandes
Elsaß-Lothringen.
1919 fiel es durch den von Deutschland verlorenen ersten
Weltkrieg mit dem Versailler Vertrag wieder an
Frankreich und verblieb dort bis auf die deutsche
Besetzung 1940-1945.
© Rolf Bührend, März 2003
Seite 148
Heute gehört es zu Frankreich. Bei meinem ersten Besuch im Elsaß 1987 fragte ich einen
Bauern, bei dem Onkel Günter immer seine Eier kaufte, als was er sich fühlte, als Franzose oder
Deutscher. Da sagte er mir stolz auf Deutsch: „Wir sind Elsässer! Als solche fühlen wir uns
auch.“ Das fiel tief in mich hinein. Zur Sprache in Elsaß- Lothringen ist viel zu sagen und wenig
zu ändern:
„Für die meisten Kinder in Elsass-Lothringen ist heute das Deutsche nicht mehr Muttersprache,
sondern nur noch "Großmuttersprache". Da Kinder die Zukunft sind, dürfte klar sein, dass die
deutschsprachige Tradition in Elsass-Lothringen bald abgerissen sein wird.
Die Geschwindigkeit, mit der der Sprachwechsel voranschreitet, ist frappierend. Es gibt selbst
heute, im Jahr 2003, noch alte Leute, die nur deutsch sprechen, auf der anderen Seite aber auch
viele Kinder, die nur mehr das Französische beherrschen. Fragt man einen Greis auf
Französisch nach dem Weg, muss man noch mit der Antwort "nix franzesch" rechnen. Fragt man
Kinder auf Deutsch, kommt Kopfschütteln. Ausgewanderte Elsässer, die nach 20, 30 Jahren
einmal wieder die alte Heimat besuchen, berichten fassungslos, dass sie dort, wo sie früher mit
Deutsch "durchkamen", sie sich heute wie "im falschen Film" fühlen.“(Dr. Andreas Freitag,
[email protected])
Schon bald hatten wir Colmar erreicht, parkten am späten Vormittag etwas außerhalb des
historischen Stadtkerns, wurden noch hinein geführt und bekamen zwei Stunden Freizeit, um die
Stadt zu besichtigen. Ich hatte das seltsame Gefühl, in einer süddeutschen Stadt zu sein, las aber
überall französische Namen.
Die Sonne stach richtig, sie stand im Zenit. Es war warm und Mittag. Auf dem Platz vor den
Unterlinden herrschte reger Betrieb. Eine kleine Gummiradbahn beförderte Touristen durch die
Stadt. Wir setzten uns auf eine Bank an einen Brunnen, etwas zu essen. Derweil reifte in meinem
Kopf ein Plan. Martina sollte mich für wenigstens eine halbe Stunde freigeben. Ich konnte nicht
in Colmar gewesen sein, ohne den weltberühmten Isenheimer Altar gesehen zu haben. „Gut.
Eine halbe Stunde, ich warte hier!“. Sie entließ mich.
Ich strebte nun hinein in das Museum Unterlinden. Seit 1852 beherbergt das ehemalige
Dominikanerkloster Sammlungen aus den Bereichen Archäologie, mittelalterliche und moderne
Kunst, Volkskunde und Kunstgewerbe und- den Isenheimer Altar, das in der ganzen Welt
bekannte Meisterwerk Grünewalds, der in der an den Kreuzgang anschließenden Kapelle gezeigt
wird. Selbst für dieses Hauptwerk war eine halbe Stund viel zu wenig. Ein ganzer Saal war zu
besichtigen. Ich musste erst einmal Fühlung nehmen, mir einen Überblick verschaffen. Ich nahm
mir weder Zeit noch Muße, mich mit den Details zu befassen.
Ich erkannte die Größe dieses Kunstwerkes. Dennoch konnte
ich es nicht auf mich wirken lassen. Ich fragte nach einer
Fotografiererlaubnis. Im Gegensatz zu deutschen Museen ist
man in Frankreich großzügiger. Blitzlicht verbietet sich. Man
sieht das ein.
Ich machte einige Aufnahmen. Keine gelang aber so gut wie
in dem Prospekt, das ich mir dann kaufte. Und darin fand ich
auch Bemerkungen zur Geschichte des Klosters und zu den
Ursprüngen des Altars. Damit wird auch schon der Inhalt der
Bilder verständlicher. Ich lese im Prospekt nach:
Die Antoniter von Isenheim
Die Ordensgemeinschaft der Antoniter wird offiziell im Jahre
1202 unter dem Pontifikat von Innozenz in. gegründet. 1297
ermächtigt Papst Bonifaz VIII. die Brüder des
Hospitaliterordens, nach den Regeln des hl. Augustinus zu
leben.
© Rolf Bührend, März 2003
Seite 149
Die Entstehung des Ordens ist verknüpft mit der Verehrung der Reliquien des hl. Antonius: Um
1080 werden die Gebeine des Heiligen aus Konstantinopel in ein kleines Dorf in der Dauphiné
überführt, das zur ersten Pilgerstätte wird. Aus Dankbarkeit für die wundersame Heilung von
Kranken, die vom so genannten «heiligen Feuer» befallen sind, gründen zwei Adlige an diesem
Ort eine Laienbruderschaft und erbauen ein Hospital. Das Dorf trägt heute den Namen «SaintAntoine-de-Viennois».
Im Kampf gegen die um sich greifende Krankheit, den so
genannten Mutterkornpilzbrand - eine Vergiftung durch den
Roggenparasiten - werden im 12. und 13. Jh. zunehmend neue
Niederlassungen ins Leben gerufen. Positiv auf die Genesung der
Kranken wirkt sich dabei die stärkende, fleischreiche Nahrung im
Antoniterspital aus.
Um 1300 wird in Isenheim, unweit von Colmar, ein
Antoniterkloster errichtet. Einfluss und Reichtum der Antoniter,
letzterer aufgrund von Spenden und Opfergaben, wachsen
beständig.
Davon zeugen zahlreiche Kunstwerke, die von zwei Äbten des
Konvents -Jean d'Orlier (um 1459-1466 bis 1490) und Guido
Guersi (1490 bis 1516) in Auftrag gegeben und finanziert
wurden:
Der von Schongauer gemalte Orlier- Altar, die Altäre der hl. Katharina und des hl. Laurentius,
Skulpturen des hl. Antonius und des hl. Johannes des Täufers, das holzgeschnitzte Chorgestühl der
Kirche, die Holzfiguren des hl. Christophorus und des hl. Franziskus, sowie schließlich der
berühmte Isenheimer Altar, dessen geschnitzte Skulpturen von Nikolaus Hagenauer und die
Gemälde von Martin Grünewald sind wunderbare Werke des ausgehenden Mittelalters.
Doch im 18. Jahrhundert neigt sich die Blütezeit des Konvents ihrem Ende zu; 1777 wird das
Kloster in den Malteserorden integriert.
Der Antoniterorden wird 1790, die Komturei 1793 aufgelöst und das Gebäude geht in
Volkseigentum über. Im Jahre 1831 fällt die Kirche einem Brand zum Opfer. Das heute sichtbare
Gebäude stammt aus der Zeit der Ankunft der Jesuiten im Jahre 1843.
Der Isenheimer Altar
Die im Museum Unterlinden ausgestellten Bestandteile des Isenheimer
Altars bilden nur ein Bruchstück des einst wohl monumentalen Kunstwerks.
Das sogenannte Retabel, ein Wandelaltar, stand im Chor der Kirche und
blieb den Blicken der Gläubigen durch das Vorhandensein eines Lettners
(erhöhte Trennwand zwischen Chor und Mittelschiff) zum Teil verborgen.
Allein die Chorherren konnten ihn in seiner gesamten Schönheit schauen der einfache Gläubige erblickte den Altar nur durch den Lettner hindurch.
Bis zur Französischen Revolution bleibt das Retabel Eigentum des
Isenheimer Klosters - und dies obwohl Kaiser Rudolf 11. 1597 in den Besitz
des Altars kommen will. Es war ihm zu Ohren gekommen, «daß sich in
Isenheim, in einer Kirche des Antoniterordens, ein wunderschönes Gemälde
befand, ein wahrhaft meisterliches Werk eines außerordentlichen Künstlers».
Deshalb verhandelt er darüber mit dem Superior des Klosters und macht
sogar den Vorschlag, den Altar durch eine Kopie zu ersetzen. Eine
beachtliche Geldsumme für den Erwerb des Kleinods bietet auch Kurfürst
Maximilian von Bayern (1597-165 1) zu Beginn des 17. Jh.
In den Wirren nach dem dreißigjährigen Krieg wird der Altar von 1651 bis
Der hl. Antonius, Patron
1654 in Thann in Sicherheit gebracht.
des Antoniterordens
© Rolf Bührend, März 2003
Seite 150
1792 wird das Retabel auf Betreiben der Revolutionskommissäre Marquaire und Karpff in die
Nationalbibliothek des Bezirks, ein ehemaliges Jesuitenkollegium überführt, in dem sich heute
das Lycée Bartholdi befindet. 1852 wird der Flügelaltar in die Kirche des ehemaligen
Dominikanerinnenklosters von Unterlinden verlegt. Er bildet das Glanzstück des nun
entstehenden Museums.
Am 13. Februar 1917 wird der Altar unter dem Vorwand einer Restaurierung in die Münchner
Pinakothek gebracht. Erst infolge langer Verhandlungen zwischen der deutschen Regierung und
der Schongauer-Gesellschaft, die das Museum Unterlinden verwaltet, kehrt das Retabel am 28.
September 1919 nach Colmar zurück.
In der Folgezeit gibt es immer wieder Pläne für einen originalgetreuen Wiederaufbau des Altars.
In den dreißiger Jahren werden die Skulpturen in einem nachgebauten Schrein untergebracht und
die Tafeln in ihrer heutigen Anordnung zusammengestellt (bis 1965 befand sich der Hl. Antonius
jedoch linkerseits der Kreuzigungsszene). Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs veranlasst
der Präfekt des Départements Haut- Rhin am 3. August 1939 die Verlegung des Meisterwerks
des Museums in das Schloss von Lafarge und später in das von Hautefort im Périgord. Nach dem
Waffenstillstand im Juni 1940 lässt eine von der deutschen Regierung eingesetzte Kommission
die Kisten mit den kostbaren Werken nach Colmar zurückbringen. 1942 wird das Retabel zum
Schutz vor den Bombardierungen durch die Alliierten in die Hochkönigsburg überführt, wo es in
den Kellern aufbewahrt wird. Seit dem 8. Juli 1945 hat der Isenheimer Altar die Kapelle nicht
mehr verlassen.
Ich kann und will hier nicht weiter dem Prospekt in die Tiefe folgen. Biblische Geschichten
müssten erklärt werden, mittelalterliche Symbolik, Deutungen mehrerer Kunsthistoriker. Nicht
alles an diesem Werk ist heute noch original. Was ist echt? Selbst die Gemälde, dem Matthias
Grünewald zugeschrieben, könnten anderen Ursprung haben. Die Skulpturen in der Predella und
im geöffneten Retabel wurden wahrscheinlich um 1490 geschnitzt. Aber warum will man das
alles wissen? Die Bilder selbst geben so viel Stoff, in die Geschichte einzudringen, in die
Denkweise der Menschen vor unserer Zeit. An wen und was glauben wir heute?
