B KULTURWISSENSCHAFTEN BH MUSIK

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KULTURWISSENSCHAFTEN
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MUSIK, MUSIKWISSENSCHAFT
BHA
Musikalische Formen
Personale Informationsmittel
Keith JARRETT
BIOGRAPHIE und DISKOGRAPHIE
15-3
Keith Jarrett : eine Biographie / Wolfgang Sandner. - 1. Aufl. Berlin : Rowohlt Berlin, 2015. - 357 S. : Ill. ; 21 cm. - Diskographie S. 325 - [351]. - Bibliographie S. 352 - [358]. - ISBN 978-387134-780-1 : EUR 22.95
[#4095]
Zum siebzigsten Geburtstag des am 8. Mai 1945 geborenen Keith Jarrett
erschienen nicht nur zahlreiche Artikel in überregionalen Zeitungen wie
Süddeutsche Zeitung,1 Neue Zürcher Zeitung,2 Frankfurter Rundschau,3 Frankfurter Allgemeine4 und Tagesspiegel;5 auch das Fernsehen
strahlte archiviertes Konzertmaterial aus,6 Jazz-Zeitschriften bildeten Jarrett
auf ihrer Titelseite ab und publizierten zahlreiche Artikel, der Versand
Zweitausendeins widmete Jarrett in seinem Merkheft eine ganze Seite mit
dessen CDs unter der Überschrift Happy B'Day, Keith Jarrett!7 - und
Wolfgang Sandner publizierte nach den beiden älteren Monographien von
Ian Carr8 und Uwe Andresen9 eine umfangreiche Biographie des vermutlich
1
Zum 70. Geburtstag von Keith Jarrett : "Oh, hören Sie, hören Sie!" / Alex Rühle. // In: Süddeutsche Zeitung. - 2015-05-07.
2
Zum 70. Geburtstag des amerikanischen Pianisten Keith Jarrett : Offen für
die Ewigkeit / Ueli Bernays. // In: Neue Zürcher Zeitung. - 2015-05-08.
3
Keith Jarrett wird 70 / Hans-Jürgen Linke. // In: Frankfurter Rundschau. - 201505-07.
4
Keith Jarrett zum Siebzigsten : alles für den musikalischen Augenblick / Wolfgang Sandner. // In: Frankfurter Allgemeine. - 2015- 05-12.
5
Keith Jarrett : der Ganzkörper-Ekstatiker / Gregor Dotzauer. // In: Der Tagesspiegel. - 2015- 05-08.
6
So der NDR ein zweistündiges Konzert vom 100. NDR Jazzworkshop 1975.
7
Merkheft / Zweitausendeins. - Nr. 291 (2015), Mai, S. 60.
8
Keith Jarrett : the man and his music / Ian Carr. - London : Grafton Books, 1991.
- 237, [16] S. : Ill. - ISBN 0-246-13434-8.
9
Keith Jarrett : sein Leben, seine Musik, seine Schallplatten / Uwe Andresen. Gauting-Buchendorf : Oreos, [1985]. - 187 S. : Ill. - (Collection Jazz ; [6]). - ISBN
3-923657-09-9.
bekanntesten Jazzpianisten und Multiinstrumentalisten10 Keith Jarrett, den
Sandner auch ungeniert "Genie" nennt.
Sandner, bekannt als langjähriger Musikredakteur der Frankfurter Allgemeinen und Professor am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität
Marburg, veröffentlichte u.a. 2010 eine Biographie über Miles Davis.11 Er ist
mit Keith Jarrett seit vielen Jahren bekannt und hat mit ihm zahlreiche,
intensive Gespräche geführt. Über Keith Jarrett weiß man eigentlich sehr
wenig Privates. Auch Sandner erzählt die Stationen seiner Biographie recht
kurz.12 Sie führen vom Klavierunterricht mit drei Jahren zum Wunderkind mit
frühen Konzertauftritten als Siebenjähriger zu den ersten Jazzkonzerten ab
1963 in den Bands von Art Blakey, ab 1966 bei Charles Lloyd und zwischen
1969 und 1971 bei Miles Davis. Mit dem Bassisten Charlie Haden und dem
Schlagzeuger Paul Motian gründete er ein eigenes Trio, das später durch
den Saxophonisten Dewey Redman ergänzt wurde als sog. amerikanisches
Quartett. Als Solo-Pianist spielte Jarrett allein bis 1975 rund 50 SoloKonzerte in aller Welt, von denen der Live-Mitschnitt des Köln Concert von
1975 als die bis heute meistverkaufte Soloplatte des Jazz gilt. Über dieses
Konzert gibt es auch Dissertationen, Transkriptionen und Fachliteratur.13
Jarrett gründete auch ein sog. europäisches Quartett mit Jan Garbarek,
Palle Danielsson und Jon Christensen. Die Anzahl der Mitmusiker hielt sich
bei Jarrett in seiner fünfzigjährigen Musikerkarriere in Grenzen verglichen
mit anderen bedeutenden Jazzmusikern wie Miles Davis, der über vierzig
Pianisten beschäftigt hat oder Art Blakey, der in seiner "Jazzuniversität"
vermutlich mit mehreren hundert Musikern gespielt haben dürfte.
