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Gerhard Wahl Matr.- Nr.: 032624 „Kultursensibilität“ als Voraussetzung einer integrativen Jugendarbeit im städtischen Sozialraum - ein Plädoyer für ein Netzwerk aus kooperativen Partnern Diplomarbeit zur Erlangung des Grades eines Diplom-Sozialarbeiters / Sozialpädagogen an der Alice- Salomon- Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik eingereicht: März 2008 Projektseminar: Dialogische Qualitätsentwicklung in der Sozialarbeit Erstgutachter: Prof. Dr. Theda Borde Zweitgutachter: Dipl. Soz. Päd. Kazim Yildirim 0. Gliederung...........................................................................................................02 1. Einleitung 1.1 Erkenntnisinteresse/ Fragestellung...................................................................04 1.2 Aufbau der Arbeit................................................................................................06 I. Thematisch-semantisches Grundkonstrukt 2. Einigkeit… und Vielfalt...................................................................................09 2.1 Kulturbegrifflichkeiten in Zeiten des Wandels....................................10 2.1.1 Das historische Kulturverständnis..................................................................10 2.1.2 Das Konstrukt einer „nationalen Kultur“.......................................................11 2.1.3 Das Konzept der Koexistenz von Kulturen – Multi-/Interkulturalität.........12 2.1.4 Die Sprengung des traditionellen Kulturbegriffes – Transkulturalität.......13 2.1.5 Umgang mit der Vielfalt – eine „Kultur der Integration“............................16 2.2 „Wohngemeinschaft Deutschland“..........................................................16 2.2.1 Statistiken..........................................................................................................17 2.2.2 Vom Ausländer zum „Deutschen mit Migrationshintergrund“....................18 2.2.3 Integration, Assimilationsdruck und Wertekanons......................................19 3. Die „Sturm und Drang“–Generation mit Migrationshintergrund.....23 3.1 Demographie....................................................................................................26 3.1.1 Demographische Entwicklung in Deutschland..............................................27 3.1.2 Ist – Zustand in westdeutschen Großstädten..............................................30 3.2 Sozialisationbedingungen...........................................................................32 3.2.1 Familie und Umwelt.........................................................................................32 3.2.2 Identitätsentwicklung......................................................................................35 3.3 Habitus der „Problemkinder“.....................................................................39 3.3.1 Sprache..............................................................................................................40 3.3.2 Selbst – und Fremdbild....................................................................................43 3.3.3 Sozialisationsagentur Strasse.........................................................................44 2 4. „Integrationsmaschine“ - städtischer Sozialraum................................46 4.1 Die „Krise“ der (sozialen) Stadt................................................................47 4.1.1 „Problemviertel“ - sozialräumliche Segregation...........................................50 4.1.2 Das Programm “Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die Soziale Stadt”..........................................54 4.2 Integrationsmikrokosmos „Sozialraum“ und die konzeptionelle „Orientierung“ der Jugendhilfe................60 4.2.1 Aneignung ihres Sozialraumes durch die Jugendlichen..............................62 4.2.2 Sozialraumorientierung – und budgetierung................................................65 4.2.3 Integration mittels Bildung – Schule und Jugendhilfe im Stadtteil...........67 II.Fazit und Ausblick 5. „Zukunftspartitur“ - Ein kultursensibles Jugend im Kiez- Netzwerk..........................................................73 5.1 Kooperative Partnerschaft - die Idee eines „Lokal Compact“........77 5.2 Organisation einer Kooperativen Partnerschaft.................................81 5.2.1 Ansatz................................................................................................................82 5.2.2 Bürgerschaftliches Engagement.....................................................................85 5.2.3 Bürgerbeteiligung.............................................................................................87 5.2.4 Netzwerkgestaltung.........................................................................................90 5.3 Über Kultursensibilität als Voraussetzung und „systemischer Pragmatismus“ 5.3.1 Kultursensibilität...............................................................................................95 5.3.2 „Systemischer Pragmatismus“........................................................................99 5.3.3 Von kultursensiblem Integrieren und selbstaktiver Integration...............103 6. Quellen und Literatur.....................................................................................107 3 1. Einleitung 1.1 Erkenntnisinteresse / Fragestellung „Drei Engel für Kreuzberg Pädagogen und Polizei sind bereits gescheitert: Nun sollen in Berlin drei Streetworker mit dunkler Vergangenheit kriminelle Gangs zähmen.“ (Spiegel Nr.38:58)1 Unter dieser Headline berichtete der Spiegel im September 2007 über die Missstände in der Berliner Naunynstraße. Bei dem vom Referat „Soziale Stadt“ der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung initiierten Projekt sollen drei Ex-Kriminelle als „Kiezläufer“ die Gegend wieder sicherer machen und die lokalen „Gangs zähmen“. Zwei Männer und eine Frau mit türkischem bzw. albanischem Hintergrund, sollen als „Beobachter, Helfer“ und „Kontaktperson“ in der Gegend präsent sein. „Kiezläufer“ sind also keine Polizisten oder Sozialpädagoge, sondern „ihre Qualifikation ist ihre Herkunft… alle drei haben den Stallgeruch der Naunynstraße: Sie sind hier geboren und aufgewachsen“ (ebda.:58). Laut einer Senatsanalyse ist die „no- go- area“ das Revier von Dealer, Hehler und jugendlichen Gangs. Zum Alltag gehöre, dass Bewohner und Passanten angepöbelt und abgezogen werden. Die Polizei betrete das Gebiet nur sporadisch und mit klassischer Sozialarbeit würde man an die Jugendlichen nicht mehr heran kommen. Das „letzte Aufgebot“, bekleidet mit schwarzen Jacken mit der Aufschrift „Streetworker – Sprich mit uns“, ist ein Experiment, das mit einer 3monatigen Probezeit versucht, mit zuhören und reden „auf Augenhöhe“, Veränderungen herbei zu führen. (ebda.:58) Dass das Experiment nicht nur von den lokalen Pädagogen misstrauisch beäugt wird liegt auf der Hand. Es bleiben viele offene Fragen. So stellt sich die Frage nach den Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten. Das Bezirksamt von Kreuzberg und die lokalen Jugendeinrichtungen wie die offene Jugendarbeit der „Naunyn- Ritze“ wurden vom Senat nicht in die Planung mit einbezogen. Ist es daher ein Profilierungsversuch 1 Der Spiegel Nr.38, 17.9.2007 4 eines „Quartiersmanagers“, der für eine medienwirksame Verbreitung seines neuen innovativen Weges sorgt? Oder ist es ein Versuch starre und festgefahrene Strukturen der Jugendhilfe und deren anscheinend unwirksam gewordene Arbeit, durch vorgeführte alternative Konzepte aufzubrechen? Und noch grundsätzlicher gefragt: Existieren in Deutschland tatsächlich solche von Polizei und Sozialarbeit aufgegeben städtische Gebiete, die Parallelen zu den Banlieues in Paris befürchten lassen? Und wenn es solche Gebiete gibt, was sind die Gründe dafür? Im Detail wirft die Debatte über das Konzept der „Kiezläufer“ zudem folgende Fragen auf: Was macht die Qualifikation der „drei Engel“ aus? Ist es allein die Tatsache, dass sie die multiethnische- und kulturelle Bevölkerungsstruktur im Kiez eher repräsentieren als die oftmals aus der deutschen Mittelschicht kommenden Akteure der Polizei und Jugendarbeit? Wie sehen die Lebenswelten der Jugendlichen aus, die Banden bildend die Strassen unsicher machen? Was bedeutet dabei ihr „Migrationshintergrund“ und wie wirkt sich dieser auf ihr Dasein in der Gesellschaft aus? Wie sehen sie sich selbst und ihre Identität? Was hat es für die Diskussion um „Problemkieze“ zu bedeuten, dass es Anfang November 2007 auf einer Demonstration im Kiez um die Naunynstrasse zu gewaltsamen Ausschreitungen zwischen Türken und Kurden kam? Ist darin die Entladung eines ethnischen Konfliktes zu erkennen, wenn größtenteils Jugendliche der 2. und 3. Einwandergeneration, die gemeinsam in Deutschland aufgewachsen sind, mit Macheten aufeinander losgehen? Und wie passt das alles in die aktuelle Politik und in das dort modern gewordene Thema der Integration, insbesondere der Integration von jungen Menschen mit Migrationshintergrund? Die vorliegende Arbeit will diesen Fragen nachgehen. Durch einen differenzierten Blick auf die in den Integrationsdebatten angesprochenen Hauptakteure soll ein möglicher Weg aufgezeigt - ein „Utopia“ formuliert werden -, wie die Zukunftsherausforderungen einer im Wandel befindlichen Gesellschaft bezogen auf das Thema Integration angegangen werden könnten. Dabei soll von der Hypothese ausgegangen und diese unterlegt werden, dass die Grundvoraussetzung eines funktionierenden „integrativen Ansatzes“ einer Jugendarbeit im städtischen Sozialraum, ein „kultursensibles“ agieren der Akteure ist. 5 1.2 Aufbau der Arbeit Die Arbeit kann grob gegliedert werden. Kapitel 1 – 4, das „thematisch – semantische Grundkonstrukt“, dient dazu das Thema zu erfassen und Begrifflichkeiten abzuklären. Kapitel 5, das „Fazit und Ausblick“, versucht mit Zuhilfenahme der Erkenntnisse aus Kapitel 1 – 4 ein potentielles Modell für die Zukunft zu entwerfen. Zu Beginn (Kap.1) wird ausgehend von dem Faktum, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und demzufolge eine gesellschaftliche Notwendigkeit besteht sich über das Eigene und das Fremde auseinander zu setzten, auf die Kulturbegrifflichkeit eingegangen. Ausgehend vom klassischen Kulturverständnis und dem Mythos der „nationalen Kultur“ soll gezeigt werden, dass die Beschreibung von heterogenen modernen Gesellschaften als „Multikulturalität“, der Realität nicht entspricht. Die im Zuge von Globalisierungs- und Migrationsprozesse stattfindende Vermischung von „Einzelkulturen“, in extremster Form im Begriff der „Weltkultur“ manifestierend, wird durch das alternative Konzept der Transkulturalität besser beschrieben, denn es fordert im Umgang mit dieser „Hybridität“ eine „Kultur der Integration“ ein. Nach dem kurzen Kulturdiskurs geht die Arbeit direkt auf die aktuelle Situation der „Wohngemeinschaft Deutschland“ (Kap.2) ein. Nach einer kritischen Beleuchtung von „Ausländer- Statistiken“ und Zahlen zu „Menschen mit Migrationshintergrund“, wird das aktuelle Staatsbürgerschaftsrecht im Hinblick auf Einbürgerung untersucht. Anschließend wird die gegenwärtige Integrationsdebatte differenziert betrachtet. Die Voraussetzungen für gelingende Integration werden hinterfragt, wie Assimilationsdruck, Integrationswille und die Notwendigkeiten eines Wertekanons. Daran folgt (Kap.3) eine genauere Untersuchung des „Klientel“ Jugendliche mit Migrationshintergrund, eingerahmt von der aktuellen Jugendgewaltdebatte. Mit einem Blick auf die demographische Entwicklung in Deutschland und dem IstZustand in westdeutschen Ballungsgebieten soll unterlegt werden, dass jenes „Klientel“ nicht als Minderheit definiert werden kann, sondern als großer Anteil der heutigen und besonders der zukünftigen Bevölkerungsstruktur immer mehr an 6 Relevanz gewinnt. Anschließend folgt eine nähere Untersuchung des Klientel. Diese hat nicht den Anspruch vollständig zu sein, soll aber helfen die Komplexität des Themas greifbar zu machen. Mit einem Blick auf die Sozialisationsbedingungen und auf Familie und Umwelt, soll gezeigt werden, dass Zuschreibungen der Gesellschaft wie „Fremdheitsgefühl“ und „zwischen den Kulturen“ lebend, nicht ohne weiteres haltbar sind. Verallgemeinerungen sind nicht möglich, da jeder junge Mensch sein individuelles Profil hat. Wenn überhaupt kann man nur von Tendenzen ausgehen, insbesondere bei der Identitätsentwicklung. Hier soll gezeigt werden, dass es nicht genügt Individuem und deren Komplexität nur mit ihren ethnischen oder kulturellen Wurzeln beschreiben Identifikationsentwicklung zu wollen. und die Das daraus ambivalente Verhältnis resultierenden der „multiplen“ Identifikationsmuster sollen dann anschließend an den Auswirkungen, am Habitus der Zielgruppe für Interventionen, der „Problemkinder“ gezeigt werden. Über eine Untersuchung der Sprache und der Sprachentwicklung und ein Porträt der Selbstund Fremdzuschreibungen, soll ein kritischer Blick auf die „Sozialisationsagentur Straße“ geworfen werden. Hier schließt sich vorläufig der Kreis des Rahmens der Jugendgewaltdebatte. Nach der Untersuchung des „Klientel“ folgt eine analytische Betrachtung der Stadt als „Raum der Integration“ (Kap.4). Hierbei wird von der These ausgegangen, dass in der (Groß -) Stadt soziale, ökonomische, politische und kulturelle Prozesse der Gesellschaft in komprimierter Form auftreten und somit als Fokus für gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, und deren Auswirkungen auf Gruppen oder Individuen untersucht und analysiert werden können. Die „Krise“ der (sozialen) Stadt, Marginalisierung und Segregation von Bevölkerungsschichten werden als Indizien aufgeführt für das anscheinende Versagen der Integrationsfähigkeit des städtischen Sozialraumes. Anschließend wird die Intervention von der staatlich berufenen Institution Quartiersmanagement (das Programm „Soziale Stadt“) kritisch beleuchtet, die den Tendenzen von „Ghettoisierung“ und „Parallelgesellschaften“ etc. Einhalt gebieten sollen. Darauf folgt eine Betrachtung des Sozialraumes als Aneignungsraum der Jugendlichen und der Sozialraumorientierung der Jugendhilfe. Die Institution Schule wird danach im Bezug auf die Kooperation mit der Jugendhilfe in Form der Schulsozialarbeit einem kritischen Blick unterzogen. 7 Das Fazit und der Ausblick (Kap.5) beginnen mit den vorläufigen Ergebnissen des im Erkenntnisinteresse porträtierten „Kiezläuferprojekts“ in Kreuzberg. Mit diesem Beispiel kann das Fazit aus Kapitel 4, die unzureichende Zusammenarbeit und Vernetzung verschiedener „Ressorts“, unterlegt werden. Im Folgenden wird ein Zukunftsmodell einer „Kooperativen Partnerschaft“ von verschiedensten Akteuren entworfen. Mit zu Hilfenahme von auf weltgesellschaftlicher Ebene entworfenen Ideen werden die Grundvoraussetzungen eines „Jugend im Kiez- Netzwerkes“ diskutiert. Hierbei steht die These im Mittelpunkt, dass in einem heterogenen Quartier ein Zusammenleben nicht auf gemeinsamen Werten sondern auf gemeinsam formulierten (Regeln-) Interessen beruhen müsste. Hier schließt sich ein Entwurf der Organisation einer solchen kooperativen Partnerschaft an. Von der These ausgehend, dass die existenten multiplen Probleme Problemlösungsfähigkeit einzelner Akteure mittlerweile der Jugendarbeit übersteigt, die werden Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung, als engagierte Zivilgesellschaft, in einem Jugendarbeitnetzwerk vorgestellt. Anknüpfend an die Überlegungen über Kultur und kulturelle Identifikation aus Kapitel 2 und 3, wird folgend die Kompetenz der „Kultursensibilität“ inhaltlich erläutert, die als Grundvoraussetzung eines solchen Netzwerkes angesehen werden kann. Anschließend werden diese Überlegungen eines kultursensiblen und integrativen Jugendarbeitnetzwerkes mit pragmatischen Bedenken und Gefahren bei der Umsetzung abgeglichen. 8 2. Einigkeit… und Vielfalt Deutschland ist ein Einwanderungsland. Auch wenn diese Aussage in der öffentlichen Debatte inzwischen nicht mehr zur Disposition steht, und sie im Bewusstsein der Menschen angekommen zu sein scheint, läuft die inhaltliche Auseinandersetzung mit dieser Realität nur schleppend an. Deutschland war ein Einwanderungsland. Die Kinder der ehemaligen „Gastarbeiter“ sind in Deutschland aufgewachsen oder wachsen hier auf. Die klassische Schublade „Ausländer“ wurde notwendiger Weise erweitert durch neue Begrifflichkeiten wie „Menschen mit Migrationshintergrund“ oder ähnliches. Deutschland wird ein Einwanderungsland bleiben. Nicht nur aufgrund des Bedarfs der Wirtschaft an „hochqualifizierten Facharbeitern aus dem Ausland“ und der EU-Binnenmigration, sondern auch durch vielfältige weitere, durch Globalisierungsprozesse ausgelöste Migrationsbewegungen, die ein Zusammenwachsen der „Weltgesellschaft“ bedingen, wird Deutschland sich in Zukunft differenzierter als bisher mit dem „Fremden“ und daraus folgend auch mit dem „Eigenen“ auseinandersetzen müssen. Aber was ist das „Eigene“ und „Fremde“? Bei dieser Frage wird gerne in der Antwort von „Kultur“ gesprochen. Sei es mit Begriffen wie „Leitkultur“ oder „nationale Kultur“, mit denen Kultur als homogene Einheit betrachtet wird, oder auch mit Begrifflichkeiten wie „multikulturell“ oder „kulturelle Pluralität“, als Versuch Vielfalt und Uneinheitlichkeit moderner Gesellschaften zu beschreiben. All diese Beschreibungen sind jeweils mit unterschiedlichsten inhaltlichen Interpretationen und Wertungen verbunden. Und sie unterliegen in einer Mediengesellschaft wie der unserer einer Aufmerksamkeit, die sich zwischen inflationärer Benutzung und antiquierter Beschreibung bewegt. 9 2.1 Kultur(begrifflichkeiten) in Zeiten des Wandels Um eine inhaltliche Differenzierung vornehmen zu können scheint es vonnöten diese Kulturbeschreibungen genauer zu untersuchen, denn: „Die Vorstellung, dass menschliche Kulturen homogene und voneinander unabhängige Einheiten sind, schlägt das politische und pädagogische Denken seit mehr als zwei Jahrhunderten in ihren Bann“ (Seitz 2005:51).1 2.1.1 Das historische Kulturverständnis Hierzu erst mal ein kleiner Exkurs in die Geschichte und die Verwendung der „traditionellen“ Begrifflichkeit „Kultur“ und die semantische Entwicklung seitdem. Nach Welsch hat sich „’Kultur’ als Generalbegriff, der nicht nur einzelne, sondern sämtliche menschlichen Lebensäußerungen umfasst, (…) erst im späten 17. Jahrhundert herausgebildet. Er wird in diesem Verständnis erstmals 1684 von dem Naturrechtslehrer Samuel von Pufendorf verwendet. Bis zu diesem Zeitpunkt war Kultur ein relativer, sich auf einzelne Tätigkeiten beziehender Ausdruck“ (Welsch 1995:1).2 Durch Putendorf wurde der Begriff „Kultur“ zu einem autonomen Begriff, „…zu einem Kollektivsingular, der nun - in einer kühnen Vereinheitlichung - sämtliche Tätigkeiten eines Volkes, einer Gesellschaft oder einer Nation zu umfassen beanspruchte.“ (Welsch 1995:1) 100 Jahre später habe bei Johann Gottfried Herder, insbesondere in dessen von 1784 bis 1791 erschienenen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ der Begriff „Kultur“, seine heutige Bedeutung erhalten. Hierbei sind für den Kulturbegriff drei Dimensionen charakterisierend und zwar -die ethnische Fundierung, die als prägendes Element einer Gesellschaft „jede Handlung und jeden Gegenstand zu einem unverwechselbaren Bestandteil gerade dieser Kultur machen“, -die soziale Homogenisierung, als „…Kultur eines bestimmten Volkes…, das auf dem Weg der Kultur sein spezifisches Wesen zur Entfaltung bringt.“ Dies beinhalte eine 1 Seitz, Klaus „Verhängnisvolle Mythen – Nationale Identität und kulturelle Vielfalt“ in Datta, Asit „Transkulturalität und Identität“ IKOVerlag Frankfurt/London 2005 2 Welsch, Wolfgang, „Transkulturalität“ Institut für Auslandsbeziehungen (Hrsg.): Migration und Kultureller Wandel, Schwerpunktthema der Zeitschrift für Kulturaustausch, 45. Jg.,Stuttgart 1995 10 -Abgrenzung nach außen, da die starke Bindung einer Gesellschaft an einer bestimmte Kultur zur Unterscheidung von anderen Völkern und deren Kulturen führt. (Welsch 1995:1) Herder beschreibt sein Bild von homogenen „völkischen“ Kulturen als eine Metapher, als Kugeln oder autonome Inseln, die im übertragenen Sinne nur miteinander interagieren können, indem sie sich abstoßen, aneinander reiben oder nur „oberflächlich“ in (Berührungs-) Kontakt kommen. Der Begriff „Kultur“ steht hierbei in enger Verbindung mit der Begrifflichkeit „Volk“ als eine Ansammlung von Menschen, die der Kugel innewohnen. Diese „Einheit“ findet ihren Ausdruck in territorialen und sprachlichen Abgrenzungen nach außen, der Nation. 2.1.2 Das Konstrukt einer „nationalen Kultur“ Diese Vorstellung einer „homogenen Nationalkultur“ war, nach Ansicht von Seitz, vor allem in Deutschland verbunden mit der „Konstruktion einer nationalen Identität“, die dem Aufbau der europäischen Nationalstaaten voran ging (Seitz 2005:51). Wie es in der Hinsicht in Deutschland weiter ging, hat die Geschichte ja gezeigt, denn „…tatsächlich aber wurde dabei die sprachliche, kulturelle und ethnische Vielfalt der gewachsenen Gesellschaft ignoriert. Kulturelle Minderheiten wurden von einer nationalen Dominanzkultur unterdrückt…“(ebda.:51). Hierbei wurde vor allem das staatliche Bildungswesen instrumentalisiert, um den „Mythos der homogenen Nationalkultur“ in die Gesellschaft einzubetten, mit noch heute spürbaren Nachwirkungen auf das (Bildungs-) System, insbesondere in der Form, „… dass die Integration einer Gesellschaft vor allem über gemeinsam geteilte kulturelle Werte vermittelt werden muss…“ (ebda.:51). Diese „mentalen Modelle“ (vgl. Argyris/Schön 1996)1 sind allerdings nicht nur in der deutschen Pädagogik spürbar, sondern auch aktuell in der deutschen Gesellschaft. Deutschland nimmt hierbei allerdings keine Sonderrolle ein, denn „…dergleichen Trugbilder über den Zusammenhang zwischen kultureller Identität und staatlichen 1 Argyris, Chris; Schön, Donald „Die lernende Organisation. Grundlagen, Methode, Praxis“ (1996) Verlag Klett-Cotta. Stuttgart. (1999). 2. Auflag. 2002. 11 Zusammenhalt…“ bestimmt in weiten Teilen der Welt die Politik (Seitz 2005:57). Die Berufung auf ethnische und kulturelle Identität ist der Nährboden für weltweite Separatismen und damit auch für Kriege (Welsch 1995:1). 2.1.3 Konzepte der Koexistenz von Kulturen – Multi-/Interkulturalität „…Dass sich Kulturraum, Wirtschaftsraum, Sprachgemeinschaft und ein durch gemeinsame ethnische Herkunft charakterisiertes ‚Volk’ auf einem politisch verfassten Territorium zur Deckung bringen ließen…“ (Seitz 2005:58), hat sich in besonderem Maße im Angesicht von modernen Gesellschaften und deren heterogenen Konstellationen als Trugbild, Mythos oder Fiktion herausgestellt. Sogar in Deutschland hat sich inzwischen nach langem zähem Ringen die Einsicht eingestellt, dass die Vorstellung der traditionsverhafteten homogenen deutschen Eigenkultur, kaum einer offensichtlich viel bunteren und multipleren Bevölkerungsstruktur überstülpen lässt. Dieser Tatsache versuchte man in den 90ern semantisch gerecht zu werden, indem man das Nebeneinander oder die Koexistenz von verschiedenen (homogenen) Kulturen innerhalb eines territorialen Raumes, in Deutschland vor allem in westdeutschen Großstädten, mit dem „In“- Wort „Multikulturalität“ bezeichnete. Allerdings nicht nur als Begrifflichkeit, sondern auch als Konzept. Denn durch das Aufeinanderprallen von unterschiedlichen Lebensformen ist der multikulturelle „Raum“ auch eine Konfliktgemeinschaft. Das Konzept der „Multikulturalität“ greift diese Probleme auf und versucht durch Toleranz, Verständigung, Konfliktvermeidung oder – therapie das Zusammenleben zu harmonisieren. (Welsch 1995:2) Das verfeinernde Konzept der „Interkulturalität“ geht noch einen Schritt weiter und versucht durch den Dialog der Kulturen gegenseitiges Verständnis und Anerkennung zu erreichen. An beiden Konzepten oder schlicht den Begrifflichkeiten kann man das Festhalten am „… Status des traditionellen Kulturverständnisses“ kritisieren (ebda.:2). Beide behalten das klassische separierende und inselartige „Kultur“ - Konzept von Herder bei. Die Probleme der „multikulturellen“ Gesellschaft werden zwar gesehen und angesprochen, könnten aber nicht gelöst werden, da dieses Festhalten in den 12 klassischen Denkmustern von Kulturbeschreibungen und dadurch das Abgrenzende beibehalten wird. Probleme, die sich durch die Koexistenz und den Versuch der Kooperation von Kulturen ergeben, lassen sich auf dieser theoretischen Grundlage nicht lösen, da von homogenen und separierten Kulturen heute nicht mehr ausgegangen werden kann. Die Konzepte der Inter – bzw. Multikulturalität sind daher nur oberflächliche Kosmetik. (ebda.:2) Auf die „neue Art der Vermischung“ von Kulturen versprechen die „In“ - Worte des neuen Jahrtausend, „Transkulturalität“ und „Hybridisierung“ semantisch und konzeptionell einzugehen. 2.1.4 Die „Sprengung“ des herkömmlichen Kulturbegriffes Transkulturalität „Eine Kultur ist immer im Werden, immer im Prozess“ (Datta 2005:71)1. Die Zeiten sind im Wandel. Bedingt durch weltweite Globalisierungs- und Migrationsprozesse finden tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzungsprozesse statt. Der Versuch diese „modernen Gesellschaften“ mit traditionellen Kulturbegrifflichkeiten beschreiben zu wollen, muss an der inneren Differenziertheit und Komplexität, sprich der Vielzahl unterschiedlicher Lebensformen und Lebensstile innerhalb eines territorialen Raumes, scheitern. (Welsch 1995:2) Darüber hinaus ergeben sich über nationale Grenzen hinweg Vernetzungen und Abhängigkeiten. Das „global village“ ist nicht mehr nur eine Zukunftsvision, sondern herkömmliche nationale Einzelkulturen oder Lebensformen, falls es sie in der Form je gegeben hat, finden grenzübergreifend Kontakt und Austausch. Die Fortschritte der Technologien, insbesondere im Informations- und Kommunikationsbereich und die erhöhte Mobilität der Menschen haben zu einer immensen Zunahme von transnationalen Interaktionen geführt. Die „Verteidigung der deutschen rechtsstaatlichen Demokratie am Hindukusch“ beispielsweise, kann in der Fernsehberichterstattung hautnah verfolgt werden und an1 Datta, Asit „Kulturelle Identität in der Migration“ in Datta, Asit „Transkulturalität und Identität“ IKO-Verlag Frankfurt/London 2005 13 schließend mit einer Gegenberichterstattung auf den Internetseiten der Taliban verglichen werden. Der Austausch und die Verflechtungen von Informationen durch diese weltweiten Kommunikationssysteme werden durch personelle Verflechtungen, in Form von Migrationsprozessen verstärkt. Als Beispiel, sei passend zum Thema der Arbeit, die konkrete Situation von Schulen in Berlin- Neukölln erwähnt, mit einem hohen Prozentsatz an Schülern, die oftmals allerdings keinen Migrations-, sondern Fluchthintergrund haben. Aus Bürgerkriegsgebieten oder Flüchtlingscamps stammend, und damit aus zerrütteten Familienzusammenhängen mit kaum zu überwindenden Traumata, sind sie nicht nur Teil der seit Jahrzehnten alltäglich wiederholten Berichterstattung aus dem Nahen- Osten, sondern diese Konflikte finden ihre unmittelbare Auswirkung auf den Strassen nicht nur in Berlin- Neukölln. (vgl.4) Die hochgradige Verflechtung und Durchdringung von Kulturen zeigt sich aber vor allem in den weltweiten ökonomischen Abhängigkeiten und deren „kulturellen“ Auswirkungen. Durch das Begegnen der Weltgesellschaft im „global village“ sind z.B. Tendenzen zu Beobachten, die als Herausbildung einer „Globalkultur“ oder einer neuen „…deterritorialisierten und pluralistischen Weltkultur…“ (Seitz 2005:51) bezeichnet werden können. Das oft als „McDonaldisierung der Welt“ (Datta 2005:71) bezeichnete Phänomen, das durch die weltweite Angleichung von Dienstleistungen (Fast-Food, Bankwesen, Telekommunikation)charakterisiert ist, erfährt durch Formen von „kulturellen Dienstleistungen“ für viele Kritiker eine besorgniserregende Steigerung, denn „…durch die Dominanz der US- amerikanischen Kulturindustrie sind zunehmend ähnliche Konsumgüter, Lebensentwürfe, Symbole und Leitbilder weltweit präsent“ (Seitz 2005:62). Einzelne Lebensformen- und entwürfe sind dadurch nicht mehr nur innerhalb der Grenzen von fiktiven Nationalkulturen zu finden, sondern sind auch in anderen Kulturen grenzüberschreitend auszumachen. Was bedeutet dies für das Individuum und die Gesellschaften? Für das einzelne Individuum bedeutet dies, dass es einem Potpourri von lokalen und globalen Einflüssen bei der Identifikations- und Bewusstseinsbildung unterliegt und dadurch auch nicht mehr einzelnen Kulturen und kulturelle Identitäten zuzuordnen ist. „Für die meisten unter uns sind, was unsere kulturelle Formation angeht, mehrfache kulturelle Anschlüsse entscheidend. Wir sind kulturelle Mischlinge“ (Welsch 1995:3) 14 Für das Individuum ist entscheidend, die unterschiedlichsten Komponenten des „Potpourri“ wahrzunehmen und im Hinblick auf die Identitätsbildung die Fähigkeiten zu entwickeln diese zuzuordnen und zu einer Gesamtheit, dem Ich, zu verbinden. Dies ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass sich eine autonome und souveräne Persönlichkeit entwickeln kann (vgl.3.2.3). Nach Welsch ist es eine Grundbedingung von funktionierenden modernen Gesellschaften, diese „…transkulturelle Binnenverfassung der Individuen“ zu entdecken und zu akzeptieren, um mit der anscheinend unüberschaubaren Vielfalt an Lebensformen und (Trans)Kulturen umgehen zu können. Denn „…im Innenverhältnis einer Kultur, zwischen ihren diversen Lebensformen, existieren heute tendenziell ebenso viele Fremdheiten wie im Außenverhältnis zu anderen Kulturen“ (Welsch 1995:3). Für Gesellschaften ist es demnach im Zeitalter der weltweiten Globalisierungs- und Migrationsprozesse „… das Lernen des Umgangs mit den Anderen lebensnotwendig geworden.