Mit Affengeschwindigkeit durchmaß ich das übrige Museum, um wenigstens einen Überblick zu
erhalten. Ich verweilte eine Minute im Kreuzgang dieser herrlichen Anlage, genoss das Licht,
das durch die Säulen und Bögen gebrochen wurde und diese als helle Lichtflecke auf das uralte
Plattenpflaster warf. Der Vierpass unter jedem gotischen Spitzbogen wird jeweils von einer
schlanken Säule gestützt und dieses Bogenfenster noch einmal teilt. Die Bogenreihe wirkt so viel
eleganter. Ich trenne mich schweren Herzens, denke aber auch an die geduldig wartende Martina
und eile ihr entgegen.
Gemeinsam ziehen wir nun durch
die engen Straßen und Gassen
dieser herrlichen Kleinstadt.
Begeistert schaue ich die
Fassaden der Fachwerkhäuser,
die
geschlosserten
und
geschmiedeten Ladenschilder, die
Läden,
die
lustwandelnden
Menschen an. Noch einmal
trenne ich mich kurz von
Martina.
In
der
Dominikanerkirche steht ein
ebenfalls weitgerühmter Altar:
„Die
Madonna
im
Rosenhag“.Auch hier würde eine
Dominikanerkirche Colmar
Geschichte
die
Bedeutung
erhöhen.
Martin Schongauer hat das Gemälde 1473 zu diesem
Dominikanerkirche Colmar: Martin
Schongauer, Madonna im Rosenhag, 1473
Altar geschaffen.
© Rolf Bührend, März 2003
Seite 151
Das Städtchen Colmar erfüllte für mich alle Seiten eines Stadtganges. Die Sonne schien. Uns tat
nichts weh. Wir waren satt. Kein Gepäck, kein Schuh drückte uns, außer dem baumelnden
Fotoapparat, den ich immer wieder zückte und nach den besten von Tausenden Motiven suchte.
Die Fußgängerzone verschonte uns vom lästigen Autoverkehr. Die Luft war mild. Wir spazierten
allein, ohne die vom Stadtführer vorgeschriebene Route einhalten zu müssen. Immer der Nase
nach oder wenigstens einen selbst gewählten Weg entlang. Mit einem kleinen Plänchen bummele
ich gerne allein oder zu zweit durch die Straßen und Gassen, bleibe stehen, schaue an den
Fassaden hoch oder auch mal in einen offenen Hausflur hinein, um etwas vom Leben der
Bewohner zu erhaschen. Nur die parkenden Autos verbieten der Phantasie, sich in eine
verwunschene Stadt vor hundert Jahren zu träumen. Aber niemand darf drängen!
Meine Martina vergleicht interessiert die Modekleidung in den Auslagen, versetzt sich in die
Wohnverhältnisse der Leute, schwärmt von einem Balkon, auf dem sie sitzen kann, wenn es
warm ist. Natürlich sieht man in den Fußgängerzonen nicht das wahre Leben der Bewohner. Zu
sehr ist alles auf Broterwerb am Touristen oder den gehobeneren Einkauf der Städter oder der
Leute aus dem Umland bedacht. Wie sollte es auch anders sein.
Also suche ich nach den steinernen
Zeichen der Vergangenheit. Da sind
die Häuser selbst, ihre Bauweise ist
in den ältesten Teilen der Altstadt
noch mittelalterlich. Ich prüfe mit
den Augen die Statik der Fachwerke,
frage mich, wie alt die geschwärzten
und durchgebogenen Balken wohl
sein mögen. Die Obergeschosse
kragen nach und nach zur Gasse aus.
Früher wie heute sind die
Grundstückspreise hoch. Die Häuser
der Reichen haben sich erhalten, die
Lehmkaten der Armen standen nicht
im Zentrum der Stadt.
Die Kirchen bestimmten den einen Mittelpunkt, die Rathäuser den anderen. Der Handel
hinterließ seine Spuren in Form von Lagerhäusern, Kornspeichern, Straßennamen, Höfen und
Ställen. Die Wirtshäuser und Gasthöfe pflegen noch viel von alten Traditionen zu zeigen. Die
strenge Justiz ist zu spüren, wenn ein Pranger sich erhalten hat.
Ein Brunnen erinnert mit einer bronzenen Figur an die alte Zeit. Mit Schoßrock, Lederwams und
Schulterschutz gekleidet, den Degen gegürtet, steht da der kaiserliche Feldhauptmann Lazarus
von Schwendi (1522 – 1584), der aus den Türkenkriegen die Tokaier- Rebe aus Ungarn ins Elsaß
mitgebracht haben soll. Mit weit gestrecktem Arm hält er ein Bündel dieser Rebe hoch- seht her!
Von der Dominikanerkirche gehen wir die Rue de Marchands hinunter, sie säumen die ältesten
Häuser von Colmar:
Eine 1575 gebaute Gerichtslaube, das Ancien Corps de Garde.
Gegenüber steht das Musée Bartholdi; es pflegt die Erinnerung an den hier geborenen
französischen Bildhauer (1834 – 1904).
Das Maison Pfister, erbaut 1537 für einen Hutmacher aus Besançon, steht an der Ecke zur Rue
Mercier. Es ist eines der schönsten Häuser Alt- Colmars.
Das Haus gegenüber, das Maison du Cygne, wird als Wohnhaus des berühmten Martin
Schongauer bezeichnet.
Es ist die alte Zeit, der man nachläuft, die neue ist wie eine alles gleich machende Feile, hier, da
und anderswo, unabhängig von Land und Sprache. Gruß an den Globus!
Mich beeindrucken an fremden Orten nicht die arroganten Glas- und Betonkästen miteinander
wetteifernder, ehrgeiziger, dem eigentlichen Lebensgefühl der Menschen wesensfremder und nur
© Rolf Bührend, März 2005
Seite 152
dem Geld dienenden Architekten. Es ist billige Massenware, mit Maschinen schnell
hochgezogen,
oft
noch
schneller
wieder
zerstört
und
abgerissen.
Viel mehr ziehen mich die alten Behausungen an, von Menschen in mühevoller Handarbeit
gefertigt, ihre moosbedeckten Fugen auf den Dächern, der brüchige Stein an den Simsen, die
ausgeschlagenen Rahmen der ehemals kunstvoll geschnitzten Türen und jetzt blinden Fenster,
die ausgetretenen Gehsteige, mit Kopfstein gepflasterte holprige Gassen. Hier schlägt nur noch
schwach der Puls der alten Zeit, matt grüßt ehemalige Pracht. Manchmal lässt sie sich nur ahnen.
Die Menschen haben diese Häuser verlassen. Nur noch kurze Zeit vergeht, bis das
Abbruchkommando kommt, ein Immobilienmakler das Grundstück nach der Mode verändert
und neue, junge Leute herbeilockt. Ein Stück alte Heimat ist verschwunden, eine neue wird
entstehen. Die Zeit bleibt nicht stehen. Alles verändert sich. Noch sind wir jetzt mitten drin und –
auch schon bald wieder draußen. Das ist das, was sich mir oft auf Reisen mitteilt, dieses
Zeitgefühl, dieses Werden und Vergehen im menschlichen Leben.
Im Tier- und Pflanzenreich pulst das Leben schneller, oft schon im Gleichklang mit den
Jahreszeiten. Nur manche Mitmenschen geben sich der Illusion hin, sie lebten ewig.
Leute, macht beide Augen auf, die Gehörgänge und benutzt Eure Gehirne! Seht euch um,
hört genau hin und denkt nach! Werdet weise!
Viele Häuser zeigen ihre Giebel, wechseln sich ab mit solchen, die längs zur Straße stehen. Alle
Fenster sind geschmückt mit Geranien. Weit verbreitet verwehren farbige, im schönen Kontrast
zur Hauswand gestrichene Klappläden das Innere dem Blick des Fremden, wenn es dunkel ist
oder die Sonne allzu heiß in die Stuben eindringen will. Ich stelle mir die Einrichtungen dahinter
vor, alte Möbel, auf denen Lichtflecke tanzen, hübsches Porzellan in der Glasvitrine, auf dem
Vertiko die Bilder von Großmama und Großpapa, Blumen und Deckchen, Plüsch, knarrende
Dielen, altes Parkett und blitzende Türknäufe aus Messing. Eine Standuhr schlägt mit tief
tönendem Gong die Stunde…In manchen Häusern ist die Zeit stehen geblieben. Die Menschen
denken an früher, gehen vorsichtig mit dem Fortschritt um. Ihr Rhythmus schwingt mit dem des
Städtchens, fern von Hektik. Die Rathausuhr gilt noch etwas, das gesprochene Wort im Stadtrat.
Die Sicht in der Stadt ist verbaut. Es ist eng. Für Fremdes, Neues ist wenig Platz.
Was uns verborgen blieb: Das Quartier La Krutenau an der Petit Venise und das berühmte
Quartier des Tanneurs, das Gerberviertel an der Lauch, vielleicht die idyllischsten Winkel. Wir
müssen sie uns für später aufsparen. Später- gibt es das? Später?
XXX. Riquewihr
E
s war Nachmittag geworden. Der Bus hatte sich aufgeheizt, die Klimaanlage musste erst
eine Weile arbeiten, ehe die durchgeschwitzten Körper sich wieder normalisiert hatten.
Der nächste Höhepunkt wurde angesteuert- das kleine Weinstädtchen im Elsaß:
Riquewihr. Die Deutschen nannten es früher Reichenweiher.
Als wir mit dem großen schweren Bus von der Landstraße in die engen Straßen dieses Ortes
einbogen und an dessen Rande auf dem Parkplatz uns in eine Reihe von sage und schreibe
zwanzig anderen Bussen einreihten, wurde mir schnell klar, dass wir die Opfer eines
Massenauflaufes sein würden, einer Theaterprozession, einer gewaltigen Menschenversammlung
und nicht etwa eine Weinverkostung erleben würden wie sie sich ein normaler Mensch vorstellt.
So war es auch. Eine Demonstration von Leuten - die Reisenden aller Busse vermischten sich
schnell - zog hinein in die Gassen einer Märchenstadt, zunächst auf den Konsum der
versprochenen Weinprobe gerichtet. Conny hatte uns einen Namen eingetrimmt: DOPFF et
IRION.
Wir stiegen einige Stufen hinunter. Gott sei Dank strömten viele Menschen an dieser Tür vorbei.
Das Chaos schien einigermaßen geordnet. Immerhin drängten sich unsere fünfzig Leute in dem
engen Gang hinter einer Theke. Dann begrüßte uns ein junger Mann. Er wollte uns zunächst die
Produktion zeigen. Die ersten aus der Gruppe verschwanden hinter einer Tür. Ehe die letzten
sich hindurchgezwängt hatten, fing er vorn an schon zu sprechen. Es war zwecklos, an die
© Rolf Bührend, März 2005
Seite 153
Erklärungen heranzukommen. Einen Ausgleich gab es, wenn der Mann am Ende einer Sackgasse
den Zeigefinger hob und den letzten im Gang einen Wink gab, dass sie nun die ersten seien.