Wolfgang Sandner beschreibt die Biographie Keith Jarretts immer wieder in
engem Kontext mit der Jazzgeschichte der letzten fünfzig Jahre, was sich
sehr flüssig und auch spannend liest. Er arbeitet alle Veröffentlichungen und
Live-Auftritte Jarretts systematisch durch und beschreibt sie auf einzigartige
Weise, die belegt, daß man auch gut über Musik schreiben kann. Dabei
sind nicht alle Besprechungen unbedingt positiv. Da "pfuscht" sich Jarrett
mal "ständig selbst buchstäblich ins Handwerk, indem er die merkwürdigsten Klänge und Geräusche aus dem Korpus und auf dem Flügel
produziert ..." (S. 128). Mal "... vernimmt der Hörer bei Remorse ein
Sammelsurium verschiedener Schallquellen, die alle irgendwie nicht
10
Jarrett spielt neben Piano, E-Piano und Klavicord auch Schlagzeug, Perkussion
und Tabla sowie Saxophon, Banjo, Cello, E-Gitarre, E-Bass sowie weitere Instrumente.
11
Miles Davis : eine Biographie / Wolfgang Sandner. - 1. Aufl. - Berlin : Rowohlt
Berlin, 2010. - 297 S. : Ill. ; 21 cm. - ISBN 978-3-87134-677-4 : EUR 19.95
[#1872]. - Rez.: IFB 12-1 http://ifb.bsz-bw.de/bsz333079973rez-1.pdf
12
Inhaltsverzeichnis: http://d-nb.info/1050658639/04
13
Z.B. Keith Jarrett's The Köln Concert / Peter Elsdon. - New York, NY [u.a.] :
Oxford University Press, 2013. - X, 171 S. : Notenbeisp. ; 21 cm. - (Oxford studies
in recorded jazz). - ISBN 978-0-19-977925-3. - S.a. Fliegen mit gestutztem Flügel : vor 40 Jahren spielte der Jazz-Pianist Keith Jarrett sein legendäres "Köln
Concert" / Max Florian Kühlem. - In: Rolling Stone [deutsche Ausg.]. - Nr. 243
(2015), S. 17.
zusammenpassen und ihn nachdenklich zurücklassen" oder "... eine Klarinette taucht auf, die da gar nichts zu suchen hat" und ein anderes Mal gibt
es "eigenartiges Gezirpe, Geschepper und Gereibe auf dem Schlagzeug"
(S. 134).
Ein anderes Mal hebt Sandner geradezu ab: "Da werden ungeheuere
Klavierklangmassen bewegt, da tosen wie in Mussorgskis Bilderwelt die
Kücken in ihren Eierschalen über die Tasten, verfestigt sich ein
Prokofjew'scher Stahltrust und wird schliesslich über ein kontrapunktisches
Geflecht aus Holzklopfen, Stöhnen, Melismen und Fussstampfen ein
anarchischer Marsch entwickelt, der in einen regelrechten Kampf mit dem
Instrument mündet, bis die Finger ... in eine mehrstimmige Invention, direkt
aus der Werkstatt Johann Sebastian Bachs, einlenken" (S. 204).
Laut Sandner bewegt sich Keith Jarrett mit seinem "kraftstrotzendem
Bebop" in der "Ausweitung der Bebop-Zone zum gelenkten Free-JazzChaos" (S. 149 - 150). Für Sandner ist Keith Jarrett ohnehin "zu allem fähig"
(S. 153) und in jedem Fall ein begnadeter (Solo-) Improvisator. Mit dem
Free Jazz hat es Sandner offenbar aber nicht so wie aus zahlreichen, eher
verächtlichen Bemerkungen an verschiedenen Stellen des Buches hervorgeht. So gibt es nach ihm den Free Jazz "aus der Kaputtspielphase" auf
Seite 187, die "asketischen Jahre des Free Jazz" von Seite 242, die "Axt
des Free Jazz" auf Seite 59, die "Oktoberrevolutionäre des Free Jazz" auf
Seite 290 sowie das "Free-Jazz-Chaos" auf Seite 150.