“ (Datta 2005:72) „Die Kultur der Moderne ist im Kern eine Kultur des Umgangs mit Differenzen“. (Meyer 2002:25 in Datta 2005) Im übertragenen Sinne heißt das, dass in dem Migrationsprozess sich nicht nur die Migranten sondern auch die aufnehmende Gesellschaft der veränderten Situation stellen und anpassen muss. Für die Menschen in der Migration sind Anpassungsprozesse gar lebensnotwendig, denn: „Nur wer sich mit der neuen Realität arrangiert, wer sich an der neuen Lebenswelt orientiert, wer die neue Realität verarbeitet und fähig ist, darüber zu reflektieren, wird in der Lage sein, sich in der Diaspora zurecht zu finden“ (Datta 2005:74). Diese weltweiten Austauschprozesse, dieses Entstehen von kulturellen Mischformen (Transkulturalität, Hybridität, Cross-over-culture), sprengt demzufolge die einleitende kategoriale Frage nach dem Eigenen und dem Fremden. Die Definition von eindeutiger „Eigenheit“ oder „Fremdheit“ ist nicht mehr möglich oder falls doch, nur als ein instrumentalisiertes Konstrukt oder als Mythos. 15 2.1.5 Umgang mit der„unüberschaubaren Vielfalt“ - Eine „Kultur der Integration“ „Es ist an der Zeit, dass wir uns von den Mythen, die kollektive Identität, staatliche Einheit und kulturelle Vielfalt in Widerspruch zueinander setzen, verabschieden“ (Seitz 2005:67). Demnach erscheint es vonnöten, sich von dem klassischen Kulturverständnis zu lösen. Da Kulturbegrifflichkeiten nicht nur beschreiben sondern auch „…operative Begriffe“ sind, d.h. aktiv auf die Umwelt einwirken und Handlungen bestimmen, wären bei einer Kultur mit einem definierten und gewollten „Homogenitätsanspruch“ die „gebotenen Zwänge und Ausschlüsse“ handlungsleitend. Definiert sich eine Kultur hingegen durch Heterogenität und Transkulturalität sind „Integrationsleistungen“ ein natürlicher Teil von ihr (Welsch 1995:4). „Das Konzept der Transkulturalität zielt auf ein vielmaschiges und inklusives, nicht auf ein separatistisches und exklusives Verständnis von Kultur“ (ebda.:4). Integration statt Ausgrenzung (vgl.Kapitel 4). Welsch geht davon aus, dass bei einem Aufeinandertreffen von noch so unterschiedlichen und scheinbar inkompatiblen kulturellen Komponenten immer auch „Anschlussmöglichkeiten“ bestehen (ebda.:4). Soviel zur idealistischen Abstraktion. Doch wo steht Deutschland momentan, insbesondere in Bezug auf die für eine „Kultur der Integration“ maßgeblich bestimmenden und entscheidenden „mentalen Modelle“ der Akteure in Politik und Gesellschaft? 2.2 „Wohngemeinschaft Deutschland“1 Spätestens bei der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts 1998 zeigte sich, dass die Ansichten über „die neue Vielfalt“, Einwanderung und Integration, zwischen Parteien und innerhalb der Gesellschaft weit auseinander gehen. Die in den öffentlichen Debatten geführte Auseinandersetzung hat sich schnell von dem Begriffsverständnis von „Multikulturalität“ als einer schwärmerischen, positiv 1 Thema der Integrationswoche im ZDF , 5.11.-11.11.2007 16 Bezeichnung für einen bunten Nationalitäten -und Kulturenmix á la „Karneval der Kulturen“ verabschiedet. Die real existierenden Probleme und Konflikte der „Vielfalt“ sind in den Vordergrund gerückt. Wenngleich die Differenzierung der (Multi-) Kulturbegrifflichkeiten nicht soweit geht, Voraussetzungen zu schaffen, für einen gesellschaftlichen Dialog, indem die Vorstellung des Kulturbegriffes „…sich auf sämtliche, auch die politischen und/oder religiösen Vorstellungen vom Leben erstreckt und akzeptiert, dass Kollisionen und Auseinandersetzungen vorprogrammiert sind“ (Scherer 2003).1 Hierzu zunächst ein paar Zahlen und „Fakten“ zu der existenten Vielfalt von „Kulturen“. 2.2.1 Statistiken Das Nachfolgende Schaubild zeigt die 10 häufigsten Staatsangehörigkeiten der ausländischen Bevölkerung am 31.12.2006: Solche amtlichen Statistiken sind allerdings wenig geeignet das „multikulturelle“ Deutschland zu beschreiben. Ausländer sind lediglich die, die keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Um wirklich zu halbwegs aussagefähigen Zahlen zu gelangen ist es nötig von Menschen mit Migrationshintergrund zu sprechen. Diese „…können folglich Ausländer oder Deutsche, zugewanderte oder in Deutschland geborene Ausländer, Spätaussiedler, Eingebürgerte mit persönlicher Migrationserfahrung sowie auch deren Kinder“ sein, „die selbst über keine unmittelbare Migrationserfahrung 1 Scherer, H.. (2003): Kulturelle Segregation - Zweisprachigkeit - Integration - Assimilation (Begriffe, kontroverse Ansätze, pädagogische Konflikte) 17 verfügen“ (HWWI 2007:3).1 Daten zur Anzahl der Bevölkerung mit Migrationshintergrund werden in Deutschland erst seit 2005 erhoben. Da vorher nur Inländer von Ausländern nach Staatsangehörigkeit differenziert wurden, stehen daher erst seitdem verwertbare Zahlen zur Verfügung. So bestand die Einwandererbevölkerung in Deutschland 2005 aus 15,3 Mio. Menschen. Auf die gesamte Bundesrepublik bezogen entspricht das 19 % der Bevölkerung. Zu dem prozentualen Anteil, der regional und insbesondere in westdeutschen Großstädten, stark variiert, später mehr. Demnach besitzt über die Hälfte der 15,3 Mio. (die linke Hälfte der Grafik) die deutsche Staatsbürgerschaft.Hierzu zählen 23% der Einwanderungsbevölkerung, zusammengesetzt aus Spätaussiedlern, Deutschen, bei denen mindestens ein Elternteil Spätaussiedler, Eingebürgerter oder Ausländer ist, sowie „Eingebürgerte“. 2.2.2 Vom Ausländer zum „Deutschen mit Migrationshintergrund“ Deutschland macht es, im internationalen Vergleich gesehen, Ausländern nicht einfach „Inländer“ zu werden. So setzt das Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG)2 trotz der Reform aus dem Jahr 2000 immer noch hohe Hürden vor der Einbürgerung. Demnach haben Ausländer nach 8 Jahren „rechtmäßigem und dauerhaftem Aufenthalt“ Anspruch auf Einbürgerung. Des Weiteren wird ein „…Nachweis ausreichender deutscher 1 2 Sprachkenntnisse, Straflosigkeit, Verfassungstreue und die selbständige „Focus Migration – Länderprofil Deutschland“, Nr.1 Mai 2007, Herausgeber: Hamburgisches WeltWirtschaftsInstitut (HWWI), Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG), Stand 19.8.2007 18 Finanzierung des Lebensunterhalts“ verlangt (HWWI 2007:4). Als größte Hürde erweist sich allerdings die Entscheidung die alte Staatsbürgerschaft aufzugeben. Doppelte Staatsbürgerschaft schließt das Gesetz aus. Kinder ausländischer Eltern müssen sich zwischen dem 18. und 23. Lebensjahr zwischen der Nationalität der Eltern oder der der „neuen Heimat“ entscheiden. Aus der Einbürgerungsstatistik geht allerdings hervor, dass Mehrstaatlichkeit durchaus nicht nur in Ausnahmefällen gewährt wird. „So konnte 2005 fast jeder zweite Eingebürgerte (47 %) seine frühere Staatsangehörigkeit beibehalten“ (ebda.:4). Vielleicht hilft ein Blick über die Grenzen den Blick auf das Staatsbürgerschaftsrecht zu erweitern. In Russland sind bis heute, wahrscheinlich als Überbleibsel des Vielvölkerstaates Sowjetunion, in den Pässen zwei Eintragungen aufgeführt, Staatsbürgerschaft und Nationalität, z.B. Staatsangehörigkeit "Russische Föderation", Nationalität "tschetschenisch". In den deutschen Pässen gibt es diese Unterscheidung nicht, folglich werden diese beiden Begriffe auch gleichbedeutend eingesetzt. Es soll hier nicht eingefordert werden Pässe zu verändern, sondern die Hürde „Staatsbürgerschaft“ bei der Einbürgerung, als rein formalen Integrationsakt zu thematisieren. Loyalitätsfragen ergeben sich, da die Bindung zur alten Heimat und damit ein Teil der Identität zumindest begrifflich gekappt werden (vgl. Kapitel 3). „Der unbändige Wunsch nach Zulassung einer doppelten Staatsbürgerschaft…ließe sich vielleicht mindern, wenn wir es schaffen könnten, nicht von jedem Staatsbürger gleich zu verlangen, mit Haut und Haaren Deutscher zu sein“ (Scherer 2003). 2.2.3 Integration, Assimilationsdruck und Wertekanons Es gibt wenige Themen momentan, mal abgesehen von ökonomischen Debatten, die innenpolitisch so medienpräsent sind wie das Thema Integration: Bundeskanzlerin Merkel lädt zum Integrationsgipfel nach Berlin; Integrationsbeauftragte Böhmer stellt einen Integrationsplan auf; Bundespräsident Köhler besucht eine vorbildliche integrative Schule; Außenminister Steinmeier rappt mit „Ghettokids“; das ZDF strahlt eine Integrationswoche aus, (…) etc. 19 Was ist das Neue und Interessante an diesem „modernen“ Thema? Dazu erst mal ein Blick in die Geschichte, die sich vorab gesagt inhaltlich stellenweise bis in die Gegenwart weiter zieht. Integration war in den Wirtschaftwunderjahren kein Thema. Gastarbeiter wurden als temporäre „Gäste“ angesehen. Doch die Gastarbeiter richteten sich ein, holten ihre Familien nach und bekamen Kinder. Das alles wirkte auf den „deutschen Nachbarn“ allerdings irgendwie „eingeschleiert“, undurchsichtig und dadurch fremd und bedrohlich. Erst als es sich abzeichnete, dass ein großer Anteil der angeheuerten Gastarbeiter hier blieb, stellte sich die Frage des dauerhaften Umganges mit den „Fremden“. Dabei wurde Integration, ausgehend von dem Verständnis einer homogenen Nationalkultur, gleichgesetzt mit der Forderung nach Assimilation. Die junge Demokratie der Bundesrepublik nach dem Kriege war noch stark geprägt durch das im 3. Reich propagierte Konstrukt der einzigartigen deutschen nationalen Identität. Die Meinung zu den neuen Mitbürgern war zwar undifferenziert, in der Tat aber einheitlich. „Im Volksmund hieß das dann, die Ausländer hätten, wenn sie schon bleiben wollten, auf ihre eigentümlichen, zu Deutschland nicht passenden Sitten zu verzichten und sich gefälligst anzupassen;…“ (Cohn-Bendit/Schmid 1993:161).1 Dieser Assimilationsdruck forderte sozusagen die Annahme der „Kultur der Deutschen“ und demzufolge der Aufgabe ihrer ethnischen Minderheitenkultur und dadurch auch den Verlust ihrer ethnischen Identität. Solche Vorstellungen von Integration haben sich, wie auch das von Park in den U.S.A. entwickelte Konzept des „Melting Pot“ bei dem spätestens über wenige Generationen hinweg alle Ethnien miteinander verschmelzen, als Illusion herausgestellt (vgl. Esser 1980).2 Es hat sich, mal abgesehen von wenigen rechtskonservativen Ansichten, das Bewusstsein soweit herausgebildet, dass nicht mehr von einem Endzustand auszugehen ist, bei dem zugewanderte Minderheiten vollständig in die Mehrheitsgesellschaft aufgehen. Das Konzept der Integration hat sich etabliert, um die Herausforderung der 1 Cohn-Bendit, Daniel; Schmid, Thomas „Heimat Babylon – Das Wagnis der multikulturellen Demokratie“ Hamburg: Hoffmann und Campeverlag, 1993 2 Esser, Hartmut „Aspekte der Wanderungssoziologie“Darmstadt, Neuwied: Hermann Luchterhand Verlag, 1980 20 „multikulturellen“ Gesellschaft anzugehen. Kulturelle Eigenheiten von Minderheiten sollen respektiert werden und die vollständige Übernahme von Kultur und Werthaltungen nicht mehr eingefordert werden. Kritiker werfen dem Konzept „Integration“ vor, eine Mogelpackung zu sein. „Vollständige Anpassung“ wird zwar nicht eingefordert aber da das Konzept aus dem Blickwinkel der Aufnahmegesellschaft entworfen ist, impliziert es eine unausgesprochene Forderung nach einer möglichst konfliktfreien Eingliederung. Eingliederung als eindeutig einseitige Aufgabenverteilung zulasten der Zuwanderer. Die Aufnahmegesellschaft begnügt sich lediglich damit, die von ihr definierten Variablen der bisherigen Integrationsleistung abzuprüfen. Erfüllt das Individuum die Normen und Werte? Integration funktioniert aber nur dann, wenn die Aufnahmegesellschaft sich aus der passiven Rolle löst, sich öffnet, und gemeinsam mit den Migranten, die Probleme angeht. „Eine der spannendsten Fragen, die sich unserer Gesellschaft gegenwärtig stellt ist, ob es uns gelingt, ein Dach zu formulieren, unter dem sich alle hier lebenden Menschen – egal welchen kulturellen, ethnischen oder religiösen Hintergrund sie haben – wieder finden können“ (Özdemir 2005).1 Dieses „Dach“ bedarf stabiler und tragender Säulen. Ein nebeneinander der Kulturen und Ethnien á la „multikulti“ ist hierfür nicht genug. Ohne ein gutes Fundament, wird dies nicht funktionieren. Ob das allerdings ein „…für alle verbindlicher Wertekanon“ sein muss, wie ihn Cohn-Bendit einfordert, erscheint mit Hinblick auf die transkulturelle Verfassung von modernen Gesellschaft fraglich. Das Paradigma, „…dass die Integration einer Gesellschaft vor allem über gemeinsam geteilte kulturelle Werte…“ erreicht werden muss, ist angesichts „…unserer pluralistischen sozialen Wirklichkeit…“ (Seitz 2005:51) nicht mehr haltbar. „Nicht über das Bekenntnis zu geteilten Werten und Traditionen…“, sondern über Beteili- gung kann soziale Integration gewährleistet werden (ebda.:66). Das „gute Fundament“ könnte daher eher über Beteiligung und Mitwirkung von Bürgern und die Verständigung auf gemeinsame Regelinteressen in Form gegossen werden (vgl. 5.1). Dass das „Dach“ momentan über alles andere als über stabile und tragende Säulen verfügt, zeigt sich insbesondere darin, dass viele Kinder der ehemaligen Gastarbeiter sich heute ihren ethnischen Wurzeln zuwenden, oft in radikalster Form. Gründe hier1 Özdemir, C. (2005): "Visionen einer multikulturellen Gesellschaft“ 21 für mag es viele geben aber ein Zeichen für gelungene Integration sind diese Tendenzen nicht. Aufgabe einer Integration befürwortenden Aufnahmegesellschaft muss sein, Zuwanderern zu ermöglichen an diesen gemeinsamen Regelinteressen mitzuarbeiten. Von vornherein z.B. von einer Unvereinbarkeit von der „westlich-christlichen Wertegemeinschaft“ mit dem Islam zu sprechen blockiert produktive Lösungen schon im Ansatz. Fundamentalismus ist hierbei, sowohl der deutsche wie auch der islamische, der größte Feind der nicht zur Disposition stehenden rechtsstaatlichen Demokratie. Birand Bingül veranschaulichte am 8.11.07 im Kommentar zu den Tagesthemen in der ARD die Integrationsdebatte sehr treffend: „Die Integration ist nicht gescheitert, sondern die Desintegration, das Ausgrenzen und Zurückziehen, die Methode Verdrängen, Ducken, Wegkucken, die Deutsche und Zugewanderte jahrzehntelang praktiziert haben. Die Einen Mainstream, die Anderen in ihren Nischen. Ein Integrationskiller. Aber Randgruppe war gestern. Endlich werden Probleme scharf diskutiert und nicht ignoriert oder weggeschmust, Islamismus und Ehrenmord auf der Einen, Benachteiligungen aller Art auf der Anderen Seite. Doch dass Desintegration gescheitert ist, heißt nicht automatisch, dass Integration gelingen muss. Die Verhältnisse sind neu zu justieren, zum Teil auch Machtstrukturen. Die Erkenntnis ist da, die Umsetzung nicht. Die Regierung muss Doppelidentitäten durch einen echten Doppelpass anerkennen. An Haupt- und Sonderschulen versauern Jugendliche mit ausländischen Wurzeln weiter ohne Perspektive, fehlende Chancengleichheit. Wer ständig schlechter benotet und behandelt wird als verdient, hat Grund sich abzuwenden. Ebenso muss der Islam sich einpassen um Akzeptanz zu finden und die Zuwanderer kapieren, dass sie keine Kuschelintegration brauchen, sondern faire Chancen und den Willen dazu zu gehören. Den haben nicht alle, aber schon sehr viele Zuwanderer. Eine Erfolgsgeschichte, über die wir Journalisten zu selten berichten. Die größte Hürde aber ist, dass es keiner Partei gelingt die Skeptiker auf beiden Seiten ausgewogen und passend anzusprechen. 'Lern deutsch und leg keine Bomben', 'dein Freund ist von heute an Ausländer' das funktioniert nicht. Es fehlt bisher der Gefühlskitt, der Deutschland zum entspannten Integrationsland machen könnte“ (Birand Bingül 2007).1 Aber was ist der „Gefühlskitt“ von dem Birand Bingül spricht? „Gefühl“ ist subjektives Empfinden, Wahrnehmen, affektives Erleben… „Kitt“ ist dazu da, Löcher zu stopfen, Übergänge zu glätten, Fugen zu dichten… 1 Birand Bingül, 8.11.07, Kommentar zu den Tagesthemen in der ARD 22 In dem „entspannten Integrationsland“ agieren demnach Akteuren, deren Sichtweise, Denken und Handeln, integrativ sind. Voraussetzung hierfür scheint es zu sein, in Anlehnung an das Transkulturalitätskonzept, die eigene innere Transkulturalität zu erkennen. „Was hat mich zu dem gemacht was ich jetzt bin und wie ich denke und wahrnehme?“ Durch diese Selbstexploration wird der Einzelne in die Lage versetzt anscheinend ethnisch-kulturell Fremdes und Fremde anzuerkennen, vorurteilsfrei und offen. „Was hat den anderen zu dem gemacht was er ist, wie denkt er und nimmt wahr?“ Denn nicht die eine Kultur prägt den Menschen, sondern im Hinblick auf die transkulturelle und heterogene Verfassung von Gesellschaften, uneindeutige viele kulturelle Komponenten. Dies ist in besonderem Maße bei Migranten zu beobachten, insbesondere bei deren Nachkommen. Nicht in der alten Kultur lebend, nicht in der Neuen, auch nicht dazwischen sondern vielleicht etwas Drittes, eine „Kultur der Migranten“ lebend? Die Metapher „Gefühlskitt“ könnte demnach dafür stehen, durch kultursensibles (vgl. Kapitel 5.3) agieren der Akteure in der Lage zu sein, den Weg zur Integration ohne Risse, Schlaglöcher, Barrieren, Umleitungen etc. zu gestalten. Aber nun ein genauerer Blick auf die jungen Menschen mit Migrationshintergrund. Als Aufhänger dient hierbei die aktuelle Jugendgewaltdebatte. 3. Die „Sturm und Drang“ – Generation mit Migrationshintergrund Deutschland im Januar 2008: Ein Rentner wird Ende des Jahres 2007 in der Münchner U-Bahn von zwei Jugendlichen (17 und 20 Jahre), griechischer und türkischer Herkunft, brutal zusammengeschlagen. Er hatte die beiden zuvor auf das Rauchverbot hingewiesen. Überwachungskameras sorgten dafür, dass der Vorfall eine medienwirksame Verbreitung fand. Die von dem im Wahlkampf befindlichen hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch daraufhin losgetretene Debatte über jugendliche gewaltbereite Ausländer zieht seine Kreise. 23 Die Forderungen nach einem härteren Strafrecht, „Warnschussarrest“, Abschiebung von ausländischen Straftätern etc., wird durch eine daraufhin folgende „anhaltende Gewalt“ – Berichterstattung, bestärkt. Mit Statistiken und „Fakten“ wird versucht, die aktuelle Debatte zu unterlegen. So wünsche sich z.B. Hans-Dieter Schwind (Opferschutz-Organisation Weißer-Ring) „…’deutlich mehr Einsicht’. Tatsache sei, dass türkische Jugendliche dreimal so oft straffällig würden wie deutsche“ (Frankfurter Rundschau 12/1/08:5).1 Erklärungsmodelle wurden schnell gefunden, wie z.B. „…den zivilisatorisch unabgearbeiteten Tribalismus der islamischen Welt, der in Machismo und männlichem Kampfgeist hohe Werte erkennt...“ (Frankfurter Rundschau 12/1/08:31)2 und die dementsprechenden Erziehungsstile etc.. Die Reaktionen der „political correct“ – Gesellschaft auf die selbsternannte „Stimme der Schweigenden Mehrheit“ von Roland Koch erscheinen allerdings wenig hilfreich. Denn weder Tabuisierung von Themen, noch oberflächliche Betrachtungen geben Ansatzpunkte für Lösungen; „Denn eine Ethnisierung des Problems hilft uns nicht weiter“ (Frankfurter Rundschau 12/1/08:2).3 Nicht die Zahlen mit denen hantiert wird sind fraglich sondern die Interpretation. Warum sind jugendliche Straftäter mit Migrationshintergrund führend in Kriminalstatistiken? Ein differenzierter Blick gibt hierbei schnell plausible Antworten. Neben einer Reihe von weniger ausschlaggebenden Parametern stechen hier zwei hervor. Zum einen die soziale Schichtung. „Denn anders als die Gesamtpopulation der jungen Deutschen stammt die Teilmenge der delinquenten jugendlichen Ausländern oft aus subproletarischen Verhältnissen, in denen auch unter den Deutschen die Kriminalitätsbelastung höher liegt“ (Cohn-Bendit/Schmid 1993:294). Zum anderen, insbesondere in westdeutschen Großstädten, die demographische Entwicklung, durch die der Anteil von Migrationshintergründlern bei den bis 21- jährigen ständig wächst. Verbindet man beide Punkte und geht man davon aus, dass ein überwiegender Anteil der Straftaten in Großstädten verübt wird, sind die Zahlen einleuchtend. 1 Pitt von Bebenburg: „Schwarz-Gelb ohne Mehrheit“ Frankfurter Rundschau, 12.1.08 Michael Rutschky: „Jugend ist Gewalt“ Frankfurter Rundschau, 12.1.08 3 Desniz Yücel im Interview mit Emine Demir-Büken-Wegner(CDU) „Wählt CDU trotz Koch!“ TAZ, 12.1.08 2 24 Schaut man dann noch den oben geschilderten Fall genauer an, beide Täter gehören zu dem überrepräsentierten Anteil von Schulabbrecher mit Migrationshintergrund und den dementsprechenden Zukunftsperspektiven, ist man schnell wieder bei der Integrationsdebatte. Allerdings ist Desintegration als einziges Erklärungsmodell oder „Entschuldigung“ nicht ausreichend die immense Gewaltbereitschaft der Jugendlichen zu verstehen (vgl. 3.3.3). Nicht erst seit dem Vorfall in der Münchner U-Bahn hat sich bei der Integrationsfrage der Fokus der Aufmerksamkeit von den inzwischen in die Jahre gekommenen Gastarbeitern auf ihre Nachkommen konzentriert. Das mag daran liegen, dass „Kinder die Zukunft sind“ und in Metaphern gesprochen „lieber dem Kind helfen, dass noch nicht in den Brunnen gefallen ist, als dem schon am Boden liegenden“, weil: „Diesmal klappt die Integration!“. Das mag auch an der demographischen Entwicklung in Deutschland liegen und der Einsicht, des Bedarfs der Gesellschaft an den „Ausländerkinder“ und das nicht nur als Klientel für die Jugendhilfe und die Justiz, sondern auch als Steuer bezahlende Arbeitnehmer. Doch die Gesellschaft tut sich offensichtlich schwer dem „Kind“ einen Namen zu geben und zu beschreiben. Hierbei gibt es von den seit den 70ern aufblühenden Sozialwissenschaften Unterstützung, nicht nur semantisch, sondern auch inhaltlich, mit Erklärungen und Beschreibungen. Zum Thema „Jugendliche mit Migrationshintergrund“ oder wie die postmoderne Kreation „NDH“ (Nicht-Deutscher-Herkunft) gibt es in der deutschen Literatur eine Vielzahl von Publikationen. Allein die im Folgenden aufgeführte Auswahl von Titeln sagt einiges über die Haltung der Autoren zu diesem Thema aus. „’Das verhaltensgestörte Gastarbeiterkind’ (Malecha), ‚Die tickende soziale Zeitbombe’ (Geißler/Marißen), ‚Jugend ohne Zukunft’ (Allerbeck/Hoag), ‚Zwischen Ghetto und Knast’ (Autorengruppe), ‚Wanderer zwischen zwei Kulturen’ (Abali/Widmann) etc.“ (Nussbaumer in Viehböck/Bratic 1994:6).1 Nicht das offene Ansprechen von Problemen erscheint hierbei fragwürdig, sondern die defizitäre Betrachtungsweise dieser „verlorenen Generation“. 1 Josef Nussbaumer: Vorwort in Eveline Viehböck, Ljubomir Bratic : „Die Zweite Generation“ Innsbruck: Österr. Studienverlag, 1994 25 Um zu einem differenzierteren Bild zu kommen, wie das Beispiel der Jugendgewaltdebatte zeigt, scheinen einfache Erklärungsmodelle nicht ausreichend und vor allem den Beschriebenen nicht gerecht zu werden. Das fängt schon damit an, dass „Jugendliche mit Migrationshintergrund“ alles andere als eine homogene Gruppe darstellen. Gemeint hierbei sind nicht die unterschiedlichsten Herkunftsländer, sondern der Zeitpunkt bei dem sie in der deutschen Gesellschaft auftauchen und damit ihre unterschiedlichsten Sozialisationsbedingungen. Variationen kann es davon viele geben. So können z.B. Kinder schon mit ihren Eltern zusammen eingereist sein, oder als Kinder ausländischer Eltern in Deutschland geboren sein oder auch in der Generationsfolge als Enkel der ersten Gastarbeiter inzwischen die sogenannte „3.Generation“ darstellen. Hierzu erst mal wieder Daten und „Fakten“. 3.1 Demographie Demographische Entwicklung ist ebenso wie Integration ein Thema welches sehr aktuell die gesellschaftspolitischen Debatten bestimmt. Allerdings werden diese beiden Themen oftmals nur als zwei separate Themen behandelt. Um wahrscheinliche Prognosen über die zukünftige Bevölkerungsstruktur vornehmen zu können, scheint es aber vonnöten beide Themen zu verbinden. Der subjektive Blick des einzelnen Bürgers nimmt es so wahr: Deutsche reproduzieren sich anscheinend deutlich weniger als Migrationshintergründler und damit scheint die zukünftige Bevölkerungsstruktur vorhersehbar. Im Mai 2007 veröffentlichte das Statistische Bundesamt erstmals einen ausführlichen Bericht zur Größe und Struktur der Bevölkerungsgruppe „Menschen mit Migrationshintergrund“. Die Schlussfolgerungen daraus beleuchten die Integrationsdebatte unter einem neuen und dringlich anderem Licht. Es soll im Folgenden zuerst die demographische Entwicklung in Deutschland und anschließend der Ist-Zustand in westdeutschen Ballungsgebieten und Großstädten dargestellt werden um die „Zukunftsprognosen“ an einer schon existenten Realität zu veranschaulichen. 26 3.1.1 Demographische Entwicklung in Deutschland Bis zur Präsentation des Mikrozensus 2005 und insbesondere die Studie „Bevölkerung mit Migrationshintergrund - Ergebnisse des Mikrozensus 2005“ gab es wenige valide Zahlen in Bezug auf die wahrscheinliche Entwicklung des Bevölkerungsverhältnisses von Einheimischen und Menschen mit Migrationshintergrund. Zahlen lieferte z.B. die Demographische Projektionsrechnungen für die Rentenreform 2000 von Birg und Flöthmann im Jahre 2001: Bevölkerungsentwicklung der vier Teilpopulationen von 1998 bis 2050 (in Mio.) Mio. 1998 % 59,6 Mio. 2030 % 49,9 Mio. 2050 % 39,5 Deutsche/alte Bundesländer Zugewanderte/alte 7,1 Bundesländer Deutsche/neue 15,0 Bundesländer Zugewanderte/neue 0,3 2,0 1,1 8,1 1,6 14,4 Bundesländer Deutsche gesamt 74,6 91,0 62,3 80,4 49 72,1 Zugewanderte gesamt 7,4 9,0 15,2 19,6 19,0 27,9 Deutschland gesamt 82,1 10,6 14,1 22,0 12,4 77,5 17,4 30,6 9,5 68,0 Quelle: Birg, H.; Flöthmann, E.-J. (2001): Demographische Projektionsrechnungen für die Rentenreform 2000. Methodischer Ansatz und Hauptergebnisse. Bielefeld. S. 216. Darstellung und eigene Berechungen: Inga Uhlenbrock So betrug „…1998… der Anteil der "Personen mit Migrationshintergrund"“…“nach den Angaben von Birg und Flöthmann noch 9,0% (7,4 Mio.), bis 2030 werde er nach Berechungen der Forscher auf 19,6% (15,2 Mio.) und bis 2050 auf 27,9% (19 Mio.) ansteigen. Die einheimische Bevölkerung hätte danach bis zum Jahr 2050 um rund 26 Mio. Personen abgenommen und die zugewanderte Bevölkerung um rund 11 Mio. zugenommen“ (Birg/Flöthmann 2001). 1 1 „Bevölkerungsentwicklung: Umbruch nach 2012“ von Birg, H.; Flöthmann, E.-J. (2001): Demographische Projektionsrechnungen für die Rentenreform 2000. Methodischer Ansatz und Hauptergebnisse. Materialien des Instituts für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik (IBS) der Universität Bielefeld, Band 47a, Bielefeld. 27 Obwohl diese Berechnungen damals auch schon mit beeindruckenden Zahlen hantierten, sind die aktuelleren Zahlen des Mikrozensus 2005 noch deutlicher. Dies ist natürlich davon abhängig, wie der sogenannte „Migrationshintergrund“ definiert wird: „Im Wesentlichen lässt sich die Definition des Migrationshintergrundes im Mikrozensus 2005 so zusammenfassen: 1. Ausländer/-innen, 2. (Spät)Aussiedler/-innen (seit 1950 zugewandert), 3. Eingebürgerte, 4. Kinder (auch erwachsene), von denen mindestens ein Elternteil unter die Personengruppen 1. bis 3. fällt“ (Berliner Integrationskonzept 2007:100).1 Der Mikrozensus unterlegt auch die „subjektive Wahrnehmung des einzelnen Bürgers“. Die Bevölkerung mit Migrationshintergrund ist deutlich jünger als die deutsche Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Jeder zweite Einwohner mit Migrationshintergrund ist jünger als 34,2 Jahre (Focus Migration- Newsletter 5/2007)2. Die nachfolgende Tabelle zeigt, dass in der Altersgruppe der unter 5-jährigen jeder dritte Einwohner zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund gehört. Quelle: Studie „Bevölkerung mit Migrationshintergrund - Ergebnisse des Mikrozensus 2005. Fachserie 1 Reihe 2.2, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Statistisches Bundesamt: Wiesbaden 2007“ Tabelle 3, S.38 Diese Zahlen beziehen sich auf das gesamte Bundesgebiet. Da aber 98 % der Bevölkerung mit Migrationshintergrund im früheren Bundesgebiet und in Berlin leben(Focus Migration- Newsletter 5/2007), ergibt sich für westdeutsche Ballungsgebiete ein viel drastischeres Bild und besonders im Hinblick auf die davon ableitbare absehbare Bevölkerungsstruktur in der Zukunft. 