Nächste Tür rechts bitte und dann die Stufen hinauf! Wir standen im Maschinenraum. Auf
Stahlgerüsten standen große Edelstahl- Bottiche. Rohrleitungen, Armaturen, Messzähler
verwirrten das Verständnis. Einige Arbeiter standen neugierig dabei, sich einen Moment auf
ihren Schaber stützend, mit dem sie gerade Abfälle zusammengefegt hatten.
Der junge Mann erläuterte beflissen den Weg der Reben von den großen Sammeltransporten in
die Behälter, wo Strunke und Stiele entfernt werden, wie sie dann in die Pressen kommen, der
Rebensaft in Lagerbehälter. Er sprach über Temperaturen, Lagerzeiten, ließ uns wissen, dass die
Weinlese nicht nur von den eigenen Weinbergen stammt, sondern im Umfeld von einigen
Winzern aufgekauft wird. Erst dann lohne sich die aufwendige moderne Technik.
Einige schauten sich schon gelangweilt um. Wann ist denn nun die Weinverkostung! Wir
bekamen noch eine urige Weinstube gezeigt, freuten uns schon. Hier ist Stimmung, Ambiente.
Alte ausgediente Weinfässer, schwere Tische und Bänke, Werkzeuge der Weinbereitung,
schmiedeeiserne Leuchter, Zierlaub an den Wänden, sepiabraune Bilder und Diplome der
Altvorderen. Doch gefehlt. Bitte in den nächsten Raum!
Dieser mutete eher an wie ein biederes Konferenzzimmer. Ein aus vielen Tischen
zusammengesetztes Tische- Viereck und rundherum genau fünfzig Stühle füllten es beinahe voll
aus.. Es war alles geplant. Der Inhalt eines Reisebusses passte hinein. Wir nahmen geräuschvoll
Platz. So etwas wie Klassenzimmerstimmung kam auf, bis jeder neben dem ihm genehmen
Nachbarn saß.
Immer noch nicht konnten wir an die schon im Hintergrund bereit gestellten Flaschen ran. Der
ju8nge Mann brannte vor Ehrgeiz, uns schnell, er spürte unsere Ungeduld, den Ablauf der
Arbeiten in einem Weinjahr zu schildern.
Nun kam ein Vortrag über die hiesigen Rebsorten. Ich habe es mir noch einmal
zusammengesucht. Es ist aus dem Französischen übersetzt und etwas holpriges Deutsch:
Die 7 Rebsorten
Der Sylvaner,
Fruchtigkeit.
durstlöschend,
leicht,
von
einer
feinen
Der Pinot Blanc, Frische und Geschmeidigkeit.
Der Riesling, feurig, rassig und von einer feinen Fruchtigkeit.
Der Muscat
Charakter.
d'Alsace, zugleich trockener und gewürziger
Der Tokay Pinot Gris, kräftig und abgerundet, mit vielfältigen
Aromen.
Der
Gewurztraminer,
Eigenschaften.
mit
außergewöhnlich
aromatischen
Le Pinot Noir, Rosé oder Rotwein, typisch fruchtiges Aroma von
Kirschen.
© Rolf Bührend, März 2005
Seite 154
Die Arbeiten im Winter
Die Arbeiten an der Weinrebe verteilen sich über das ganze Jahr im Rhythmus der vier
Jahreszeiten. Auch im Winter muss der Winzer in seinen Anlagen Ordnung halten.
Die Arbeiten im Frühling und Sommer
1. Die Plantagen
Vom Monat April an wärmt die Sonne den Boden auf, der Winzer bereitet seine Parzelle vor.
Ein gut und tief gegrabener Boden wird dann die jungen Pflanzungen empfangen. Dieser
Arbeitsgang bedingt eine enorme Investition von Handarbeit und Gerät (Stützstäbe, Draht
ziehen, Mauern richten usw.)
Diese ganz jungen Weinreben werden eine volle Ernte erst am Ende von vier bis fünf Jahren
produzieren.
2. Die Arbeiten im Grünen. Auflockern und Auslichten
Die unnützen Zweige werden beseitigt. Diese Gefräßigen liegen auf dem Unterteil des
Weinreben- Fußes und entnehmen unnütz Säfte. Im Monat Mai bereitet der Austrieb der jungen
Sprosse uns auf die kommende Etappe vor. Sie zeigen die zu erwartenden Trauben. Das
Potential der kommenden Ernte kann schon abgeschätzt werden.
3. Das Anbinden und Beschneiden
Nach der Juni- Blüte müssen die Reihen von Weinreben sauber sein, die Zweige dürfen kein
Dach oberhalb der Weinreben bilden, um Schatten oder eine schlechte Lüftung zu provozieren.
Die Periode des Anbindens und Beschneidens muss sorgfältig unter Berücksichtigung der Gefahr
gewählt werden, die Bildung von jungen Blättern zu benachteiligen und dem Reichtum an
Zucker der Weintrauben zu schaden.
4. Das Ausblatten
Gegen Mitte September können gewisse Blätter, die die Weintrauben umgeben, so eine bessere
Ventilation begünstigend, entfernt werden. Das fördert eine bessere Besonnung der Trauben. Die
Weintrauben können nun bis zur Ernte schattenlos reifen. Das Fäulnis-Risiko wird verringert.
5. Die Behandlungen
Er würde schädlich sein, die Weinrebe und während ihrer vegetativen Phase sichtbaren Trauben,
besonders am Anfang der Reife, vor allem auch zwischen den einzelnen Stadien ohne Schutz zu
lassen. Besondere Aufmerksamkeit wird der Winzer anlässlich der Blüte im Juni haben, im
Stadium der Schließung der Traube. Der Winzer bereitet seinen Zerstäuber vor, um gegen die
Krankheiten zu kämpfen: Mehltau, Oodium, die graue Fäulnis, aber auch gegen die
schrecklichen Insekten, die für die Traube verheerend sind. Alle Behandlungen, die sehr wichtig
sind, werden wenigstens acht Wochen vor der Weinlese abgebrochen.
Die Arbeiten im Herbst
Die Weinlese
Eine Periode der Reifung von 40 bis 50 Tagen geht der Weinlese voran. Die Temperaturen in
den Monaten September und Oktober spielen eine überwiegende Rolle. Die Zucker-Rate nimmt
schnell zu, die Weintraube verliert von ihrem Säuregrad.
© Rolf Bührend, März 2005
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Der Winzer überwacht aufmerksam den Zyklus
der Reifung. Seit 1971 datiert ein regionales
Komitee von feststehenden Fachleuten die
Eröffnung und den Kalender der Weinlese nach
der Rebenart. Bütten, Rückentragkörbe, Eimer,
Gartenscheren, Traktoren, Schleppen, Keltern,
alles ist durchgesehen worden. Dann ist es
soweit. Die Teams von Winzern und
Weinlesehelfern nehmen Ansturm auf den
Weinberg.
Für den Winzer, der einen „Crémant d'Alsace“
ansetzt, spielt sich die Weinlese allgemein gegen
Mitte September ab, eine Zeit, wo die Beeren
noch den erforderlichem Säuregrad haben, um
das beste Produkt herauszuarbeiten.
Die ideale Weinlese für den AOC Alsace fängt
im Oktober an. Doch wird ein schöner Herbst
vielleicht die Ernte von späteren Weinlesen oder
die Auswahl von bestimmten Trauben im
November oder sogar im Dezember erlauben.
Es gibt 3 Weine kontrollierter Herkunft
(AOC): AOC Alsace, AOC Alsace Grand Cru
und AOC Crémant d'Alsace. Ich muss mir das für
später merken.
Außergewöhnliche Weine sind die die Elsässer
"Grands Crus". Sie stammen ausschließlich von
50 streng festgelegten Lagen mit besonderen
Eigenschaften. Das sind die Dörfer, zu denen
Lagen des "Grand Cru" gehören. Die
Bezeichnungen
"Vendanges
Tardives"
(Auslesen) und "Sélection de grains nobles"
(Trockenbeerenauslesen)
können
den
Bezeichnungen Alsace Grand Cru und Alsace
beigefügt
werden
und
kennzeichnen
außergewöhnliche Weine, die meistens weich,
voll und likörartig sind.
Orte an der Elsässischen Weinstraße
Die Weine kontrollierter Herkunft "Alsace" und
"Alsace Grand Cru" tragen im allgemeinen den
Namen der Rebsorte. Sie werden in der typischen
Flasche, der elsässischen "Flöte" abgefüllt. Sie
werden frisch, aber nicht eiskalt bei 8-10°C
serviert.
Endlich, endlich kreisen die Flaschen. Es wird ausschließlich Weißwein angeboten. Jeder hat
sein Glas. Während die ersten schon schnuppern, schwenken, schlucken, halten die letzten noch
verlangend ihr leeres Glas den beiden Hilfen entgegen, um ihre Probe zu empfangen. Haben die
letzten ihre Gläser mit dem im Kerzenlicht funkelnden Wein zum Munde geführt, schenkt man
den ersten schon neuen ein. Es ist wieder ein Durchläufer. Ohne Romantik. Ohne Flair. Vier oder
fünf Sorten werden präsentiert. Alles sind jüngere Jahrgänge. Massenweine.
© Rolf Bührend, März 2005
Seite 156
Es folgt wieder die Zuführung zum Verkaufsraum. Die netten Führer verabschieden sich. Wir
befinden uns in einer professionellen Weinhandlung. Nun muss man entscheiden. Doppf und
Irion oder nicht. Ich kann mich nicht durchringen, habe ich doch schon eine Flasche Roten im
Gepäck, der Weiße liegt mir nicht ganz so. Ich habe ein Bewusstsein für elsässische Weine
bekommen und eine Lehrstunde gehabt. Auch ganz wertvoll. Man lernt immer hinzu.
Dann dürfen wir, wieder leicht beschwingt, schnell der frischen Luft ausgesetzt und unbekannte
Glückshormone genießend, noch einen Stadtrundgang unternehmen. Ich brauche nicht zu
betonen, dass die Zeit unser Scharfrichter sein wird. Was für ein romantisches Städtchen ist
dieses Riquewihr!
Wir laufen gegen die am Ortsrand
beginnenden Hänge. Über den Häusern
schauen die Weinberge herab, wo immer
eine Gasse sich hinten öffnet, Hänge mit
Weinstöcken. Der Ort ist zum Verlieben.
Die vielen Leute halten sich in der
Hauptstraße auf. Wir gehen sie hinauf und
biegen dann in eine der idyllischen Gassen.
Sofort sind wir allein und können das Flair
einer
ruhig
dahin
fließenden
Kleinstadtbeschaulichkeit entdecken und
wohltuend aufnehmen. Hier und da sehen
wir ein paar Leute. Es ist später
Nachmittag, die Sonne drückt auf die
Hausdächer.
Einige der Bewohner kommen von ihrer Arbeit und beginnen nun in ihren Häusern zu werkeln.
Es ist ein massentouristisches Missverhältnis. Jährlich suchen diesen Ort mit seinen wenigen
Tausend Einwohnern Hunderttausende Touristen heim, strömen von den Bussen, mit denen sie
angeliefert werden, in die Weinprobierstuben, von da angeschnickert in die Souvenirläden
entlang der Hauptstraße, und in die zahllosen Weinlokale, die natürlich auf diesen Ansturm
eingerichtet, ja ausgerichtet sind und von dort in die Busse zurück, den nächsten Platz machend.
