- Gundolf S. Freyermuth

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- Gundolf S. Freyermuth
1989
Reprint
Der Ausweg II
Dieser Roman erzählt von den unmoralischen Abenteuern eines bundesdeutschen Helden: Harry Mann, 38 Jahre alt und ohne Lebensunterhalt. Widerwillig ergreift er die Gelegenheit, von der er glaubt,
dass es seine letzte ist – ein Mord, zu begehen aus Liebe zu Frau und
Geld. Unverhofft gerät Harry Mann damit in eine ganz neue weite
Welt aus politischer Korruption, Erpressung und Attentaten ...
Von Gundolf S. Freyermuth
vol. 2010.05
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Inhalt
Publikationshinweise / 3
Sechstes Kapitel
Venice Sehen ... / 5
Siebtes Kapitel
Massaker / 67
Impressum / 141
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Publikationshinweise
Die Geschichte vom bundesdeutschen Mörder Harry Mann - zugleich Thriller und
Gesellschaftsroman - erschien zuerst 1989. Damals schrieb der Spiegel: „Freyermuths
Tiefkühl-Prosa hat die Präzision (und bisweilen auch die Melancholie) von guten
Rocktexten.“ („Ein Killer für Hollywood“, Der Spiegel, Heft 28/89, 10. Juli 1989). Und
das Magazin LeseZeichen des Bayerischen Rundfunks urteilte: „Der Thriller entpuppt
sich als Ausweg: als Möglichkeit, einen Gesellschaftsroman zu schreiben.“
Viele Jahre nun war der Roman vergriffen. Ich habe mich daher entschlossen, ihn auf
möglichst viele Weisen wieder zugänglich zu machen – in der Hoffnung, dass seine
spannende und inzwischen auch schon historisch interessante Geschichte neue Leser
gewinnt.
Der Reprint des Monats April 2010 brachte die ersten beiden Kapitel sowie das Vorwort
zur Neuausgabe. Der Mai-Reprint bringt nun die Kapitel sechs und sieben.
Darüber hinaus mache ich auf www.ausweg.freyermuth.com den kompletten Roman der
freien Online-Lektüre zugänglich.
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Ab sofort gibt es zudem zwei E-Book-Ausgaben für jeweils $2.99 (ca. € 2.25):
• die Amazon Kindle-Edition – lesbar auf dem Kindle sowie mit KindleProgrammen auf dem iPhone, Blackberry, Apple und Windows-Computern (auf
www.amazon.com).
• die Smashwords-Edition – lesbar u.a. in den Formaten pdf, epub (u.a. Stanza),
LRF (Sony Reader), rtf und plain text (auf www.smashwords.com).
Die verschiedenen Ausgaben sind untereinander textidentisch, allerdings im Vergleich
zur Originalausgabe durch ein neues Vorwort ergänzt, stilistisch leicht überarbeitet und
in der Rechtschreibung modernisiert.
Last but not least: Wer den Roman lieber auf toten Bäumen lesen möchte, findet bei
Amazon, Abebooks und anderen die Erstausgabe antiquarisch.
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SECHSTES KAPITEL: VENICE SEHEN ...
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Gegen halb fünf traten zwei Frauen und ein
silberschopfiger Mann aus dem postmodernen Gebäude – die drei Personen, die das
Polaroidfoto zeigte. Und wie sie ihr Luxusheim verließen! Die Familie rückte in Shorts
aus; in Shorts mit Sandalen und Wollstrümpfen! Witterten sie irgendwo Süden, wurden
die feinen Leute bieder wie die Kröten.
Die drei marschierten am „Treefrog’s Café“
vorbei, rechts in den Ocean Front Walk.
Dankbar für die amerikanische Unsitte, dem
Gast unmittelbar, nachdem er den letzten
Bissen verschluckt hat, die Rechnung hinzu-
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schieben, legte Harry Mann fünfundzwanzig Dollar auf den Tisch und folgte seinen Opfern.