1 2 "Vielfalt fördern – Zusammenhalt stärken" Das Berliner Integrationskonzept - Handlungsfelder, Ziele, Leitprojekte 2007 Focus Migration „Bericht zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund“ NEWSLETTER Migration & Bevölkerung AUSGABE 5 / 2007 28 Die nachfolgende Grafik zeigt den prozentualen Anteil der unter 10-jährigen in den kreisfreien Städten und Landkreisen in der Bundesrepublik im Jahr 2005. Quelle: Studie „Bevölkerung mit Migrationshintergrund - Ergebnisse des Mikrozensus 2005. Fachserie 1 Reihe 2.2, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Statistisches Bundesamt: Wiesbaden 2007“ Schaubild 6, S.19 29 3.1.2 Ist- Zustand in westdeutschen Großstädten Die nachfolgende Grafik zeigt den Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund in ausgewählten Großstädten: Der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund bei den unter 5-Jährigen liegt hierbei in sechs Städten über 60 %, so in Nürnberg (67 %), in Frankfurt/Main (64,6 %), in Düsseldorf (63,9 %) und in Stuttgart (63,6 %). Hier bestätigt sich auch die „Reproduktionsthese des Normalbürgers“, denn: „Eine wichtige Ursache dieser Situation ist die in den letzten Jahrzehnten anhaltend geringe Kinderzahl der Deutschen ohne Migrationshintergrund. Der hohe Anteil von Vorschulkindern mit Migrationshintergrund in den genannten Städten wird in den kommenden Jahren noch stärker die Situation an den Schulen beeinflussen als bisher“ (Newsletter Migration2007). Die nachfolgende Darstellung des Sozialraum I in Berlin Kreuzberg zeigt, dass der dortige prozentuale Gesamtdeutschland Anteil zu von Ausländern erwartenden heute vergleichbar schon ist. mit Damit dem wird in die Herausforderungen für Politik, Gesellschaft und (insbesondere der integrativen, kultursensiblen) Jugendarbeit klar unterlegt. Berlin unterteilt im Zuge der Sozialraumorientierung der Jugendhilfe die einzelnen Ortsteile in Segmente, die sogenannten Sozialräume (ab 2008:Regionalräume). Die nachfolgende Statistik unterscheidet lediglich zwischen „deutsch“ und „nicht deutsch“. Die Zahlen sprechen allerdings auch ohne die Differenzierung in „mit Migrationshintergrund“ und „Ausländer“ eine deutliche Sprache. 30 Demographische Struktur der für Kinder- und Jugendhilfe bedeutsamen Altersgruppen Einwohner im Sozialraum I / Stichtag 31.12.2005: Solche „Kieze“ gibt es in Westdeutschland in jeder größeren Stadt. Angesichts derartiger Zahlenverhältnisse müssten, auf die Integrationsfrage bezogen, eigentlich auch die Gegner einer liberaleren Einbürgerungspraxis zur Erkenntnis gelangen, dass es vonnöten ist, die Vorgaben zum Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft der existenten und prognostizierten Demographie anzupassen. Der Sozialraum I hat auch für Berliner Verhältnisse einen hohen multiethnischen Anteil, insbesondere in der für die Jugendhilfe relevanten Altersklasse. Um zu einem integrativen und kultursensiblen Ansatz zu kommen erscheint es erst einmal wichtig die Zielgruppe genauer anzuschauen. Die Zahlen belegen eindeutig, dass die Gruppe „Jugendliche mit Migrationshintergrund“ nicht eine Minderheit ist, wie es in der öffentlichen Debatte oft heißt, sondern einen großen Anteil der heutigen und besonders der zukünftigen Bevölkerungsstruktur darstellt. Die nachfolgende „nähere Untersuchung des Klientel“ hat nicht den Anspruch vollständig zu sein, soll aber helfen die Komplexität des Themas greifbar zu machen. Denn „Jugendliche mit nicht deutscher Herkunft“ erscheinen in ihrer sozialen Umwelt als unmittelbare Akteure, als „…eine Art Brückenbauer zu verschiedenen Kultur- und Sozialwelten“ (Nussbaumer in Viehböck/Bratic 1994:6). 31 3.2 Sozialisationbedingungen Diese Kultur- und Sozialwelten sind allerdings von staatlicher oder gesellschaftlicher Seite nicht einfach definierbar und dadurch voneinander abgrenzbar. Die Zuschreibung der Migrantenjugendlichen als „Zwischengänger“ der verschiedenen Welten basiert auf falschen Grundlagen. Die Zuschreibungsbemühungen sowohl von Gesellschaft als auch die, ihrer eigenen Familien werden den Jugendlichen meistens nicht gerecht, denn „...nicht das vermeintliche Fremdsein schafft ihnen Probleme, sondern das Verwehren der Chance, sich selbst entwickeln zu können“ (ebda.:6). Die normalen Schwierigkeiten des Heranwachsen werden verstärkt, durch die nicht selbst gewählte aber unumgängliche Rolle des „Brückenbauers“. Das heißt, zusätzlich zum in Sozialisationsprozessen stattfindenden Konflikten „…kommt erschwerend hinzu, dass hier Generationen- und Kulturkonflikt miteinander gekoppelt sind“ (Uslucan/Fuhrer 2007:15).1 3.2.1 Familie und Umwelt Um die Sozialisationsbedingungen von Migrantenkinder verstehen zu können, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Kinder im Kontext einer gesamtfamiliären Akkulturation sozialisiert werden. Bedingt durch die Migration finden auch bei den Eltern Sozialisationsprozesse statt und das nicht nur bei der ersten Einwandergeneration. Demnach sind „…Alle Personen der Familie (…) gezwungen, ihr Verhaltensrepertoire zu erweitern, zu ändern und umzuorganisieren“ (Viehböck/Bratic 1994:85/86).2 Das Verhältnis von Integration in die Aufnahmekultur und Bewahrung von kulturellen Eigenheiten erzeugt Spannungen. Sowohl außerhalb, wie auch innerhalb der Familie. Inkompatibilitäten oder gar Widersprüche, insbesondere von kulturell bedingten Werten, sind nach Ansicht von Haci-Halil Uslucan „…von der Mehrzahl der Migrantenfamilien kaum befriedigend gelöst“, noch „…sind die gesellschaftlich-politischen Rahmenbedingungen geklärt“ (Leitkultur, Staatsangehörigkeitsrecht, etc.), wobei wir 1 2 Haci-Halil Uslucan, Urs Fuhrer „Familie und Sozialisation von Migrantenkindern“ 2007 Eveline Viehböck, Ljubomir Bratic : „Die Zweite Generation“ Innsbruck: Österr. Studienverlag, 1994 32 hier wieder bei der Integrationsdebatte wären (Uslucan/Fuhrer 2007:5). Der größte Anteil der Gastarbeiter, die so genannte 1.Generation, entstammte aus einfachen dörflich-agrarischen Verhältnissen mit dementsprechendem Wertesystem und patriarchalischen Erziehungsstil. Deutschland als Aufnahmeland, wies in den 50er und 60er Jahren nur oberflächlich betrachtet eine andere Struktur auf. Doch die Entwicklung von der patriarchialen (autoritären) hin zur modernen (demokratischen) Familie verlief und verläuft bei Migrantenfamilien weniger linear. Erklärungsmodelle hierfür gibt es viele, aber „die patriarchalischen Werte in der Großfamilie“ und „das Bedürfnis…sich in einer fremden Umgebung zu schützen“ (Viehböck/Bratic 1994:85/86) erscheinen als die Vordergründigsten. Der familiäre Zusammenhalt und das davon abgeleitete soziale Netzwerk bietet ein wichtiges Schutzpolster im Migrationsprozess „...wenn die Familie finanziell schlecht gestellt ist sowie intensive Diskriminierungen und extreme soziale Benachteiligungen erfährt“ (Uslucan/Fuhrer 2007:8). Doch der Akkulturationsprozess, insbesondere die Konfrontation mit den kulturellen Gepflogenheiten der Aufnahmegesellschaft, stellt die Großfamilie auch vor innerfamiliäre Herausforderungen. Bisher nicht in Frage gestellte „Wahrheiten“ bezüglich der Familienstruktur (Geschlechterverhältnis, Hierarchien etc.) werden in besonderem Maße von den Kindern aus verschiedenen Blickwinkeln wahrgenommen. Ihre Sozialisation findet zum einen in der Familie statt. Andererseits aber auch in gesellschaftlichen Institutionen, wie in der Schule, und manchmal bereits in der Kita. Diese „schulischen Sozialisation im Einwanderungsland“ (ebda.:8) konfrontiert die Kinder mit einer oftmals divergierende Erwartungs- und Wertehaltung. Dadurch sind sie aber auch die Vorreiter des Sozialisationsprozesses der gesamten Familie, da die Auseinandersetzung mit den „kulturellen Konflikten“ sehr früh und auch stärker als bei älteren Familienmitgliedern stattfindet. Das resultiert darin, dass Kinder innerhalb der Familie sehr bald die Rolle des Dolmetschers erfüllen. Nicht nur sprachlich wie oft öffentlich z.B. bei Behördengängen beobachtbar, sondern auch innerfamiliär in kulturellen Fragen. Dies ist problembehaftet, da die natürliche Hierarchie der Familie (Rollenerwartungen, Autoritäten etc.), hierdurch auf den Kopf gestellt wird. Das führt dazu, dass „bidirektionale Sozialisationsverläufe, bei denen also Kinder ihre Eltern 'sozialisieren', (…) bei Migrantenfamilien ein häufig anzutreffendes Phänomen“ (ebda.:9) sind und die Sozialisation des 33 Kindes, besonders in den Bereichen Geschlechterverhältnis/ Sexualität und Identität, in einem „doubel-bind“- Verhältnis vonstatten gehen kann. Die Ausprägung der Divergenzen von Sozialisationseinflüssen ist hierbei stark „…von den kulturellen Distanzen zwischen Aufnahme- und Entsendekultur…“ (ebda.:7) abhängig. So erscheint z.B. die Distanz von italienischen oder polnischen Einwanderern geringer als bei der größten ethnischen Minderheit, den türkischen Migranten oder von Einwanderer aus arabischen Staaten. Kinder aus traditionellen, vom islamischen Glauben geprägten Familien, werden „…in aller Regel in vorgeformte Werte- und Erwartungsstrukturen hineingeboren“ und „…bringen das ehrerbietige, loyale und gehorsame Familienmitglied hervor“ (ebda.:10). Die Familie steht an Nummer 1, danach erst der Einzelne und dessen Individualität. „Herrscht also … auf der einen Seite ein hohes Maß an emotionaler Verbundenheit und kann sich der einzelne immer auf die Unterstützung durch die Familie verlassen, so ist auf der anderen Seite Kontrolle und Disziplin ebenfalls charakteristisch“ (ebda.:10). Hierbei spielt das Geschlecht des Kindes eine nicht unwesentliche Rolle. So können sich männliche Kinder viel freier als ihre weiblichen Geschwister entwickeln. Doch die gesamtgesellschaftliche Tendenz zur Individualisierung macht auch vor traditionellen Familien nicht halt. Die Kinder sehen sich gezwungen, die für sie hierbei ersichtlichen reizvollen Vorteile in der Familie durchzusetzen oder zu erkämpfen. Wie viel Energie für den Kampf oder das Aufbegehren aufgebracht werden muss, variiert, da sich die Einwandererfamilien zwischen „zwei Milieus (…), die sich als traditionalistisch/ fremdbestimmt vs. Modernistisch/ selbstbestimmt beschreiben lassen“ (ebda.:11), bewegen. Das Festhalten an traditionellen-religiösen Erziehungsstilen ist hierbei insbesondere bei Familien niedrigeren Sozialstatus zu beobachten. Dieses Festhalten bleibt oft unbeeinflusst von „modernen Entwicklungen“ in ihren Herkunftsländern. Je höher allerdings der Sozialstatus ist, umso größer ist auch die „Annäherungen an die Moderne“ (ebda.:12). Die Ausprägung der innerfamiliäre Konflikte aber auch der Annäherung zwischen Aufnahmegesellschaft und Migrationsgesellschaft, sprich der Familie, führen im ersten Fall zur Isolation, im zweiten zur Integration (Viehböck/Bratic 1994:93), mit dementsprechenden Auswirkungen auf die Sozialisation der Kinder. Kinder aus zur Selbstisolierung gezwungenen Familien werden „...mit dem radikal 34 überspitzten Standpunkt der Eltern…konfrontiert“ (ebda.:93), müssen sich aber auch im Wertesystem ihrer außerfamiliären Umwelt zurechtfinden. Besonders problematisch kann es hierbei werden, wenn z.B. die Prinzipien der Schule und der Familie gegeneinander stehen, mit dementsprechenden Auswirkungen auf den Schulerfolg der Kinder. Doch wie nehmen die Jugendlichen ihren Status als „zwischen den Kulturen“ Lebende wahr? Was ist mit den inzwischen oftmals Erwachsenen der 2.Migrantengeneration und ihren Kindern, der 3.Generation? Wie viele Anteile der Herkunfts- oder Aufnahmekultur sind aktiv, oder wird beliebig „geswitched“? Sind sie nicht auch Teil von ethnisch unabhängigen Jugendkulturen? Einfache Antworten oder generelle Beschreibungen kann es hier nicht geben, denn jeder junge Mensch hat „...sein individuelles Profil, so dass man eher von Tendenzen ausgehen kann als von Verallgemeinerungen“ (Koray 2007:47)1. 3.2.2 Identitätsentwicklung Folglich ist damit nicht genüge getan, das Individuum und dessen Komplexität nur mit seinen ethnischen oder kulturellen Wurzeln beschreiben zu wollen. Natürlich darf dies nicht unbeachtet bleiben. Betrachtet man jedoch auch die Umwelt, wie Schule, Freundeskreis etc., ergibt sich ein viel heterogeneres Bild der Einflussfaktoren. Der „multikulturelle“ Alltag bewirkt, dass „...die Kinder (…) zwar ein Bewusstsein und differenzierte Wahrnehmung von unterschiedlicher Herkunft…“ haben, sie „...leben aber in erster Linie...“ ihre „...selbstverständliche und alltägliche Kinderkultur“. Noch sind Unterschiede per se kein Problem, sondern ein Stück Normalität in ihrer Welt (Handschuck/Schröer 2005:2).2 Anders wird das, wenn aus entwicklungspsychologischer Sicht, das Kind mit dem Heranwachsen, spätestens in der Adoleszenz, mit der Aufgabe der Identitätsbildung konfrontiert wird (vgl. Erikson 1974). Nachdem die erste „Enkulturation“, durch die Interaktion zwischen Kind und Eltern („der Mensch wird am Du zum Ich“) abgeschlossen ist und dadurch Kultur- und Wertorientierungen verinnerlicht worden sind (vgl. Schuch), werden während der 1 Sibel Koray: Ängste, Konflikte und Strategien zur Lebensbewältigung von Jugendlichen ausländischer Herkunft in Die dritte Generation, integriert, angepasst oder ausgegrenzt?Teil4 2 Sabine Handschuck, Hubertus Schröer „Tanz der Kulturen - Über das Anderssein von Migrantenjugendlichen“2005 35 Adoleszenz „...alle bisherigen Identifizierungen und Orientierungen in Frage gestellt, das Selbstbild verschwimmt und ordnet sich neu, um später die Ich-Identität wieder zu festigen“ (Schuch).1 Hierbei sind verschiedenste Einflüsse am Werk. Mit dem verlassen des Elternhauses wird das Kind mit einer durch die Umwelt zugewiesenen Identität konfrontiert und damit auch zum Ersten mal mit einem Stigmata der „Fremdheit“. Das Kind beginnt durch das Aufnehmen und Verbinden von als gut oder notwendig erkannten Einflüssen aus seinem sozialen Netzwerk (vgl.Handschuck/Schröer 2005) Identitäten aufzubauen. Diese sind temporär und können auch Widersprüche beinhalten. Je nach selbst gewählter oder zugewiesener Rolle bekommen die Identitäten unterschiedliche Gewichtungen. Eine permanente Auseinandersetzung mit dem „selbst“ innerhalb des sozialen Netzwerkes findet statt, welches sich nicht mehr nur auf die Familie beschränkt Die Umweltfaktoren, insbesondere Schule, peer-group aber auch mediale Einflüsse, werden immer bedeutsamer. Ob das verfestigen der Ich-Identität als Teil einer stabilen individuellen Persönlichkeit gelingt, ist von vielen Faktoren abhängig. Das Geflecht an verschiedenen Wert- und Verhaltensprinzipien mit dem das Migrantenkind konfrontiert wird und die dementsprechend ablaufenden inter- und intrakulturellen Konflikte können die Identitätsentwicklung behindern oder gar zu Krisen führen (vgl. Yildirim 2003). Die natürliche, während der Adoleszenz stattfindende Identifikationsdiffusion (vgl. Erikson) erscheint bei Migrantenkinder im Vergleich zu Deutschen komplexer. Ein Jugendlicher z.B., der in seiner Kindheit durch einen traditionellen-religiösen Erziehungsstil die dementsprechenden Norm- und Wertvorstellungen verinnerlicht hat, „…wird notwendigerweise in der deutschen Schule und Umwelt mit anderen Werten und Verhaltensprinzipien kollidieren müssen“ (Firat 1991:102 in Yildirim 2003).2 Als Reaktion auf diese Identifikationsdiffusion könnten sich dem Jugendlichen daraufhin zwei extremen Pole an Verhaltensoptionen anbieten. Zum einen könnte er, das familiäre Wertesystem in Frage stellend, sich an die erwünschten Verhaltenserwartungen der deutschen Gesellschaft anpassen. Hier müsste er „…teilweise mit intrapsychischen und externen Konflikten rechnen, wie 1 2 Joachim Schuch „Psychosoziale Bedingungen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ Firat: 1991 in Kazim Yildirim „Sozialisationsbedingte Gewalt“, Berliner Forum Gewaltprävention, Sondernummer 1 36 Schuldgefühlen, ‘Gewissenbissen’, Frustration, verstärkter Konformitätsdruck von heimatlichen Kontrollmechanismen (z.B. Eltern, Landsleute usw.)” (ebda.:102). Zum anderen könnte er, „…um die Widersprüche zwischen den Anforderungen der Mehrheits- und der Herkunftsgesellschaft zu 'meistern'…“ Zuflucht finden “ …zu Sicherheit und Orientierung versprechenden Totalidentifikationen mit scheinbar starken Kollektiven (wie der Nation Türkei oder dem Islam), die eindeutige und rigide Normanweisungen haben…“ (Uslucan/Fuhrer 2007:16). Die Entscheidung für Familien– oder für Gesellschaftswerte ist hierbei aber nicht zwangsläufig eine „entweder– oder- Frage“, noch eine Mixtur, sondern eine ständige situationsabhängige Auseinandersetzung mit beiden. Ein Prozess, der durch Aktion und Reaktion der Akteure abläuft und der mit den Erfahrungen, die die Jugendlichen hieraus ziehen, unbewusst die Identität bildet. „Sie [die Identität] ist aber nicht nur die Summe von Erfahrungen im Bewusstsein, sondern als Teil des Subjekts wird sie zu etwas qualitativ Neuem“ (Viehböck/Bratic 1994:116/117). Dieses Neue, soziologisch gesprochen, die „gesellschaftliche Schicht“, überfordert allerdings den Akteur Gesellschaft, die nicht bereit ist den „…künstlich geschaffenen … Fremdkörper“ (ebda.:116) „Migrationsjugendlicher“ als vollwertiges neues Mitglied aufzunehmen. Mit den dementsprechenden Auswirkungen, da von einer „positiven Identität“ laut Viehböck und Bratic nur dann gesprochen werden kann, wenn der Jugendliche in der Lage ist, in der Gesellschaft zu agieren und konstruktiv auf sie einwirken kann. Die Familie als der andere Akteur bietet aber auch keine Identifikationsfigur mehr. „Die alten Wertesysteme werden auf wenige Punkte reduziert“ (ebda.:95). So sehen z.B. die Jugendlichen zum einen die Unvereinbarkeit von Bildung und Religion, „...da sie die Spannungen der modernen Lebenswelt, die religiösen Zielsetzungen wenig Raum lässt“ (Merkens 1997 in Uslucan/Fuhrer 2007:12) spüren, allerdings zeigt die nachfolgende Grafik zum anderen aber auch, dass der religiöse Glaube dennoch ein starker Identitätsfaktor ist (vgl.Yildirim 2003). 37 Da weder Elternhaus, noch die Gesellschaft in der Lage ist, diesen „neuen“ Identitäten das Gefühl von Akzeptanz und Geborgenheit zu bieten, sind die Jugendlichen gezwungen dies unter „Ihresgleichen“ zu finden. Identität als Teil ihrer peer-group oder Clique innerhalb „ihrer“ Stadt oder „ihres“ Kiezes („Bist du 36 oder 61?“[alte Postbezirke in Berlin]; „Bist du Deutscher…oder auch anders?“). „Somit hat man nicht Identität, sondern operiert, interagiert mit unterschiedlichen Identitäten, die untereinander und mit der Umwelt in kontinuierlicher Auseinandersetzung stehen“ (Hinnenkamp 2000:6).1 Diese unterschiedlichen Identitäten können selbst gewählt oder zugewiesen sein und die Auseinandersetzung damit resultiert, in dem Verhältnis von Aktion und Reaktion mit der Umwelt, zu entsprechenden Handlungen. Das ambivalente Verhältnis der Identifikationsentwicklung und das daraus resultierende Selbstbild und die Wahrnehmung der (Mehrheits-) Gesellschaft, veranschaulicht der Auszug aus dem Songtext „Im Westen“ von „Muhabbet“ mit seinem Bruder „$iki Pa!“(Welt-online 11/2007)2. Muhabbet wurde in der breiten Öffentlichkeit bekannt durch seine Aufnahme des Liedes „Deutschland, warum verstehst du mich nicht?“ mit Außenminister Steinmeier. 1 2 Volker Hinnenkamp "Gemischt sprechen" von Migrantenjugendlichen als Ausdruck ihrer Identität „Das sind die fraglichen Texte von Muhabbet“ - Nachrichten Kultur - WELT ONLINE, 16. November 2007 38 Wo ich her komm? Ich komm aus der Küche der Hölle! Im Westen, lacht man so gern in dein Gesicht Den meisten von euch Fotzen ist der Ort bekannt als Im Westen, blenden die Medien deine Sicht Kölle. Im Westen weißt du nie wer in deinen Rücken sticht Hier ist nichts wie es ist, alles stink nach Fisch und deck deinen Rücken selbst, weil sonst auch dich jemand Gülle erwischt Two-faces und Masken gib es in Hülle und Fülle. Wo ich herkomm? Ich komme aus Köln Ehrenfeld Ich brülle, schöne Schale ohne Kern Der Ort an dem man viel von Ehre hält Kein Stil kein Charakter doch mitlaufen ist modern. Wo für’n 5€ Schein deine Ehre fällt Du kümmerst dich so gern um dein ansehen und Auch für dich zählt das Geld also spiel keinen Held aussehen, In dir ist ein Vakuum, doch man sieht dich nur von In der Hauptstadt der Schwulen, dem deutschen außen! Hollywood lebt jeder nach dem Trend der Medien und Hier gibt es hunderttausend und noch mehr Opfer, Clubs Fickfressen, fags, Bitches, Schwuchteln euer Kopf leer. Ihr seid meinungslose Zombies und geistig schon kaputt Der Punkt ist ihr habt alle große Klappen. und sagt H.A.V. die Wahrheit haltet ihr nur noch den Doch kommt es drauf an könnt ihr nur in die Hosen Mund. Kacken Mann die ganze Stadt lebt in’ner brüchigen Fassade Diese Stadt ist voller Schwuchteln und Schlampen, Gedeckt von RTL und VIVA läuft die Parade oberflächlicher Ottos und richtig linken Ratten. der Schwulis an CSD der Alkies an Karneval Kommst du in diese Stadt findest du Menschen dieser und Groupies zu Popkom; man Fags überall Arten zu jederzeit an jedem Ort, es nur noch’ne Qual. oder mich! Einen abgefuckten Kanaken. Diese Medienstadt lebt nach’nem Scheiß Ideal Das weit entfernt ist, von dem begriff Real und wacht ihr aus’m Traum auf ist das Leben zu Brutal. Die unterschiedlichen Identitäten können sich nach außen hin z.B. durch die Verwendung und Auswahl ihres Sprachrepertoire zeigen. Sei es als „Sicheinschließen“ oder „Ausschließen“, Abgrenzung oder Zugehörigkeit sei es von der Mehrheitsgesellschaft oder der Elterngeneration (vgl. Hinnenkamp 2000). Denn „…Identitätsakte machen diese und andere Kategorien der individuellen und sozialen Verortung in der Gesellschaft“ relevant (Hinnenkamp 2000:6). 3.3 Habitus der „Problemkinder“ Habitus soll hier verstanden werden, als die durch das soziale Herkunftsmilieu geprägte und erworbene Art zu denken, zu kommunizieren, sich zu kleiden; Gewohnheiten, Erlerntes, Haltungen, Gehaben,…etc. (vgl. Der Duden Bd.5, 1997). 39 3.3.1 Sprache Wer hat es nicht auch schon beobachtet. Eine Gruppe von Migrationsjugendlichen unterhält sich lautstark. Der türkische oder arabische Sprachfluss wird von deutschen Worten unterbrochen oder deutsche Sätze werden durch arabische ergänzt oder andersherum; oder sobald sich jemand einer Gruppe nähert verfallen sie komplett ins deutsche oder türkische, um, sobald derjenige wieder außer Hörweite ist, zurück zu „switchen“. Besonders beliebt erscheint das gern verwendete einleitende „Wallah! Ich Schwöre!...“ zu sein. Das arabische „Wallah“ („bei Gott“, als Bestärkung benutzt „echt, wirklich“) hat sich hierbei auch in der von der ethnischen Herkunft unabhängigen Jugendsprache etabliert. Für die Jugendlichen erscheint dies nichts Außergewöhnliches zu sein. Sie wachsen in einer Umwelt auf, die gekennzeichnet ist, durch multiple „Kulturen“ und demzufolge auch verschiedene Sprachen. Ihre Art zu kommunizieren, „…eine Zweisprachigkeit im Denken und Sprechen,… erscheint als Selbstverständlichkeit“ (Handschuck/Schröer 2005:2). Die jeweilige Auswahl der situationsbedingten passenden Sprache ist hierbei vom Kommunikationspartner abhängig. Mit Deutschen wird deutsch geredet, mit z.B. Türkischsprachigen türkisch. Bei Personen, die beiden Sprachen mächtig sind, ist die Option erweitert. Zweisprachig zu sprechen oder wie sie es selbst nennen „gemischt sprechen“ ist hierbei aber nicht nur eine erweiterte Option, sondern kann auch Ausdruck der gelebten Identitäten sein (Hinnenkamp 2000:5). „Gemischtsprechen ist die Ausdrucksweise einer transnationalen sozialen Identität. Sie stellt nicht sprachliche Elemente nebeneinander, sondern mischt sie auf, komponiert sie neu, entwickelt hybride Formen und füllt damit einen bislang semantisch unbestimmten Raum“ (Hinnenkamp 2000:6). Das „gemischt sprechen“ der 2. und 3. Generation ist ein Produkt ihrer unmittelbaren Umgebung. Hier wird das Bild komplexer. Die Einflüsse sind vielschichtig, da die Variationen der Sprache nicht nur aus „Schuldeutsch“ oder „Hocharabisch“ bestehen, sondern in der Alltagssprache das redundante „Gastarbeiterdeutsch“ der ersten Generation, das „Kiezdeutsch“ auf der Strasse und sonstige Abweichungen wie Dialekte hinzukommen. Problematisch wird es dann, wenn das Individuum nicht die Fähigkeit erworben hat zu eindeutigen Sprachen zu „switchen“. Wer nicht in der Lage ist, das 40 von der deutschen Mittelschicht abgeleitete „Bildungssystem- deutsch“ zu sprechen, wird keinen Schulerfolg haben und demzufolge auch nur eingeschränkte beruflichen Zukunftsperspektiven. Ebenso führt aber auch das nur unzureichende Sprechen der Herkunftssprache der Eltern zu Irritationen bei der Elterngeneration oder innerhalb der ethnischen Gruppe. Das „gemischt sprechen“ wurde und wird stellenweise immer noch als Produkt von „mangelhafter Sprachkompetenz“ eingeordnet und Kinder werden deshalb oft als „doppelseitig halbsprachig“ abqualifiziert (Dirim 2005:85)1. Daran kann kritisiert werden, dass kindliche Äußerungen an der Sprache der Erwachsenen gemessen werden und von einem Sprachstandard ausgegangen wird, den die Migrantenkinder meist nur im Fernsehen „vorgelebt“ bekommen (vgl.ebda.:86). „Die Vermittlung von monolingualen Sprachen ist in der Einwanderungsgesellschaft eine Aufgabe der Institution Schule…“ (ebda.:86) und kann deshalb nicht vorausgesetzt wer- den. Die lange Zeit formulierte Forderung der Mehrheitsgesellschaft, dass die Eltern mit ihren Kindern „deutsch“ sprechen sollten, muss im Angesicht von neueren Erkenntnissen widersprochen werden. Wird die Muttersprache nicht richtig gelernt, ist das Erlernen der Zweitsprache „deutsch“ deutlich schwieriger, „da die Sprachentwicklung eine Einheit darstellt“ (Schuch). Der Blickwinkel der Gesellschaft und der Schule sollte dementsprechend eher auf die Kompetenz der Mehrsprachigkeit und das kreative Potenzial der „Sprachenmischer“ gelenkt werden. Dass das Sprach- und Kommunikationsverhalten von Migrantenjugendlichen nicht nur defizitär sein muss, beweisen die vielen inzwischen Erwachsenen der 2.Generation, deren gesellschaftliche und berufliche Positionen bis hin zu akademischen und politischen Kreisen reichen. Obwohl auch ein großer Anteil von ihnen in „Problemkiezen“ (vgl.4) mit einem hohen Ausländeranteil aufgewachsen ist, war ihre Orientierung „aus dem Ghetto hinaus“, was sich auch in ihrem Sprachverhalten und durch das Bemühen um gute Bildungsabschlüsse widerspiegelte (Keim/Androutsopoulos 2000)2. Keim und Androutsopoulos beziehen sich bei ihren Schilderungen auf ein in Mannheim gelaufenes Forschungsprojekt des „Instituts für Deutsche Sprache“, welches deutsch-türkische Sprachvariation und die Herausbildung neuer Sprechstile in 1 2 Dirim, Inci „Verordnete Mehrsprachigkeit“ in Datta, Asit „Transkulturalität und Identität“ IKO-Verlag Frankfurt/London 2005 Inken Keim und Jannis Androutsopoulos „hey lan, isch geb dir konkret handy“ 41 dominant türkischen Migrantengruppen untersuchte. Die meisten untersuchten Mannheimer Jugendlichen sind in Stadtteilen mit einem hohen Ausländeranteil aufgewachsen, die nach Aussage von Keim und Androutsopoulos aus der Innen- wie der Außenperspektive als "Ghettos" bezeichnet werden. Danach gibt es auch in der 3.Generation diese „hinaus“ -„was besseres werden“ – orientierten Jugendlichen, die sowohl das deutsche wie auch die Sprache ihrer Großeltern perfekt beherrschen. Die Sprachen werden allerdings bei ihnen nicht gemischt sondern strikt getrennt voneinander benutzt (vgl. Keim/Androutsopoulos 2000). In der Wahrnehmung der deutschen Gesellschaft hingegen nimmt die Sprache oder Artikulationsformen der „auf das Ghetto hin orientierten Jugendlichen“ (Keim/Androutsopoulos 2000) mehr Raum ein. Allerdings mit einem ziemlich ambivalenten Verhältnis. Einerseits wird „Kanak-Sprak“, „Ethnolekt“, „Türken-Deutsch“, „Kiezdeutsch“, „Mischsprache“, „Ghettosprache“ zwar erschreckt als die Sprache der „U-Bahn-Täter“ wahrgenommen, denn: „Ein besonderes Ärgernis stellt für viele Beobachter der Sprachentwicklung das Entstehen von Mischsprachen dar. Nicht türkisch, nicht deutsch, grammatikalisch unkorrekt und von einer erschreckend reduzierten Weltsicht geprägt erscheint das, was viele Jugendliche, die zwischen den Kulturen leben, da von sich geben.“ „Wer so redet, denkt auch so“ (Scherer 2003). Aber andererseits werden in beliebten Comedy-Shows im Fernsehen damit Einschaltrekorde verzeichnet. „Was kuckst du?“, „Dragan und Alder“ oder neuerdings sogar in der Werbung, auf den Stereotyp des Handy-versessenen Deutschitaliener anspielend, „Voll krass!“, nur mal als Beispiele genannt. Nachahmer sind nicht nur unter Jugendlichen zu finden, sondern auch gut bürgerliche Erwachsene üben sich „im Sprache von Anderem“. Die Sprache zeichnet sich aus durch sprachliche und grammatikalische Vereinfachungen, dem Weglassen von Artikeln und einem Kauderwelsch aus verschiedenen Sprachen. „Deutsche umgangs- und jugend-sprachliche Elemente werden mit türkischen Ausrufen, Routineformeln und Schimpfwörtern verbunden“ (Keim/Androutsopoulos 2000). Wörter, wie konkret, korrekt und krass tauchen verstärkt in Sätzen auf, bei der Aussprache wird z.B. „zwanzig Euro“ zu „swansig Euro“. 