Dass dann auch noch genügend Leute in allen Winkeln dieses fast noch immer dörflich
anmutenden Ortes umher streunen, ist den arbeitsamen Leuten, die hier wohnen, sicher zu viel.
Sie wollen lieber ihre Ruhe haben, statt wie im Museum oder im Zoo von Fremden angestarrt
werden. Das sagen ihre Blicke; dennoch brauchen sie die Touristen, um ihre Produkte an den
Mann zu bringen.
Die Konkurrenz ist riesig und schläft nicht. Der Absatz des
Weines schwankt mit den Gewohnheiten und Moden des
Trinkens. Jetzt verdrängt der Rotwein langsam den Weißwein.
Das sind zumindest mein Eindruck und auch mein eigener
Geschmack. Die Menschen bevorzugen immer mehr den
Trockenen. Die schweren und süßen Weine werden weniger
gekauft. Auf den Weinkarten verschwindet das Wort „lieblich“,
was erhöhten Zuckergehalt signalisiert.
Schon gibt es „Bio- Weine“. Falls sich dieser Trend zum
ökologischen Anbau durchsetzt, geraten einige Winzer in
Schwierigkeiten. Wie will man dann noch der Schädlinge Herr
werden? Neue Sorten? Nicht mehr spritzen? Die Quantität sinkt.
Viele Fragen.
Wir laufen zurück, nachdem wir uns, immer die Seitenstraßen
suchend, an den alten Fachwerkhäusern und stillen romantischen
Winkeln satt gesehen haben.
Es gibt am Ende der Hauptstraße einen wunderschönen Brunnen.
© Rolf Bührend, März 2005
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Bilder von Ludwig Richter aus der Romantik tauchen auf. Abgeschiedene Idylle. Frauen laufen
ans Wasser, tauchen ihre Gefäße ein, schwatzen miteinander, die Buben schauen sich nach den
jungen Mädchen um. Nur hierher zum Wasserholen dürfen diese werktags aus dem Haus, es sei
denn es ist Sonntag, zum Tanz im Krug, aber da sind die strengen Eltern dabei…
XXXI. Im Elsaß
M
ir kommen so meine Gedanken, als wir wieder im Bus sitzen. Wenn das uralte
Kopfsteinpflaster erzählen könnte! Immer wieder suche ich Augenblicke und Episoden
der Geschichte mit dem Ort zusammen zu bringen, an dem ich gerade weile. Und nun
gerade das Elsaß, urdeutsches Land. Deutsches Land?
Wie viel Kriege sind hier über diese Gegend hinweg gezogen. Um nicht zu weit in der
Geschichte zurück zu gehen, bleiben wir bei Ludwig XIV. Dieser überfiel in den 90er Jahren des
17. Jh. das Elsaß, Lothringen, die Pfalz und das Rheinland mit seinen Truppen und annektierte
diese Gebiete, die ihm später, 1713, im Frieden von Utrecht1 zugeschrieben wurden. Es folgte
eine längere Pause des Friedens. Dann kam Napoleon Bonaparte, der französische Eroberer, auf
den Plan.
Sein Feldzug gegen Russland 1812, nachdem er in Europa die größte Ausdehnung erreicht hatte
(Frankreich grenzte an den Rhein; Hannover- Westfalen, Baden, Bayern, Sachsen waren
unterjochte Satellitenstaaten), erlitt er im eisigen russischen Winter im brennenden Moskau die
entscheidende Niederlage und mit seiner Grand Armée bei Leipzig den letzten vernichtenden
Stoß. Die Elsässer wollten 1812 durchaus nicht mit Napoleon nach Russland ziehen und nicht
gegen die Verbündeten kämpfen. Sie waren, wie alle Franzosen, von den Anfangserfolgen des
Usurpators berauscht. Dann aber …
Ich erinnere mich an das Buch von Erckmann/Chatrian „Ein Soldat von 1813 – Waterloo“, in
dem die Autoren, Elsässer aus Pfalzburg, selbst Teilnehmer an der Völkerschlacht bei Leipzig,
den Druck Napoleons und das Elend der elsässischen Bevölkerung schildern:
„…Sag, Joseph, wie viele haben wir seit 1804
vorbeimarschieren sehen?“
„Ich
weiß
nicht.
Wohl
vieroder
fünfhunderttausend.“
„Ja, und wie viele hast du zurück kommen
sehen?“
Ich verstand, was er meinte, und antwortete:
„Vielleicht kommen sie über Mainz zurück oder
auf einem anderen Weg.“ Er schüttelte den Kopf
und sprach: „Die du nicht hast zurückkehren
sehen, sind gefallen, wie noch Hundert- und
Hunderttausende fallen werden,…denn der
Kaiser liebt den Krieg.
Um seine Brüder zu krönen2, hat er mehr Blut vergossen als unsere große Revolution, um die
Menschenrechte zu erobern.“
Im Russlandfeldzug hatte Napoleon über eine halbe Million Menschen in den Tod getrieben.
Sein Traum von einem Vereinten Europa, einem Imperium unter seiner Herrschaft, war
ausgeträumt.
Nach der Vertreibung Napoléons I. bestieg Ludwig XVIII., der Bruder Ludwigs XVI., den
Thron. Es kamen Karl X. und Louis- Philippe. Mit ihnen begann die revolutionäre Zeit der
1
Der Friede von Utrecht vom 11. 4. 1713, bestehend aus insgesamt 4 Verträgen zwischen Frankreich, England,
Holland, Preußen, Portugal, Savoyen, Spanien, dem Reich und Kaiser Karl VI., beendete (mit den Verträgen von
Rastatt und Baden 1714) den Spanischen Erbfolgekrieg.
2
Krieg in Spanien 1808-1814: Der Thronstreit zwischen Karl IV. und dem Kronprinzen Ferdinand VII. gab
Napoléon Gelegenheit, die spanische Dynastie zu entthronen und seinen Bruder Joseph zum König von Spanien
zu proklamieren.
© Rolf Bührend, März 2005
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bürgerlichen Restauration, bis Napoléon III. am 2. Dezember 1852 den Thron bestieg und die
Monarchie wieder errichtete.
Napoléons III. Außenpolitik erstrebte die volle Wiederherstellung der alten Machtposition
Frankreichs in Europa und der Welt. Im Krimkrieg im Bund mit Großbritannien gegen Rußland
und im Krieg mit Sardinien gegen Österreich, der ihm Savoyen und Nizza einbrachte, schien
dieses Ziel in greifbare Nähe gerückt. Die abenteuerliche Unternehmung in Mexiko und die
Gegnerschaft gegen die Einigung Deutschlands, die in den Deutsch-Französischen Krieg von
1870/713mündete, kostete ihn aber den Thron; Frankreich verlor das Elsaß und Teile von
Lothringen. Nun wehten wieder für knapp 50 Jahre schwarz-weiß-rote Fahnen von den Türmen
der Städte im Elsaß.
Im blutigsten aller bisher auf europäischem Territorium geführten Kriege 1914/18 musste
Deutschland wiederum das Elsaß und Lothringen an Frankreich abgeben. In einem Buch „Der
Krieg 1914/16 in Wort und Bild“ fand ich Berichte und Bilder auch über die blutigen Kämpfe im
Elsaß und in Lothringen. Trotz Knebelung Deutschlands im Versailler Vertrag ließ Frankreichs
damaliger Kriegsminister Maginot4 nun im Elsaß eine militärische Befestigungslinie bauen, die
uneinnehmbar schien, die so genannte Maginot- Linie5.
3
Im Deutsch- Französischer Krieg 1870/71, nach dem Deutsch-Dänischen Krieg 1864 und dem Deutschen Krieg
1866, dem letzten der drei deutschen Einigungskriege hatte Napoléon III. seit dem Deutschen Krieg vergeblich
versucht, Kompensationen für den preußischen Machtzuwachs zu erhalten. Bismarck nutzte eine sich im
Zusammenhang mit der spanischen Thronkandidatur des Erbprinzen Leopold von Hohenzollern- Sigmaringen
bietende Chance, um durch die Emser Depesche die Kriegserklärung Frankreichs an Preußen zu provozieren. Die
mit dem Norddeutschen Bund durch Defensivbündnisse verbundenen süddeutschen Staaten sahen den Bündnisfall
als gegeben an. Eine erste Phase des Krieges endete mit der Kapitulation einer französischen Armee unter General
Mac- Mahon bei Sedan am 1. 9. 1870 und der Gefangennahme Napoleons am folgenden Tag, womit aber die von
Generalstabschef H. von Moltke geplante Vernichtung der Macht des Gegners noch nicht erreicht war. Frankreich
führte den Krieg unter republikanischer Führung weiter, der sich nun zu einem Volkskrieg und verlustreichen
Ringen wandelte (fast 190 000 deutsche und französische Tote). Mit der Kapitulation von Paris am 28. 1. 1871
streckte Frankreich die Waffen. Der endgültige Friedensschluss erfolgte in Frankfurt am 10. 5. 1871. Der Krieg
belastete, besonders durch die erzwungene Abtretung Elsaß- Lothringens, das deutsch-französische Verhältnis auf
Dauer; der 2. 9. wurde als „Sedanstag“ Nationalfeiertag im Kaiserreich.
4
Maginot, André, französischer Politiker (Demokratische Linke), * 17. 2. 1877 Paris, † 7. 1. 1932 Paris; anfangs
Kolonialbeamter, seit 1917 mehrmals Kolonialminister, 1922—1924 und 1929—1932 Kriegsminister. Unter seiner
Ägide wurde der Bau der Maginotlinie eingeleitet.
5
Maginot- Linie: Dieses Befestigungssystem an der französischen Nordostgrenze wurde unter der Oberaufsicht
von General Guillaumat entworfen und erhielt nach dem Tode Maginots in einem Staatsakt den Namen “Die
Maginot-Linie”. Die Bauzeit, die zunächst auf vier Jahre veranschlagt worden war, betrug neun Jahre (1927-1936).
Das Kernstück der “Maginot-Linie” befand sich in Elsaß- Lothringen. Sie zog sich 314 km lang parallel der
deutschen Grenze von Belfort nach Montmedy, und zwar in einem Abstand von 7 bis 10 Kilometern. Die
Etappenstaffelung ins Hinterland betrug bis 20 Kilometer. Das Befestigungssystem war in die drei Kampfabschnitte
Rhin-Vosges (Rhein-Vogesen), Metz-Thionville und den alten traditionellen Festungsgürtel von Belfort bis Toul
eingeteilt, wobei letzterer unter Einschluss von Verdun völlig modernisiert wurde.
Die “Maginot-Linie” war größtenteils unterirdisch angelegt. Die großen Panzerforts (= “Ouvrages“) reichten bis 7
Stockwerke unter die Erde. Die unterste Sohle lag häufig bei 100 m Tiefe. Es gab Bunkersysteme für
Panzerabwehrkanonen und Maschinengewehre, die 50 bis 70 m unter der Erde lagen und miteinander verbunden
waren.
Die durchschnittlichen Erdbewegungen für ein Panzerfort mit einer Artilleriepanzerkuppel betrugen 750 000 m3.
Es liegen britische Berechnungen vor, in denen die Kosten auf 2 Millionen Pfund pro umbauter Meile veranschlagt
wurden. Diese Summe entspricht in der Umrechnung zum Kurs der damaligen Zeit rund 40 Millionen Reichsmark
für 1600 Meter.