Sandner widmet der Zusammenarbeit Jarretts mit Manfred Eicher, dem
Begründer und Betreiber des Plattenlabels ECM, einen großen Teil seines
Buches. Ohne Eicher hätte es viele Produktionen, Tourneen und Aktivitäten
Jarretts vermutlich nicht gegeben. Man kann diese Entwicklung durchaus
auch als typisch europäische Projekte sehen, die in den USA in dieser Form
seinerzeit nicht möglich gewesen sein dürften. Wohl hat Jarrett auch in den
USA Erfolge, aber er blieb nach Platten bei Impulse und anderen US-Labels
mehr oder weniger bei ECM "hängen" und gehört somit zum festen
Repertoire des sogenannten "ECM-Jazz".14 Auch die meisten Aufnahmen
Jarretts mit klassischer Musik sind wohl Eicher zu verdanken. Allerdings
fühlte sich Jarrett in der Klassikwelt nie richtig zu Hause. Sandner widmet
diesem Thema ein eigenes Kapitel (ab S. 212).
Mitte der 1990er Jahre zog sich Jarrett wegen eines chronischen Erschöpfungssyndroms vom Konzertbetrieb zurück. Sandner beschreibt sein
Comeback im Jahr 2001 (S. 226) und die weiteren Erfolge.
Etwas schleierhaft bleibt im Buch das Verhältnis Jarretts zu Mystikern und
religiösem Gedankengut. Sandner schreibt von Jarretts "Auseinandersetzung mit religiösen Prinzipien" und mit "esoterischem Gedankengut" (S. 200
14
ECM : [eine kulturelle Archäologie ; anlässlich der Ausstellung ECM - eine Kulturelle Archäologie, Haus der Kunst, München, 23. November 2012 bis 10. Februar 2013] / [Hrsg. Okwui Enwezor ; Markus Müller. Autoren Diedrich Diederichsen
... Übers. aus dem Engl. Heike Ander ...]. - München [u.a.] : Prestel, 2012. - 303 S.
: zahlr. Ill. ; 28 cm. - ISBN 978-3-7913-5284-8 : EUR 49.95 [#2990]. - Rez.: IFB
13-2 http://ifb.bsz-bw.de/bsz376321563rez-1.pdf - Der Katalog enthält u.a. einen
Aufsatz von Wolfgang Sandner.
- 203). Jarrett spielte Kompositionen von Georges I. Gurdjieff, hielt aber
sonst laut Sandner immer Abstand von "Sakralkitsch" und von "New-AgePhraseologie" (S. 202). Dennoch münden Aufnahmen "in einen DerwischTanz" und in "Ekstase" (S. 203). Für den verstorbenen Jazzkritiker JoachimErnst Berendt war "Keith Jarrett ... ein 'pianistischer Totalisator'. Er ... besitzt
die Fähigkeit, den Klavierton 'singen' zu lassen, dass sein Spiel eine
hymnische, fast sakrale Qualität gewinnt. Es war Coltrane, der das
Hymnische in den Jazz eingeführt hat, aber Jarrett hat diese Dimension wie
kein anderer kultiviert, pathetisiert und ins Metaphysische überhöht" und ...
Keith Jarrett ist der hymnische Sänger unter den Jazzpianisten."15
In seinem bereits 1977 erschienenen Buch Ein Fenster aus Jazz sah
Berendt in einem Keith Jarrett gewidmeten Kapitel etwas "Bayreuthisches"
in ihm16. Er zitierte dort die New York Times, die sich über ein Konzert von
Jarrett im Sommer 1976 in der Carnegie Hall, das er mit Streichern
durchführte und dort das Publikum bat, sich vor dem Konzert auszuhusten.
So sahen ihn viele: das göttliche Genie, das ein sterbliches Publikum
aufforderte, während des Konzertes nicht zu husten, keine Handy-Fotos zu
machen, während er selber am Klavier in typischer Manier stampfte und
stöhnte, grunzte und mitsang. Gerne bricht er auch mal ein Konzert ab (S.