42 3.3.2 Selbst – und Fremdbild Die „Mischsprache“ der Jugendlichen in den „Problemvierteln“ ist wie schon angesprochen, ein Zeichen ihrer eigenen sozio-kulturellen Identität. In Stadtteilen mit hohem Ausländeranteil vermischen sich in den jugendlichen Gruppen die Ethnien. Zwar geschlechtlich getrennt, ist das Verbindende in diesen Gruppen die gefühlte „Bindestrichidentität“ der einzelnen Individuen, wie „Deutsch-Türke- sein“ etc. In diesem Selbstbild oder Leitbild sind oftmals „sehr widersprüchliche Züge vereinigt“. Bei den jungen Frauen z.B. die Eigenschaften „flippig, undiszipliniert“ aber auch „bildungsorientiert“ . Sie wollen „Power, Härte und Derbheit“ zeigen, dennoch ein feminines Erscheinungsbild vermitteln (Keim/Androutsopoulos 2000). Bei den jungen Männern sind ähnliche Tendenzen an angestrebten Eigenschaften feststellbar. Das Interesse an Bildung und Schule ist allerdings deutlich geringer. Der direkte, unmittelbare Status in ihrem Stadtteil als „guter Skater“, „guter Rapper“ oder als derjenige zu gelten, der „gutes Business“ macht, ist erstrebenswerter. "Härte", "Coolness" und "Macho-Sein" sind wichtig (ebda.). Die allgemein gesellschaftliche Wahrnehmung bezeichnet diese Gruppe von „anscheinend ausländischen Jugendlichen“ gerne als "Lans", "Moruks" oder "Proll-Türken". Die sich selbst gerne als „Kanaken“ bezeichnenden männlichen Jugendlichen münzen diese negative Fremdzuschreibung „trotzig zur positiven Selbstdefinition als stark, gefährlich" um, und definieren sich als gesellschaftliche Outsider (ebda.). Sich selbst als „Outlaws“ begreifend treten sie dementsprechend auch in der Öffentlichkeit auf. Mit einer äußeren Erscheinung, orientiert am Stil US-amerikanischer Gangster-Rapper mit schwarzen Lederjacken, Kapuzenpulli, sportlich-lässigen Hosen und Schuhen wird Präsenz gezeigt oder Aufmerksamkeit eingefordert. Das Selbstwertgefühl findet Ausdruck in materiellen Dingen, da teure Markenschuhe, Goldschmuck etc. „…das nach außen gezeigte Symbol des Eigenwerts“ sind (Kersten 2008:4)1. Aber auch durch den Respekt, der ihnen auf der Strasse entgegengebracht wird. 1 Joachim Kersten „Die Währung heißt Respekt“ TAZ, 5./6. Januar 2008 „Der lange Text“ 43 3.3.3 Sozialisationsagentur Strasse „Die Straße ist Sozialisationsagentur für Straßenkids, und die Clique der Gleichaltrigen ersetzt die Familie“ (ebda.:4). Aber erst mal zurück zur U-Bahn. Die Reaktionen und Stellungnahmen von Politikern und Medien bezüglich des Vorfalles in der Münchner U-Bahn waren von erschreckender Kurzsichtigkeit geprägt. Populistische Äußerungen á la Koch wurden von „aufgeklärten“ Sozialwissenschaftlern mit ihren Desintegrationstheorien von einer anderen Seite beleuchtet. Alles schön und gut. So reguliert sich eine über die Medien ausgetragene Debatte in einer Demokratie. Unmittelbare Handlungsansätze für Lösungen ergeben sich allerdings nicht. „Denn die alltägliche Aggressivität hat nicht nur etwas mit Arbeitslosigkeit zu tun“ (ebda.:4). Jugendgewalt ist für Bewohner von „Problemvierteln“ nicht nur ein mediales Ereignis, sondern Teil ihres direkten Alltags. Natürlich gibt es in Deutschland keine Ghettos, vergleichbar wie in anderen Staaten, oder extremste soziale Verwerfungen wie in den Vorstädten von Paris, doch können durchaus Parallelen zu deutschen „Problemvierteln“ gezogen werden und somit auch diverse Fragen der allgegenwärtigen Jugendgewalt beantwortet werden. In einem Beitrag in der TAZ (5./6. Januar) analysierte der Soziologe Joachim Kersten (Lehrgebietsleiter an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster) das Thema Jugendgewalt und damit zusammenhängend den „Code der Strasse“. Kersten bezieht sich dabei auf Studien von Elijah Anderson in den Slums von Philadelphia. Danach existieren in den Slums zwei Wertesysteme: „Das der ‚Anständigen’ und das der ‚Strasse’.“ „Das Wertesystem der ‚Straße’ beherrscht, obwohl nur eine Minderzahl der Bewohner ein aggressives Gewaltsystem ausübt, die Regeln des Verhaltens im öffentlichen Raum, auch für die Anständigen und ihre Kinder“ (ebda.:4). Hier erfährt der in Kapitel 2 beschriebene Kulturbegriff eine Operationalisierung. Das Wertesystem und die Regeln der Straße sind Teil einer „Straßenkultur“, „…die das Miteinander von Personen und die Gewaltanwendung steuern“ (ebda.:4). Das Miteinander wird durch informelle Gebote geregelt wie „das ‚Auftreten’ von Personen, die einen gewissen Status für sich beanspruchen“ (ebda.:4). Eng verknüpft mit ihren Verhaltenserwartung gegenüber den anderen. Kersten nennt dies, an Anlehnung an 44 Anderson, „den Code der Strasse“, der für alle in der Öffentlichkeit auftretenden Personen gilt, auch für diejenigen, die bemüht sind nach dem Wertesystem der Mehrheitsgesellschaft zu leben. Der Code birgt vor allem das Prinzip „Respekt“, und zwar „ ...den Respekt als Tributleistung an die gesellschaftlich Nichtrespektablen.“ Dabei ist „’Respekt’ (…) für den, der ihn gezollt haben will, ein äußert hochwertiges Objekt; schwer erkämpft, leicht verloren, und es muss ständig darauf geachtet werden“ (ebda.:4). Durch „…das Erscheinungsbild einer Person, ihre Kleidung und ihr Auftreten…“ soll dem Gegenüber verdeutlicht werden, „…dass ein gewisses Maß an „Respekt“ selbstverständlich aufzubringen ist.“ (ebda.:4). Wird diese „Tributzahlung“ nicht „gezollt“ ist dies ein Zeichen von „disrespekt“, also ein „… Angriff auf ihre männliche Ehre. Und wer öffentlich ‚gedisst’ wird, muss reagieren, am besten mit Gewalt.“ Denn, „…für den Vorwurf und die Ahndung des ‚dissing’ gilt der Code der Straßenregeln, nicht das Bürgerliche Gesetzbuch“ (ebda.:4). „Der Code der Strasse entstehe dort, wo der Einflussbereich der Polizei ende…“ weil der Code in „Problemvierteln“ ein Vakuum auffülle, da Polizei und Justiz lediglich Repräsentanten der Mehrheitsgesellschaft sind (ebda.:4). Zurück in die deutsche U-Bahn. Die beiden Täter zeigten, nach Angaben von Kersten, bei ihrer ersten Vernehmung „keinerlei Reue“. „Der Rentner sei selbst schuld, er habe sie schließlich ‚angemacht’ “ (ebda.: 4). Wie der genaue Ablauf war, wurde ja von den Überwachungskameras nicht aufgezeichnet, insbesondere nicht die Aufforderung des Rentners, das Rauchen einzustellen. Lässt man die Entwicklung des Geschehnisses unter „Code der Strasse“ - Gesichtspunkten ablaufen, und fügt noch ein bisschen Hintergrundwissen über die Akteure hinzu, könnte sich folgendes Bild ergeben: Ein pensionierter Oberstudienrat spricht, in einem in 40Jahren Lehrtätigkeit geübten Ton, zwei in seinen Augen junge Migrationshintergründler tagsüber an einem Werktag in der U-Bahn an. Die beiden Schulabbrecher erkennen in seiner Art zu sprechen eine eindeutige Verletzung, ein „disprespekt“ ihres Status als Respektpersonen. Wie es weitergeht haben die Kameras ja aufgezeichnet. 45 Beide sind bei der Justiz keine Unbekannten. Sie gehören zu der Kategorie jugendlicher Mehrfach- oder Intensivtäter, von denen viele einen Migrationshintergrund haben. Kersten geht davon aus, dass dieser Kategorie „…ein beachtlicher Anteil der als Straßenkriminalität ausgeübten Gewalt schweren Kalibers zuzurechnen“ ist. Sie sind Kinder der „Sozialisationsagentur Strasse“ – des „Codes der Strasse“ (ebda.:4). „Sie verachten das Wertesystem der Abgesicherten, und anstelle erwachsener männlicher Vorbilder sind die Leitfiguren der Szene Gangsta-Rapper wie Bushido.“ „Diesen Jugendlichen fehlt es von klein auf an sozialen Perspektiven, an Einsicht in die Folgen ihres eigenen Handelns und an Scham über schädliches Verhalten. Von ihnen Reue zu erwarten ist naiv. Sie haben es nicht gelernt, wir haben es ihnen vorenthalten, weil wir sie sich selbst überlassen haben.“ „Das Gefängnis ist keine Katastrophe, es zählt wie eine Promotion, es steigert meinen Status, meine Reputation auf der Strasse“ (ebda.:4). 4. „Integrationsmaschine“ - städtischer Sozialraum München im Mai 2007. Hauptversammlung des Deutschen Städtetages. Das Wort hat der damalige Ministerpräsident von Bayern, Edmund Stoiber: ... „Es gibt einen sehr hohen Bedarf an Integrationsleistung in unserem Land. Diese Leistung wird wesentlich vor Ort – in den Kommunen – erbracht. Und die Hauptlast dabei liegt naturgemäß bei den Städten, weniger im ländlichen Raum. ... Die Städte sind hier gleichsam „Seismographen“ der gesellschaftlichen Entwicklung. In manchen Stadtvierteln ballen sich die Probleme zusammen. Die alteingesessene Bevölkerung fühlt sich zum Teil von den Neubürgern dominiert, in ihrer persönlichen Sicherheit und in ihrem Lebensstil beeinträchtigt. ... Nicht nur der Zuzug von Ausländern, sondern auch die Abwanderung der einheimischen Bevölkerung aus bestimmten Stadtvierteln kann zur Entstehung von Parallelgesellschaften führen. Hier sind wir alle aufgerufen, die Balance zu halten bzw. wieder herzustellen“ (Stoiber 2007:6).1 1 „Städte schaffen Integration- Stadtpolitik in Zeiten der Globalisierung“ Rede von Dr. Edmund Stoiber Ministerpräsident des Freistaats Bayern während der Hauptversammlung des Deutschen Städtetages am 24. Mai 2007 in München 46 In diesem Teil der Arbeit soll es nun darum gehen den „Raum der Integration“, die Stadt, näher zu beleuchten. Dies erscheint deshalb von großer Wichtigkeit, da in der (Groß -) Stadt soziale, ökonomische, politische und kulturelle Prozesse der Gesellschaft in komprimierter, verdichteter, ja geballter Form auftreten. Wie in einem Reagenzglas können gesellschaftliche Entwicklungen, und deren Auswirkungen auf Gruppen oder Individuen, untersucht und analysiert werden. Darüber hinaus sind die Beobachtungen des „Reagenzglases“, wie das Ereignis in der U-Bahn zeigt, auch für die gesamtgesellschaftliche Verbreitung dieser Entwicklungen von Bedeutung. Das in der aktuellen Integrationsdebatte marginalisierte städtische Quartiere als „NoGo- Areas“, bezeichnet werden, und von „Parallelgesellschaften“ oder „schleichender Ghettoisierung“ die Rede ist, mag überspitzt klingen, doch im Zusammenspiel von demographischen, arbeitsmarkt- und wohnungsmarktbezogenen Prozessen sind eindeutige Polarisierungen von Lebenslagen feststellbar. Diese Entwicklung stellt für die Stadt(politik) historisch gesehen zwar keine neue, aber doch eine gewaltige Herausforderungen dar. Dabei sind die für die Entstehung von „Parallelgesellschaften“ verantwortlichen Ursachen exogener Natur, d.h. sie sind aus der „Mitte der Gesellschaft“ herrührend (vgl. Krummacher /Kulbach /Waltz /Wohlfahrt 2003) und nicht in den so genannten „Problemquartieren“ oder „überforderten Nachbarschaften“ entstanden. Diese Gegenden gelten in soziologischen Studien lediglich als Indiz für die (soziale) Spaltung der Gesellschaft und demnach auch für das „Versagen“ der gesehen, die Integrationsfähigkeit der Städte. 4.1 Die „Krise“ der (sozialen) Stadt Die Annahme, dass gesamtgesellschaftlichen die Prozesse Stadt und als „Reagenzglas“ Strukturen widerspiegelt, ist in der Stadtsoziologie seit Jahrzehnten eine anerkannte Grundposition, denn „…die gesellschaftliche Modernisierung und die strukturellen Umbrüche… sind …wie in einem Fokus an den städtischen Situationen ablesbar…“ (Keim 2004:245).1 1 Keim, Karl-Dieter: Vom Zerfall des Urbanen, in: Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Was treibt die Gesellschaft auseinander? Bundesrepublik Deutschland: Auf dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft, Band 1, Frankfurt/ Main 2004 (1. Auflage 1997) 47 Die negativen Auswirkungen des Strukturwandels in den westeuropäischen Industrieländern, ausgelöst durch weltweite ökonomische Umstrukturierungen (Globalisierungsprozesse etc.), und der soziale Wandel, werden demnach insbesondere in den „Problemgebieten“ der Großstädte abgebildet. Der Abbau von Arbeitsplätzen in der verarbeitenden Industrie in Deutschland und die Abwanderung von Firmen in „Billiglohnländer“, wie das aktuelle Beispiel der „Nokianer“ in Bochum zeigt, trifft vor allem die gering Qualifizierten, nämlich sowohl die „Gastarbeiter“, die einst als Hilfsarbeiter genau für jene Arbeitsplätze angeworben worden sind, wie auch die deutsche „Arbeiterklasse“. Aus beiden Gruppen stammende Nachkommen, entstammen den sogenannten „bildungsfernen Familien“. Die Folgen sind „…langanhaltende Massenarbeitslosigkeit und die Zunahme der prekär Beschäftigten und dauerhaft ‚Überflüssigen’“ (Krummacher u.a. 2003)1. Ehemalige Arbeiterviertel werden zu „Arbeitslosenviertel“. Die daraus resultierenden Ansprüche überfordern nicht nur das soziale Sicherungssystem, gleichzeitig ging natürlich „...den Städten…gerade zu dem Zeitpunkt Gewerbe- und Einkommensteuereinnahmen verloren, als mehr Geld für soziale Aufgaben notwendig gewesen wäre. Die Zahl der Sozialwohnungen geht ständig zurück, so dass Haushalte, die auf sie angewiesen sind, in wenigen Vierteln mit billigen Wohnungen zusammengedrängt werden“ (Häußermann 2006).2 Angesichts hoher Arbeitslosenzahlen und dadurch des Wegfallens der „Integrationsinstanz Arbeitsplatz“, die Deregulierung der Wohnungsversorgung (z.B. Wegfall von Werkswohnungen), sowie der generelle Abbau der Sozialsysteme, führen dazu, dass die Städte inzwischen an ihrer historischen Integrationsaufgabe scheitern könnten. Zeichen hierfür sind weit größere sozial-ökonomische aber auch kulturelle Risse innerhalb von Stadtgesellschaften als sie noch vor einigen Jahren zu beobachten waren, wie augenscheinliche Entwicklungen einer zunehmenden Desintegration, einer Zweckentfremdung und Verwahrlosung des öffentlichen Raumes in manchen Gegenden sowie einer „Entzivilisierung“ des Verhaltens einzelner Menschen und Gruppen zeigen. Die Funktion moderner Städte als “Integrationsmaschine“ als Ort der Integration von Fremden, scheint ins Stottern zu geraten (vgl. Häußermann 2006). 1 2 Krummacher, M. u.a. (2003): Soziale Stadt, Sozialraumorientierung, Quartiersmanagement: Strategie für einen lokalpolitisch flankierten Sozialstaatsabbau oder Revitalisierung von sozialer Stadtentwicklung? Hartmut Häußermann „Desintegration durch Stadtpolitik?“, aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 40-41/2006) 48 Um die Fehlfunktionen dieser „Maschinerie“ besser verstehen zu können, scheint es vonnöten dem Begriff „Integration“ eine genauere „Inspektionen“ zu unterwerfen. Allgemein gesprochen, ist Integration das Gegenstück zu Segregation oder Ausgrenzung. Auf die konkreten Lebenswelten von Individuen oder Gruppen bezogen, bedeutet Integration gleichberechtigte Möglichkeiten der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Das Endprodukt der „Integrationsmaschine“, und im übertragene Sinne auch der (städtischen) Integrationspolitik, müsste somit im Kern die Herstellung von Chancengleichheit sein. Da die Semantik über die Theorien der Integration einer Minderheitengruppe in die Mehrheitsgesellschaft der aktuellen Verfassung von „modernen Gesellschaften“ und deren transkulturellen, hybriden Daseinsform, nicht gerecht wird, scheint es erforderlich, die semantische, herkömmliche Definition von Integrationsprozessen kurz zu beleuchten. Dies erscheint deshalb von großer Wichtigkeit, da die Akteure auf staatlicher und auf institutioneller Ebene Integrationsbemühungen stellenweise noch in veralteten Kategorien denken und demzufolge auch semantische Beschreibungen benutzen. So geht Esser noch 19991 davon aus, auf die Gruppe der Einwanderer bezogen, dass die Integration in die Mehrheitsgesellschaft aus vier Stufen besteht: Die erste Stufe wäre danach die „kognitive Integration“ in Form der Kenntnisse der Sprache und Kultur. Hier kann Esser unterstellt werden, dass er noch von der historischen Vorstellung einer homogenen Kulturgemeinschaft ausgeht. Kognitive Integration müsste allerdings um „Kenntnisse von transkulturellen Binnenverfassung von Gesellschaften“ erweitert werden. Die zweite Stufe, die „strukturelle Integration“, also gleichwertige Berufsstellung und Situation auf dem Wohnungsmarkt etc., kann so stehen bleiben, genauso wie die dritte Stufe, die „soziale Integration“ in Gestalt von sozialen Kontakten zu Deutschen und der Teilnahme am öffentlichen Leben. Die vierte von Esser aufgestellte Stufe der Integration bedarf, unter dem Blickwinkel dieser Arbeit betrachtet, wiederum einer Modifikation. Die „identikative Integration“ als Aneignung des Wertesystems der Aufnahmegesellschaft zu bezeichnen, ist in der Form nicht mehr haltbar, da moderne Gesellschaften sich insbesondere durch einen unüberschaubaren Wertepluralismus auszeichnen. 1 Esser, Hartmut „Inklusion, Integration und ethnische Schichtung“, in: Journal für Konflikt- und Gewaltforschung, Heft 1, Bielefeld 1999; 49 Diese semantische Erweiterungen oder Modifikation muss auch die „Untersuchung“ der „Integrationsmaschine“ betreffen. Der „städtische Sozialraum“ allerdings bleibt als Ort der „strukturellen Integration“ relevant, da insbesondere genau hier der Integrationsmotor offensichtlich zu stottern beginnt. Die zunehmende ungleiche Verteilung von sozialen Gruppen (strukturelle Segregation), die Spaltung des städtischen Raumes in Gewinner und Verlierer des Strukturwandels, scheint das Erreichen, der wie auch immer definierten höheren (integrativen) Stufen, schon im vorhinein zu behindern. 4.1.1 „Problemviertel“ - sozialräumliche Segregation Die Verlierer des Strukturwandels, und demnach diejenigen mit Integrationsproblemen, sind allerdings nicht nur Migranten, sondern „Einheimische und Zugewanderte sind gleichermaßen von den ausgrenzenden Wirkungen der Segregation betroffen“ (Häußermann 2006) und treffen in bestimmten Quartieren der Stadt, den sogenannten „Problemvierteln“, aufeinander. Hierbei kann zwischen „zwei Prototypen von Armutsquartieren“ unterschieden werden (Krummacher u.a. 2003): „Typ 1: Vernachlässigte industrie- oder kernstadtnahe Altbauquartiere mit überwiegender Arbeiterbevölkerung, Typ2: Großwohn- oder Trabantensiedlungen der 1960/1970er Jahre in städtischen Randlagen mit ursprünglich gemischter, inzwischen entmischter Wohnbevölkerung“ (ebda.). Es kommt zu einer unfreiwilligen Nachbarschaft von sozialen Gruppen mit multiplen Problemlagen, d.h. die Zuwanderer, die sich (z.T.) zwangsweise in diesen Gebieten ansiedeln, treffen dort auf eine segregierte deutsche Bevölkerung, die vom Strukturwandel negativ betroffen ist und somit sehen beide Seiten in wechselseitigen Kontakten kaum Vorteile da ihre Lebenssituation eher von der Konkurrenz um bedrohte Positionen im Wohnungs-, Ausbildungs- und Arbeitsmarkt gekennzeichnet ist. Ausgehend vom Stufenmodell der Integration von Esser ist somit die „soziale Integration“ der Zugewanderten, sprich der soziale Kontakte zu Deutschen und die Teilnahme am öffentlichen Leben, beeinträchtigt. Der produktive Umgang mit ethnischen – kulturellen Differenzen, durch Kommunikation und Interaktion, kann 50 dadurch, dass er durch Probleme der schwierigen sozialen Umstände überlagert wird, nicht unbelastet vonstatten gehen. Hinzu kommt oftmals, dass durch eine beengte und beengende Architektur keine Möglichkeit besteht eine räumliche Distanz, eine soziale oder kulturelle Distanz zu anderen Bewohnergruppen aufzubauen. Hieraus entstehen Konflikte in den “überforderten Nachbarschaften“. Räumliche Probleme, soziale Probleme und ethnische bzw. ethnisierte Konflikte verstärken sich gegenseitig. Dies führt natürlich dazu, „…dass Familien, die über entsprechende Mittel und Informationen verfügen, aus dem Quartier wegziehen, weil sie Konflikten ausweichen und eine weitere Abwärtsentwicklung nicht erleben wollen…“ und dadurch wird aber auch „…die Konzentration von Haushalten mit großen sozialen Problemen (…) verstärkt…“ (Häußermann 2006). Hier haben die ausländischen Einwohner meist die schlechtesten Karten, da sie selten über die rechtlichen und sozialen Ressourcen verfügen, um sich Alternativen aussuchen zu können. Hinzu kommt, unabhängig von den Ressourcen, der Wunsch vieler Einwandererfamilien, sich durch die räumliche Segregation einen funktionalen Schutz- und Identitätsraum zu schaffen oder aufrechtzuerhalten. Die Etablierung eines solchen „Raumes“, oft als eine zeitliche Übergangsphase im Migrationsprozess gesehen, widerspricht nicht zwangsläufig der Bereitschaft zur Integration und zum Austausch mit der Mehrheitsgesellschaft. Im Gegenteil, sie kann auch günstige Voraussetzungen für die Integrationsbereitschaft liefern (Krummacher/Waltz 1996)1. Die Aufgabe von „ethnischen Kolonien“ als funktionale Durchgangsstation ist darin zu sehen, dass durch die bewusste Entscheidung zur Segregation, eine Ausgangslage geschaffen wird, um die Integration in das Mehrheitssystem auf einer sicheren Basis zu gestalten, und dadurch das „Öffnen“ zur Mehrheitsgesellschaft erst möglich zu machen. In den „Problemvierteln“ konzentriert sich folglich ein großer Anteil von Migranten; „…entsprechend hoch ist in den Schulen der Anteil von Kindern mit nicht-deutscher Herkunftssprache, und er steigt laufend. Bildungsorientierte Eltern sehen dadurch die Zukunft ihrer Kinder gefährdet und verlassen die Quartiere…“ (Häußermann 2006). 1 Krummacher, Michael/ Viktoria Waltz: Einwanderer in der Kommune: Analysen, Aufgaben und Modelle für eine multikulturelle Stadtpolitik, Klartext Essen 1996 51 In Berlin- Kreuzberg (vgl.4.2.3) nimmt der subjektive Beobachter beispielsweise wahr, dass viele junge deutsche Familien, anscheinend oft links-alternative Akademiker, die sich ansonsten in ihrem Quartier wohl zu fühlen scheinen und sich auch mit der Migrationsbevölkerung solidarisieren, den Stadtteil verlassen, sobald ihre Kinder in das Schuleintrittsalter kommen, oder die Kinder auf Schulen in benachbarten Bezirken anmelden. Alternativ dazu gehen ihre Kinder in Schulen die unterschiedliche pädagogische Konzepte in speziellen Klassen anbieten. Diese Schulen haben dann zwar im gesamten gesehen ein ausbalancierter Anteil von deutschen Kindern und Kinder nicht deutscher Herkunft aber innerhalb der z.B. Montessoriklasse sind nur deutsche Kinder mit dem dementsprechenden Anteil in den „normalen“ Klassen. Diese Formen der Schulsegregation führt dazu, dass der deutsche Mitschüler für viele Migrantenjugendliche in den Grund- und Hauptschulen in diesen Gebieten zur Ausnahme wird. Doch was sind die Auswirkungen von struktureller und dadurch auch sozialer Segregation auf die Jugend in diesen „Nachbarschaften“? Häußermann bedient sich hierbei „einer klassischen Annahme der Stadtforschung“: „In einer Nachbarschaft, in der vor allem Modernisierungsverlierer, sozial Auffällige und sozial Diskriminierte wohnen und abweichende Normen und Verhaltensweisen mehr oder weniger selbstverständlich akzeptiert werden, wird ein internes Feedback erzeugt, das zur Dominanz abweichender Normen führt. Insbesondere Kinder und Jugendliche machen gar keine Erfahrungen mehr mit einem "normalen" Leben“ (ebda.). Der in Kapitel 3.3.3 beschriebene „Code der Strasse“ könnte hier eine Art der „Dominanz abweichender Normen“ sein. Als Zeichen hierfür könnte z.B. der offene Brief der Rütli-Schule in Berlin- Neukölln sein, der ja nicht nur in Fachkreisen noch gut in Erinnerung ist. Ein Hilferuf der Lehrerschaft, die angesichts eines unerträglich gewordenen Schulalltags um ihre Selbstauflösung bat. Noch andere Auswirkungen von starker Segregation, insbesondere die Segregation von ethnischen Gruppen sind vorstellbar. Die Angst, vor fundamentalistischen Selbstmordattentäter oder terroristischen Vereinigungen im „eigenen Land“, die von „war- on- terrorism“- Sicherheits- und Präventionsschlagfanatiker á la Schäuble geschürt werden, entbehren nicht zwangsläufig jeder Grundlage. Zwangsverheiratungen, Ehrenmord, Hassprediger etc. 52 sind existente Phänomene in Teilen dieser Gesellschaft, denn „…wenn sich soziale Marginalität und ethnische Segregation überlagern, kann sich bei solchen Gruppen eine Abhängigkeit von internen Eliten bzw. Leadern herstellen, die bei schwindenden Außenkontakten zunimmt. Fundamentalistische Ideologien finden dann leichter Verbreitung, und die Kontrolle über ‚richtiges’, das heißt traditionsverhaftetes Verhalten wird schärfer. So werden Integrationsprozesse erschwert oder unterbrochen“ (ebda.). Das „Gottesstaat Quartier“, sei es als subjektive, substanzlose Fremdzuschreibung oder auch als wahrhaftig existentes Phänomen, hat seine Auswirkungen über das Quartier hinaus. Diese Zuschreibungen, sei es Rütli oder Ehrenmord, sind folgendermaßen insoweit relevant, dass aus den benachteiligten Quartieren benachteiligende werden, denn „…ist erst ein gewisses Ausmaß der Abwärtsentwicklung erreicht, erhält das Quartier schnell ein negatives Image. Diese Stigmatisierung beeinflusst das Selbstwertgefühl der Bewohner, die nicht (bzw. nicht mehr) freiwillig im Gebiet wohnen. Sie fühlen sich als Gefangene. Außerdem kann sich eine stigmatisierende Außenwahrnehmung nachteilig auf die sozialen Teilhabechancen - insbesondere bei der Lehrstellen- und Arbeitsplatzsuche - auswirken. Stigmatisierung wird also zur symbolischen Gewalt“ (ebda.). Schulabschluss, dann Lehre und Arbeitsplatz… Diese klassische seit Jahrzehnten geläufige Art der Integration von jungen Menschen in die Gesellschaft erscheint allerdings, im Angesicht der Entwicklung der Erwerbsarbeit an sich und der heute schon existenten Massenarbeitslosigkeit für große Teile der Bevölkerung und der Status für viele des „Maßnahmengänger“, fragwürdig zu werden. „Eine große Anzahl junger Menschen wird unter den gegebenen Umständen niemals in ihrem Leben einen Arbeitsplatz einnehmen, wie wir ihn seit Generationen als sinngebend und gesellschaftlich platzierend kennen. Arbeit als Tradition in Form der Normalerwerbsbiographie wird für große Bevölkerungsteile einfach verschwinden, unabhängig davon, ob die gesellschaftliche Definition ihrer selbst als ‚Arbeitsgesellschaft’ fortbesteht. Wir werden die Sinnfrage generell deutlicher stellen müssen“ (Römisch).1 1 Klaus Römisch „Neue Jugendhilfeformen im Kontext der Lebensweltorientierung: FSP Familienstabilisierungsprogramm“ 53 4.1.2 Das Programm “Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die Soziale Stadt” Eine staatliche Reaktion auf die sozialräumlichen Spaltungsprozesse ist das BundLänder- Programm “Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die Soziale Stadt”. Es soll der Abwärtsspirale in den entsprechenden Quartieren entgegen wirken und zur Stabilisierung beitragen. Wichtig im Kontext dieser Arbeit erscheint hierbei welche Ansätze und Strategien zur Verwirklichung von (sozialer) Integration und dabei insbesondere der Integration von jungen Menschen mit Migrationshintergrund angestrebt und umgesetzt werden. Die Frage ist demnach, wie kann- bzw. unter welcher Voraussetzung könnte – das Quartier als Integrationsinstanz dienen, da der Arbeitsmarkt diese Funktion scheinbar nur schwer oder sogar nicht erfüllen kann. Die Bezeichnung Quartier in diesem Programm ist im Gegensatz zu den rein örtlich eingrenzenden Begriffe wie Bezirk, Stadtteil oder Gebiet, eine Konkretisierung hin zur sozialen Dimension von Räumlichkeit. Quartiere sollen als „…soziale Räume und Lebenswelten…“ (DIfU 2003:9)1 betrachtet werden. Die Betrachtung städtischer Räu- me als Sozialraum ist folglich die Erkenntnis, dass das Quartier als Ressource zur Lebensbewältigung dienen kann. Insbesondere für die Bewohner benachteiligter Quartiere ist dies von Bedeutung da sie, aufgrund eingeschränkter Mobilität, auf das Gebiet, seine sozialen Netze, Angebote und Einrichtungen, angewiesen sind. Die „Dimension Raum“ wird dabei insgesamt verstanden als „...Überlagerung von physischen Bedingungen, Ort von Erfahrungen und Lernprozessen, als Raum mit Orientierungs-, Symbolisierungs-, Identifikations-, Aneignungs- und Nutzungsfunktionen sowie als Statusmerkmal und Ort der sozialen Selbstdefinition“ (ebda.:15). „…Dieses Programm, das die Bekämpfung der Abkoppelung von Quartieren und die Verbesserung der Lebenschancen der Bewohner zum Ziel hat…“, d.h. trotz aller sozialen Ungleichheit es nicht zu sozialer Desintegration oder Ausgrenzung kommen zu lassen, „...ist auf Städtebauförderung gerichtet“ (Häußermann 2006). 