Die Vernetzung der “Maginot-Linie”, die die Verschiebung von Truppen und Munition ermöglichte, erfolgte durch
Verbindungswerke. Diese verbanden einzelne Kasemattesysteme von unterirdischen Munitionslagern,
Proviantlagern und Aufenthaltsräumen für die Besatzungen durch Tunnelsysteme, die mit elektrischen Kleinbahnen
ausgestattet waren. Ebenso funktionierten die Munitionsaufzüge für die Panzertürme elektrisch.
Die Zentralen für die Strom- und die Wasserversorgung und für die Entlüftungssysteme lagen geschützt
unterirdisch. Die Eingangsstollen befanden sich weit hinter der Befestigungslinie. Sowohl die Bunker für schwere
und mittlere Artillerie, bei denen Periskoptürme zur Rundumbeobachtung dienten, als auch die betonierten
Kampfstände für Maschinengewehre, leichte Artillerie und Panzerabwehrwaffen waren in verstärktem Eisenbeton
gegossen. Alle Bunker und Außenblockhäuser, die insgesamt 300 000 Mann Besatzung aufnehmen konnten, waren
© Rolf Bührend, März 2005
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Im zweiten Weltkrieg mussten die Elsässer und Lothringer wieder umdenken. Sie wurden für
kurze Zeit, nämlich von 1941 – 1944 wieder Deutsche, kamen „heim ins Reich“. Dann mit der
Kapitulation Hitlerdeutschlands 1945 wurden sie wieder Franzosen.
Und bei denen sind wir nun zu Gast. Wir erleben die leichte Wesensart, den frohen Lebenssinn
dieser Menschen, den schlichten und einfachen Lebensstil, und ich fühle mich wohl in ihrem
Land. Es bringt jedem Volke Unglück, hinter Eroberern, Diktatoren und Fanatikern her zu
laufen. Das hat die Geschichte bewiesen.
Meine Meinung: Trotz allen Blutes, das 1793 in Frankreich floss, als die Kommunarden die
Monarchie wegfegten und trotz der folgenden Restauration des Kaiserreiches haben sich die
demokratischen Gedanken der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wohltuend in die heutige
Zeit eingebettet. Die Franzosen gingen mit dem Zeitalter der Aufklärung allen europäischen
Völkern voran und sie beweisen auch heute noch: Franzosen fühlen als Franzosen. Sie haben so
etwas wie eine nationale Ehre. Sie lieben ihre Traditionen und ihre Kultur und ihre Sprache.
Im Gegenteil dazu erstickt das heutige Deutschland unter dem Mehltau der Bürokratie, der
Kleinstaaterei und Vereinsmeierei. Es schämt sich echter deutscher Traditionen, die seit der
braunen Zeit fast tabu sind. Es schämt sich der ungeheuren Last an Schuld, die Deutsche auf sich
geladen haben. Das zerreißt Generationen. Die Alten denken wehmütig an alte, echte deutsche
Werte, die Jungen schmücken sich mit der Unkultur der amerikanischen Übermacht,
beschmutzen und verstümmeln die deutsche Sprache mit Anglizismen…Ich will mich nicht
weiter auslassen.
Unter diesen Gedanken fahren wir nun schon wieder durch das Elsässer Land. In der Ferne
thront die Hochkönigsburg. Conny lässt Falk anhalten, so dass wir ein Foto machen können.
Allerdings muss der Fotoapparat das maximale Zoom benutzen. Die Rekonstruktion dieser alten
Stauferburg ist noch ein Verdienst Wilhelms II., geschehen in den Jahren nach 1870/71. Sie liegt
zwischen Strasbourg und Colmar in der Nähe von Selestat (Schlettstadt) auf einem 757 m hohen
Bergkegel am Osthang der Vogesen.
Erbaut wurde die ursprüngliche Burg im 12. Jahrhundert, dann um 1480
erneuert, im Dreißigjährigen Krieg angezündet. 1899 schenkte die Stadt
Schlettstadt dem Deutschen Kaiser Wilhelm II. die Burg, der sie als Ritterburg
im Stil des 15. Jahrhunderts wieder aufbauen ließ. Vom Westbollwerk aus hat
man einen herrlichen Ausblick in die Rheinebene bis zum Schwarzwald. Im
Innern kann man die Kapelle, den Rittersaal, ein Jagdzimmer und Wohnräume
mit Möbeln ansehen. Ich hatte 1987 und 1992 Gelegenheit, diese wunderbar
intakte Burg zu besichtigen.
Heute Nachmittag fahren wir an ihr vorbei. Wir passieren Ribbeauville, St.
Hippolyte. Dann gelangen wir in die Metropole des Elsaß und Europas, nach
Straßburg. Erwartung in mehrfacher Hinsicht. Einmal soll es heute Abend ein
Elsässer Festmenü geben. Und ich hoffe, noch ein paar Stunden zu finden, um
einige Sehenswürdigkeiten dieser großartigen Stadt zu erhaschen.
XXXII. Straßburg
W
ir sind kurz vor halb fünf im Hotel. Es hat den Charakter eines Motels. Es heißt
„Louisiane an der Ill“. Unansehnliche Flachbauten unmittelbar an der Stadtautobahn
gelegen, natürlich auch am Flüsschen Ill. Eine nahe Grünanlage mit einem Restaurant
durch unzerstörbare unterirdische Betonpassagen erreichbar. Die Maginotlinie schien uneinnehmbar; im Mai 1940
gelang es aber dem Zusammenwirken deutscher Panzerverbände mit der Luftwaffe, die Befestigungsanlage an der
noch schwachen Stelle bei Sedan zu durchstoßen.
© Rolf Bührend, März 2005
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verleiht der Herberge etwas Kleinstädtisches. 19 Uhr soll es Abendessen geben. Also bleiben nur
noch zwei Stunden. Ich besorge mir an der Rezeption einen Stadtplan und mache mich mit
Martina auf den Weg in die historische Altstadt. Wieder nur ein Streiflicht!
Ich war 1987 schon einmal hier in Straßburg, hatte auf das Münster hinaufsteigen dürfen. Mit
dem Petit Train bin ich durch „Petite France“, das Kleine Frankreich, das älteste Straßburg
gefahren, verstand allerdings seinerzeit nichts von der Führung, weil nur Englisch und
Französisch gesprochen wurde.
Ich hatte auch Gelegenheit, das Schloss Rohan zu besuchen. Dieses war 1742 auf Veranlassung
von Armand Gaston6 aus der Familie Rohan- Soubise erbaut worden und danach lange
Bischofssitz. Es beherbergt heute drei Museen und ist ein beeindruckender Komplex von
Gebäuden, die um einen viereckigen Hof angelegt sind. Im Schnellgang habe ich mir zwei
damals angesehen, das Musée des Beaux- Arts und das Musée des Arts Decoratifs. Meine
Gastgeberin, die Traudi, Tochter des Onkels meiner ersten Frau aus Bahlingen am Kaiserstuhl,
lud uns an diesem Tage ins Haus Kammerzell zum Froschschenkel- Essen ein. Ich war damals
wie in Trance, wie in einem Traum erlebte ich diese Stadt.
Nun hatten wir nur zwei winzige Stunden Zeit und mussten weit laufen. Vielleicht ein halbe
Stunde brauchten wir, bis wir, immer an der malerischen Ill entlang, bei schräg stehender Sonne
und schon etwas frischer Luft mit Hilfe des Stadtplanes den Kern der Altstadt erreichten. Ich
wollte genau zu dem Punkt, der mir ehemals schon am meisten imponiert hat, von dem man die
Ill- Arme, das Münster und die Brücken, das „Kleine Frankreich“ und die Türme der
Stadtkirchen sehen kann. Die Franzosen nennen ihn die Terrasse Panoramique.
Die historische Altstadt Straßburg liegt genau genommen auf einer Insel, gebildet von zwei
Armen des Rheinzuflusses Ill. Vorher hat dieser sich aber auch schon mehrmals verzweigt, so
dass die Stadt von Wasserläufen durchzogen ist, die sich alle wieder im Westen von ihr
vereinigen und dem Rhein zufließen. Um diese alte Reichsstadt richtig zu sehen, ihrer
Geschichte nahe zu kommen, den Kontrasten zwischen Alt und Neu nachzuspüren - immerhin ist
sie ja Europastadt - braucht man mindestens einen Tag. Um ihr Flair, ihre Besonderheiten
kennen zu lernen, mindestens eine Woche oder mehr. Straßburg und das Elsaß gehören
zusammen, Nahtstelle zwischen Deutschland und Frankreich. Viele Namen künden noch davon.
Wir mussten stramm laufen, Grün war um uns.
Rechts
lag
verträumt
das
grünlich
schimmernde Wasser des Flusses. Wir beeilten
uns, begegneten Spaziergängern, die sich
erholten, eine andere Spezies Menschen.
Jenseits der Ill säumten das Ufer die
gewaltigen Gebäude des Bürgerhospitals und
der Medizinischen Fakultät. Auf dem Pont
Louis Pasteur überquerten wir das Wasser und
verfolgten die Rue Humain, und dann war es
nicht mehr weit. Links ab sahen wir schon die
Straßburg, Barrage Vauban
weißen Wagen der Touristenbahn an der
Barrage Vauban, diesem Damm, der einst Teil der Stadtbefestigung war.
Wieder taucht der Name des berühmten Baumeisters Ludwigs XIV. auf. Dieses interessante
Bauwerk erfüllt neben seinem eigentlichen Zweck heute die Funktion einer Fußgängerbrücke,
6
Ab 1704 bis 1793 standen vier Kardinäle der Familie Rohan an der Spitze des Bistums in Straßburg. Der erst unter
ihnen, Armand Gaston, ehelicher Sohn Ludwigs XIV., unternahm den Bau dieses bischöflichen Schlosses. Er
dauerte 10 Jahre. Sein Haupttor geht auf die Place du Château und liegt fast genau gegenüber dem Südportal des
Münsters. Ludwig XV. wohnte hier und Maria Antoinette. 1871 und 1944 wurde das Schloss von Bomben
getroffen, hat aber jedes Mal seinen Glanz wiedergefunden.
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einer einzigartigen Aussichtsterrasse, und in seinem Innern – so schätzte ich es ein – dient sie als
riesiges Lapidarium, als Lager für historische Steine, Skulpturen, Kapitelle, Säulenreste und
Grabsteine. Gleich nach dem Anschluss der Stadt an Frankreich 1681 befahl Ludwig XIV. den
Bau eines Staudammes, um die Befestigungen zu verstärken. Er ist mit einer Schleuse
ausgestattet, um im Falle einer Invasion die Südfront der Stadt zu überfluten, hatte also
militärischen Charakter. Heute dient er als Aussichtsterrasse.
Wir gingen unten durch und standen dann oben und genossen im Abendlicht den einzigartigen
Blick auf die Altstadt.
Vor uns spiegelten sich im dunklen Wasser die vier massigen Wehrtürme, die die gedeckten
Brücken, die Pont Couverts, markieren. Sie sind Überreste der Stadtbefestigung, die ehemals
über 80 Wehrtürme zählte. Sie stammen von der dritten Erweiterung der Stadt um 1230/1250
und trugen dazu bei, der Freien Reichsstadt jahrhundertelang ihre Unabhängigkeit zu erhalten.