Am Beach-Parking bestieg die Familie das bei weitem auffälligste Gefährt, einen geschmacklos goldenen Rolls Royce. Mann fragte sich, warum der Wagen nicht in der Garage des Hauses abgestellt war. Wohnten die drei gar nicht in dem weißen Bunker?
Der Rolls bog links in die Pacific Avenue und rollte gemächlich mit dreißig Meilen dahin.
Ihm zu folgen war leicht. Harry Mann hielt mehrere Wagen Abstand und versuchte, sich
die Straßenführung einzuprägen. Kurz hinter Pico Boulevard ging eine Abfahrt nach links
zum Pacific Coast Highway hinunter, dessen überbreites Betonband endlos lang parallel
zum endlos breiten Strand verlief.
Alles war in diesem Land größer, zu groß. Selbst der blaue wolkenlose Himmel schien
höher als in Europa.
Zwanzig Minuten später hatten die beiden Wagen Malibu erreicht. Die schäbigen Rückfronten der teuersten Villen auf Gottes weiter Erde trennten jetzt Highway und Strand.
Viele der Häuser machten einen verlassenen Eindruck.
Gegen halb sechs hielt der Rolls an einem Fast-Food-Deli, und das blonde Mädchen verschwand für ein paar Minuten, um mit zwei braunen Papiertüten wieder aufzutauchen.
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Weiter ging es, gemächlich immer geradeaus, hinein in die noch hochstehende Abendsonne.
Mit jeder weiteren Meile veränderte sich das Verhältnis von Beton und Landschaft zugunsten der kahlen Felsen. Bald fuhren zwischen dem goldfarbenen Rolls und dem dunkelblauen Nova nur noch wenige Wagen, und Harry Mann vergrößerte seinen Abstand.
Eine halbe Stunde später, an der Zufahrt zu einem Strand, bremste der Rolls ab und
rollte ihm Schritt-Tempo weiter. Er schien an seinem Ziel angekommen.
Harry Mann war inzwischen gut dreihundert Meter zurückgefallen und hielt oben auf
der Anhöhe hinter dem Rest eines Felsens, durch den man die Zufahrt in die Bucht gesprengt hatte. Von hier aus führte der Highway in einer sanften Kurve hinunter, bis er
ziemlich genau in der Mitte der Senke den tiefsten Punkt erreichte. Danach stieg er im
Halbkreis erneut an, um eine gute Meile weiter durch eine zweite künstliche Schlucht
wieder hinauszuführen.
Der Rolls war an diesem tiefsten Punkt angelangt. An ihm gab es zwei Abzweige, einer
endete rechts an der Zufahrt zu einem geschlossenen Campinggelände, das hinter
einem dichten Wäldchen verborgen lag, und ein zweiter ging nach links ein weiteres
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Stück hinunter zu einem Parkplatz, der am Strand im Schatten einiger Palmen, Pinien
und Sykomoren angelegt war.
In diesen Abzweig bog der Rolls und hielt, halb von den Bäumen verdeckt. Seine Türen
öffneten sich. Der Mann trug die beiden braunen Papiertüten im Arm. Er stapfte mit
ihnen durch den Sand gen Wasser. Die zwei Frauen folgten ihm.
Langsam ließ Harry Mann den Nova in die Senke hinunterrollen. Weit und breit war kein
Mensch zu sehen. Er nahm den rechten Abzweig, fuhr ein Stück weit hinein und parkte
in dem Wäldchen, so dass der Wagen zum Highway hin versteckt war. Dann holte er
Peters abgelegte Videokamera aus dem Kofferraum und lief zwischen den Bäumen im
weiten Bogen zum äußersten Ende des Waldstückes. Dort überquerte er die Fahrbahn.
Zwischen ihr und dem Strand lag eine dichte Reihe wild gewachsener Sträucher und
Hecken. An ihnen entlang ging Mann den Highway wieder hinauf in Richtung Malibu, aus
der er gekommen war.