311), wenn jemand dann doch hustet; oder er fragt, ob ein anderer Pianist
aus dem Publikum das Konzert fortsetzen wolle (S. 205). Der Huster als
Sabotage zwingt den Künstler mehrfach zu Unter- oder Abbruch des
Konzertes (S. 311). Dennoch benötigt er das Publikum als Feedback und
klassifiziert sogar seine Zuhörerschaft.17 Der Star reist mit Physiotherapeut
und einer Bettstatt, wohnt in Nizza, chartert ein Privatflugzeug, um immer im
gleichen Bett seines Hotels in Nizza schlafen zu können (S. 229); all dies ist
jedoch seinen Rückenschmerzen geschuldet (S. 142 - 143). Sandner
beschreibt diese Allüren keineswegs höhnisch, sondern immer sachlich und
nachvollziehbar. Dennoch bricht Keith Jarrett auch zu ihm letzten Endes
den privaten Kontakt ab, als sie sich über die Bewertung des Köln Concert
streiten.
Eine Auflistung diverser Platten beschreibt Sandner mit folgenden
Formulierungen: "ohne Kommentar", "keine Titel", "keine Erklärungen",
"Nichts sonst", "ohne Erläuterungen", "wortlos", "kommentarlos", "unkommentiert", "ohne Worte" (S. 170 - 171) und beschreibt damit eine der vielen
15
Das Jazzbuch : von New Orleans bis ins 21. Jahrhundert ; mit ausführlicher
Diskographie / Joachim-Ernst Berendt ; Günther Huesmann. - 7., vollst. überarb.
und aktualisierte Ausgabe. - Frankfurt am Main : Fischer, 2005. - XVI, 927 S. :
graph. Darst. ; 23 cm. - Diskographie S. 855 - 909. - ISBN 3-10-003802-9 : EUR
29.90 [8726]. - Hier S. 493 - 494. - Rez.: IFB 06-1-072 http://swbplus.bszbw.de/bsz117887692rez.htm
16
Ein Fenster aus Jazz : Essays, Portraits, Reflexionen / Joachim-Ernst Berendt.
- Frankfurt am Main : S. Fischer, 1977. - 428 S. : Ill. - ISBN 3-10-003801-0. - Keith
Jarrett - die ganze Welt am Flügel (S. 80 - 86).
17
Geboren am Tag eines hoffnungsvollen Weltuntergangs / Hans-Jürgen Linke. // In: Jazzthetik. - 2015, 05/06, S. 26.
Eigenarten Jarretts, der nicht gerne über seine Musik spricht oder sie
kommentiert.
Keith Jarrett wurde 2008 in die Down Beat Hall of Fame eingereiht und
erhielt 2014 den Preis NEA Jazz Masters Fellowship, die höchste USAuszeichnung für Jazzmusiker.
In dreizehn Kapiteln liefert Wolfgang Sandner eine kurzweilige Werkschau
über Keith Jarretts Werk, fügt diesem einige biographische Informationen
bei, ohne dessen Privatsphäre zu verletzen und bettet das Ganze in eine
Chronologie des Jazz. So wünscht man sich guten, sachlichen FachJournalismus, der heutzutage im Hinblick auf die gegenwärtigen kulturpolitischen Themen auszusterben droht. Trotz aller Verehrung bleibt jedoch
auch eine gewisse Distanz zum Künstler. Gerne hätte man mehr über
Vergleiche Keith Jarretts mit anderen Pianisten wie z.B. Cecil Taylor gelesen, aber wie gesagt, Wolfgang Sandner hat es wohl nicht so sehr mit dem
Free Jazz ... 18
Eine ausführliche Diskographie mit über 25 Druckseiten und eine
Bibliographie schließen das Werk Sandners ab; schmerzlich vermißt man
einen Index. Es wird dennoch als Standardwerk über Keith Jarrett in die
Jazzliteratur eingehen.
Bernhard Hefele
QUELLE
Informationsmittel (IFB) : digitales Rezensionsorgan für Bibliothek und
Wissenschaft
http://ifb.bsz-bw.de/
http://ifb.bsz-bw.de/bsz416502245rez-1.pdf
18
Immerhin hat es Keith Jarrett geschafft, den Literaturkritiker Marcel ReichRanicki, der sonst nie in Jazzkonzerte ging, in das Konzert in der Alten Oper
Frankfurt im März 2007 zu lotsen (S. 219), was Cecil Taylor natürlich niemals gelungen wäre.

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