Diese letzten Wehrtürme heißen Henkersturm, Heinrichsturm, Hans-von-Altheim-Turm und
Franzosenturm. Sie dienten lange als Gefängnis.
Die einstigen Holzbrücken haben ihre Dächer im 18. Jh. verloren und wurden im 19. Jahrhundert
durch Brücken aus Stein ersetzt.
Wir erkennen, mit Hilfe des Stadtführers
den Aufbau der Stadt in Form eines
bebauten Flussdeltas, bestehend aus vier
Kanälen mit den Namen Zornmühle,
Dinsenmühle,
Spitzmühle
und
Schifffahrtskanal. Die Mühlen sind längst
verschwunden. Kleine Grünflächen sind
angelegt. Über den Dächern und
Baumwipfeln sehen wir die Glockentürme
der wichtigsten Kirchen von Straßburg. Im
Vordergrund erhebt sich die erstaunlichste
unter ihnen, Saint-Pierre-le-Vieux (St.
Peter der Ältere) und, natürlich reich
gegliedert, majestätisch, goldbraun in der
Abendsonne schimmernd, das Straßburger
Die Ill in Straßburg
Münster.
Ich wollte es nicht nur bei dem Blick bewenden lassen, eine dreiviertel Stunde blieb uns noch.
Eigentlich hätte man auf das Essen pfeifen müssen. Wann kommen wir denn noch einmal
hierher? Doch getreu der verfluchten deutschen Mentalität gehorcht man dem Programm und
lässt sich die Zeit von Leuten diktieren, die ganz andere Dinge im Kopf haben als Kultur. Oder
gar nichts.
Ich zog Martina hinter mir her in der guten Absicht, ihr so viel wie möglich zu zeigen oder
wenigstens ihr das Gefühl dieser wunderbaren Stadt zu vermitteln. Das Abendlicht leuchtete fast
© Rolf Bührend, März 2005
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wie auf einer riesigen Bühne und verstärkte die kulissenhafte Wirkung der weißen und farbigen
Fachwerkhäuser, ihr Zusammenspiel mit kleinen Brücken, den stillen Wasserflächen und grünen
Grasinseln. Die Autos störten, man möchte sie fortwünschen, um manchmal sich intensiv in die
Vergangenheit zu versetzen. Man schelte mich nicht Träumer. Ich weiß, dass es dem einfachen
Volke nie gut ging. Viel zu schnell haben wir die Klischees der Königshöfe, der Adelshäuser, der
reichen Bürger, die Kathedralen, Dome und Kirchen des Klerus im Kopf, die sich eher erhalten
haben als die Holzhäuser, Lehmkaten, Strohhütten, Scheunen und Schuppen der kleinen Leute.
Wir liefen also hinein ins Petite France.
Gerade hinter uns schloss man eine kleine
Brücke mit Ketten ab. Wir beeilten uns, noch
recht viel zu erhaschen vom mittelalterlichen
Gepräge der Altstadt. Auf der Ill gleitet ein
Glasbodenboot vorbei. Musik tönt herüber. Es
muss schön sein, vom Wasser aus zwischen den
Häusern entlang, unter den zahlreichen Brücken
zu fahren, die kleine Welt der Straßburger von
unten her zu beobachten. Man schaut in die
Wipfel der über das Wasser reichenden Bäume.
Eine nicht alltägliche Perspektive.
Es ist Freitagabend. Man spürt, dass die Bewohner ihr
arbeitsfreies Wochenende begrüßen. In den kleinen
Häusern beginnt man sich auf den Feierabend
einzurichten. Kinder tollen noch draußen auf einem
Spielplatz. Nicht mehr lange. Ein letzter Blick auf die
Altstadt, dabei haben wir fast nichts gesehen. Wir trennen
uns mit einem Ruck von der Idylle. Die Häuser spiegeln
sich im Fluss, die Luft ist warm und voller Gerüche, und
es ist, als wollten uns diese Bilder verzaubern: Seht her, es
ist wie im Märchen!
Für ein Märchen fehlen aber noch einige Zutaten, Könige,
Feen, überhaupt handelnde Personen. Die Idylle ist auch
anderweitig trügerisch. Es ist immer ein gewaltiger
Unterschied, ob man sich als Reisender, als
Vorbeigehender die schönen Seiten der Landschaft und
die Städte und Wohnungen der Menschen von außen oder
bei schönem Wetter anschaut oder ob man hier leben und
für seinen Unterhalt arbeiten muss. Nicht immer denkt
man daran und lässt unstillbare Sehnsucht aufkommen.
Nun marschieren wir im Eilschritt in Richtung Hotel. Es ist wieder ein weiter Weg zurück. Bald
sind wir wieder an der Fußgängerbrücke über den Ill- Arm, diesmal ist es der Pont des Frères
Matthis, soll etwa heißen Brücke der Brüder in Matthäus oder so ähnlich. Der asphaltierte
Radfahrer- Pfad drüben entlang des Flusses zieht sich in die Länge. Wir treffen einige Leute aus
unserer Reisegruppe. Sie hasten auch zurück.
Durchgeschwitzt aber froh, das alles gesehen zu haben, treffen wir rechtzeitig im Hotel ein.
Der letzte Abend auf unserer Reise ist angebrochen. Jetzt versammeln wir uns zur letzten, zur
Henkersmahlzeit im Salon. Fünfzig Leute sind viel, dennoch war alles liebevoll zubereitet, die
Tische gerichtet und professionell gedeckt. Schon zu Hause stand es im Programm: Es gibt eine
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echte Elsässer Spezialität, ein Sauerkrautessen. Das ist der große Klassiker der elsässischen
Küche.
Von der bunten Welt der Töpferwaren, die in der Region angeboten werden, ist es nicht weit zu
den Inhalten. Ich habe mich belesen: Von den Spezialitäten steht die Gänseleber ganz oben. Die
beste Gänseleberpastete ist die nach dem Rezept von Pierre Clause, Koch des Maréchal de
Contades im 18. Jahrhundert. Die Mahlzeit kann natürlich mit Sauerkraut fortgeführt werden.
Geschätzte Alternativen sind der Bäckeoffe, ein Eintopf aus Schweine-, Lamm- und Rindfleisch,
der ehemals im Ofen des Bäckers zubereitet wurde oder Hahn in Rieslingsoße, Hasenpfeffer oder
gefüllter Schweinebauch. Den Flammkuchen darf man nicht vergessen, ein einfaches Gericht aus
Sahne, Speck und Zwiebeln, das ehemals mit dem übrig gebliebenen Brotteig im Ofen des
Bäckers zubereitet wurde. Kleine Gerichte sind das „Wädele“, Schweinefleisch, die
Schweinshaxen, das „Rippele“, der „Presskopf“ oder der „Schweinekopf“ oder noch der
„Männerstolz“, eine besonders große Wurst.
Wir bekamen eine Sauerkrautplatte serviert, den
Klassiker. Für jeweils vier Personen eine. Auf
einem länglichen Berg dieses herrlichen Krautes
waren angehäuft: gebratene Leberstücken,
Kasslerstücke, Schweinebraten, Rinderbraten,
Rostbratwürste und Schweinebauch. Dazu gab es
eine Flasche hiesigen Wein für jedes Paar,
Riesling, Gewürztraminer, Silvaner, Pinot, ich
weiß es nicht mehr. Vorher einen Krabbensalat,
an den ich mich als „Antifischist“ erst nicht recht
traute, doch dann nach zögerlichem Kosten
überrascht Geschmack daran fand. Der süße
Nachtisch war dann fast eine Quälerei für den
überforderten Magen. Zu gut schmeckten das
Elsässer Sauerkrautessen
Kraut und das verschiedene Fleisch.
Obwohl der süße Nachtisch das Geschmacks- Gleichgewicht wieder herstellte, war er für den
Körper kaum verkraftbar. Der Mensch bringt sich eben mit Messer und Gabel um. Zum
wievielten Mal betteten wir diese Nacht unser Haupt auf ein fremdes Lager? Ich ließ den
vergangenen Tag noch einmal Revue passieren. Fahrt von Burgund in das Elsaß. Isenheimer
Altar, Altstadtbummel in Colmar. Weinprobe in Riquewihr. Weingedanken. Wechselvolles
Elsaß. Stadtgang in Straßburg. Sehen wir noch das Münster? Straßburg oder Strasbourg.
Deutsche oder französische Namen? Was ist deutsch, was französisch? Was für Unterschiede
außer den anderen Lauten gibt es eigentlich zwischen den Menschen? Gar keine. Oder?
Wie mit der Brechstange gefällt, kam der Schlaf.
Samstag, 13. September 2003
Der Morgen begann wie immer. Zimmer aufräumen. Nichts vergessen? Koffer nach draußen
bringen. Frühstücken. 9.00 Uhr Start.
Wir halten noch einmal an der Place de Corbeau. Natürlich dürfen wir bis 10 Uhr einen letzten
Blick auf Straßburgs Schätze werfen. Gipfel der Verknappung unter dem Gebot, heute noch 700
km Fahrt nach Dresden abzuspulen.
Im Eilschritt hasten wir zur Kathedrale. Fast noch verschlafen wirkt die Stadt. Die Läden öffnen
gerade. Die Händler schaffen ihre Waren auf die Straße, füllen die Regale draußen, rücken die
Werbeträger zurecht, schauen nach dem Wetter. Heute wird es schön! Jetzt schon lacht der blaue
Himmel. Vor dem Münster sind außer ein paar vereinzelten Touristen nur wir, die Leute vom
Eberhardt- Reisebus. Es ist alles noch nicht so recht losgegangen, das turbulente Getriebe der
Vermarktung der Historie, das Geschäft mit den Fremden. Der Vorplatz ist fast leer, der sonst
wimmelt von Menschen.
© Rolf Bührend, März 2005
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Schon vor dem Hauptportal, das ist geschmückt mit der mittelalterlichen Darstellung der Passion
Christi und teils grotesken Details, könnte ich stundenlang verweilen. Ein doppelter Ziergiebel
krönt das reiche Tympanon und führt den Blick hinauf zur Rosette. Die 16 Blütenblätter in einem
filigranen Steinrahmen lassen ahnen, wie das dahinter liegende Glasfenster von innen erblüht,
wenn abends die Sonne ihr Licht einfallen lässt. Ich beuge den Kopf ganz nach hinten und
schaue hinauf.
In deutlicher Dreiteilung erheben sich zwei
gleichberechtigte Baukörper bis zu der Plattform,
von der aus nur noch ein Turm in die Höhe ragt,
noch mal so hoch wie der Hauptkörper, 142
Meter hoch. Das Bauwerk steht auf den
Grundmauern einer romanischen Basilika, die
1015 erbaut wurde. Irgendwann danach brannte
sie ab und wurde in der Zeit nach 1176 in
höchster Vollendung der gotischen Bauweise
wieder errichtet. Es dauert bis 1439, ehe der
Turm fertig war. Notre Dame de Strasbourg war
bis ins 19. Jahrhundert das höchste Bauwerk der
Christenheit, ehe es von den Glockentürmen von
Ulm und Köln überboten wurde. Bei einem
Straßburg- Besuch ist das Besteigen der Plattform
ein unbedingtes Muss. Das Nebenportal ist
geziert mit den klugen und törichten Jungfrauen.