Nach fünfzig Metern bot sich ein hervorragender Überblick über den tiefer liegenden
Strand. Den optischen Mittelpunkt bildete eine Art hellblauer Kabine auf Stelzen mit
einem Geländer rund herum, ein Turm der Rettungswacht, die Nummer sechs an dieser
Küste, wie ein großes Schild anzeigte. Die Fenster des Ausgucks waren, der Jahreszeit
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entsprechend, verrammelt. Auch in jeder anderen Hinsicht hatten fürsorgliche Behörden die Bucht vollständig zivilisiert, inklusive verwitterter Sitz- und Barbecue-Ecken,
einem Münztelefon, mehrerer metallener Toilettenkabinen und zwei Dutzend grauer
Mülltonnen.
Von all dem Luxus machte an diesem Spätsommerabend niemand außer den dreien
Gebrauch. Sie hatten den Inhalt der beiden braunen Papiertüten auf einem der Tische
ausgebreitet und begannen, von unzähligen Möwen umkreist, zu speisen.
Durch den Sucher der Kamera beobachtete Mann die Familie. Falls ihn jemand sehen
sollte, würde ein verrückter Tourist, der eine Einöde filmte, unverdächtiger wirken als
eine Person mit Feldstecher. Obwohl man bezweifeln musste, dass in Kalifornien überhaupt irgendeine Verrücktheit auffiel. Hier stachen die wenigen Normalen ins Auge.
Mann ließ den Zoom vor- und zurückfahren und tastete Stück für Stück die Körper ab.
Der Mann war mittelgroß, Mitte Vierzig und höhensonnengebräunt. Sein dichtes Haar
schimmerte zu silbernweiß, um nicht gefärbt zu sein. Das Gesicht besaß kaum Konturen, nur der Mund war hart und schmal. Das Kinn wirkte weich und bekam allmählich
eine doppelte Linie. Unter dem maßgeschneiderten Hemd zeichnete sich sanft der beginnende Bauch ab. Ein Fall für den Heimtrainer.
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Mann schwenkte die Kamera. Die rote Bluse, deren oberste Knöpfe geöffnet waren,
spannte sich unter dem Druck der breiten Schultern und schweren Brüste. Der Hals
der Frau war weiß und im Nacken von der Sonne leicht rosa gefärbt. Ihr Haar trug sie
sehr kurzgeschnitten, kürzer als ihr Mann. Ihr Mund war breit, und ihr Lächeln schien
unverkrampft. Mann vermochte nichts Zierliches an ihr zu entdecken. Wenn sie sprach,
traten ihre Lippen hervor, und die Nasenflügel weiteten sich. Ihr Oberkörper wurde
mühsam von einem BH aufrecht gehalten, dessen Druck die erigierten Brustwarzen wie
zwei Glasmurmeln hervortreten ließ. Auch die überstrapazierten Shorts erlaubten keine
Zweifel an dem, was darinnen steckte, und das Fleisch der nackten Schenkel glänzte
auf eine ungesunde Art weiß und fast noch fest.
Aus unerfindlichen Gründen war Mann die Frau sympathisch.
Nach zehn Minuten hatte die Familie ihr Picknick beendet, und die drei gingen hinunter
zum Wasser. Dort standen sie unschlüssig herum und schienen sich über den weiteren
Verlauf des Ausflugs nicht einigen zu können. Ihre sechs Hände fuchtelten in alle Himmelsrichtungen.
Das Mädchen wandte sich schließlich um und stapfte davon, zum nördlichen Ende des
Strandes. Die Eltern blieben einen Augenblick stehen und sahen ihr hinterher. Dann
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hakte sich die Frau bei dem silberschopfigen Mann unter, und die beiden spazierten in
die entgegen gesetzte Richtung.
Mann folgte ihnen auf der Straße im Schutz der Hecken. Die untergehende Sonne hing
halbhoch über dem Pazifik und warf gelbes Licht auf die braunen Felsen hinter ihm.