1 DIfU (Deutsches Institut für Urbanistik): Strategien für die soziale Stadt. Erfahrungen und Perspektiven Umsetzung des Bund-Länder-Programms (...)2003 54 Als Gemeinschaftsprogramm von Bund, Länder und Kommunen, angesiedelt im Bundesbauministerium, wird erstmals ein Programm kofinanziert, das explizit soziale Ziele formuliert. Somit wurde die herkömmliche Sichtweise von Stadtentwicklung als rein städtebaulicher Akt um soziale Ziele, nämlich soziale Strukturen und Prozesse zu beeinflussen, erweitert. So wird in dem Programm z.B. auch auf die erwähnte Gefährdung der „Integrationsinstanz Arbeit“ eingegangen. Als Alternative zur Erwerbsarbeit werden Ideen formuliert, wie die Möglichkeiten der Förderung von Ehrenamtlichkeit oder „Bürgerarbeit“. Einer angeblichen „Kultur der Armut“, insbesondere unter Sozialhilfeempfänger und Langzeitarbeitslose, soll mit Konzepten wie „empowerment“ und des „aktivierenden Sozialstaats“ entgegengewirkt werden. Grundlage des Programms ist nicht ein Gesetz, sondern eine jährlich zu schließende Verwaltungsvereinbarung über die Gewährung von Finanzhilfen des Bundes, die die Eckpunkte des Programms absteckt. Das erste Ziel besteht darin, die Wohn- und Lebensbedingungen, sowie die lokale Ökonomie in den Stadtteilen zu stabilisieren und zu verbessern; zweitens sollen die Lebenschancen durch Vermittlung von Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen erhöht werden und drittens soll das Gebietsimage, die Stadtteilöffentlichkeitsarbeit und die Identifikation mit den Quartieren gestärkt werden. Letzteres ist insbesondere damit verbunden, stabile Sozialstrukturen bzw. Nachbarschaften zu schaffen (Programm Soziale Stadt 2007).1 Im Zuge der Beratungen zur Verwaltungsvereinbarung im Jahr 2005 zwischen Bund und Länder wurden diese erweitert, da aufgrund bisheriger Erfahrungen mit der Umsetzung des Programms drei Themen an Bedeutung gewinnen: Neben der Gesundheitsförderung und der Verbesserung des Bildungsangebotes in den Quartieren oder des Zugangs zu Bildungsangeboten für Bewohner ist dies das Thema Integration und die Förderung des Zusammenlebens in den Quartieren (vgl. ARGEBAU- Leitfaden „Soziale Stadt“ 2005:4).2 1 2 Programm „Soziale Stadt“ 2007 ARGEBAU (Arbeitsgemeinschaft der für Städtebau, Bau- und Wohnungswesen zuständigen Minister und Senatoren der Länder): Leitfaden zur Ausgestaltung der Gemeinschaftsinitiative “Soziale Stadt” - 3. Fassung vom 29.08.2005; 55 Somit wurde die Aufgabe der Integration von Migranten als eigener Schwerpunkt der Maßnahmen in das Programm aufgenommen. Das Ziel „soziale Integration“ taucht als Ergänzung der Punkte „Bürgermitwirkung“ und „Stadtteilleben“ auf. Neben der Sprachförderung und der Öffnung von Schulen zum Stadtteil wird hier die Förderung der Teilhabe und soziale Integration aufgeführt. „Bei der Aktivierung der örtlichen Potenziale kommt der Öffnung der Schulen zum Stadtteil und der Einbeziehung von Migrantenselbstorganisationen ein wichtiger Stellenwert zu“ (ebda.:5). In diesem Zusammenhang wird die Einrichtung eines Stadtteilmanagements, Stadtteilbüros oder Bildung von Stadtteilbeiräten, genannt. Geeignete Räume mit personeller Betreuung für das kulturelle und gesellschaftliche Leben verschiedener ethnischer Gruppen im Quartier sollen einen Beitrag zur Verbesserung der sozialen, kulturellen, bildungs- und freizeitbezogenen Infrastruktur leisten (ebda.:7). Der Punkt Lokale Wirtschaft, Arbeit und Beschäftigung geht darauf ein die vorhandenen Ressourcen zu stärken oder ggf. aufzubauen, weil „…in den Quartieren, in denen es jedoch kaum Ansätze für eine Förderung einer ‚privaten lokalen Ökonomie’ gibt, bleibt nur die Möglichkeit einer staatlich finanzierten bzw. durch Arbeitsplätze des zweiten Arbeitsmarktes abgestützten ‚sozialen lokalen Ökonomie’ “ (ebda.:6). Die Ziele unter dem Punkt „Wohnen“ enthalten neben Modernisierung, Instandsetzung und der Verbesserung des Wohnwertes, die Sicherung preiswerten Wohnraums, den Schutz der Bewohner vor Verdrängung, den Erhalt gemischter Bevölkerungsstrukturen, die Unterstützung aktiver Nachbarschaften sowie die Stärkung der Identifikation der Mieter mit Wohnung und Wohnumfeld. Da (vor allem in Großwohnanlagen) „...das Ausmaß der sozialen Probleme sowie die ethnische Vielfalt der Bewohner drohen, die Integrationskraft der Bewohner zu überfordern“, müsse die „Quartiersentwicklung in den Problemstadtteilen“ (ebda.:10) durch bauliche und wohnungswirtschaftliche Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität der Wohngebiete beitragen. Als letztes ist der Punkt „Wohnumfeld und Ökologie“ genannt, der (u.a.) auf eine Verbesserung des Wohnwertes durch Aufwertung des Wohnumfeldes, eine bessere Nutzung und Gestaltung von Freiflächen, sowie mehr Sicherheit und Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum abzielt. Hier werden als typische 56 Maßnahmen beispielsweise die Neu- und Umgestaltung von Plätzen, Straßenräumen, Gewässern, Ufern, Parkanlagen und Treffpunkten genannt, sowie gruppen- und altersspezifische Spiel- und Sportplätze. Das Quartiersmanagement gilt als Schlüsselinstrument zur Umsetzung des Programms „Soziale Stadt“ und als strategischer Ansatz zum systematischen Aufbau von selbsttragenden sowie nachhaltig wirksamen personellen und materiellen Strukturen im Quartier. Brachliegende Ressourcen der Bevölkerungsgruppen sollen aktiviert werden. Für junge Menschen in den Quartieren wurden spezielle Partnerprogramme der „Sozialen Stadt“ in Kooperation mit der Jugendhilfe initiiert, wie „Entwicklung und Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunkten“ (E&C, 2000- 2006) und dessen Nachfolgeprogramm „Lokales Soziales Kapital (LOS, ab 2007)“ Das Programm „Soziale Stadt“ versteht sich selbst als „lernendes Programm“. Durch einen permanenten Informations- und Erfahrungsaustausch der an der Umsetzung des Programms Beteiligten soll das Programm weiterentwickelt und verbessert werden. Besonders die Ergebnisse der umfangreichen bundesweiten Zwischenevaluierung 2004 und die davon abgeleiteten Empfehlungen zeigten die Probleme in der Umsetzung aber auch die Chancen und Wirksamkeit des Programms. In der vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung regelmäßig initiierte Veranstaltungsreihe „Fachpolitische Dialoge zur Sozialen Stadt“ stand am 25. Oktober 2007 (4. Fachdialogs) die Frage im Mittelpunkt wie die Integration von Zuwanderern im sozialräumlichen Kontext des Quartiers gefördert werden kann. Die Auswahl des Themas trug zum einen der Tatsache Rechung, dass die Zwischenevaluierung 2004 gezeigt hat, dass hier zusätzlicher Handlungsbedarf besteht, „…zum andern hat dieses Thema inzwischen auch auf der politischen Ebene mit den im Bundeskanzleramt im Juli 2006 und im Juli 2007 durchgeführten ‚Integrationsgipfeln’ einen noch höheren Stellenwert erhalten“ (Großmann 2007:3).1 Etwa 95 Akteure der Sozialen Stadt, aus Politik, Verwaltungen von Bund, Ländern und Kommunen, Fachverbänden und der Fachöffentlichkeit diskutierten über Fragestellungen wie die Möglichkeiten der Förderung von Integration vor Ort, 1 Achim Großmann, (Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Berlin) „Integration und Soziale Stadt“ beim 4. Fachpolitischer Dialog zur Sozialen Stadt –Integration von Zuwanderern vor Ort, Auswertungsbericht (November 2007) 57 Erkenntnisse und Empfehlungen seitens der Wissenschaft zur sozialräumlichen Integration von Zuwanderern, thematischen Handlungsfelder bei der Querschnittsaufgabe Integration und die Anforderungen an die Kooperation von verantwortlichen Akteuren (Auswertungsbericht 2007:2)1. Aufschlussreich im Zusammenhang dieser Arbeit erscheint der Redebeitrag von Erol Yildiz (Erziehungswissenschaftlichen Fakultät, Universität Köln), hier die im Auswertungsbericht publizierte Zusammenfassung (Yiliz 2007:7 ff.)2: „(…) In der Diskussion um Integration komme oft zu kurz, was im Alltäglichen passiere und was die Migrantinnen und Migranten selbst zur Integration beitrügen. Die Diskussion um das urbane Zusammenleben geschehe statt aus der lebensweltlichen Perspektive in erster Linie auf systemischer Ebene (Bildung, Arbeitsmarkt), in die Migrantinnen und Migranten nur sehr mangelhaft eingebunden seien. Insofern sei damit immer ein Blick von außen verbunden. Daher erführen beispielsweise die Strategien, die Migrantinnen und Migranten entwickelt haben, um trotz dieser fehlenden Einbindung an den Prozessen in ihren Stadtteilen teilzuhaben, nicht in ausreichendem Maße Anerkennung (…)“ Yildiz spricht hierbei die problematischen Sichtweisen „von außen“ an, insbesondere deren Auswirkung auf die Handlungsebene, wie sie auch beim „4. Fachpolitischer Dialog zur Sozialen Stadt“ praktiziert wird. Er fordert aber eine „Innenbetrachtung“, was „im Alltäglichen“ passiert und welche Rolle den Migranten als aktive Akteure beim Thema Integration zukommt und welche anerkennenswerte Leistungen täglich vollbracht werden und schon wurden. (…) „Stattdessen werde in der Öffentlichkeit das Bild von Parallelgesellschaften gepflegt, in denen die Zuwanderergruppen in der „Kulturkolonie“ oder gar im Ghetto lebten. Dieser Mythos diene dazu, die Vielfältigkeit der Alltagswelten „aufzuräumen“ und impliziere, dass Integration von den Migrantinnen und Migranten nicht gewünscht sei. Die damit verbundene Bestrebung, „eindeutige“ ethnische Zuordnungen vorzunehmen, stoße angesichts des wachsenden Anteils multiethnischer Biografien aber an ihre Grenzen. Stattdessen gelte es die Relevanz lebenspraktischer Multikulturalität im Integrationsprozess stärker zu würdigen. Das Leben mit unterschiedlichen Identitäten könne in einer globalisierten Welt durchaus als Kompetenz angesehen werden.(…)“ Hier geht Yildiz auf die Fremdzuschreibungen der „Mehrheitsgesellschaft“ ein und deren unzulässigen Vereinfachungen der Vielfältigkeit. Er fordert, die heterogene Konstellation von „modernen Gesellschaften“ und die Sprengung des klassischen 1 2 4. Fachpolitischer Dialog zur Sozialen Stadt –Integration von Zuwanderern vor Ort, Auswertungsbericht (November 2007) Erol Yildiz (Erziehungswissenschaftlichen Fakultät, Universität Köln) „Sozialräumliche Integration von Zuwanderern“ beim 4. Fachpolitischer Dialog zur Sozialen Stadt –Integration von Zuwanderern vor Ort, Auswertungsbericht (November 2007) 58 Kulturbegriffs hin zur „lebenspraktischen Multikulturalität“ anzuerkennen und der Umgang damit als Kompetenz anzusehen. (…)“Als Beispiel dafür führte er die Kölner Keupstraße an, ein Einwandererviertel, das in der Stadtöffentlichkeit immer als Ort der Parallelgesellschaft wahrgenommen werde. Andererseits hätten die Migrantinnen und Migranten ganz wesentlich zur Modernisierung und Urbanisierung der Straße beigetragen, indem sie beispielsweise leer stehende Läden nutzten. Im Gegensatz zur öffentlichen Wahrnehmung sei die Straße zu einem integralen Bestandteil des urbanen Quartiers Köln-Mülheim geworden und könne aus der lebensweltlichen Perspektive ihrer Bewohner als Erfolgsgeschichte für den Wandel zu einem postmodernen Quartier bezeichnet werden. Dies gelte auch in Bezug auf die Integration, allerdings in der Weise, dass die Integration von Deutschen in das türkisch geprägte Quartier ganz gut klappe. Dr. Yildiz zitierte in diesem Zusammenhang einen Mülheimer Bewohner mit den Worten: ‚Man ist hier integriert. Jetzt, als Deutscher ist man hier schon integriert, das ist ja schon paradox. Wir gehen ja nur in türkische Geschäfte, wir gehen ja nur hier einkaufen’. Nur aus einem solchen alltagsbezogenen Blickwinkel heraus, so die These von Dr. Yildiz, könnten die Entwicklungspotenziale und Chancen für städtische Quartiere wahrgenommen werden, die Einwanderung und Diversität als wesentliche Elemente urbanen Zusammenlebens mit sich brächten. Statt einer problematisierenden Sichtweise fordert er die Akzeptanz von Migration und Multikulturalität als Alltagsnormalität (Motto: „Wir leben das“), wie sie in Folge des demographischen Wandels in Zukunft noch weiter an Bedeutung gewinnen werde. (…)“ Hier spricht er das „Reagenzglas Stadt“ an, bei dem Einwanderung und Diversität die Grundvoraussetzung von Urbanität ist. Die Forderung nach Akzeptanz der „Alltagsnormalität“ und dementsprechend die Modifikation der „mentalen Modelle“ sind nicht nur aus demographischer Sicht vonnöten, sondern auch für funktionierende „postmoderne Gesellschaftsformen“. Häußermann (2006) kritisiert allgemein am Programm „Soziale Stadt“ die begrenzte Reichweite. Es gäbe den Städten zwar „Instrumentarien an die Hand“ um „städtebaulichfunktionale Probleme“ zu lösen, aber ein Programm, dass auf die ganzheitliche Quartiersentwicklung abziele, wäre auf „Kooperation mit anderen Ressorts angewiesen…“. Ein Programm vom Bauministerium finanziert, würde sich natürlich in der Organisation der Quartierspolitik widerspiegeln, d.h. Ingenieure in den Stadtplanungsabteilungen treffen die Entscheidungen, doch „…bauliche Investitionen sind sicher nützlich, tangieren aber nur selten den Kern der Quartiersprobleme.“ 59 Falls die Ursachen von Quartiersproblemen lediglich als bauliche Gründe definiert werden, hat die Stadtpolitik „…ihre Schuldigkeit getan, wenn die Investitionsmittel planmäßig verbaut sind. Dafür, dass die Bewohnerinnen und Bewohner danach immer noch unter Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit leiden, dass die Kinder der Migranten immer noch nicht gut Deutsch sprechen, muslimische Mädchen immer noch nur unter Aufsicht die Wohnung verlassen dürfen und dass sich die Jugendlichen in Banden organisieren, damit überhaupt etwas los ist am ereignisarmen Stadtrand - dafür kann ja die Stadtplanung nichts (…)“ (Häußermann 2006). 4.2 Integrationsmikrokosmos „Sozialraum“ und die konzeptionelle „Orientierung“ der Jugendhilfe „Wer den Sozialraum nicht in seinen Werbeflyern an prominenter Stelle abdruckt, ist nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Handbücher und Hilfen, Träger und Tagungen sind sozialräumlich geworden, obgleich…es den Sozialraum als physischen Raum überhaupt nicht gibt“ (Budde/Früchtel 2006:2).1 Ausgehend von der Begrifflichkeit und den Bedingungen im Quartier, ist die Definition von „Sozialraum“, wie sie auf den Flyern gebraucht wird, nicht eindeutig. Hinte (2006)2, sieht in dem Begriff und seiner Verwendung als Konzept in der sozialen Arbeit eine doppelten Sinn. Zum einen beschreibt er den Menschen in seiner individuellen Lebenswelt und wie er diese wahrnimmt und für sich selbst subjektiv konstruiert. Sozialräume gibt es demnach so viele, wie es auch Individuen gibt. Bedeutsam hierbei ist „…die Art und Weise, wie sich Menschen etwa ein räumliches Gebiet aneignen, (…) , wie sie es für sich nutzen, wie sie mit seinen Einschränkungen umgehen, wie sie es herrichten (…) und wie sie es anreichern…“. Diese individuellen Sozialräume können sich mit anderen individuellen Sozialräumen in der Bevölkerung überlappen und so zu einem gemeinsamen „Sozialraum“ werden. „Dort bilden sich sozialräumlich identifizierbare Interessen, Problemlagen und Ausdrucksformen von Alltagskultur ab…“. 1 2 Budde, W./ Früchtel, F. „Ebenen, Ziele und Methoden sozialraumorientierter Sozialer Arbeit“ 2006 Hinte, W „Sozialraumorientierung – Fachliche Grundlagen und Entwicklungschancen in der kommunalen Jugendhilfe“ in Herrmann, K. „Leuchfeuer querab! Wohin steuert die Sozialraumorientierung?“ Westkreuz-Verlag Berlin/Bonn 2006 60 Stadtteile, Strassen, Dörfer und Bezirke können demnach in der Selbstbeschreibung der Bevölkerung als „unser gemeinsamer“ Sozialraum gesehen werden (Hinte 2006:72/73). Zum anderen wird die Begrifflichkeit „Sozialraum“ von Institutionen als Steuerungsgröße für ein bestimmtes (Wohn)-Gebiet herangezogen. Angelehnt an die sozialen Schnittmengen und zum „gemeinsamen“ Sozialraum hin ausgerichtet, werden von Verwaltungen Sozialräume „zugeschnitten“. Dass diese Räume nie ganz den individuellen Sozialräumen entsprechen, liegt auf der Hand, denn „…Jede Bezirksschneidung ist ein Kompromiss…“ zwischen den „…wechselnden Definitionen der Bevölkerung, den sichtbaren materiellen Abgrenzungen und den bürokratischen Erfordernissen…“ (ebda.:73). Berlin hat dieser Dualität des Begriffes inzwischen Rechnung getragen. Die im Zuge der Einführung des Sozialraumorientierungskonzeptes in der Jugendhilfe segmentrentierten Stadtteile werden nicht mehr „Sozialräume“ genannt, sondern ab Januar 2008 wählt man die geeignete, weniger verwirrende weil geographische Bezeichnung, „Regionalräume“. Doch was bedeutet die postmoderne Bezeichnung auf den Werbeflyern: „Wir arbeiten sozialraumorientiert“? Ausgehend von der Überlegung des individuellen Sozialraumes und des Prozesses der Aneignung eines räumlichen Gebietes durch das Individuum müsste demnach jener Aneignungsprozess in der sozialraumorientierten Jugendarbeit das perspektivische Arbeiten bestimmen. Neben dem öffentlichen Raum werden auch Institutionen wie die Schule oder die Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit von Kindern und Jugendlichen angeeignet (Deinet 2007:1)1. 2 1 2 Ulrich Deinet „Orientierungsebenen und Bildungsbegriffe in Schule und Jugendinformation“ 2007 Das Inselmodell nach Helga Zeiher in Ulrich Deinet „Die Bedeutung von Kooperation für den Erfolg derOffenen Ganztagsgrundschule“ in „Jugendhilfe aktuell“ Landschaftsverband Westfalen-Lippe 3/2004 61 4.2.1 Aneignung ihres Sozialraumes durch die Jugendlichen „Die Aneignung ihrer jeweiligen Lebenswelt als schöpferischer Prozess der eigentätigen Auseinandersetzung mit der gegenständlichen und symbolischen Kultur der Gestaltung und Veränderung von Räumen und Situationen – sozusagen die Bildung des Subjektes im Raum – wird wesentlich beeinflusst, gefördert oder eingeschränkt durch die sozial-strukturellen Bedingungen von Dörfern, Wohnquartieren, Stadtteilen, Regionen“ (Deinet 2007:5). Die Aneignung der konkreten Lebenswelten und Sozialräume soll hier exemplarisch am Beispiel der Aneignung des öffentlichen Raumes dargestellt werden. Relevant für diese Arbeit sind hierbei die subjektiven Erlebnis- und Handlungsweisen der Jugendlichen mit Migrationshintergrund in den sogenannten „sozialen Brennpunkten“. Hierbei ergeben sich geschlechtlich stark differenzierte Handlungsmuster. Männliche Jugendliche können sich viel freier als ihre weiblichen Geschwister in ihrer unmittelbaren Umgebung bewegen. Bei den Mädchen, insbesondere in der Adoleszenz, sind viel stärkere Kontrollmechanismen am Werke. Außerfamiliäre Aktivitäten müssen in der Familie oftmals gerechtfertigt und begründet werden. „Türkische Mädchen vermeiden es z.B. ihre Freizeit zu Hause zu verbringen, indem sie sich neue, ihrer Persönlichkeit angemessene ‚Arbeitsverpflichtungen’ ausdenken, wie Sprachen lernen, Fortbildungskurse usw.(…)“ (Viehböck/Bratic 1994:150). Obwohl davon auszugehen ist, dass Mädchen viel kreativer sein müssen bei der Begründung ihrer „Außenaktivitäten“, kann nach Viehböck und Bratic nicht davon ausgegangen werden, das ihr Freizeitverhalten sich nur auf das oft zitierte stereotypische „Im Haushalt helfen“ beschränkt (ebda.:150). Allgemeinen Zuschreibungen für die „muslimischen Mädchen“ können hier nicht vorgenommen werden, denn „…das einzige tatsächliche Verbot, dem türkischen Mädchen unterliegen, ist vorehelicher Geschlechtsverkehr“ (ebda.:151). Freizeitaktivitäten von männlichen und weiblichen Jugendlichen, insbesondere mit muslimischem Migrationshintergrund, finden aber meist geschlechtsgetrennt statt. 62 Für die männlichen Jugendlichen ist ihr Stadtteil bzw. ihr Kiez, sprich das Umfeld ihres Wohnhauses, ihr Lebensmittelpunkt und „Aufenthaltsraum“ wo sie ihre Freizeit verbringen können. Freizeit ist hierbei nicht unbedingt die „freie Zeit“, sondern „beinhaltet (…) die Komponente des ‚Wartens auf Etwas’, warten auf Beschäftigung…“ (ebda.:151). Freizeit ist nicht gefüllt, sondern muss erst gefüllt werden, dies geschieht durch die Erforschung von Möglichkeiten, durch „spazieren gehen“ in ihrer Umwelt (ebda.:151). Das Füllen der freien Zeit, den „Leerraum“, kann sich hierbei, wie in der Einleitung formuliert, auch durch das „…Banden bildend die Strassen unsicher machen…“ bemerkbar machen. Von der familiären Wohnsituation gelöst, der oftmals von beengtem Wohnraum gekennzeichnet ist, sind Straßenecken, sind öffentliche Parks, Grünflächen und Sportanlagen eine wichtige Alternative. Die Aneignung von öffentlichen Räumen durch die Gruppen von Heranwachsenden kann somit als Reaktion auf einen Mangel an speziellen Räumen für Jugendliche betracht werden. Die Angebote im Bereich der offenen Jugendarbeit (falls die Gelder hierfür nicht schon ganz gestrichen wurden) sind überschaubar und nicht für jedes Individuum geeignet, aus verschiedensten Gründen. Der öffentliche Raum wird von den jungen Männern daher genutzt und demzufolge auch „gestaltet“. Die Gestaltung und Veränderungsprozesse im Stadtbild werden von den bürgerlichen Erwachsenen unter der Überschrift „Verwahrlosung des öffentlichen Raumes“ oder „Vandalismus“ wahrgenommen: Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Graffiti (Bilder von links) 1.Graffitientfernung mittels Schwingschleifer in Berlin; 2. Ein sogenanntes Throw-Up in einer U-Bahn-Station in Düsseldorf; 3.Graffiti in einem Berliner Hinterhof 63 Allerdings erfüllt der von einer Gruppe von Jugendlichen z.B. temporär angeeignete Kleinfeldfußballplatz zwischen den Häuserblocks für die Jugendlichen neben der „Zweckbestimmung“ des Raumes für Spiel und „action“ auch das Bedürfnis nach Selbstbestimmtheit. Freiräume ohne Beaufsichtigung, „einen Platz nur für sich haben“, „keiner quatscht einem rein“, keine Verpflichtungen, Beschränkungen oder Sanktionsgefahr: „rumpöbeln“, „andere anmachen“, „provozieren“, sich wehren, laut sein, Kräfte testen etc. Die überdachte Bushaltestelle oder der U-Bahneingang wird zum Schutz- und Rückzugsraum: abgeschieden, überdacht, „nicht gesehen werden“, „unter sich bleiben können“, „ungestört rauchen – kiffen –saufen können“ etc. Die Ecke im Park wird zum Treffpunkt für Austausch und Orientierung: miteinander quatschen, Infos austauschen, abhängen, „dort ist immer jemand, einer von der Crew“, Bestätigung des Ausgrenzungsgefühls etc. Diese Räume im „urbanen Dschungel“ werden von den Jugendlichen angeeignet. Die „Verschmutzungen“ sind somit mehr als eine „Langeweile -und Frustentladung“ oder Zeichen für ein „schlecht erzogenes asoziales Verhalten“, sie markieren vielmehr ihren Lebensraum. Eine Selbstdarstellung die sich in sprayen, scratchen und ritzen an Objekten kundtut. Sie hinterlassen Spuren, sind deshalb existent und werden gesehen auch wenn sie nicht vor Ort sind. Diese von der Hip-Hop Kultur und insbesondere von der Bandensubkultur in den U.S.A entliehen Form der Markierung des Territoriums einer Straßenbande gilt als ein zentrales Ausdrucksmittel urbanen Lebensgefühls und finden daher speziell unter männlichen Jugendlichen häufig Anerkennung. In diesem funktionalen Zusammenhang erhält die Tendenz der „Verwahrlosung und Zweckentfremdung des öffentlichen Raumes“ besonders in den „Problemvierteln“ natürlich eine andere Dimension. Der Tatbestand des „Vandalismus“ kann somit umgedeutet werden in eine nicht zwangsläufige böswillige Handlung, sondern in eine neutrale „Veränderung“ und damit Aneignung oder in Besitznahme des Sozialraumes. 64 Für die sozialraumorientierte, insbesondere der Jungen(sozial)arbeit kann dies ein Handlungsfeld sein. Sie kann dieser Tatsache der Aneignung Rechnung tragen und z.B. die Gestaltung des Raumes durch Projekte steuern und dadurch auch eine gesellschaftliche Einbettung der Aneignungsprozesse bewirken; z.B. durch: „Schaffung von Freiflächen im öffentlichen Raum zur Förderung des legalen Graffiti. Damit kann nicht verhindert werden, dass einige Writer auf nicht genehmigten Flächen arbeiten, aber dies ist nur konsequent, um den Kindern und Jugendlichen glaubwürdig vermitteln zu können, dass sie nicht ohne Erlaubnis im öffentlichen Raum arbeiten dürfen.“ „Durchführung von Wettbewerben mit entsprechenden Flächen“ „Gestaltung von öffentlichen und privaten Flächen durch Sprayer“ (Wikipedia).1 Für Mädchen erscheint es in dem Zusammenhang wichtig institutionelle, organisierte Freizeitmöglichkeiten anzubieten. Offene Jugendarbeit, wie sie bei den Jungen auch durch „Streetwork“ zu erreichen scheint, kann bei den Mädchen nicht funktionieren, da sie auf „begründete Außenaktivitäten“ angewiesen sind. Für beide gilt allerdings gleichbedeutend, dass Projekte die „...die Erfahrung von Selbstwirksamkeit“ fördern, die Teilhabe und Mitbestimmung ermöglichen, angestrebt werden sollten. Durch „Selbermacherprojekte“ ihren Sozialraum gestalten zu können, erscheint insbesondere unter integrativen Gesichtspunkten entscheidend (Kinderreport 2007:215).2 Soviel zum exemplarischen Prozess der Aneignung des individuellen Sozialraumes, hin zur Steuerungsgröße „Sozialraum“ und der konzeptionellen Verankerung der „Sozialraumorientierung“ in Institutionen. 4.2.2 Sozialraumorientierung – und budgetierung Das Konzept der „sozialraumorientierten Sozialarbeit“ ist keine neue Erfindung. Vielmehr nimmt es Methoden und Erkenntnisse der Gemeinwesenarbeit auf und modifiziert diese (Hinte 2006:72). 1 2 http://de.wikipedia.org/wiki/Graffiti Kinderreport Dtschl. 2007 65 „Steuerungstechnisch gesehen ergänzt bzw. löst der Sozialraum insbesondere in der kommunalen Bürokratie als Steuerungsgröße das Amt, die Abteilung, die Immobilie oder den Einzelfall ab“ (ebda.:74). Hier als Beispiel die Segmentierung des Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg in Berlin: Quelle: http://www.berlin.de/ba-friedrichshain-kreuzberg/verwaltung/org/jugendamt/ Und hier die nähere Ansicht der Region 1 (damals Sozialraum1). Eingezeichnet sind die im „Sozialraum“ vorhandenen Schulen: Quelle: 3. Jugendhilfebericht 2006, Sozialraum 1, Berlin Friedrichshain-Kreuzberg Auf der Internetseite1 des Berliner Senats wird das Konzept der „Sozialraumorientierung“ als Unterpunkt von „Sozialpolitik“ näher beschrieben. Nach ein paar einleitenden Worten folgen die „Leitgedanken für die fachlichen Methoden“, angelehnt an Hinte. Zitiert werden soll in dieser Arbeit allerdings „das Original“, die „methodischen Prinzipien“, obwohl er, wie er selbst schreibt, schon so oft „…darüber geredet und geschrieben…“ hat, dass es ihm „…gelegentlich gar peinlich…“ ist, „…zum zigsten male die entsprechenden Grundlegungen zu liefern“ (Hinte 2006:77). 1 https://www.berlin.de/sen/jugend/jugendpolitik/sozialraumorientierung.html 66 Nun gut, im Zuge dieser Arbeit muss dies noch mal geschehen: - „konsequenter Ansatz am Willen und an den Interessen der Wohnbevölkerung, - aktivierende Arbeit und Förderung von Selbsthilfe, - Konzentration auf die Ressourcen der im Quartier lebenden Menschen sowie der materiell-baulichen Struktur des Quartiers, - Zielgruppen- und bereichsübergreifender Ansatz, - Integration und Abstimmung der professionellen Ressourcen“ (Hinte 2002).1 In der Fachszene hat die Einführung des „Sozialraumkonzeptes“ für viel Wirbel gesorgt, aber auch eine heftige Auseinandersetzung mit dem Thema. Es kam gar zu einer Spaltung der Szene in „engagierte Befürworter“ und „grundsätzliche Kritiker“. Letztere Gruppe entstand, als es um Finanzierungsformen ging und die Idee des „Sozialraumbudgets“, wobei das Konzept der Sozialraumorientierung an sich nie in Frage gestellt wurde (Hinte 2006:79). Es zeigte sich, dass Finanzierung, die sich weg vom Fall und hin zum Raum orientiert, einer komplett neuen „mentalen Basis“ bei den Akteuren in der Sozialarbeit bedarf. Als interessante und nachvollziehbare „Partitur für Zukunftsmusik“ (vgl.5) bezeichnet Hinte die „…gelegentlich auftauchende Forderungen, Sozialraumorientierung sei doch nur realisierbar, wenn auch noch etwa die Bereiche Soziales, Wirtschaftsförderung, Arbeitsmarkt, Stadtentwicklung u.a. einbezogen würden…“ (ebda.:88). Hier sind interessante Überschneidungen von Willensbekundungen der Akteure des Quartiersmanagement feststellbar. 4.2.3 Integration mittels Bildung – Schule und Jugendhilfe im Stadtteil „Bildung ist die Schlüsselressource für ein gelingendes Leben in der Wissensgesellschaft, Bildungsgerechtigkeit ist damit wesentliche Voraussetzung für systemische Inklusion und lebensweltliche Integration“ (Handschuck/ Schröer 2006:1)2. 1 2 Hinte 2002 in Hinte, W „Sozialraumorientierung – Fachliche Grundlagen und Entwicklungschancen in der kommunalen Jugendhilfe“ in Herrmann, K. „Leuchfeuer querab! Wohin steuert die Sozialraumorientierung?