Ich denke an die Jungfrauenpforte am Dom in
Magdeburg. Waren es dieselben Meister?
Um 1225 revolutionierten Handwerker aus
Chartres den Verlauf des Baues und schufen an
ihm Meisterwerke von ungeheurer gotischer
Straßburger Münster, vom SW gesehen
Pracht wie den Engelspfeiler und der Figur der
Synagoge am Südportal. Ich muss mich bescheiden.
Wir treten ein. Ich muss umschalten. Es ist ein Gotteshaus und ein gleichzeitig ein Museum. Ich
werde klein in all der dunklen Größe. Noch macht der Tag das riesige Kirchenschiff nicht hell.
Da ist der Domschatz. Keine Zeit. Da ist die herrliche Kanzel aus dem 15. Jahrhundert.
Unwillkürlich zieht es den Blick an den Diensten der Pfeiler hinauf in die Rippengewölbe des 32
Meter hohen Langhauses, er wird gefangen von dem reich mit Gold verzierten Orgelprospekt.
Dann stehen wir vor der Astronomischen Uhr, dem weltweit einzigartigen Kunstwerk dieser Art.
Sie hat eine einzigartige Geschichte, sie ist einmalig vom technischen und künstlerischen
Konzept und stellt einen Rückblick in die Geschichte der Zeitmessung dar.
Die Legende behauptet, dass dem Uhrmacher der astronomischen Uhr nach der Vollendung
seines Werkes auf Befehl der hohen Beamtenschaft der Stadt, die danach trachtete, ihn zu
hindern, andernorts ein ebensolches Meisterwerk zu schaffen, die Augen ausgestochen worden
seien. Wenn selbstverständlich diese Fabel auch nicht ein Fünkchen Wahrheit enthält, so
offenbart sie doch den berechtigter Stolz der Straßburger auf den Besitz eines Werkes, das zu
den „Sieben Wundern Deutschlands“ zählte.
Die Berühmtheit, die sie seit Jahrhunderten in der Welt genießt, scheint in Anbetracht der
Menschenmengen, die nach wie vor an ihr vorüberziehen, ungemindert zu sein. Auch ich stehe
nun fasziniert das zweite Mal davor und fange mit meinen spärlichen astronomischen
Kenntnissen gar nicht erst an, mich in dieses technische Wunderwerk zu vertiefen. Mich berührt
die Kunstfertigkeit, die allegorische Sprache, mit der alles übersetzt wird.
Eigenartigerweise scheint vor allem das Spiel der Automaten die Besucher anzuziehen, obwohl
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die Uhr in erster Linie ein außerordentlich prachtvolles Werk der Kunst und der Wissenschaft ist,
und ein besonders bedeutungsvolles geschichtliches Denkmal.
Ich forsche ein wenig in der Geschichte zu dieser „Drei- Königs- Uhr. Und finde diesen Text:
Lange scheint das Mittelalter ziemlich gleichgültig gegen die Zeit geblieben zu sein. Die
Instrumente, die damals zur Verfügung standen –Wasser-, Sand- oder Sonnenuhren maßen
Zeitabschnitte, ohne die Kontinuierlichkeit der Zeit darstellen zu können. Durch die Erfindung
der mechanischen Uhr, die die kirchliche, ungewisse Zeit durch eine weltliche, rationalisierte
Zeit ersetzte, vollzog sich gegen Ende des 13. Jahrhunderts eine technische Revolution. Um ihr
Prestige zu steigern, versahen die Städte einen ihrer Profan- oder Sakralbauten mit einer
Monumentaluhr, der verschiedene technische Neuerungen einen spektakulären Aspekt verliehen.
Straßburg gehörte durch den zwischen 1352 und 1354 erfolgten Bau der so genannten DreiKönig- Uhr zu den ersten Städten, die das Exempel einer solchen Errungenschaft abgaben.
Das etwa zwölf Meter hohe Uhrgehäuse wurde an der Westwand des südlichen Querhauses
errichtet, wo einige Konsolen und Meißelspuren noch seinen Standort kennzeichnen. Das Werk
enthielt von unten nach oben: einen Kalender, ein Astrolabium7 und eine Statue der Jungfrau mit
dem Kind, vor der sich zu jeder vollen Stunde die drei Weisen aus dem Morgenland verneigten,
während ein Glockenspiel verschiedene Melodien schlug. Dazu krähte ein flügelschlagender
Hahn.
Als die Uhr der Drei Könige gegen Anfang des 16. Jahrhunderts stehen blieb, dachte man
vielleicht zuerst daran, sie zu restaurieren. Jedenfalls wurde 1533 an der Südfassade des
Vierungsturmes ein Zifferblatt installiert, das die Bahnen der Sonne und des Mondes durch den
Tierkreis anzeigen sollte und zwar mittels Zeigern, die von der Uhr aus betrieben werden sollten.
Blieb nur die Uhr zu erneuern.
Die Stadt hatte in der Tat beschlossen, in der jetzt protestantischen Kathedrale die alte, zu stark
verfallene Uhr zu ersetzen. 1547 wurde gegenüber dem alten Standort mit dem Bau einer neuen
Uhr begonnen. Mit dem Entwurf dieses Vorhabens wurde Chrétien Herlin, Astronom und
Professor der Hochschule beauftragt, der den Arzt Michel Herr und den Theologen Nicolas
Prugner, beide ausgezeichnete Mathematiker, als Mitarbeiter gewann. Der Uhrmacher begann
mit seiner Arbeit, während der Architekt des Œuvre Notre Dame8, Bernhard Nonnenmacher den
Bau des steinernen Gehäuses und der Wendeltreppe bewerkstelligte. Doch bereits 1548 wurden
die Arbeiten durch das Augsburger Interim9 unterbrochen, welches das Münster dem
katholischen Kult verschrieb, und dazu führte, dass die protestantische Beamtenschaft das
Interesse an allem, was diesen Bau betraf, verlor.
Nach der Rückgabe der Kirche an die Protestanten im Jahre 1559 mussten zunächst fähige
Männer gefunden werden, die imstande waren, den Plan weiterzuführen. Das war 1571 der Fall.
Konrad Dasypodius (1531-1601), Herlins Schüler und Nachfolger auf seinem Lehrstuhl der
Mathematik an der Straßburger Akademie nahm die unterbrochene Arbeit wieder auf. Er rief
David Wolkenstein (1534 -1592) aus Breslau an seine Seite und sicherte sich die Mitarbeit der
Brüder Josias (1552 -1575) und Isaak Habrecht (1544 -1620), Uhrmacher aus Schaffhausen,
welche die Uhrwerke anfertigten. Er berief darüber hinaus den ebenfalls aus Schaffhausen
stammenden, aber seit 1570 in Strassburg ansässigen Maler Tobias Stimmer (1539-1584), der
sich von seinem Bruder Josias unterstützen ließ. Stimmer war in gewisser Hinsicht der
künstlerische Leiter des Unternehmens. Er übernahm sowohl die Bemalung verschiedener
astronomischer Anzeigen, wie etwa der Himmelssphäre, als auch die Verzierung des gesamten
Gehäuses.
7
Astrolabium, [griechisch + lateinisch], ursprünglich andere Bezeichnung für Armillarsphäre, von den Arabern
erfunden und benutzt; heute Name eines Instruments zur Messung von Gestirnshöhen und zur Lösung von
sphärischen Aufgaben.
8
Mit dem Münsterbau beauftragte Stiftung, die sich bis zum heutigen Tag erhalten hat
9
1548 von Karl V. verkündetes Reichsgesetz
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Die Arbeiten, die sich von 1571 bis 1574 erstreckten, wurden von dem Werk Herlins geprägt.
Das weit vorangeschrittene Gehäuse hinderte Dasypodius daran, einen ehrgeizigeren Plan zu
Verwirklichen, so wie das bereits entworfene Astrolabium ihn vielleicht dazu verleitet haben
mag, dem System Ptolemäus treu zu bleiben, und vierzig Jahre nach der Veröffentlichung der
heliozentrischen Theorie von Kopernikus - die Erde im Mittelpunkt des Universums
darzustellen.
Es sei darauf hingewiesen, dass, wenn die astronomische Anschauungsweise von Anfang an
überholt war, auch der - nach dem von den Römern überlieferten Julianischen System festgelegte
- Kalender nach der gregorianischen Reform von 1582, die in Strassburg ein Jahrhundert später
eingeführt wurde, hinfällig wurde. Was die Übersicht der Eklipsen betrifft, die für eine Dauer
von dreiunddreißig Jahren dargestellt wurden, so wurde diese seit 1649 nicht mehr erneuert.
Schließlich beeinträchtigte die Abnutzung die schmiedeeisernen Uhrwerke, die nach und nach
nicht mehr funktionieren wollten, bis die Uhr 1788 vollständig stehen blieb.
Als eines Tages der Kirchendiener, nachdem er Besuchern die lautlos stillstehende Uhr erläutert
hatte, zusammenfassend bemerkte, niemand vermöge sie je wieder instandzusetzen, rief ein
Junge ihm zu: „Nun gut! Ich werde sie zum Gehen bringen!“ Es war der junge Jean-Baptiste
Schwilgué (1776 - 1856), der sein Leben damit verbringen sollte, sich die für ein solches
Vorhaben notwendigen Kenntnisse autodidaktisch anzueignen. Als Feinmechanikingenieur
wurde er schließlich im Alter von einundsechzig Jahren mit der Renovierung der Uhr beauftragt,
die er von 1838 bis 1842 vornahm. Er hatte sich seit Jahren darauf vorbereitet. Er hatte mehrere
fähige Helfer ausgebildet, die in der Lage waren, ihm zu assistieren und hatte begonnen,
Maschinen zu bauen, die ihm die Anfertigung äußerst präziser Uhrteile zu erleichtern
vermochten.
Darunter sogar eine Holzschnitzmaschine, die es erlaubte, die Automaten nach Gipsmodellen aus
dem Groben zu arbeiten. Er selbst hätte gerne auf diese beweglichen Figuren verzichtet, zu
denen er äußerte, „dass sie dem Zeitgeschmack nicht mehr entsprechen, dass sie allein das am
wenigsten gebildete gemeine Volk interessieren“. Er träumte davon, eine ganz neue Uhr zu
bauen, mit einem in weiten Teilen verglasten Gehäuse, was es gestattet hätte, die Mechanik zu
bewundern. Nach Erwägung der Kosten, die ein solches Vorhaben verursachte zog die Stadt es
vor, ihn lediglich zu bitten, die verschiedenen Funktionen der alten Uhr wiederherzustellen.
Dieser klugen Entscheidung verdanken wir es, dass das Gehäuse erhalten blieb. Es ist eines der
Meisterwerke der Renaissance, das in seinem Inneren eine beispielhafte wissenschaftliche und
technische Leistung des 19. Jahrhunderts enthält. Somit ist die heutige Uhr ein doppeltes
Kunstwerk. Was zeigt es an?
Die Tage werden durch ihre Schutzgötter angezeigt, deren Wagen von den Tieren gezogen
werden, die ihnen als Attribute dienen. Es folgen sich vom Sonntag bis zum Sonnabend
aufeinander: Apollo, Diana, Mars, Merkur, Jupiter, Venus und Saturn.