Wind war aufgekommen und trieb frische feuchte Seeluft ins Land. Sie blieb an der
Haut kleben, und es wurde endlich ein wenig kühler. Kurz vor dem höchsten Punkt der
Bucht, an dem sie der Highway in einer weiten Kurve durch die Felsen geführt hatte,
fand Mann den perfekten Aussichtspunkt.
Im Sucher verfolgte er, wie die Waden der Frau, von den weißen Wollsöckchen nur zur
Hälfte bedeckt, sich über den hohen Absätzen der Sandalen spannten. Sie ging nicht
gerade elegant, aber entschlossen. Weder ihr noch ihrem Mann sah man von weitem
Unsicherheit an, doch in der Vergrößerung des Zooms waren ihre unbehaglichen Blicke
deutlich zu erkennen.
Sie lebten ein Leben auf Abruf, und sein Gefühl sagte ihm, dass zumindest eine der Personen darauf wartete, dass etwas geschehen würde. Er musste es hinter sich bringen.
Das ausgestorbene Terrain gab die ideale Kulisse für einen Mord ab.
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Als das Paar die Felsen am südlichen Ende des Strandes erreicht hatte, schauten die
beiden zu dem blau gestrichenen, einstöckigen Holzgebäude, das versteckt in der äußersten Ecke der Bucht dicht bei der felsigen Straßenböschung stand, gut zehn Meter
über dem Strandlevel und ebenso tief unter dem Level der Fahrbahn. Die Frau sagte
etwas, und Silberschopf nickte zögernd. Hand in Hand kletterten sie hoch zu dem Haus,
direkt hinein in den Sucher der Kamera.
Mann schwenkte fast automatisch nach rechts. „Life Guard Headquarters“ verkündete
ein Schild im Fenster, und darunter „First Aid“, verziert mit zwei kleinen roten Kreuzen. Jetzt kam auch das Paar ins Bild. Die beiden stiegen die Stufen hoch zu der Holzveranda. Auf ihr verfaulten zwei weitere dieser hölzernen Tisch-Bank-Kombinationen.
Überall lagen verrostete Bierdosen herum, leere Flaschen, bunt bedruckte Styroporverpackungen von Fast-Food und ein Haufen anderer Zivilisationsmüll, den Mann im Sucher
der Kamera nicht identifizieren konnte. Neben der grauen Mülltonne lehnte wie zum
Hohn ein unbenutzter Besen an der Wand.
Das Paar setzte sich. Die Frau zeigte auf den dunstigen Ball der Sonne und dann links
auf den strahlendblauen Himmel, an dem schon die weiße Halbkugel des Mondes erschien. Silberschopf langweilte sich sichtlich. Seine Frau sah sich suchend um. Einen
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Augenblick ruhte ihr Blick auf einer Stelle, die etwas tiefer lag als die Terrasse. Dann
ergriff sie die Hand ihres Mannes und küsste sie.
Mann folgte der Richtung des Blickes. Wenn er richtig schätzte, hatte die Frau zu einem
geschützten Platz zwischen der Wand des Hauses und der Wand der Felsen gesehen.
Dort lehnte die überdimensionale Rücksitzbank eines Straßenkreuzers. Sie war aus
hellbraunem zerschlissenen Velours. Er wollte die Kamera gerade sinken lassen, als das
Paar wieder ins Bild kam. Silberschopf bewegte sich plump, die Frau eher hastig und
dabei sehr gewandt. Die beiden umarmten sich. Als die Frau direkt in Manns Augen zu
schauen schien, fühlte er sich ertappt und schwenkte fluchtartig die Kamera.
Die tiefsten Strahlen der Abendsonne fingen sich in den weiten Maschen eines Volleyballnetzes, das zerrissen im Sand verrottete.
Ein Stück höher und der Sucher erfasste die Tochter, die vier-, fünfhundert Meter
entfernt die Wasserlinie entlanglief, fast nachdenklich, Sandalen und Strümpfe in der
Hand.
Sie war ein ziemlich großes blondes Mädchen von fünfzehn oder sechzehn Jahren. Sie
trug ein graues T-Shirt mit der unsinnigen Aufschrift „Def Leppard“, und darunter standen zwei straffe Brüste fast unbeweglich. Die Haut ihrer Schenkel leuchtete rosig.