“ Westkreuz-Verlag Berlin/Bonn 2006 Sabine Handschuck/Hubertus Schröer „Integration durch Bildung – Eine gemeinsame Aufgabe von Schule und Jugendhilfe“ 2006 67 PISA-Berichte und OECD-Studie, die Ergebnisse der international vergleichenden Untersuchungen haben mit Deutlichkeit die Defizite und Versäumnisse der deutschen Bildungspolitik zu Tage gebracht. Insbesondere den Zusammenhang von Schichtzugehörigkeit und Bildungschancen. Kinder und Jugendliche, die aus Familien mit niedrigem Sozialstatus stammen und davon vor allem die mit Migrationshintergrund, sind von Misserfolgen in schulischer und beruflicher Bildung überproportional stark betroffen (DIFU 2005:6).1 Nicht erst seit der bundesweiten Zwischenevaluierung 2004 zum Programm „Soziale Stadt“ hat sich das Handlungsfeld „Schule und Bildung im Stadtteil“ als zentral und intensivierungsbedürftig herausgestellt. Allerdings zeigte sich auf der „Fachtagung zur Sozialen Stadt, Bildung im Stadtteil“(2005), dass die Frage bisher unbeantwortet bleibt „…wie institutionelle Grenzen überwunden und Rahmenbedingungen geschaffen werden können, die eine systematische Vernetzung von Bildungs- und Quartierspolitik ermöglichen und fördern“ (DIFU 2005:6). Die Erkenntnis, dass „Bildung mehr als Schule ist“ (vgl. 11.Kinder- und Jugendbericht 2002), insbesondere dass die Übergänge von Kindergarten, Schule und Beruf oftmals defizitär sind, konnten bei den Beteiligten der Fachtagung im Konsens festgestellt werden. Dass die Vernetzung von Schulen, Betrieben, Kinder- und Jugendhilfe sowie Quartiermanagement unerlässlich ist, weil, „… die gegenwärtige bildungspolitische Misere ohne eine stärkere sozialräumliche Orientierung nicht zu bewältigen sein wird, darüber bestand weitgehend Übereinstimmung“ (DIFU 2005:6). Die Frage, nach Radtke, müsste darüber hinaus, bezogen auf die Schule im Stadtteil, sein, ob hinsichtlich der sozialen Integration „…die Schule (…) mit ihren ‚Output’ als Teil 1 Fachtagung zur Sozialen Stadt, Bildung im Stadtteil - Dokumentation der Veranstaltung am 30. Mai 2005 in Berlin, Arbeitspapiere zum Programm Soziale Stadt Band 11, Berlin, September 2005, Deutsches Institut für Urbanistik 68 des Problems“ angesehen wird, oder ob sie Teil der Lösung ist, die das Projekt des Stadtteilmanagements angestrebt. Geht man von dem Letzteren aus, würde man anfangen „…mit der Schule in Bezug auf die Aufgaben, die sich im Stadtteil in Sachen Integration stellen, zu kooperieren“ (Radtke 2005:23)1. Radtke geht allerdings davon aus, dass Kooperation bisher noch eher die Ausnahme ist. Denn spätestens seit PISA muss in Bezug auf Bildungserfolge oder Misserfolge das System „Schule“ genauer unter die Lupe genommen werden. PISA zeigte „…nämlich nicht Kausalitäten, sondern Korrelationen…“, d.h., dass mangelnder Schulerfolg nicht einfach nur den Ursachen Familien-, Schicht- oder Ethnienzugehörigkeit oder einem bestimmten Milieu zuzurechnen sind, sondern dass die Chancenverteilung als Systemproblem zu Tage tritt. Das „reflexartige“ intervenieren der Schulpolitik, das Ansetzten bei den Kindern und Familien mit Förderprogrammen ist somit nichts anderes als „Kompensationspädagogik“ (ebda.:24). Die in den „Problemvierteln“ beobachtbare Schulsegregation ist nach Ansicht von Radtke beispielsweise auf das Entscheidungsverhalten von vielen Akteuren zurückzuführen. Nicht nur die Eltern, sondern die Schule und die für die Schulen und das Quartier verantwortlichen Behörden sind für die Segregation, wenigstens im schulischen Bereich, und für das daraus resultierende Entstehen von „Parallelgesellschaften“ verantwortlich. „…Nicht von integrationsunwilligen Migranten (…), sondern von der deutschen Mittelschicht…“ geht in dieser Sichtweise das Problem aus. Zum einen von den Eltern, die die Auswahlmöglichkeiten des Schulsystem für ihre Vorteile nutzen und dadurch auch ihre Privilegien sichern, wie das Beispiel der Kreuzberger Akademiker zeigt. Zum anderen von den direkt in den Schulen arbeitenden Lehrern, die nachvollziehbar eher Schüler auswählen mit denen am problemlosesten gearbeitet werden kann, für ein gutes Profil und Bildungsniveau der Schule (ebda.:24/25). Die Behörden unterstützen diese Tendenzen, indem Regeln entworfen wurden „…nach denen Eltern eine Ausnahmebewilligung erreichen können, um den Schulbezirk, für den sie eigentlich eingeteilt sind, zu verlassen“ (ebda.:28). Die historische gesellschaftspolitische Idee, der am Anfang gesetzten Chancengleichheit durch die Integrationsfunktion der Grundschule, durch gesetzlich festgelegte Schuleinzugsbezirke garantiert, damit wenigstens in 1 Radtke, Frank-Olaf „Bildungsdefizite, Schulsegregation und das Integrationsinteresse der Kommunen“ Redebeitrag „Fachtagung zur Sozialen Stadt, Bildung im Stadtteil“ 2005 69 den ersten Schuljahren noch keine Selektion stattfindet, wird nicht mehr verwirklicht und dadurch die soziale Integration der gesamten Bevölkerung gefährdet. „Unser Befund ist, dass wir eine zusätzliche Entmischung – über die Entmischung der Wohnbevölkerung hinaus – derzeit bereits in der Grundschule beobachten können, dass also die Schüler schon vor (!) jeder Leistungsmessung sortiert werden auf bestimmte Schulen“ (ebda.:25). Diese entmischten Schulen sind dann ein Teil des Problems und nicht ein natürlicher Teil der Lösung der städtischen Integrationsaufgaben. Zur Kompensation der Segregation und dadurch der Desintegration und deren Folgen muss dann die Kinder- und Jugendhilfe oder das Stadtteilmanagement aktiv werden. „Die Schule produziert Probleme, etwa Schulmisserfolg, Schulabbruch, Demotivierung; dann tritt die Kinder- und Jugendhilfe auf den Plan und darf um die Schulen herum einen Kranz von Hilfeeinrichtungen bilden, der dann die Misserfolge des Systems wieder kompensiert. … hier kann man (…)wechselseitig parasitäre Verhaltensweisen beobachten, die sich auf Dauer gegenseitig stabilisieren“ (ebda.:28). Radtke fordert ein lokales Bildungs- und Integrationsmanagement als Verbund von Kinder- und Jugendhilfe, sowie eine zielorientierten pädagogische Schulentwicklungsplanung. Die paradoxe Situation, dass den Schulen die finanziellen Ressourcen gekürzt werden, muss an anderer Stelle wieder durch Jugendhilfe, Quartiersentwicklung, Arbeitsagenturen etc. kompensiert werden. Die von PISA erbrachten Ergebnisse zeigen, dass die aktuellen pädagogischen und sozialen Herausforderungen, insbesondere das Problem der Chancenungleichheit von Kindern mit Migrationshintergrund, ohne Abstimmung und Kooperation der verschiedenen pädagogischen Akteure, nicht bewältigt werden können. Bildung muss nicht nur in der herkömmlichen Institution Schule vermittelt werden, sondern auch im sozialen Umfeld und anderen Orte des Lernens. Dabei wurde Bildung und Erziehung in Deutschland gern als zwei getrennte institutionell verankerte Bereiche gesehen. Nämlich das Nebeneinander von Schule und Sozialer Arbeit. Von diesem Paradigma hat sich die Kinder- und Jugendhilfe im Hinblick darauf, dass sie verstärkt die Konsequenzen von misslungenen Bildungsverläufen „ausbaden“ muss, inzwischen gelöst. Denn „Bildung ist“, wie schon die Fachtagung bestätigte, „mehr als Schule“. 70 „Gelingende Lebensführung und soziale Integration bauen ebenso auf Bildungsprozesse in Familien, Kindertageseinrichtungen, Jugendarbeit und der beruflichen Bildung auf. Auch wenn der Institution Schule ein zentraler Stellenwert zukommt, reicht Bildung jedoch weit über Schule hinaus“ (Handschuck/ Schröer 2006:1). In diesem Teil der Arbeit soll sich der Blick auf die Schnittstelle oder auf einen möglichen Kooperationspunkt zwischen den beiden Institutionen beschränken. Das Feld der Schulsozialarbeit bzw. schulbezogenen Sozialarbeit als gemeinsames Aufgabengebiet. Diese Beschränkung folgt nicht Ansichten über Wertigkeiten, da z.B. Berufsvorbereitung oder berufsbezogene Jugendhilfe mindestens ebenso wichtig erscheinen, sondern im Feld der Schulsozialarbeit wird am deutlichsten wie die „mentalen Modelle“ der pädagogischen Akteure den realen Anforderungen oftmals konträr gegenüber stehen. Das Funktionieren der eingeforderten Kooperation mit anderen Institutionen, wie beispielsweise dem Quartiersmanagement, kann hierbei Modell stehen. Rechtliche Grundlagen für die Zusammenarbeit ist § 81 SGB VIII. „Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe haben mit anderen Stellen und öffentlichen Einrichtungen zusammenzuarbeiten, deren Tätigkeit sich auf die Lebenssituation junger Menschen und Ihrer Familien auswirkt“. Schulsozialarbeit wird hierbei im speziellen durch § 11 SGBVIII als „Schulbezogene Jugendarbeit“ und § 13,1 SGBVIII als „Hilfen, die die schulische und berufliche Ausbildung und soziale Integration fördern sollen“, begründet. Die Grundlage für die Arbeit mit Migrantenkindern kann aus beiden abgeleitet werden, als „internationale bzw. interkulturelle Jugendarbeit“ in § 11 (3) und in § 13 SGB VIII als „die Förderung sozial benachteiligter und individuell beeinträchtigter Jugendlicher“, unter die, nicht erst seit PISA, Jugendliche mit Migrationshintergrund fallen. „In der Praxis kommt es jedoch zwischen den beiden institutionellen Systemen, die sich historisch unabhängig voneinander herausgebildet haben - wenn überhaupt - nur zu punktuellen und sporadischen Kooperationen. Sie kooperieren in den meisten Fällen nicht miteinander, sondern stehen oftmals in einem Spannungsverhältnis oder in Konkurrenz, die sich aus unterschiedlichen Zielvorstellungen ergibt“ (Kohlmeyer/Mauruszat 2006:17)1. 1 Kohlmeyer, Klaus/Mauruszat, Regine „Kooperation von Schule und Jugendhilfe“ 71 Diese Zielvorstellungen oder auch „fachlichen Orientierungen“, die auch ein bestimmtes Rollenverständnis der pädagogischen Akteure offenbaren, zeigen sich vor allem in den unterschiedlichen methodischen Ansätzen. Während die Jugendhilfe das „ganzheitliche Erfahrungslernen“ im Zentrum ihrer Bemühungen sieht, steht in der Schule und damit bei den Lehrern das „kognitive Lernen“ in Form von Wissensvermittlung im Vordergrund. Für die Schulsozialarbeit sind das nicht zwangsläufig entgegengesetzte Grundpositionen. Reibungspunkte ergeben sich im Detail. Die Sozialpädagogen sehen sich als Ansprechpartner bei individuellen Problemen, als Vertrauensperson, die beraten, betreuen und unterstützen. Diese Rolle und dieses Rollenverständnis kann aber auch der Lehrer einnehmen (wollen) und demzufolge kann es zu einer Konkurrenzsituation kommen (Handschuck/ Schröer 2006:2). Auf der ganz konkreten formalen Ebene wird der Schule oftmals vorgeworfen die Schulsozialarbeit als eine Willkommene Möglichkeit zu sehen um den Schulalltag zu entlasten. Nicht in Form von individueller Hilfe, sondern als „Füllung“ von Freistunden oder als Krankheitsvertretung. Hier zeigt sich ein unklarer Erwartungsabgleich oder schlichtweg unzureichende Information über Sinn und Zweck und Arbeitsfeld der Jugendhilfe in der Schule. Die zukommende Rolle der Sozialpädagogen, die vorsieht stellenweise als „Anwalt“ für die Kinder und Jugendlichen zu fungieren, kann zu Irritationen auf beiden Seiten führen. Nach dem Motto: „Auf welcher Seite steht ihr eigentlich?“ Diese vermeintliche oder tatsächliche „Schulkritik“ von sozialarbeiterischer Seite wirkt sich natürlich nicht begünstigend auf ein gutes Kooperationsverhältnis aus. Ein gestörtes Verhältnis, das sich dahingehend auswirken kann, dass für schulpädagogische Fragestellungen und Kooperationsmöglichkeiten keine Zeit eingeräumt wird, was oft noch durch das Fehlen von personeller Kontinuität, durch befristete Stellen etc. auf Seiten der Schulsozialarbeit, verstärkt wird (Kohlmeyer/Mauruszat 2006:17). Hier besteht Handlungsbedarf, insbesondere im Hinblick darauf, dass Risiken oder Fehlentwicklungen in der sozialen, beruflichen und folglich der gesellschaftlichen Integration sich meist bereits im frühen Schulalter ankündigen, und sich familiäre und/oder soziale Problemlagen natürlich auch auf in der schulischen Entwicklung Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitungzum Modellprojekt „Berufs- und arbeitsweltbezogene Schulsozialarbeit“ 2006 72 bemerkbar machen. Schulsozialarbeit hat insbesondere in den „entmischten“ Schulen Jugendlichen mit Migrationhintergrund als Klientel. Erziehungsberatung, Familienhilfe oder allgemein Elternarbeit scheint im Hinblick auf die aktuellen Integrationsdebatten an Wichtigkeit zuzunehmen. „Hier hat Jugendhilfe im Vergleich mit der Schule eine ganz eigenständige Kompetenz, weil die sozialpädagogische Ausbildung und der Auftrag des Kinder- und Jugendhilfegesetzes besondere Möglichkeiten offensiver Familienarbeit ermöglichen…“ „…auch ist Erziehungsberatung vor allem dann erfolgreich, wenn sie interkulturell ausgerichtet ist und Personal mit Migrationshintergrund zur Verfügung steht“ (Handschuck/ Schröer 2006:5). Die PISA- Ergebnisse und die Erkenntnisse daraus haben nicht nur Diskussionen ausgelöst sondern haben auch Bewegung in die deutsche Bildungslandschaft hervorgebracht. Reformprojekte werden und wurden in Gang gesetzt. Es gibt die „Leuchttürme der Pädagogik“, Schulen, die mit der Realität Deutschlands als Einwanderungsgesellschaft gelernt haben umzugehen. Schulen, die sich als „Gemeinschafts- bzw. Gemeinwesenschule im Quartier“ sehen, die die geforderte „…intensive Zusammenarbeit und Kooperation mit außerschulischen Institutionen und ExpertInnen“ pflegen und dementsprechend das soziale Umfeld der Schule mit einbeziehen (Engin/Walter 2006:119)1. Dies sind wichtige positive Signale für weitere „Meilensteine“ einer „Zukunftspartitur“. 5. „Zukunftspartitur“ – ein kultursensibles „Jugend im Kiez- Netzwerk“ Um den Kreis zu schließen und das Erkenntnisinteresse in der Einleitung (vgl.1) einzurahmen, beginnt das Fazit und der „Ausblick“ dieser Arbeit mit den bisherigen Resultaten des „Kiezläufer- Projekt“ in Berlin- Kreuzberg. Das Ergebnis vorab: die… 1 Havva Engin / Sven Walter „Leuchttürme der Pädagogik“ :Porträts erfolgreicher interkultureller Bildungsarbeit an Berliner Kindertagesstätten und Schulen in sozial benachteiligten Quartieren, Der Beauftragte des Senats von Berlin für Integration und Migration 2006 73 „Kiezworker laufen weiter Das umstrittene Kiezläufer-Projekt in Kreuzberg wird verlängert – und soll auf den Wassertorplatz ausgeweitet werden. Das Projekt soll keine Konkurrenz zur professionellen Sozialarbeit sein“ (TAZ 6/2/08:22).1 Das als „Zukunftsmodell für die sogenannten Problemviertel“ (Deutschlandradio 14/11/07)2 von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung initiierte Projekt kann inzwischen auf ein halbjähriges Erfahrungswissen zurückgreifen und demzufolge kann auch eine erste Zwischenbilanz gezogen werden. Inzwischen ist das Projekt auf 6 Kiezworker angewachsen und wird bis zum Herbst 2008 weiter finanziert. Nach Aussagen vom Trägerverein Odak haben „…die Kiezworker bislang zu 30 bis 80 Jugendlichen auf der Straße einen Kontakt hergestellt und Treffen organisiert mit dem Ziel, deren ‚Bedarfe zu ermitteln’. 15 Jugendliche seien in Ausbildungsmaßnahmen vermittelt worden, 7 wollten ihren Schulabschluss nachholen. Eine Theater AG sei gegründet worden, eine Fußball AG und eine Jugend-Kiez AG seien im Aufbau“ (TAZ 6/2/08:22). Die Ergebnisse halten sich auch ohne genaueres Hinterfragen in Grenzen; werden allerdings von den Akteuren auch realistisch eingeschätzt. Man könne zwar nur „kleine Sachen“ bewegen, aber diese hätten „große Auswirkung“. Ein positives Fazit zieht auch die Polizei, die in das Projekt in Form von regelmäßig stattfindenden Erfahrungsaustauchtreffen eingebunden ist. Ein Rückgang der Kriminalität sei zwar nicht zu verzeichnen, allerdings wäre es auch „Quatsch“, das zu erwarten. Das subjektive Sicherheitsgefühl, das „Umgangsklima“, sei besser geworden. „Es gehe darum, die Prävention zu verbessern…“ (ebda.:22). Die Präsentation der „durchweg positiven Bilanz“ wird von den Medien und den professionellen Sozialarbeiter vor Ort mit Verwunderung wahrgenommen. Die Herangehensweise, in sozialpädagogischen Begrifflichkeiten, die Methode der Kiezworker, den Jugendlichen „auf der Straße einfach mal zuhören“, um an die Kids „ranzukommen“, wird sehr kritisch bewertet. 1 2 Plarre, Plutonia „Kiezworker laufen weiter“ TAZ Berlin, 6.Februar 2008 Bigalke, Katja „Die Kiezläufer laufen aus“ Deutschlandradio 14.11.2007, 74 Denn die Herangehensweise der Kiezläufer „…klingt ehrenwert und immerhin wie ein guter Anfang von etwas. Doch von was? Bei der Frage nach dem Zweck der Maßnahme beginnt die große Ratlosigkeit“ (TAZ 6/2/08:21)1. Die kritischen Stimmen der Medien und der Sozialarbeit sind schon seit Anfang des Projektes existent und natürlich auch begründet. Dass die Welt so einfach funktioniere, dass Aufgaben durch „zuhören“ und „gemeinsam Börek zubereiten“, zu lösen wären verschließt schlichtweg die Augen gegenüber der Komplexität der Probleme, gegenüber den Lebenswelten der Jugendlichen im Kiez. Diese Argumentation, die auch von der Sozialarbeit und den Medien gebraucht wird, verschließt aber genauso die Augen gegenüber den Potentialen der Grundidee dieses Projektes. Als die „Wogen der Empörung“ von Seiten des Bezirksamtes und den lokalen Jugendhilfeeinrichtungen am Anfang des Projektes hochschlugen waren die Verantwortlichen zwar schnell bemüht klar zu stellen, dass dieses Projekt keine Konkurrenz zur klassischen Sozialarbeit darstellen soll, doch durch die unzureichende Klarstellung und Informationsweitergabe von Seiten der Senatsverwaltung mussten Irritationen entstehen. Auch war die medienwirksame Darstellung und Präsentation des Projektes wenig geeignet, den Verdacht der Profilierung und des „Kompetenzvorsprung durch Innovation“ von Seiten der Quartiersmanager zu widerlegen. Dass bei der Frage nach Sinn und Zweck der Maßnahme die „große Ratlosigkeit“ beginnt, muss den Verantwortlichen in Rechnung gestellt werden. Der Verdacht, dass sie selbst nicht in der Lage sind, das Projekt mit einer Idee oder Vision zu unterlegen, ist bisher nicht ausgeräumt worden. Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit, Absprachen und Austausch, vielleicht sogar die Kooperation mit den lokalen Institutionen, haben nicht ausreichend statt gefunden. Ideen und Visionen dieses Konzeptes können nur erahnt werden. Die Methode des „Zuhörens“ und dadurch des Vertrauensaufbaues von im Sozialraum integrierten, nicht-professionellen Engagierten, erinnert stark an Methoden der Gemeinwesenarbeit, an bürgerschaftliches Engagement. Begrifflichkeiten wie „Zivilgesellschaft“ oder aus Amerika entliehene Ideen wie „Community Organizing“ tauchen auf. Das erste nämlich, was der „Organizer“ im Stadtteil tun sollte, „ist zuhören, nicht reden“. Denn mit Saul Alinsky, dem Begründer der community organizing Idee, ge- sprochen: 1 Wierth, Alke „Friede, Freude, Möhrenbörek“ Kommentar, TAZ Berlin, 6.Februar 2008 75 „…du bist verdammt, bevor du überhaupt anfängst, wenn du nicht das Vertrauen und den Respekt der Menschen gewinnst (…). Ohne diesen Respekt gibt es keine Kommunikation, kein gegenseitiges Vertrauen und kein Handeln“ (Penta 2007:29)2. Ob diese oder ähnliche Ideen der Hintergrund für die Initiierung des „Kiezläufer- Projektes“ waren oder einfach Initiativen aus anderen Städten oder Stadtteilen (vgl. Berlin- Wedding) abgeguckt wurden, lassen sich, wie gesagt, nur erahnen. Dennoch bleibt, unabhängig von der Ideenbasis, das Manko oder schlichtweg der Unwille mit anderen Institutionen zu kooperieren. Der Erfahrungsaustausch mit der Polizei lässt vermuten, dass hier Handlungsbedarf bestand. Dass keine Kooperation mit Professionellen aus der Jugendhilfe angestrebt wurde lässt sich rational nicht erklären. Aufgrund der multiplen Problemlagen der Jugendlichen müsste eine Zusammenarbeit eigentlich auf der Hand liegen. Der Verdacht liegt nahe, dass hier tatsächlich Grundhaltungen, „mentale Modelle“ der Akteure eine Kooperation verhindern oder gar zu einer Konkurrenzsituation führen. Wie diese Arbeit bisher gezeigt hat, ist dies in dem angestrebten „Netzwerk Jugendarbeit im Problemviertel“ keine Seltenheit und scheint dem gemeinsamen Ziel der Integration der Jugendlichen nicht förderlich zu sein. Darüber hinaus muss im Folgenden noch geklärt werden, wie die Grundhaltung der Akteure, wie die „Kompetenz der Kultursensibilität“, aufgrund der multiplen (trans)kulturellen Binnenverfassung moderner Gesellschaften, und hierbei insbesondere in den Problemvierteln, gestrickt sein muss. Der Ausblick der vorliegenden Arbeit besteht demnach darin Voraussetzungen und Anforderungen dieses Netzwerkes auszuformulieren. Als unmittelbare Akteure treten hierbei natürlich die Jugendlichen mit Migrationshintergrund als Hauptzielgruppe der Bemühungen in den Vordergrund. Hierbei sollen potentielle Einflussgrößen der Jugendlichen in das Netzwerk einbezogen werden. Diese bestehen, um nur mal die Wichtigsten zu nennen, aus: Familie, Eltern, Schule, Kita, Vereine, religiöse Vereinigungen, lokale Wirtschaft, Arbeitsagenturen, Polizei, Quartiersmanagement, Jugendamt, freie Träger der Jugendhilfe, … etc. 2 „Rebell trifft ‚Playboy’“ Saul Alinsky im Gespräch mit Eric Norden in Penta, Leo „Community Organizing“ edition Körber-Stiftung, Hamburg 2007 76 Doch, um zu einem funktionierenden Netzwerk zu gelangen, um gemeinsames Handeln zu erreichen, scheint das Erreichen des primären Zieles der Verständigung über „kooperative Partnerschaft“ am offenkundigsten. 5.1 Kooperative Partnerschaft – die Idee eines „Lokal Compact“ Auch auf die Gefahr hin, in die Falle zu treten, „…das auf der nationalen Ebene prekär gewordene Konzept einer kulturellen Integration der Gesellschaft nunmehr auf der weltgesellschaftlichen Ebene reformulieren zu wollen“ (Seitz 2005:66), soll hier ein Versuch un- ternommen werden, die in den Vereinten Nationen diskutierten Überlegungen zu den globalen Problemen in einer globalisierten Weltgesellschaft, in das städtischen Quartier zu transferieren. Dies folgt der Erkenntnis, dass die Stadt als „Reagenzglas“ gesehen, die gesamtgesellschaftlichen Prozesse und Strukturen widerspiegelt. Somit könnte das Problemviertel als Focus der Weltgesellschaft dienen. Hierbei wird davon ausgegangen, dass die Umsetzungsprobleme der auf internationaler Ebene diskutierten ehrgeizigen Zielsetzungen, wie die „Millenium Goals“, „Global Governance“, das „Projekt Weltethos“ oder den „Global Compact“ (vgl. Pies 2003), auf lokaler Ebene, im städtischen Sozialraum als Modell stehen könnten. Der Global Compact wird hierbei zu einem Local Compact, nämlich eine gemeinsame Übernahme von Ordnungs- und Handlungsverantwortung aller im Quartier relevanten Akteure für eine funktionierende integrative Jugendarbeit. Dies zollt der Tatsache Rechnung, dass die hierbei existenten multiplen Probleme die Problemlösungsfähigkeit einzelner Akteure mittlerweile übersteigt. Diesem Zukunftsmodell einer vernetzten kooperativen Partnerschaft fehlt es allerdings momentan noch an einem „Raum“ „…in denen die Akteure kritisch, aber zugleich auch kontruktiv und produktiv miteinander umgehen können“ (Pies/Sardison 2003:5)1. Darüber hinaus fehlt es bei den einzelnen Akteuren, wie das KiezläuferProjekt zeigt, oft noch an dem Verständnis, dem Bewusstsein oder dem „mentalen Modell“ für einen partnerschaftlichen Prozess. 1 Pies, Ingo/ Sardison, Markus „Global Goverance erfordert ein Paradigmawechsel vom Machtkampf zum Lernprozess“ Discussion Paper – Witenberg Center for Global Ethics, 2003 77 Dies ist allerdings die Grundvoraussetzung für ein lokales Netzwerk bei dem sich alle Akteure „…auf eine nicht-hierarchische Weise koordinieren, um ihre je unterschiedlichen Interessen, Kompetenzen und Perspektiven in einen Lernprozess einzubringen…Solche Netzwerke können durch die Integration verschiedener Sichtweisen neues Wissen produzieren und so selbst angesichts komplexer Sachverhalte innovative Weichenstellungen erarbeiten“ (ebda.:5). Dieses Netzwerk könnte alle Akteure auf gleichberechtigter Ebene zusammen bringen, um gemeinsam Verantwortung für das gemeinsame Interesse an der Integration von jungen Menschen auf der Handlungs- und Ordnungsebene herzustellen. Allerdings partnerschaftlicher Lern- muss und davon ausgegangen Dialogprozess werden, momentan noch dass ein durch die angesprochenen „mentalen Modelle“ behindert wird, durch Denkmuster und Rollenverständnisse, die die Akteure bisher eher in gegnerische Lager teilen oder Konkurrenzdenken unterstützen. Quartiersmanagement vs. Jugendhilfe (Kiezläufer vgl.5&1), Jugendhilfe vs. Schule (Schulsozialarbeit vgl.4.2.3), Quartiersbewohner vs. Polizei/Justiz (als ledigliche Repräsentanten der Mehrheitsgesellschaft vgl.3.3.3), Schule vs. Eltern (Sozialisation vgl. 3.2.2), „Deutsche Kultur“ vs. „fremde Kultur“/ christliche Wertegemeinschaft vs. Islam (vgl.2 ff.) etc. Diese Denkmuster dominieren offensichtlich die Wahrnehmung der Akteure und wirken sich daher kontraproduktiv auf das Bemühen um Herstellung konstruktiver partnerschaftlicher Beziehungen aus, denn die Akteure „…begegnen sich… mit Misstrauen und bezweifeln gelegentlich sogar den guten Willen der anderen Parteien“. „…die tendenziell konfrontative Einstellung…“ führt darüber hinaus zu einer abwartenden Haltung und demzufolge zu Handlungsblockaden bei den Akteuren. Dadurch bleibt das Potential und die Möglichkeiten des „an-einem-gemeinsamen-Strang-ziehens“ unausgeschöpft (Pies/Sardison 2003:7/8). Doch von welcher mentalen Ausgangslage, welchem Ist-Zustand muss das angestrebte Jugendnetzwerk im städtischen Quartier ausgehen? Schlichtweg auf der Metaebene formuliert wären das: 78 -In den „Problemgebieten“ der Großstädte werden lediglich die negativen Auswirkungen des Strukturwandel und des sozialen Wandels abgebildet. -Im Quartier bestehen Kultur-, Identitäten- und demzufolge auch Werte- und Moralpluralismen, -und dadurch die Tendenz eines „rechtsfreien“ Raumes, da es keine für alle Bewohner verbindlichen Werte und normative Setzungen gibt. Die Strukturbedingungen dürfen demnach nicht zu Fehlwahrnehmungen führen. „Strukturelle Problemursachen…“ dürfen nicht „auf Personen und Charaktereigenschaften zugerechnet…“ werden, wie beispielsweise der Vorwurf, dass „integrationsunwillige Migranten“ die die Parallelgesellschaften verursachen etc.(ebda.:3). Des weiteren darf, im Angesicht der Merkmale von modernen Gesellschaften wie Individualisierung, Pluralisierung von Lebensentwürfen und demzufolge auch der Wert- und Moralvorstellungen, nicht mehr davon ausgegangen werden, dass durch „…moralische Appelle Verhaltensänderungen bei anderen Akteuren zu erreichen…“ sind. Forderungen, die in „moralischen Kategorien“ vorgetragen werden, finden keine Resonanz, weil die „entsprechenden Werte“, in „multikulturellen“ Gesellschaften, nicht von allen geteilt werden (ebda.:3/4). Demzufolge erscheint es utopisch ein auf Wertekonsens beruhendes Netzwerk installieren zu wollen. Die Idee der Partizipation oder Beteiligung bei Handlungsentscheidungsprozessen ist vielmehr die Alternative, der Zugang zur sozialen Integration aller Akteure (vgl. Seitz 2005). Es scheint demnach eher darauf anzukommen lokale Netzwerke auf dem Funktionieren einer Rahmenordnung, auf funktionale gemeinsame (Regel)- Interessen zu gründen. Dieses gemeinsame Interesse kann auf Handlungsebene durch kooperatives Agieren zum wechselseitigen Vorteil führen (vgl. Pies/Sardison 2003). Das Ausformulieren dieser Regelinteressen soll durch einen gemeinsamen Lern- und Dialogprozess (vgl. Bohm 2005)1 zu einem gedanklichen „sozialen Konsens“ führen (Pies 2003:4)2. 1 2 Bohm, David: „Der Dialog. Das offene Gespräch am Ende der Diskussion“ (1996) Verlag Klett-Cotta. Stuttgart. 4. Auflage 2005 Pies, Ingo „Weltethos versus Weltgesellschaftsvertrag- Methodische Weichenstellungen für eine Ethik der Globalisierung“ Discussion Paper – Witenberg Center for Global Ethics, 2003 79 D.h. es soll nicht darum gehen den „local compact“ als eine „Jugend im Kiez- Verfassung“ normativ festzulegen, „…sondern um Wege neue Erkenntnisse zu finden für jene Prinzipien des Zusammenlebens, die auf allgemeine Zustimmung treffen können“ (ebda.:5). Ein dialogischer Vorgang, der einen Lernprozess auslöst, der zu einem gemeinsamen Verständnis einer funktionierenden integrativen Jugendarbeit im Quartier beiträgt. Doch wo ansetzen? Die gemeinsamen „(Regel-)Interessen“ als gemeinsames Verständnis und Verstehen bedürfen auf der Handlungsebene zwar nicht der Ausformulierung einer „Verfassung“, müssen aber trotzdem um greifbar zu werden normativ verständigt werden. Diese Normativität kann allerdings unterschiedlich definiert sein. Der hierbei klassische Fall ist das „Sollensparadigma“, d.h. eine externe Instanz erhebt Forderungen gegenüber einem Adressaten: „Schule oder Jugendhilfe fordern die Eltern auf, dass sie bei der Erziehung der Kinder keine Gewalt anwenden sollen“ etc. Alternativ hierzu kann sich Normativität auch im „Wollensparadigma“ darstellen. In diesem Fall geht es darum, „…sich nicht Klarheit über fremdes Wollen (als Quelle des Sollens), sondern Klarheit über eigenes Wollen zu verschaffen“ (Pies 2003:5). Um das vorhergehende Beispiel aufzunehmen: „Ich als Elternteil bin daran interessiert, dass mein Kind lernt und deshalb vorgelebt bekommen muss, Probleme und Konflikte ohne Gewalt zu lösen“. Während sich im ersten Fall die Normativität als „Befehl“ oder Appell zeigt und dementsprechend auch wirkt, setzt der zweite Fall auf Argumente, die für den Adressaten verständig sind, weil er/sie diese mit seinen bewusst gemachten eigenen Interessen verbinden kann. Diese Unterscheidung ist deshalb im Kontext eines angestrebten „Jugendnetzwerks“ wichtig, weil im „pluralisierten“ Kiez als „Sollen“ formulierte Verhaltenserwartungen tendenziell ergebnislos verhallen müssen. Verhaltenserwartungen, als „Sollen“ formuliert, die als soziales Produkt einer homogenen Gemeinschaft durch gemeinsame Hintergrunderfahrungen und dadurch gemeinsame Werte und Denkmuster gebildet wurden, sind zwar durchaus in der Lage erfolgreich zu sein, weil sie „…dem einzelnen lediglich in Erinnerung rufen muss, warum es angesichts sozialer Sanktionen durch die Gemeinschaft in seinem Interesse liegt, sich moralisch – d.h. gemeinschaftskonform zu verhalten…“ (ebda.:7). 80 Doch im wertepluralisierten Kiez ist das nicht möglich. Im Quartier werden unterschiedlichste Sprachen gesprochen, verschiedenste „mentale Modelle“, Kulturen und deren hybridisierten Variationen existieren nebeneinander oder treffen aufeinander. Hinzu kommt, dass die „Einigkeit“ im Kiez nichts historisch gewachsenes, nichts Traditionelles ist, denn „…Gemeinschaft ist keine Vorgabe aus der Vergangenheit, sondern allenfalls eine Aufgabe für die Zukunft“ (ebda.:7). Diese Aufgabe für die Zukunft, als „Vereinigung gemeinsamer Interessen“ kann daher nicht durch „appellatives Beharren“ auf gemeinsamen Werten funktionieren, sondern durch „…gemeinsame Regeln, die ein friedliches und produktives Zusammenleben gerade auch dort möglich machen, wo Menschen ihren je individuellen Lebensentwurf an ganz unterschiedlichen Werten ausrichten wollen“ (ebda.:7). Soviel zum theoretischen Konstrukt eines durch Dialog entstehendes, kooperativen Netzwerkes für eine funktionierende integrative Jugendarbeit. Nun zur potentiellen konkreten Umsetzung. 