Letzterer ist dargestellt, wie er gerade eines seiner Kinder verschlingen will; er ist das Symbol
der Zeit, die was sie hervorbringt wieder zerstört. Diese 1842 fast vollständig erneuerten
Skulpturen inspirieren sich leider nur sehr wenig an den wundervollen Entwürfen Stimmers. Die
Unterteilung des astronomischen Tages wird durch die Gegenüberstellung von Apollo und Diana
verdeutlicht, die den Tag und die Nacht verkörpern.
Ersterer hat noch eine weitere Aufgabe: mit seinem Pfeil weist er auf der Kalenderskala auf den
jeweiligen Tag.
Das Jahr wird in der Tat durch einen reifenförmigen Immerwährenden Kalender umschrieben.
Er gibt die Monate, die Tage, ihre Heiligen, die unveränderlichen und beweglichen Kirchenfeste
sowie die Buchstaben an, die die Sonntage kennzeichnen.
Die Himmelssphäre gibt die Bewegungen der Sterne um die mutmaßlich unbeweglich in ihrer
Mitte gelegene Erde wieder. Sie umfasst über 5000 Sterne und dreht sich innerhalb von einem
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Sternentag. Letzterer entspricht dem Zeitabstand zwischen den zwei Meridiandurchgängen
desselben Sternes das heißt, er ist etwa 4 Minuten kürzer als der mittlere Sonnentag. Die
Sternzeit wird auf der reifenförmigen Skala am Umfang der Sphäre abgelesen. Darunter gibt ein
Räderwerk die kaum wahrnehmbare Umdrehung der Erdachse wieder, die sich in 25806 Jahren
vollzieht.
Die scheinbare Zeit oder wahre Sonnenzeit wird durch den Zeitraum zwischen zwei
Durchgängen der Sonne am Meridian bestimmt. Auf der Skala zeigen zwei Zeiger die scheinbare
Bahn der Sonne und die des Mondes um die im Zentrum dargestellte Nordhalbkugel der Erde an.
Sie geben ebenfalls die Eklipsen an. Die Länge des Mondzeigers verändert sich automatisch je
nach dem Stand des Mondes; letzterer ist durch eine kleine Kugel dargestellt, die durch ihre
Eigenumdrehung die Mondphasen verdeutlicht. Auf der gleichen Scheibe kennzeichnen zwei
Zeiger die jeweilige Stunde des Sonnenaufganges und des Sonnenunterganges. Der
Mechanismus der Sonnen - und Mondgleichungen ermittelt die Gangungenauigkeit der beiden
Zeiger des scheinbaren Systems im Verhältnis zu der tatsächlichen Fortbewegung der beiden
Gestirne.
Die Planisphäre zeigt die Gravitation von sechs mit dem bloßen Auge sichtbaren Planeten
(Merkur, Venus, die vom Mond begleitete Erde, Mars, Jupiter, Saturn) um die in der Mitte
gelegene Sonne. Die am Umfang abgebildeten Tierkreiszeichen ermöglichen es, festzustellen, in
welchen Sternbildern sich die Planeten befinden. Die Ausmaße der Planeten, ihre Entfernungen
zueinander und ihre Bewegungen sind mit einer Präzision von einem Millionstel zur
Wirklichkeit nachgebildet.
Der Kirchenkalender nimmt in der Nacht des 31. Dezembers die Berechnungen vor, anhand
welcher das neue Jahr festgelegt wird. Er zeigt sein Jahrhundert an, seinen Platz im
Sonnenzyklus (Zeitraum von 28 Jahren, nach denen die Tage auf die gleichen Daten fallen),
seine Stellung im Mondzyklus, oder auch goldene Zahl (Zeitraum von 19 Jahren, nach denen die
Mondphasen auf die gleichen Tage fallen) und in der römischen Indiktion (Zyklus mit 15
jähriger Periode, der in päpstlichen Dokumenten Anwendung fand), die Sonntagsbuchstaben des
Immerwährenden Kalenders, die Epakten (Zahl der Tage, die den letzten Neumond vom 1.
Januar trennen) und das Datum des Osterfestes.
So viel Zeit wie für diese Beschreibung hatte ich leider nicht zur Besichtigung. Deshalb halte ich
hier die großartige Bedeutung dieses Meisterwerkes fest. Über die Malerei, die auch in
reichlicher Weise an der Uhr verewigt ist, habe ich noch gar nichts geschrieben, es soll aber auch
so genug sein. Ich lasse den Blick ein letztes Mal über diese Meisteruhr gleiten und über die
herrlich leuchtenden Glasfenster- es sollen 4600 bunte Scheiben sein!
Wir hatten n ur noch wenige Minuten Zeit. Der Bus musste auf die Place Austerlitz ausweichen,
ein Stück weiter weg. Es war eine Hatz. Jetzt war Martina dran mit noch ganz weltlichen
Wünschen. Sie wollte einen der wunderhübschen Majolika- Gugelhupf- Formen erwerben und
konnte sich – wie immer – nicht entscheiden. Dann blieben wir bei einem Trödelhändler hängen,
der inzwischen seine Ware am Straßenrand aufgebaut hatte. Es begann gerade der Wochenmarkt.
Ein Trödler ist immer eine Versuchung, ein Sprung in die Vergangenheit. Die Gegenstände der
Verstorbenen drängen sich in das Leben der Lebenden. Auch wenn man sie nicht erwirbt,
erzählen sie ihre Geschichten. Verblichener Glanz leuchtet auf, ein erblindender Spiegel, Bücher,
Schmuck, Möbel aller Art, Gewebtes. Übrigens, der Trödel im anderen Land hat ganz andere
Geschichten zu erzählen als bei uns. Es fiel schwer, mich von diesem Stand zu trennen.
Nun wollten wir noch Schafskäse kaufen, fromage de brebis. Ich Sprachgenie verwechselte das
Schaf mit der Ziege und fragte nach fromage de chèvre - und bekam ihn auch. Was soll’s. Er
schmeckte genauso gut!
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Dann mussten wir regelrecht rennen, denn die allerletzten wollten wir auch nicht sein. Ich drehte
mich noch einmal um, für einen Moment das in der Morgensonne noch dunkler wirkende
Schnitzkunstwerk Haus Kammerzell zu werfen. Der Himmel war schon etwas bewölkt, doch die
Sonne dominierte. So fuhren wir denn ab in Richtung Heimat.
Die deutsche Grenze erreichten wir bei Kehl, als wir die Rheinbrücke überquerten.
Als wir spätabends in Dresden anlangten, hatten wir 4773 km zurückgelegt, davon etwa 3300 km
auf französischem Boden.
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XXXIII. Epilog
Diese Reise hat zur Folge, dass ich weitere Reisen nach Frankreich folgen lassen werde.
Frankreich ist ein Land mit einer ununterbrochenen eineinhalbtausendjährigen Tradition,
wenngleich sich auf seinem Territorium die Fürsten ganz Europas getummelt haben, die
Wikinger, die Engländer, Spanier, Italiener, Deutschen, ja selbst die Araber.
Im 19. Jahrhundert wollte Napoleon ganz Europa unterjochen. Frankreich trägt in dieser Zeit
ungeheure Blutschuld. Dagegen wehrten sich die Völker und vernichteten ihn.
Im 20. Jahrhundert wollte Hitler, dass am deutschen Wesen die ganze Welt genesen sollte. Die
Völker wehrten sich und vernichteten ihn. Diese Blutschuld klebt an den deutschen Fahnen.
Wir sollten daraus lernen und künftig Frieden halten, ein kostbares Gut. Auch dazu soll dieses
Buch dienen!
Wir unternahmen schon wieder im Frühjahr 2004 mit Eberhardt- Reisen eine Busfahrt in die
Provence, besser an die Côte d’Azur mit fünf Übernachtungen in Toulon und einigen Ausflügen
nach Nizza, Cannes, St. Tropéz, Cassis, Marseille und Ste-Maries-de-la-Mer und wieder einem
Aufenthalt in Avignon. Zurück blieb die Sehnsucht, die Pyrenäen kennen zu lernen, der Wunsch,
einmal eine Bootstour auf dem Canal du Midi zu unternehmen, das Périgueux und die Auvergne
im Zentralmassiv aufzusuchen. Ich möchte auch gerne noch einmal in die Vogesen, um in Ruhe
das Elsaß und auch Lothringen zu bereisen, die Stätten der Weltkriege aufzusuchen. Ich bin nicht
abgeneigt, wenn es sich ergibt, noch einmal einen Abstecher nach Paris zu machen.
Und ich möchte gern die Normandie und die Bretagne und die Atlantikküste dort sehen.
Ich habe im vorliegenden Buch meine Erinnerungen an die Fahrt angereichert mit Abstechern in
die verschiedensten Gebiete der Kultur und vor allem in die Geschichte dieses Landes, unser
Nachbarland, deren Sprache hier bei uns so Wenige zu lernen versuchen.
Ich muss mich dafür entschuldigen, dass nicht alle Passagen in diese Richtungen von mir
stammen. Zu Hilfe nahm ich Prospekte, auch einige Informationen und Textstellen aus dem
Internet. Ich bemühte vor allem das Bertelsmann- Lexikon für die Erläuterungen von seltenen,
unüblichen Begriffen in Fußnoten und den „Petit Larousse“, ein französisches Lexikon, vor
allem, wenn es unbekanntere französische Persönlichkeiten betraf.
Ich habe mich bemüht, vor allem eigene Fotografien in den Text zu streuen. Nicht immer fand
ich aber eine passende eigene Illustration, so dass auch fremde Bilder zum Teil den Inhalt
beleben, ich hoffe dass ich damit nicht zu sehr daneben geraten bin. Übrigens gibt es zu dieser
Reise drei Fotoalben mit über 600 Bildern, die zu diesem Buch eine sinnvolle und tiefschürfende
Ergänzung sein können.
Da dieses Buch hauptsächlich für privaten Zweck geschaffen wurde – zu meiner Erinnerung und
zur Erbauung Nachgeborener – möge man mir die Verletzung von Autorenrechten hie und da
verzeihen.
Ich konnte mich nicht entschließen, meine Internet- Recherche über den Deutsch- Französischen
Krieg 1870/71 und die Liste der französischen Départements wegzulassen. Das also im Anhang.
Ich habe fast nichts über meine Mitreisenden verlauten lassen. Ich muss gestehen, dass ich
niemanden gefunden habe, mit dem ich meine Begeisterung, meine Interessen und meine
Gefühle teilen konnte. Die Leute sind mir fremd geblieben, einzig Conny hat mir gezeigt, dass
sie dieses Land und diese Sprache liebt. Ihr ist herzlich zu danken. Oft hat sie über das Wissen
des Baedekers hinaus Details gewusst und kleine Episoden erzählt, die sie wer weiß woher
aufgegabelt hatte.
Blaise Pascal hat einmal gesagt: „Die Wissenschaft gleicht einer Kugel. Je größer sie wird, desto
größer werden ihre Berührungen mit dem Unbekannten.“ Ganz ähnlich ist es beim Reisen:
Interesse, Entdecken, Beschäftigung, Vertiefung. Daraus wächst Liebe, Achtung und Verstehen
für unsere Mitmenschen, gleich wie sie aussehen, wo sie wohnen, welche Sprache sie sprechen.
Lernen wir gemeinsam den Text und die Melodie vom Hohelied der Toleranz.
© Rolf Bührend, April 2005
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