5.2 Organisation einer Kooperativen Partnerschaft Die für das Netzwerk entscheidenden Akteure können in zwei Gruppen aufgeteilt werden. Zum einen die Professionellen, wie Quartiersmanagement, Beratungsstellen, Jugendamt, freie Träger der Jugendhilfe, Schulen, Kita, Arbeitsagenturen, Polizei etc. und zum anderen die nicht- Professionellen wie Ehrenamtliche, Familie, Eltern, Vereine, religiöse Vereinigungen, lokale Wirtschaft etc. und natürlich die Jugendlichen selbst. Bei der zweiten Gruppe kann der „Akteur“ auch gleichzeitig die Zielgruppe sein (Eltern/Jugendlichen). Irgendwo zwischen den beiden Gruppen bewegen sich die vom Senat finanzierten „Kiezläufer“, sowie etwaige Hauptberufliche aus religiösen Vereinigungen oder Stadtteilinitiativen. Die Frage muss nun sein, wie die kooperative Partnerschaft organisiert und ins Leben gerufen werden kann. Interessant hierbei erscheint, ob es sich leichter ausgestalten lässt die „Professionellen“ mit ihren individuellen Eitelkeiten, oder die aus der Bürgerschaft stammenden Engagierten und Eltern, zu einer kooperativen Zusammenarbeit 81 zu bewegen. Insbesondere erscheint es schwer die „nicht- Professionellen“ überhaupt zu einem Engagement zu bewegen. Die Klagen von Lehrern, die beim Elternabend an den Schulen im Quartier nur sehr selten die Gelegenheit haben mit Vätern ins Gespräch zu kommen, lässt hierbei die potentiellen Schwierigkeiten erahnen. Die Abwendung der Bewohner in den marginalisierten Stadtteilen von den Entscheidungsträgern in Politik und Verwaltung, das verlorene Vertrauen in die kommunale Politik, als die Instanz, die sich um ihre Probleme kümmert. Das fehlende Bewusstsein, überhaupt an Entscheidungen beteiligend und gestaltend mitwirken zu können wäre für viele, auch für diejenigen mit Wahlrecht, eine komplett neue Erfahrung. Die existente objektive Ausgrenzung wird durch diese aufgebaute subjektive Distanzierung verstärkt (vgl. Häußermann 2006). Doch wo dann ansetzten? 5.2.1 Ansatz Da das lokale Netzwerk auf gemeinsamen Regelinteressen basieren soll logischerweise bei dem gemeinsamen geteilten Interesse, den Kindern und Jugendlichen. Viele der Bewohner in den „Problemvierteln“ gehören zu den „working poor“. Sie leben im Status der Erwerbstätigkeit, zwar oftmals prekär beschäftigt, doch sie beziehen keine Transferleistungen und achten den Wert redlicher Arbeit. „Sie sind bereit, für ihren Nachwuchs Opfer zu bringen, und glauben grundsätzlich an das Wertesystem der Mehrheitsgesellschaft. Sie hoffen auf eine bessere Zukunft, zumindest für ihre Kinder. Viele sind als Eltern streng, wachsam, religiös, aber prinzipiell kooperationsbereit, wenn es um die Wiederherstellung eines sozial verträglichen Zustands im Viertel geht“ (Kersten 2008:4). Durch Interventionen eine Verbesserung und Chancenaufwertung der Lebensumstände ihrer Kinder erreichen zu können, macht diese Eltern zu potentiellen Ansprechpartner. Beispiele aus der Jugendhilfe zeigen, dass Eltern mit dem Hinweis darauf, dass ihr Kind in der Schule besser werden kann, wenn sie es zur Sozialen Gruppenarbeit (§29 SGBVIII) schicken, dass diese Eltern sich für das Wohl der Kinder auch mit Menschen außerhalb der Familie in Erziehungsfragen austauschen und darüber hinaus auch „Ämtergänge“ erledigen. 82 Diese Eltern sind allerdings bei den in Schule, Justiz und Jugendhilfe auffälligen Jugendlichen eher unterrepräsentiert. Viele der Eltern der „sozial Auffälligen“ Jugendlichen gehören zu den „Desorganisierten“, zu denen, die „… als Eltern selten oder gar nicht dazu in der Lage sind, mit den Anforderungen an ihre Rolle umzugehen. Ihr Alltag ist oft desorganisiert und voller Frustrationen(…)Ihr Erziehungsstil ist oft ungeduldig, Grundlage eines von Gewaltgebrauch gekennzeichneten Verhältnisses zu ihren Kindern (…) Kinder erfahren die Auseinandersetzungen und die häusliche Gewalt in der eigenen Wohnung und erlernen die Grundregel…Gewalt geht vor Recht…“ (Kersten 2008:4). Die Konsequenz, der Lernerfolg für diese Kinder ist, dass Probleme und Konflikte „physisch“ gelöst werden. Wobei wir wieder bei der Jugendgewaltdebatte wären. Diese Problematik ist natürlich in der Politik bekannt. Am 5.2.2008 stellte der Berliner Innensenator Körting die aktuellen Pläne des Senats vor „um die Zahl der Gewalttaten von Kindern und Jugendlichen zu verringern“ . Unter dem Schlagwort „Eltern- Coaching“ schweben dem Senat „Weiterbildungsveranstaltungen für überforderte Eltern rund um das Thema Erziehung oder den Einsatz von Dolmetschern bei Elternabenden in Kitas und Schulen…“ vor. Allerdings gestand Körting ein, dass noch nicht klar ist „…wer das im Detail macht…“. Die Senatsressorts ständen noch vor der Frage, „Wie verknüpfen wir bestehende Maßnahmen miteinander…“. Auf die kritische Frage hin, was das Land Berlin machen würde, falls die Eltern die angebotene Hilfe nicht annehmen würden, meinte er das wäre „der absolute Ausnahmefall…“. Bei diesen Fällen müssten die Eltern mit „…konsequenteren Anwendung bestehender Gesetze…“ rechnen. Und zwar „Entzug des Sorgerechts“ und „Heimeinweisung des Sprösslings“. Körting machte auch auf ein weiteres Problem aufmerksam, wobei er auch hier keine Lösung wüsste, „…die mangelnde Kindererziehung durch die Väter“ (TAZ 6.2.08:22)1 . Die Ratlosigkeit der Politik, das Bemühen „irgendwas zu machen“ zeigen, dass hier Ideen gefragt sind. Die „Erziehung der Eltern“ durch verordnete Programme ist in der Form schon im Vorhinein zum Scheitern verurteilt. Eine durch Sanktionsdrohung eingeforderte „Beschulung“, eine im Sollensparadigma formulierte Änderung von Verhalten kann nicht das gewollte Ergebnis liefern. 1 Lohre, Matthias „Nachsitzen für Eltern“ TAZ Berlin 6.Feb.2008 83 Die Drohung mit dem Entzug des Sorgerechts führt eher zu einer Blockadehaltung und einer Distanzierung gegenüber den „Repräsentanten der Mehrheitsgesellschaft“ und deren „verordneten Werte“. Darüber hinaus hätte sich der Senat die finanziellen Konsequenzen erst bewusst machen müssen. Im Angesicht leerer öffentlichen Kassen eine dermaßen kostenintensive Maßnahme wie „Heimunterbringung“, mit deren fraglichen Ergebnissen, ins das Augen zu fassen, zeigt, dass von Seiten der Politik der Denkvorgang frühzeitig abgebrochen wurde. Welche Alternativen bieten sich an? Die in der Sozialarbeit eingeführte Sozialraumorientierung strebt ja an, weg vom Einzelfall ein soziales Netzwerk im „Sozialraum“ zu installieren. Die Idee der Jugendhilfe, nicht als „Feuerwehr“ eingesetzt zu werden, sondern durch präventive Arbeit „Problemfälle“ durch das soziale Netzwerk aufzufangen, weisen einen Weg in die richtige Richtung. Dieses Netzwerk hat aber momentan noch große Löcher und ist bisher eher als Gedankenkonstrukt existent. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit soll gezeigt werden, dass die Jugendhilfe als Teil eines erweiterten Netzwerkes eine wichtige Rolle einnehmen wird. Zurück zu den „Desorganisierten“ und den „sozial auffälligen Jugendlichen“. Die Frage ist nun, wie lassen sich diese in die Idee des „Jugend im Kiez- Netzwerkes“ integrieren? Hierbei kann die Idee des Quartiersmanagements aufgegriffen werden. Nicht- Professionelle Akteure, wie die Kiezläufer, treten mit potentiell „Devianz- gefährdeten“ Jugendlichen in Kontakt. Ein Kontaktaufbau, der im Gegensatz zur Justiz oder Jugendhilfe schon vor einer „Auffälligkeit“, sprich Straftat, stattfinden kann. „Den Bedarf zu ermitteln“ (vgl. Kiezworker), genügt allerdings nicht, hier muss ein Austausch mit anderen „Ressorts“ stattfinden. Außerdem ist hierbei noch nicht geklärt, wie man an die Eltern „rankommt“. Darüber hinaus darf sich der Kreis der nicht- professionellen Engagierten nicht nur auf vom Senat finanzierte „Ex-Kriminelle“ beschränken. Ein bürgerschaftliches Engagement ist vonnöten, um durch die Integration von Lebenswelt interner Sicht, Wissen und Perspektiven zu entwickeln, um in Anbetracht lebensweltlich komplexer Sachverhalte, adäquate und von allen getragene Lösungen zu erarbeiten (vgl. Pies/Sardison 2003). 84 5.2.2 Bürgerschaftliches Engagement Doch wie kann ein bürgerschaftliches Engagement aktiviert werden? Auch hier sind es wieder die gemeinsamen Interessen. Dies beschränkt sich allerdings nicht nur auf die kooperationsbereiten Eltern unter den „working poor“, die zum Wohle ihrer Kinder Engagement zeigen. Kinder sind zwar die Zukunft und wichtig, doch für ein bürgerschaftliches Engagement bedarf es oftmals weitere Gründe. Verbesserung der Lebensumstände, materielle Reize oder der Anspruch, „das Bild in der Öffentlichkeit“ aufzufrischen, stellen oftmals größere Anreize dar. Ein Quartier, dass auf Grund hoher Jugendkriminalität öffentlich als No- Go- Area angesehen wird, wirkt sich nicht positiv auf lokale Wirtschaftszweige aus, insbesondere am Beispiel von Kreuzberg zu sehen. Ein Stadtteil, der nach der Wende in die Mitte der Stadt gerückt ist, und inzwischen ein buntes für Touristen attraktives Besucherziel verkörpert. Dies hat sich als wichtiger Wirtschaftsfaktor vor allem für Geschäfte/Lokale etc. von Migranten herausgestellt. „Wir gehen ja nur in türkische Geschäfte, wir gehen ja nur hier einkaufen“ (vgl. Yildiz 2007 über Köln-Mülheim). Debatten über gewaltbereite Migrantenjugendliche, integrationsunwillige Parallelgesellschaften in innerstädtischen „Gottesstaat“- Quartieren, sind für das Image des Stadtteiles nicht förderlich. Hier können engagierte Gewerbetreibende oder um Aufklärung bemühte religiöse Vereinigungen, wie Moscheevereine etc., als Engagierte mit in das „Boot“ genommen werden. Dass Schulabgänger von Problemschulen á la Rütli bei jedem Bewerbungsverfahren für Ausbildungsplätze sofort herausgefiltert werden, kann hier auch als Image- Defizit gesehen werden. Bürgerschaftliches Engagement auch aus „bildungsfernen Familien“ kann hier Abhilfe schaffen, denn insbesondere diese sind am Erfolg ihrer Kinder im Leben interessiert. Um nur einmal den Versuch zu wagen, ein fiktives, anzustrebendes Image von Jugendlichen aus den „Problemvierteln“ zu formulieren: 85 „Jugendliche aus dem Stadtteil „X“ sind für die Herausforderungen der im rasanten Wandel befindlichen globalen Ökonomie bestens gerüstet. Aufgewachsen in liberalen, von multiethnischer- und kulturellen Einflüssen geprägten Stadtteilen, bringen sie die Kompetenzen mit, für einen zusammengewachsenen, globalen Markt. Sie sprechen oftmals mehrere Sprachen, sind auf vorbildliche integrative Schulen gegangen, interpretieren die Religionen weltoffen und zukunftsorientiert und verfügen über die nötigen Schlüsselqualifikationen für den Beruf, da sie schon früh die Abläufe der Marktwirtschaft in Geschäften ihrer Eltern oder Verwandten kennen gelernt haben, …etc.“ Nun gut, der Weg bis dahin ist noch ein sehr langer, doch die Grundvoraussetzung für bürgerliches Engagement ist immer eine Vision (vgl. Penta 2007). Nicht- Professionelle Engagierte, die sich als starker und einflussreicher Partner in einem „Jugend im Kiez“- Netzwerk beteiligen, können hierbei eine von vielen Interessen geleitete, aber handlungsfähige Bürgerplattform bilden. Diese können hierbei themenbezogen personell variieren, gleich bleibt aber immer das Interesse der Teilnehmer, durch gemeinsames Handeln positive Veränderungen im Quartier zu erreichen. Erfahrungen aus Initiativen in sozialen Brennpunkten in den U.S.A. zeigen, dass die beschriebene Distanz, die passive Haltung von Bewohnern gegenüber kommunalen Entscheidungsprozessen aufgelöst und Beteiligung durchaus erreicht werden kann. Denn: „ Das Engagement in einer Bürgerplattform verleiht den Menschen jene Kompetenz, die sie anderen gesellschaftlichen Akteuren gleichstellt. Erfolg beflügelt – doch zu erfahren, wie Missstände behoben werden können, wie sich nach all den Bemühungen das Leben in der unmittelbaren Umgebung merklich verbessert, ist mehr als ein erhebendes Gefühl. Die konkreten Ergebnisse und Erfolge verbessern die Lebensqualität und setzen unglaubliche Energie frei. Die Bürgerplattformen zeugen davon, dass (…) öffentliche Teilhabe kein Monopol von Parteien oder Experten sein muss…“ (Penta 2007:9).1 Hierbei wären wir auch wieder bei dem Thema Integration. Da diese nur über Partizipation oder Beteiligung zu gewährleisten ist (vgl. Seitz 2005), könnte dies insbesondere durch die Einrichtung von funktionierenden Bürgerplattformen gewährleistet werden. Ein Sprachrohr, das nicht irgendeiner „repräsentativen“ Fremdzuschreibung 1 Penta, Leo „Vision braucht Fahrpläne“ in Penta, Leo (Hrg.) „Community Organizing – Menschen verändern ihre Stadt“ edition Körber-Stiftung, Hamburg 2007 86 entsprechen will, sondern die existente Lebenswelt und Alltagskultur (vgl. Yildiz 2007) im Kiez zu Gehör bringt. Dies erscheint deshalb auch von großer Wichtigkeit zu sein, da das deutsche System auf Entscheidungsebenen, bis auf wenige Ausnahmen, die bunte Vielfalt der Gesellschaft nicht repräsentiert. Diese Vielfalt kann auf zivilgesellschaftlicher Ebene auch Einfluss über die Grenzen des Stadtteiles hinaus haben. Diese Grundidee der Teilhabe an Entscheidungsprozessen, als das Grundverständnis von Demokratie schafft einen fruchtbaren Boden für Identifikation und Integration nicht nur im Stadtteil. Darüber hinaus könnte eine aktive Zivilgesellschaft, in Form von themenspezifischen Bürgerplattformen auch fatale Kurzsichtigkeiten der Politik regulieren. Als Beispiel könnte hier die Senatsentscheidung von Körting dienen. Wäre bei der Frage der Umsetzung eine Bürgerplattform beteiligt, würde bei dem Thema „Erziehung und überforderte Eltern“ eine für den Kiez adäquate Vorgehensweise die Folge sein. 5.2.3 Bürgerbeteiligung Doch wie können Bürgerplattformen entstehen? Die Formel könnte schlichtweg lauten: vom gemeinsamen Interesse, über die Bereitschaft zum bürgerschaftlichem Engagement, hin zur Organisation einer Plattform. Als erster Schritt, muss natürlich eine einzelne Person oder Gruppe mit der Aufgabe des „Organisierens“ vertraut werden. Diese „Organizer“ müssen, ähnlich wie die „Kiezläufer“, bevor es überhaupt zu Aktionen kommt, im Stadtteil „vor Ort“ sein. Hierbei geht es zuvorderst darum ins Gespräch zu kommen, „zuzuhören, nicht reden“; Vertrauen und Respekt gewinnen. Nur so kann es zum Dialog und zu daraus entstehendem gemeinsamen Handeln kommen (vgl. Penta 2007:29). Es müssen Beziehungen aufgebaut werden. Über Zweiergespräche, am Anfang der „Organizer“ als Medium, können Kontakte zwischen „abgekapselten Institutionen und deren Schlüsselpersonen“ hergestellt werden. Hierbei müssen „verfestigte Grenzen“, „Verschiedenheit der Konfession“, ethnische Zugehörigkeit, sozialer Status, etc., der Schlüs- selpersonen(„leaders“) im Kiez überbrückt werden (Penta 2007:58). 87 Diese „Leaders“ im Quartier können unterschiedlichste Personen sein. Klassischerweise können über die Religion Gruppen oder Gruppenzugehörigkeiten ausgemacht werden. Die Schlüsselpersonen hierbei sind die Priester, Imame etc., je nach Zusammensetzung des Kiezes. Diese „Status- leader“ können aber gleichzeitig als Übermittler für unterschiedlichste Kulturvereine oder „Landmännergruppen“ dienen. Deren „Leader“ haben Kontakte zu Oberhäuptern von Großfamilien …etc. Es sollten aber nicht nur klischeehaft über die Religion Ansprechpartner gefunden werden. Oftmals haben Personen ohne direkten „Führungsstatus“, wie beispielsweise der örtliche Trainer des Fußballvereines ein breites Spektrum von Kontakten und auch einen auf Respekt begründeten Einfluss im Kiez. Es müsste darum gehen, neue Beziehungen aufzubauen oder schon existente thematisch zu kanalisieren. Hier stehen wieder die gemeinsamen Interessen im Vordergrund. Diese zu klären stellt „…den ersten Schritt zur Bündelung der Kräfte dar, denn sie machen den Weg frei zu einer gemeinsamen Handlungsbasis, jenseits der alten Konflikte“ (Penta 2007:59)1. Beispielsweise, um mit Polaritäten zu spielen, trifft sich eine Führungspersönlichkeit eines „anatolisch- allevitischen Kulturvereines“ mit einem „türkisch- sunnitischen Kulturvereines“ nach den gewaltsamen Ausschreitungen zwischen „türkischen und kurdischen“ Jugendlichen (vgl.1, Kurden- Demo in Kreuzberg) um sich über ein gemeinsames Handeln zu verständigen. Denn beide Seiten haben kein Interesse daran, einen Stellvertreterkrieg von Jugendlichen auf deutschen Straßen zuzulassen. Wichtig hierbei erscheint, dass der Austausch, das Zweiergespräch, jedoch keines aktuellen Anlasses bedürfen muss. Schon existente Beziehungen helfen natürlich bei „akuten“ Problemlagen, doch es muss eher darum gehen eine Interessengemeinschaft von Menschen und Institutionen im Quartier aufzubauen, um solche ethnifizierten Konflikte erst gar nicht entstehen zu lassen. Es müsste darum gehen, „eine pluralistische, durch Handeln und Erzählen begründete und zusammengehaltene öffentlich- ethische Gemeinschaft“ entstehen zu lassen, die sich durch ein Wir- Gefühl solidarisch „auf Dauer öffentlich und machtvoll“ handeln kann (Penta 2007:66). 1 Penta, Leo „Von Ohnmacht zur Hoffnung“ in Penta, Leo (Hrg.) „Community Organizing – Menschen verändern ihre Stadt“ edition Körber-Stiftung, Hamburg 2007 88 Eine Bürgergesellschaft, die gelernt hat mit den Unterschieden und der Vielfalt im Kiez umzugehen. Eine Bürgerbeteiligungsplattform, die durch die Schlüsselpersonen einberufen wird, um interessierte und engagierte Bewohnern in Entscheidungsfragen mit einzubeziehen. Diese Bürgerplattformen müssen eine wichtige Rolle im angestrebten „Jugend im Kiez“- Netzwerk spielen. Die großen Herausforderungen und Themen, nicht nur im „Problemviertel“ sondern in modernen Gesellschaften allgemein, wie demographische Entwicklung, Bildung, Arbeitsmarkt, Integration etc. müssen „…in einen systematischen Zusammenhang mit freiwilligen oder bürgerschaftlichen oder ehrenamtlichen Engagement gebracht…“ werden. Dieses Engagement darf allerdings nicht „…zu einem ‚Ausfallbürgen’ für einen kränkelnden Sozialstaat werden“, wie angesichts leerer öffentlicher Kassen zu befürchten ist (Dettling 2007:89)1. Die Vision, die idealistische Idee besteht vielmehr darin, die „Betroffenen“ auch zu den Beteiligten werden zu lassen, „…als Einmischung der Bürger in ihre eigenen Angelegenheiten“ (ebda.:90). Der historisch gewachsene Glaube der Menschen, dass der Staat und dessen berufenen Institutionen diese gewaltigen Herausforderungen alleine bewältigen könnten, muss wohl inzwischen als Illusion angesehen werden. Nur durch das Zusammenwirken eines Gemeinwesens aus Politik, berufenen Institutionen und einer beteiligten Bürgergesellschaft, kann dies gelingen. Die bisherige Rangehensweise, das „Erfolgsmuster“ der Jugendarbeit muss überarbeitet werden. Denn Lösungsmethoden, die im Wesentlichen darin bestanden, „…den Problemen mit immer ‚mehr vom Gleichen’ (mehr Geld, mehr Personal, mehr Rechte und Vorschriften)“, mit „…mehr Sozialarbeiter… auf den Leib zu rücken …“ führen oft „…gerade nicht zum Ziel“ (ebda.:95). Es muss sich an den Haltungen der Menschen etwas ändern. Solidarität, Eigenverantwortung und Engagement für das Gemeinwohl darf auch in deutschen Ballungsgebieten nichts Unerreichbares sein. Verfestigte „mentale Modelle“ in Form von einer „Betreuungsmentalität“ müssen durch eine „offensive Beteiligungskultur“ ersetzt werden. Ebenso bedarf es aber auch bei den „Professionellen“ die Bereitschaft und die Erkenntnis, dass das Engagement von Freiwilligen und Ehrenamtlichen förderlich und 1 Dettling, Warnfried „Eine neue Dimension von Demokratie“ in Penta, Leo (Hrg.) „Community Organizing – Menschen verändern ihre Stadt“ edition Körber-Stiftung, Hamburg 2007 89 nötig sein kann. Der Wandel des traditionellen Paradigmas der Sozialpolitik in Form von „Für andere etwas Tun“, muss durch das Einbeziehen der nicht- Professionellen und deren Bereitschaft des „Mit anderen für sich etwas Tun“ erweitert oder eher auf einer neuen mentalen Basis positioniert werden (Penta 2007:102/103)1. Doch das wird nicht von alleine geschehen. „Nötig ist eine Art Unternehmensberatung für ein soziales Management, das professionelles Wissen und Engagement optimal zu verbinden weiß“ (Dettling 2007:96). 5.2.4 Netzwerkgestaltung Doch wie lässt sich dieses „soziale Management“, das Netzwerk gestalten? Eines liegt auf der Hand, wird und wurde von den Akteuren auch ständig eingefordert: Die bessere Vernetzung und Zusammenarbeit der Professionellen, die Verknüpfung von bestehenden Maßnahmen (vgl. Körting 2008) ist unerlässlich. Profilneurotische Eitelkeiten und Konkurrenzverhalten einzelner Akteure müssen der Vergangenheit angehören. Im Verbund können viele Aufgaben, angefangen bei der „…Buchhaltung über die Öffentlichkeitsarbeit bis hin zum Formulieren und Vertreten des politischen Anspruchs…“ , effektiver, effizienter und damit auch für die öffentlichen Kassen sparsa- mer gestaltet werden (Dettling 2007:96). Der nächste Punkt scheint der schwierigere zu sein. Die Entwicklung eines organisierten bürgerschaftlichen Engagements. Schwierig, aber für die Vision des Netzwerkes existenziell. Aus zwei Gründen: Zum einen die Integration von alltäglichen Sichtweisen und damit zur Entwicklung von aus Lernprozessen gewonnenem neuem Wissen. Zum anderen für den Transfer. Aus diesen Erkenntnissen folgen Handlungsentscheidungen, die in das Quartier kommuniziert werden müssen. Die Willensbekundungen aus dem Quartier regulieren somit die Monopolstellung von Staat und dessen „Professionellen“. Hierfür sind natürlich die Engagierten, die starken Bürger, „die zu Eigenverantwortung und Solidarität fähig sind“, vonnöten. Diese Bürger sind allerdings nicht von heut auf morgen existent. Es ist ein langer, schwieriger aber lohnender Prozess. Die Einbeziehung und Aktivierung von bisher am Rande der Gesellschaft stehenden Bevölkerungsgruppen würde ein „Empowerment“ mit 1 Penta, Leo „Die Macht der Solidarität“ in Penta, Leo (Hrg.) „Community Organizing – Menschen verändern ihre Stadt“ edition Körber-Stiftung, Hamburg 2007 90 weit reichenden Folgen darstellen. Denn das Potential darf hierbei nicht unterschätzt werden. Die Geschichte zeigt, dass Selbstorganisationen von Bürgergesellschaften viel bewegen können (Dettling 2007:97). Ist dieser Prozess ins Leben gerufen, muss es dann darum gehen die Zusammenarbeit, das Verhältnis zwischen Professionellen und nicht- Professionellen in eine optimale Form zu bringen. Eine Partnerschaft, in der die Akteure auf einer nicht- hierarchischen Weise kritisch, aber zugleich auch kontruktiv und produktiv miteinander umgehen, „…braucht einen wechselseitigen Perspektivenwechsel durch Mediation und Moderation und eine gemeinsame Reflexion der gemeinsamen Arbeit“ (ebda.:97). Wer in personeller Form diese Mediation und Moderation übernehmen könnte, wird hierbei ein sensibler Faktor sein. Hier muss ein neues Berufsbild bzw. –feld entstehen. Kompetente, praxisnahe Begleiter, die die notwendigen kommunikativen Fähigkeiten mitbringen, sind hierbei gefragt, keine theoretisch zwar wohlmeinenden aber praxisfernen Visionäre (Penta 2007:107/108). Ebenso fehlt es diesem Zukunftsmodell einer vernetzten kooperativen Partnerschaft momentan noch an einem „Raum“ in dem alle Akteure integriert werden können. Abschreckende, bürgerfeindliche, bürokratische, kommunalpolitische Verwaltungsprozesse und- Apparate müssen zu einem Einladenden, für den Bürger „greifbaren“ Ort werden. Dieser „Raum“ könnte, rein physisch gesehen, z.B. eine zentrale Anlaufstelle im Stadtteil sein. Vergleichbar mit einem dörflichen Rathaus, einem Bürgerzentrum, etc. Wie die konkrete Umsetzung eines „Jugend im Kiez“- Netzwerkes aussehen könnte soll hier nun am Beispiel der aktuellen Jugendgewaltdebatte konstruiert werden. Dies trägt der Tatsache Rechnung, dass die öffentliche Debatte zeitgleich mit der Erstellung dieser Arbeit stattfand und diese daher auch nicht unerheblich beeinflusst hat. Ausgelöst durch eine mediale Debatte um „Jugendliche, die Banden bildend die Strassen unsicher machen, größere Gewaltbereitschaft vor allem von Migrationshintergründler an Schulen und im öffentlichen Raum, etc.“, ist eine Problemlage zum Thema geworden. In der Öffentlichkeit, aber insbesondere in einem „belasteten“ Stadtteil selbst. Es besteht objektiv Handlungsbedarf. 91 Dieser Handlungsbedarf wird von den vom Staat berufenen professionellen Akteuren auf Grund ihrer definierten „Aufgabe“, aber auch durch politischen Druck, thematisiert. Im Zukunftsmodell „Jugend im Kiez“- Netzwerk würden einzelne Akteure in ihren „spezialisierten“ Bereichen nicht unabhängig von anderen aktiv werden, sondern das Thema würde erst in einem „Quartiersrat“/ „Jugendforum Stadtteil X“ besprochen. Dabei gilt es vor allem, zuerst die „alltäglichen Sichtweisen“ im Kiez mit einzubeziehen. Es geht darum, engagierte Bewohner zu aktivieren, die sich auf einer Bürgerplattform als starke Partner im „Quartiersrat“ auf einer „nicht- hierarchischen Weise kritisch, aber zugleich auch kontruktiv und produktiv“ mit den „Professionellen“ austauschen. Diese Bürgerplattform, als eine „Kultur der Beteiligung“ im Kiez, wäre entweder schon existent oder müsste noch organisiert werden. Hier kommen die „Organizer“ ins Spiel, die die Beziehungen zwischen Schlüsselpersonen im Quartier aufbauen. Durch die Klärung der gemeinsamen Interessen („diese Missstände zu beseitigen“, „eine ‚no-go-area’ ist nicht gut für den Umsatz“, „die Kinder sind besser als ihr Ruf“, …etc.“), wird ein bürgerschaftliches Engagement aktiviert. Stehen nun Ansprechpartner zur Verfügung kann im „Quartiersrat“ der dialogische Prozess beginnen. Hier stehen auch die gemeinsamen Interessen im Vordergrund, um zu gemeinsamen, von allen getragenen Handlungsentscheidungen zu kommen. Das Quartier hätte hierbei, angelehnt an der Idee der Sozialraumbudgetierung, eine durch einen „Belastungsindex“ (vgl.Monitoring Soziale Stadtentwicklung)1 festgestellte Höhe von finanziellen Mitteln für soziale Aktivitäten im Jugendbereich zur Verfügung. Diese werden im „Quartiersrat“ koordiniert. Es liegt z.B. auf der Hand, dass das gemeinsame Gremium bei dem ersten Austausch zum Thema „Jugendgewalt“ zu der Erkenntnis kommen muss, dass die Sichtweisen der Jugendlichen, als Zielgruppe der Bemühungen, für eventuelle stattfindende Handlungen unabdinglich berücksichtigt werden müssen. Um die Sichtweisen oder „den Bedarf zu ermitteln“ kann das Kiezläufer- Projekt Modell stehen. Darüber hinaus sind die „Professionellen“ aber auch in Kontakt mit dem „Klientel“. Zwar nicht „auf Augenhöhe“, doch Sozialarbeiter in Jugendhilfeeinrichtun1 „Monitoring Soziale Stadtentwicklung“ Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Berlin 2004 92 gen, Lehrer an Schulen, Arbeitsvermittler im Arbeitsamt, Polizisten im Kiez, etc., können Perspektiven der Jugendlichen in Erfahrung bringen. Des Weiteren können die Engagierten und Ehrenamtlichen der Bürgerplattform die Frage in Kirchen/Moscheen, Vereinen oder schlicht „auf der Strasse“ in der Nachbarschaft thematisieren. Diese Maßnahmen haben zweierlei zur Folge: Zum einen natürlich den Erfahrungsund Erkenntnisgewinn, zum anderen kann dies auch eine Art „aktivierende Befragung“ sein. Durch das Thematisieren wird der erste Schritt hin zur Verbesserung der Zustände erreicht. Die Sensibilisierung und damit die Wahrnehmung der Bevölkerung gegenüber Anzeichen und Symptome von Problemlagen verändern auch den Umgang damit. Die „desorganisierten“ Eltern werden beispielsweise nicht von uniformierten Beamten in ihrem Tun kritisch beäugt, sondern durch beispielsweise einer engagierten Nachbarin oder Freundin der Familie nachhaltig reflektiert. Das „Wachsame Auge“ steht hierbei nicht für die Idee einer „Blockwart“- Mentalität á la Überwachung, sondern für Solidarität und Eigenverantwortung für unmittelbare Geschehnisse im Quartier. Der große Bruder oder der Nachbar hat ähnlich wie die Kiezläufer einen anderen und nachhaltigeren Einfluss auf die „Jungen“ als Sozialarbeiter oder Polizei. Der „Kultur der Strasse“, Straffälligkeit, „Scheiße bauen“, „Knastaufenthalte“ wird nicht mit „Respekt“ begegnet, sondern sie wird als „Disrespekt“ dem Quartier gegenüber angeprangert, als Imagebeschädigung betrachtet. Zurück zum „Jugendforum QuartierX“/ „Quartiersrat“. Die Installation eines „Quartiersrates“ als sozialräumliches Steuerungselement würde natürlich die herkömmliche Arbeit der professionellen Akteure verändern. Es müssen hierbei aber keine existentiellen Fragen auftauchen, sondern schlicht ein neues Verständnis gegenüber dem eigenen Tun, und natürlich entsteht eine andere Finanzierungsmethode. Als Beispiel sei hier der Akteur Jugendamt erwähnt und die von den freien Trägern übernommenem Aufgaben. Diese würden dann größtenteils nicht mehr als Einzelfall finanziert. Damit wäre das Tun von einer großen Last befreit. Es wäre nämlich nicht mehr existenziell für den freien Träger nach Möglichkeit das Tun als „Klientelbewahrendes“ verstehen zu müssen. 93 Dies wäre auch für viele Sozialarbeiter befreiend, denn oftmals ist in der „klassischen Sozialarbeit…die Luft raus“. Durch das „Herumdoktern an Symptomen“ kommt man „an die Ursachen für die Probleme…nicht heran“ (Vossel 2007:146)1. Die Überarbeitung des SGBVIII, die Finanzierung der Jugendhilfe über ein Sozialraumbudget, schließt hierbei die weiterführende Existenz der Einzelfallhilfe nicht aus. Es würde vielmehr darum gehen, die „sonstigen Aufgaben“ des Jugendamtes in ein „Jugend im Kiez“- Netzwerk zu integrieren. Die Tatsache, dass die Aufgabe des Jugendamtes sich momentan auf „In Obhutnahme §42“ oder ähnliche arbeitsaufwendige Maßnahmen fokussiert, darf sich nicht auf andere Aufgaben, wie die präventive Arbeit, auswirken. Auch andere Akteure müssen ihr Tun modifizieren. Erwähnt sei hier noch das Quartiersmanagement, das seine herkömmliche Rolle und Sichtweisen erweitern muss. Insbesondere durch ein Managen „aus dem Quartier“ und nicht „für das Quartier“. Das gemeinsame Interesse der Integration von jungen Menschen in die Gesellschaft kann in einem „Quartiersrat“, „Jugendforum Stadtteil“ oder wie man es auch immer nennen mag, koordiniert werden. Gute, nicht nur pädagogische, Arbeit ist auch in Quartieren mit vielschichtigen Problemlagen möglich. Die Schulen sehen die Jugendhilfe als Partner, die Polizei ist für die Bewohner da und nicht gegen Sie, Bürger engagieren sich im Quartier(-smanagement), etc., schlicht eine kooperative Partnerschaft. Arbeitslosigkeit, Armut, Kriminalität, Integration (vgl. „Integration gemeinsam schaffen e.V.“)2, können als Aufgaben eines Gemeinwesens angesehen werden. Natürlich können die Bemühungen innerhalb des Quartiers die von außen stammenden Ursachen von Problemlagen nicht beseitigen. Doch der Umgang damit kann erleichtert, oder die Folgen gemildert werden. Beispielsweise kann die vorbildlich arbeitende Hauptschule im Quartier das Problem nicht beseitigen, dass Chancen und Schichtzugehörigkeit von Abgängern des „Auslaufmodelles Hauptschule“ im heutigen System größtenteils feststehen. 1 2 Vossel, Marcus „Das Berliner WerkNetz Karlshorst“ in Penta, Leo (Hrg.) „Community Organizing – Menschen verändern ihre Stadt“ edition Körber-Stiftung, Hamburg 2007 „Integration gemeinsam schaffen e.V.“ http://www.cm-fi.de 94 Doch kann eine durch Vernetzung entstandene „starke Stimme“ aus dem Quartier gesellschaftlich Aufmerksamkeit erregen und damit auch zu (politischen) Veränderungen führen. Marginalisierte Gebiete, die für die Vertreter der Politik ansonsten uninteressant sind, weil kein relevantes Wählerstimmenpotential vorhanden zu sein scheint, bekommen durch die gebündelte zentrierte Form eines Quartierrates politische Gewichtung, sei es als Lobbyarbeit oder Öffentlichkeitsarbeit. Dies scheint eine bessere Möglichkeit zu sein, sich öffentlich mit sozialen Problemen auseinanderzusetzen, als die Missstände in Mediendebatten über jugendliche Schläger in der Münchner U-Bahn zu behandeln. Noch zu klären ist, wie das Verhältnis zwischen Professionellen und nicht- Professionellen in eine optimale Form zu bringen wäre. Die „gemeinsame Reflexion der gemeinsamen Arbeit“. Die sensible Frage der Ausgestaltung von Normativität, der (Regel-)Interessen als Handlungsgrundlage, bedarf in Definition und Ausführung eines kultursensiblen Agierens aller Akteure. 5.3 Über „Kultursensibilität“ als Voraussetzung und „systemischer Pragmatismus“ 5.3.1 Kultursensibilität Für die Definition, scheint es im Hinblick auf die Handlungsebene vonnöten einen pragmatischen Ansatz zu formulieren. Hierbei sind insbesondere die „Kultur“- Begrifflichkeiten auf den Handlungsansatz zu fokussieren, denn „Kultur ist, was gelebt wird“. Jenes oft benutzte Zitat von Christa Wolf1 rückt die Alltagskultur und davon abgeleitet die Forderung nach Akzeptanz der Alltagsnormalität (vgl.Yildiz 2007) in den Mittelpunkt. Diese ist natürlich dynamisch und veränderlich, denn (nicht nur) angesichts aktueller (welt)gesellschaftlicher Umwälzungsprozesse ist „eine Kultur (…) immer im Werden, immer im Prozess“ (vgl.Datta 2005:71). 1 Wolff, Christa in Handschuck, Sabine / Schröer, Hubertus „Interkulturelle Orientierung und Öffnung von Organisationen“ 2005 95 Dieses dynamische „Gebilde“ gilt es nun, mit der Fähigkeit, der Kompetenz zur „Sensibilität“ in Verbindung zu bringen. Der Blick in den Duden schlägt drei mögliche Definitionsanwendungen hierfür vor: „1. Empfindlichkeit, Empfindsamkeit; Feinfühligkeit 2. Fähigkeit des Organismus (…)Gefühls- und Sinnesreize aufzunehmen (Med.; Psycholog.) 3. Empfangsempfindlichkeit bei Funkempfängern“ (Der Duden 1997) Auch wenn der dritte Punkt hier nicht passend erscheint, kann diese für den technischen Bereich vorgesehene Anwendung mit dem ebenfalls in technischen Metaphern formulierten Kommunikationsmodell von Fritz von Thun in Verbindung gebracht werden. Ohne auf das Modell näher eingehen zu wollen, würde das reduziert formuliert bedeuten, dass die Empfindlichkeit, die Fähigkeit von Gesprächspartnern Kommunikationssignale „richtig“ zu empfangen gemeint ist. Dieser auf der Handlungsebene entscheidende Prozess würde demnach im kulturellen Kontext die Frage aufwerfen: Wie wird die jeweilige andere „Kultur“ aufgenommen und interpretiert? Diese stark vereinfachte Beschreibung kann natürlich so auch nicht ohne ein einschränkendes „aber“ stehen bleiben. Kulturen sind ja bekanntlich insbesondere im Angesicht moderner Gesellschaften, mittlerweile zu hybriden Formen geworden und „Eigenes“ und „Fremdes“ daher nicht mehr ohne weiteres unterscheidbar. Was würde das bedeuten? Dass radikal konstruiert „nichts wahr“ und „alles erlaubt“ ist? Eine Verunsicherung entsteht. Auf Grund von Pluralität, Multiethnizität, Heterogenität, Differenzierung, Hybridität, Translokalität, etc. ist die heutige Kultur ein „inkonsistentes Gebilde“. Demnach können „symbolische Zusammenhänge“, „soziale Lebenswelten“ und „ideologische Zu- sammenhänge“ nur noch uneindeutig wahrgenommen werden (Zifas/Göhlich/Liebau 2006:186).1 Das Konzept der Transkulturalität, als „memetische“ Weiterentwicklung der alten Inter- und Multikulturalitätskonzepte, verschafft hierbei zwar eine semantische Orientierung in der Verunsicherung, doch „…dass die Unterstellung von Transkulturalität, von 1 Zirfas, Jörg/ Göhlich,Michael/Liebau, Eckart „Transkulturalität und Pädagogik – Ergebnisse und Fragen“ in Zifas/Göhlich/Leonard/Liebau (Hrsg.) „Transkulturalität und Pädagogik“, Juventa Verlag Weinheim/München 2006 96 transnationaler Solidarität, von universalisierbarer Identität und einem Patchwork- Habitus per se eine empirisch zutreffende Beschreibung der kulturellen Wirklichkeiten darstellt (…), muss doch bezweifelt werden“ (ebda.:189). Dass von der Vorstellung ausgegangen werden kann, dass subjektive Zuschreibungen von „Eigenem“ und „Fremden“ sich irgendwann als veraltete Denkmodelle herausstellen werden scheint doch sehr fraglich. Es scheint, dass sich Angesichts der Pluralitäten das psychologische Grundbedürfnis des Menschen nach Sicherheit und Orientierung eher durchsetzen und zu einem verstärkten Bedürfnis nach entlastenden Routinen, Gewohnheiten und Haltungen führen wird. Doch was würde das für die sensible Frage der Ausgestaltung von Normativität, der (Regel-)Interessen als Handlungsgrundlage für das „Jugend im Kiez“- Netzwerk und dessen Akteure bedeuten? Für die Ausformulierung dieser (Regel-)Interessen kann das Konzept der Transkulturalität durchaus dienen. Das Verständnis davon, dass „…sich in den transkulturellen Anknüpfungen, Übergängen und Vermischungen der jeweiligen Kulturen gemeinsame Lebensformen herausbilden bzw. sich kulturelle Horizontverschmelzungen herauskristallisieren…“ (ebda.:189), kann als Basis für einen Dialog angesehen werden. Der verbindende und das Zusammenleben ermöglichende Konsens zwischen diesen pluralen, ausdifferenzierten und individuellen Lebensformen darf allerdings nicht in eine Abstraktionssackgasse führen. Die Anerkennung der Menschenwürde beispielsweise, als kleinste gemeinsame Schnittmenge, ist hierbei nicht genug. Wichtig erscheint, dass sich diese (Regel-)Interessen vom Klassenzimmer über Kiez und Nation bis hin zur weltgesellschaftlichen Ebene legitimieren lassen. Darüber Hinaus müssen von den Akteuren im Netzwerk die veränderten Voraussetzungen wahrgenommen werden, „…insbesondere die Zunahme kulturell uneindeutiger Identitäten und entsprechend verstärkter kultureller Suchbewegungen“ (ebda.:189). Hier kommen die agierenden Akteure und deren einzelnen individuellen kulturellen Hintergründe ins Spiel und das alles auf einer kulturell undeutlichen Spielwiese. Während der 1.Generation der Migranten und der aufnehmenden Gesellschaft noch eine tendenzielle „Verwurzelung“ unterstellt werden kann, ist beim Klientel, den Jugendlichen 97 in 2. und 3.Generation in der „Diaspora“ lebend, diese Suchbewegungen ein entscheidender Faktor der Identitätsfindung. Für die Akteure im Netzwerk bedeutet dies, „…Sensibilitäten für Differenz sowie der Kreativität(…) kulturelle Anknüpfungs- und Übersetzungsmöglichkeiten…“ (ebda.:192) als Fähigkeit oder Kompetenz auszubilden. Die postmodernen Bezeichnungen, wie „interkulturelle Verständigung, -Öffnung oder einfach –Kompetenz“, die sich zur Beschreibung der Schlagwörter Anerkennung, Toleranz, Dialog, Verstehen, etc. bedienen, bleiben natürlich bestehen, doch im erweiterten Sinne. Die Suchbewegungen hin zu Identität und Zugehörigkeit innerhalb transkultureller Daseinsformen, sind ebenso entscheidend. Als Basis dieser Kompetenz bleibt natürlich das „…Erlernen von Fremdsprachen, …historische, politische und geographische Kenntnisse über andere Kulturen und Völker, das Wissen um die Bedeutung von Religion und Technik, aber auch Einblicke in den konkreten Alltag fremder Milieus…etc.“ (ebda.:193), weiterhin relevant, doch die Sensibilisierung der Akteure in Bezug auf Orientierungssysteme individueller oder gesellschaftlicher Gruppen (als entlastenden Routinen, Gewohnheiten und Haltungen), gilt es auf der pragmatischen Handlungsebene in den Vordergrund zu bringen. Hierbei müssen aber semantische Konstruktionen von „Kultur“- Zuschreibungen in den Hintergrund treten. Die Formulierung der gemeinsamen (Regel-)Interessen darf sich keiner wie auch immer gearteten Kulturformulierung bedienen müssen, um die Gefahr der Kulturalisierung oder Ethnisierung, zu vermeiden. Denn wie nicht nur der 11.September 2001 gezeigt hat, sind Polarisierungen und Zuschreibungen von Gruppen schnell auf eine ethnische oder religiöse Dimension reduziert. Aktuelle Beispiele wie der (Mohammed-) Karikaturenstreit, der schon seit längerem schwellenden Kopftuchstreit, der auch außerhalb Deutschlands für Kontroversen sorgt, sind hierfür weitere (negative) Beispiele. Kultur kann schnell zu einem Konstrukt werden, dass das Zusammenleben und die hierfür nötige Verständigung über Normativität erschwert oder gar unmöglich macht, denn „’Herkunftskultur’ wird zu etwas Einheitlichem gemacht, das eindeutig beschreibbar und unveränderlich sowohl Alltagsleben als auch Identitäten und Zugehörigkeiten strukturiert. Es werden sowohl Türken als auch Deutsche, sowohl Muslime als auch Christen kon- 98 struiert, als würden nationale Zugehörigkeiten oder religiöse Orientierungen alleinige Grundlage für Konzepte der Alltagsbewältigung bilden“ (Handschuck/Schröer 2005:1)1. Ein „kultursensibles“ Netzwerk darf, auch wenn es paradox klingt, keine Kulturbegrifflichkeiten „ins Spiel“ bringen, um die Bewältigung und Handlungsansätze für eine gelingende Alltagsrealität nicht „aufs Spiel“ zu setzen. Hierbei soll es natürlich nicht darum gehen „kulturelle Kontexte“ auszublenden, sondern die Kompetenz der Akteure besteht darin, sensibel mit dem Kulturellen umzugehen, und das Bewusstsein ausgebildet zu haben, die Existenz solcher „Kulturfallen“ wahrzunehmen. Dies beinhaltet insbesondere die Fähigkeit zur Selbstreflexion, die Beachtung der relevanten Kontexte der Akteure in ihrer Alltagsbewältigung, und die kommunikative Kompetenz, diese in einem dialogischen Prozess auszutauschen. Doch die Frage muss nun sein, wie lässt sich diese „Kultursensibilität“ als Kompetenz etablieren und fördern? 5.3.2 „Systemischer Pragmatismus“ Hierfür würden sich verschiedenste systemische Konzepte anbieten. Diese müssten den „sozialen Konstruktionen, interaktiven Dynamiken und Kontexten besondere Beachtung widmen“, insbesondere um kommunikative Missverständnisse zwischen den „Part- nern“ zu verringern. Die Ausformulierung der (Regel-)Interessen, systemisch gesprochen: Ein durch „die gemeinschaftliche Konstruktion von Sichtweisen und Haltungen“ (Hegemann 2006:1)2 erreichter Konsens für Normativität, könnten beispielsweise mit reflexiv- systemischen Methoden einer „kollaborativen Gesprächsführung“ (vgl. Gadamer 1965)3 angegangen werden. Hierbei steht wieder die Kommunikation, das Gespräch im Mittelpunkt. Basis hierfür ist das Grundverständnis von Konstruktvismus und 1 2 3 Handschuck, Sabine / Schröer, Hubertus „Interkulturelle Orientierung und Öffnung von Organisationen Strategische Ansätze und Beispiele der Umsetzung“ 2005 Hegemann, Thomas „Interkulturelle Kompetenz Systemische Konzepte bewähren sich zur Verankerung von interkultureller Fachlichkeit in Beratung und Therapie“ 2006 Gadamer, Hans- Georg „Wahrheit und Methode“ 1965 99 Konstruktionismus (vgl.Gergen 2002)1. Insbesondere das letztere, indem über Sprache und Interaktion, als gemeinschaftlicher Akt, „eine“ Wirklichkeit gebildet wird. Hierbei darf nicht das Erreichen einer Lösung/eines Konsens im Vordergrund stehen, sondern der Prozess. Das Gespräch am Laufen zu halten, ist insbesondere zu Beginn eines Treffens der verschiedensten Akteure von großer Wichtigkeit. Aus der Perspektive der Grundhaltung des Nicht- Wissens lässt es sich leichter zu einem Verstehen kommen. Der hierbei für eine „kollaborative Gesprächsführung“ nötige „wechselseitige Perspektivenwechsel durch Mediation und Moderation und eine gemeinsame Reflexion der gemeinsamen Arbeit“ (vgl.Dettling 2007), bedarf hauptsächlich am Anfang einer externen Per- son, eines Mediators und Moderators. Diese komplexen „Anforderungen“ an die Akteure müssen natürlich nicht von Anfang an vorhanden sein. Das als dynamischer Prozess verstandene Jugendnetzwerk bedarf lediglich einer Grundeinstellung, einem Interesse einem Verständnis dafür, dass durch den kommunikativen Austausch aller Akteure ein gegenseitiger Lerngewinn zu erreichen ist. Das Netzwerk, als „lernende Organisation“ (vgl. Senge 1999)2 verstehend, könnte somit durch das Lernen aus der Praxis und der Erfahrungen aller Akteure zu einer funktionierenden und gestaltenden Kraft werden. Nun gut, soviel zu den theoretischen Kompetenzen. Hin zu den konkret gestaltbaren Bedingungen. So erscheint das „Setting“ des „Quartierrates“ maßgeblich für einen Erfolg entscheidend. Neben der Qualifizierung der einzelnen Akteure könnten die Struktur und der Aufbau als Ansatz folgendermaßen aussehen: -eine nach Möglichkeit dem Kiez entsprechende repräsentative personelle Zusammensetzung der „Professionellen“. -Eine ständige Bestandsaufnahme, des Ist- Zustandes wie Populationen etc. und der Bedürfnisse der Akteure, insbesondere der Jugendlichen -Konsequente Schaffung von Partizipationsmöglichkeiten für „nicht- Professionelle“ ggf. unter Einsatz von Dolmetscherdiensten. 1 2 Gergen, K. „Konstruierte Wirklichkeiten - eine Hinführung zum sozialen Konstruktionismus“ Stuttgart: Kohlhammer 2002 Senge, P. „Die fünfte Disziplin – Kunst und Praxis der lernenden Organisation“ Stuttgart: Klett-Cotta 1999 100 Darüber Hinaus, muss sich ein „Jugend im Kiez - Netzwerk“, als pragmatische Institution verstehend, sich mit dem Thema und dem Umgang mit den „Kulturfallen“ beschäftigen, insbesondere mit kulturellen Vorurteilen, Ethnisierung und Rassismus. Eine sich auf Toleranz und „Kultursensibilität“ berufende kooperative Partnerschaft wird hierbei unausweichlich „gegen die Wand“ fahren, wenn kein vorausschauendes Risikomanagement betrieben wird. D.h. das Projekt „Netzwerk“ muss gemanaged werden, indem die Risiken und deren wahrscheinliches Auftreten gemanaged werden (vgl. Tom DeMarco 1998:72)1. Ein Risiko sind die Ansichten und Haltungen, die auch bei „Aufgeklärten“ Personen Teil ihres Bewusstseins und ihrer Wahrnehmung sind. So stehen Deutsche Akteure „…schnell unter dem Kollektivverdacht, ausländerfeindlich zu sein. Dementsprechend groß ist ihre Angst, unabsichtlich in kulturelle ‚Fettnäpfchen’ zu treten und so ihre nichtdeutschen Klienten zu diskriminieren“. Ebenso natürlich auch andersherum und zwischen verschie- denen Migrantengruppen. Vorbehalte, Vorurteile und Diskriminierungen „Die Ethnisierung von zwischenmenschlichen, sozialen oder machtpolitischen Konflikten…“ (Pavkovic 2005:12)2, können im Kiez genauso festgestellt werden wie auf der weltpolitischen Bühne. Insbesondere bei dem Klientel, den Jugendlichen, sind eindeutige Hierarchien der Anerkennung festzumachen. Innerhalb ihrer identifikatorischen Suchbewegungen stellen Ethnisierung und Selbstethnitisierung oftmals verzweifelte Versuche dar, „...die Welt durch eine klare Grenzziehung zwischen (...) 'wir' und 'ihr' wieder überschaubar zu machen“ , insbesondere durch „...die Abwertung 'der Anderen' und damit verbunden, die Aufwertung der eigenen Ethnie“ (Handschuck/Klawe 2004:29)3. Mitarbeiter von Jugendhilfeeinrichtungen (vgl.Alte Feuerwache)4 in „sozialen Brennpunkten“ könnten hierüber berichten. Waren beispielsweise vor Jahren noch Polen und „Zigeuner“ an unterster Stufe der Anerkennung, ist inzwischen ein verstärkter Antisemitismus besonders bei Jugendlichen mit arabischem Hintergrund feststellbar. Darüber hinaus ist der jugendliche „Deutsche“ oder die „Kartoffel“, inzwischen Teil einer Minderheit im Kiez und vor Diskriminierungen nicht mehr sicher. 1 DeMarco Tom „Der Termin – Ein Roman über Projektmanagement“ Carl Hanser Verlag München/Wien 1998 Pavkovic, Gari „Interkulturelle Teamarbeit“ 2005 3 Handschuck, Sabine/Klawe, Willy „Interkulturelle Verständigung in der Sozialen Arbeit“ Juventa Verlag Weinheim und München 2004 4 www. alte-feuerwache.de 2 101 Hier muss ein kluges Risikomanagement vorausschauend arbeiten. Hierunter fällt natürlich auch die Sensibilität für Machtverhältnisse, für strukturelle Benachteiligung und Ausgrenzungen von Minderheiten. Ebenso die immer noch existenten unterschiedlichen Vorstellungen von Integration, sowohl von der Mehrheitsgesellschaft als auch von Minderheiten, wie der Besuch des türkischen Ministerpräsidenten Erdoan und seine „Assimilationsrede“ in Köln zeigten. Hier sind Konflikte vorhersehbar. Es zeigte sich aber auch, dass Missverständnisse zum Alltag gehören und dementsprechend „integriert“ werden müssen. Darunter fällt natürlich auch die Genderfrage, die weder auf weltpolitischer, noch nationaler Ebene, noch im Sozialraum geklärt ist. Überspitzt formuliert ist das die Frage: „Wer entscheidet eigentlich wen du heiratest, deine Eltern, dein Onkel oder du selbst?“ Hier gilt es die kultursensible Kompetenz, nämlich das Aushalten von Spannungen, in ein Risikomanagement mit aufzunehmen. Ein kultursensibles Netzwerk muss bei der Formulierung von gemeinsamen Interessen, den mentalen Korridor aufhalten, d.h. „…im kommunalen Raum Situationen der Offenheit und der Nicht-Festlegung zu stiften“ (Brandt/Lange 2001:6)1. Das trägt der Tatsache Rechnung, dass Normativität nur im Wollensparadigma formuliert werden kann. Das Wollen der zur Zwangsheirat gezwungenen jungen Frau aber auch das Wollen der Familie. Die Tochter einer konservativ- religiösen Familie kann zwar ihre Freiheit erkämpfen, doch nur zum Preis des Ausgestoßenseins. Ein kultursensibles Agieren wäre hier, Prozesse einzuleiten, die ein Gruppengefühl im Kiez etablieren, dass Tradition reflektiert und hinterfragt. Es soll hierbei nicht darum gehen durch Manipulation Veränderungen herbei zu führen, sondern darum, die Ansichten anderer „moderner“ Kiezbewohnern in die möglichen Alternativen der Familienplanung mit einzubeziehen. Ansichten solcher Kiezbewohner, die sich für die Gleichberechtigung von Mann und Frau einsetzen, weil sie kein Interesse daran haben „... weiter eine längst vergangene Türkei in manchen deutschen Stadtvierteln oder Straßenzügen zu konservieren“. Denn „Selbst die Türken in der 1 Brandt,Frauke/ Lange, Matthias „Interkulturelle Kompetenz in Kommunalverwaltung und Gemeinwesenarbeit am Beispiel der Stadt Göttingen“ Projekt Integra 2001 102 Türkei spotten darüber!“ (Bingül 2007)2. Ansichten von Menschen, die Interesse daran haben, das Image des Kiezes zukunftsorientiert und weltoffen zu gestalten. Bei solchen sensiblen Themen darf kein Konsens angestrebt werden, sondern das Spektrum der Möglichkeiten muss in das Quartier transferiert werden. Dies könnte ein Schritt sein, um zur Legitimation der Selbstbestimmung junger Frauen und zwar auch gegenüber der Familie, beizutragen. Eine kultursensible Auswahl, ein sensibler Umgang mit potentiell risikobehafteten Themen, bedarf insbesondere der Einsicht der Akteure, eine Balance halten zu müssen, zwischen der für die Etablierung einer Normativität nötigen „deutlichen Sprache“ und solchen Situationen und Themen, bei denen das Offenlassen und die Nicht-Festlegung angeraten sind, um einen nachhaltigen Schritt zu einem gemeinsamen „Wollen“ zu gehen. 5.3.3 Von kultursensiblem Integrieren und selbstaktiver Integration Es wurde im „Fazit und Ausblick“ dieser Arbeit viel von Bürgern, bürgerlichem Engagement und Zivilgesellschaften geschrieben. Die gemeinsamen geteilten Interessen als „Bürger“ dieses Landes. Doch wer versteht sich als Bürger dieses Landes? Wer hat Interesse an Teilhabe und Mitgestaltung? Die Aussage von Bundeskanzlerin Merkel nach dem Besuch von Erdoan, dass für die zweite und dritte Generation der Einwanderer gilt, dass „Sie ihre Bundeskanzlerin ist“ war wichtig und längst überfällig. Ein Zeichen, ein Signal, für die Jugendlichen aber auch für die Eltern, die in erster oder zweiten Generation in Deutschland leben. Der Wunsch der Gastarbeiter, Flüchtlinge etc., ein besseres Leben in Deutschland zu finden, hat sich für viele erfüllt. Viele sind besser integriert als in der Öffentlichkeit vermittelt. Viele gehen ihren Weg in Deutschland, aber ebenso viele jammern über die „bösen Deutschen und wählen die Opferrolle des Ausgegrenzten“ (Bingül 2007). Ein Weg der nur in eine Sackgasse führen kann. Die Zeiten stehen günstig. Es ist nicht mehr möglich mit rechtskonservativer Polemik eine Wahl zu gewinnen. War in Hessen vor Jahren die „doppelte Staatsbürgerschaft- Debatte“ noch erfolgreich, funktioniert das heute nicht mehr. Integrationspolitisch ist viel in Bewegung. 2 Bingül, Birand „Deutschtürken, kämpft selbst für eure Integration!“ DIE ZEIT, 25.01.2007 Nr. 05 103 Von einer „Kultur der Integration“ ist Deutschland jedoch noch weit entfernt, strukturelle Benachteiligungen sind existent, doch auch Chancen. Diese zu erkennen und zu nutzen ist eine mentale Frage. Davon auszugehen, dass Deutsche eh alle Nazis sind und das Haus in Ludwighafen natürlich deshalb gebrannt hat, verbaut die Sicht und den Willen selbstaktiv das eigene Glück in Deutschland anzustreben. Der Strukturwandel hat Verlierer und Sieger hervorgebracht aber auch die Notwendigkeit gezeigt, sich zu bilden und das ständig. Das mentale Modell „Opfer“ beschreibt nicht das Bild einer selbstaktualisierten Persönlichkeit in einer sich ständig veränderten Welt. Noch so „kultursensible“ Integrationsprogramme verhallen wirkungslos, wenn nicht das „Wollen“ in den Köpfen angekommen ist. Der Wille mitzumachen, dabei zu sein, Teil haben zu können und demzufolge im übertragenen Sinne die Integration selbst zu gestalten, muss sich bei jedem Einzelnen manifestieren. Birand Bingül schrieb am 25.1.2007 ein Aufruf in der Zeit: „Deutschtürken, kämpft selbst für eure Integration!“ Einen Aufruf dem ich mich als Autor dieser Arbeit nur anschließen kann. Integration als nicht von außen im Sollensparadigma formulierte Forderung, sondern als ein für den eigenen Vorteil ausgedrücktes Wollen. Nur wenige der in Deutschland Aufgewachsenen wird irgendwann in ihre „Heimat zurück kehren“. Sie sind ein Teil von Deutschland. Das Festhalten an ihrer „ausländischen“ Staatsangehörigkeit ist eine Identifikationsfrage. Sie sehen sich zwar als Kreuzberger, als Dortmunder Nordstädter etc., aber sie sind natürlich keine „Deutschen“. Hier sollte ein „Raum“ geschaffen werden. Wichtig hierbei sind die Einwanderer der zweiten Generation, wie Bingül als Journalist einer ist, oder auch Künstler, wie Fatih Akin. Menschen, die ihren Weg gegangen sind und ihre Stimme erheben. Sie können, anders als schnell einkategorisierte Deutsche, eine deutliche Sprache sprechen, die auch ankommt. Frei nach dem formulierten Motto von Bingül (2007)„Runter von der Straße! Raus aus den Teestuben! Ran an die Schulen!“, würde ich noch hinzufü- gen: „Hin zu bürgerschaftlichem Engagement und solidarischer Eigenverantwortung!“. Natürlich müssen die Rahmenbedingungen hierfür existent sein. Eine demokratische Gesellschaft muss Bürgerverantwortung unterstützen und insbesondere auch bei denen, die bisher noch nicht über Wahlen am politischen Leben teilhaben können. 104 „Integration ist sinnlos ohne Teilhabe an der Macht. Wenn ich von Integration spreche, dann meine ich keine romantische Mischung der Rassen, sondern eine wirkliche Aufteilung von Macht und Verantwortung“ (Martin Luther King jr.). Ein naheliegender Schritt hierzu kann die Einführung eines kommunalen Wahlrechtes sein. Längerfristig müssen natürlich doppelte Staatsangehörigkeiten, als erster Schritt zur Einbürgerung, erlaubt werden. Eine vom Volke legitimierte Demokratie kann es sich nicht länger erlauben, einen immer größer werdenden Anteil der Bevölkerung die Teilhabe zu verweigern. Darüber hinaus muss sich Deutschland der heterogenen Realität stellen. Die Trennung von Staat und Kirche muss auch hier zum Thema werden. Kopftücher haben an deutschen Schulen ebenso wenig zu suchen, wie Kreuze an den Wänden. Darüber hinaus ist es wichtig die Frage geklärt zu haben, ob die Schule eine „Deutsche Schule“ oder eine Schule in Deutschland ist. Das letztere scheint integrationspolitisch naheliegender. Wie parlamentarische Vertreter der „christlich“- demokratischen Union dies definieren erscheint allerdings weniger klar. Teilhabe/ Partizipation ist der Schlüssel zur Integration. Das Berliner Integrationskonzept „Vielfalt fördern – Zusammenhalt stärken“ geht einen Schritt in die richtige Richtung. Insbesondere die Initiative „Integration durch Partizipation und Stärkung der Zivilgesellschaft“ (vgl. Integrationskonzept 2007:69) legt einen Transfer von in dieser Arbeit formulierten Visionen eines „Jugend im Kiez- Netzwerk“ in die aktuelle Integrationspolitik nahe. Die Initiative für die Beteiligung von Bürgern im Quartier in Form von Bürgerbeiräten und die Schaffung eines Wahlrechts auf kommunaler Ebene sind positive Signale auch für die Bundespolitik. Eine lokale kooperative Partnerschaft aus unterschiedlichsten Akteuren in der Jugendarbeit wäre hierfür ein erster Schritt. Ein kultursensibles „Jugend im Kiez- Netzwerk“ ist natürlich nicht einfach umzusetzen aber erscheint lohnenswert. Ein Gemeinwesen aus Professionellen Akteuren und einer starken engagierten Bürgerschaft gilt es anzustreben. 105 Wird es dann noch geschafft die Jugendlichen nicht nur als Zielgruppe, sondern auch als Teilhaber zu gewinnen, Sie an Entscheidungen und Umsetzungen partizipieren lassen zu können, wäre das Quartier gewappnet für die Herausforderungen der Zukunft, insbesondere der Integration von jungen Menschen in einer sich ständig verändernden dynamischen Gesellschaft. 106 6. Literatur und Quellen Verwendete und zitierte Quellen, geordnet nach erstmaligem Auftauchen in der Arbeit: Der Spiegel Nr.38 „Drei Engel für Kreuzberg“ 17.9.2007 Seitz, Klaus „Verhängnisvolle Mythen – Nationale Identität und kulturelle Vielfalt“ in Datta, Asit „Transkulturalität und Identität“ IKO-Verlag Frankfurt/London 2005 Datta, Asit „Kulturelle Identität in der Migration“ in Datta, Asit „Transkulturalität und Identität“ IKO-Verlag Frankfurt/London 2005 Welsch, Wolfgang, „Transkulturalität“ Institut für Auslandsbeziehungen (Hrsg.): Migration und Kultureller Wandel, Schwerpunktthema der Zeitschrift für Kulturaustausch Stuttgart 1995 http://www.forum-interkultur.net/fileadmin/user_upload/pdf/27.pdf (20.11.07) Argyris, Chris; Schön, Donald „Die lernende Organisation. Grundlagen, Methode, Praxis“ (1996) Verlag Klett-Cotta. Stuttgart. (1999). 2. Auflag. 2002. Scherer, H.. (2003, 8. Dezember): Kulturelle Segregation - Zweisprachigkeit - Integration - Assimilation (Begriffe, kontroverse Ansätze, pädagogische Konflikte) http://www.stadtteilarbeit.de/seiten/theorie/scherer/kontroversen_migration.htm (20.11.07) Özcan, Veysel „Focus Migration – Länderprofil Deutschland“ Nr.1 Mai 2007, Herausgeber: Hamburgisches WeltWirtschaftsInstitut (HWWI) http://www.focus-migration.de/Laenderprofile.1349.0.html (20.11.07) Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG), Stand 19.8.2007 www.juris.de (20.11.07) 107 Cohn-Bendit, Daniel; Schmid, Thomas „Heimat Babylon – Das Wagnis der multikulturellen Demokratie“ Hamburg: Hoffmann und Campeverlag, 1993 Esser, Hartmut „Aspekte der Wanderungssoziologie“Darmstadt, Neuwied: Hermann Luchterhand Verlag, 1980 Özdemir, C. (2005): "Visionen einer multikulturellen Gesellschaft“ http://www.stadtteilarbeit.de/seiten/theorie/oezdemir/multikultur.htm (20.11.07) Birand Bingül, 8.11.07, Kommentar zu den Tagesthemen in der ARD http://www.tagesschau.de/multimedia/video/video231836.html (20.11.07) Pitt von Bebenburg: „Schwarz-Gelb ohne Mehrheit“ Frankfurter Rundschau, 12.1.08 Michael Rutschky: „Jugend ist Gewalt“ Frankfurter Rundschau, 12.1.08 Desniz Yücel im Interview mit Emine Demir-Büken-Wegner(CDU) „Wählt CDU trotz Koch!“ TAZ, 12.1.08 Josef Nussbaumer: Vorwort in Eveline Viehböck, Ljubomir Bratic : „Die Zweite Generation“ Innsbruck: Österr. Studienverlag, 1994 Eveline Viehböck, Ljubomir Bratic „Die Zweite Generation“ Innsbruck: Österr. Studienverlag, 1994 Birg, H./ Flöthmann, E.-J. „Bevölkerungsentwicklung: Umbruch nach 2012“ Demographische Projektionsrechnungen für die Rentenreform 2000. Methodischer Ansatz und Hauptergebnisse. 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