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Rosiger, dachte Harry Mann, als Blondies Zukunft je sein würde. Er kämpfte mit der
Versuchung, die Kamera einzuschalten. Allein die Vorstellung, dass er sich die Kassette
im reformierten Strafvollzug etwa so viele Jahre lang würde ansehen können, wie das
Mädchen alt war, ließ ihn darauf verzichten. Stattdessen schwenkte er zurück in Richtung der Eltern.
Was er sah, überraschte ihn. Die Frau lächelte süßlich wie eine Berliner Straßenhure.
Dann sagte sie irgendetwas und begann, an den Shorts ihres Mannes herumzunesteln. Es
war wie in einem schlechten Stummfilm. Silberschopf machte sich mit wenig Begeisterung an der Bluse seiner Angetrauten zu schaffen. Vor einigen Jahren und vielen Kiloschachteln Konfekt hatte er sie gewiss für eine üppige Schönheit gehalten. Jetzt stellte
er sich so ungeschickt wie möglich an, und seine enttäuschte Frau zog dazu das Gesicht
einer Krankenschwester, die sich mit Genehmigung des Oberarztes selbst ein Klistier
bereiten darf.
Plötzlich meinte Mann zu verstehen, wem an diesem Mord soviel gelegen sein könnte.
Nach einigem Umstand hatte Silberschopf seine Shorts auf die Höhe seiner Kniestrümpfe gebracht, und das Paar drückte sich ungelenk auf die vergammelte Rücksitzbank. Als das Vergnügen der beiden richtig begann, tastete Mann nach dem Messer in
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seiner Jackettasche und spielte kurz mit dem Gedanken an ein Gemetzel. Er hasste die
Lust der beiden. Sie war zweitklassig. Hätte er das Geld dieses Mannes – und Silberschopf musste Geld haben, um sich den poppigen Rolls leisten zu können –, er wüsste
Besseres, als sich an einem kahlen, verlassenen Strand lustlos vergewaltigen zu lassen.
Ohne den Zoom zu verändern, starrte Mann weiter auf die beiden Körper. Ein Haufen
schlechter, spannender Filme ging ihm durch den Kopf: Er war ein Teil der beiden dort
auf dem Betonboden, er war wie ihre Liebe, denn er brachte den Tod.
Bei diesem Gedanken kroch eine Gänsehaut seinen Rücken hinunter. Gewiss, er
schämte sich seiner fatalen Neigung zu sentimentalen Geschichten, aber Schämen half
da nicht.
Als das Gesicht der Frau zeigte, dass Silberschopf in sie stieß, schwenkte Mann die Kamera weg, den weiten leeren Strand entlang.
Wo war die trotzige Tochter? Mehrmals strich er mit der Kamera vergeblich über die
weite Leere. In der Vergrößerung glich das Sommerparadies einer Mondlandschaft,
die seit langem als Pfadfinderlager missbraucht worden war. Schließlich erfasste das
Objektiv die langen Beine und den kräftigen Hintern an der hinteren Seitenwand des
Holzhauses. Eher teilnahmslos betrachtete das Mädchen mit den langen blonden Haa-
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ren, wie sich die Schenkel ihres Vaters zwischen den Schenkeln ihrer Mutter hoben und
senkten. Biologie Leistungskurs.
Vermutlich machte er keine bessere Figur, wenn er auf Gal lag. Er dachte an ihren weichen Körper, den er seit Tagen vermisste. Heute Abend würde er wieder versuchen, sie
zu erreichen. Und Kati. Und Peter.
Nach einer Weile blickte das Mädchen hinaus aufs Meer und schob mit der linken Hand
die Haare beiseite, die der Wind auf die feuchten, spöttischen Lippen geweht hatte.
Mann musste grinsen. Schlechtes Theater: zwei alternde Akteure, zwei gelangweilte Zuschauer. Seine Laune stieg. Als er den Zoom wieder zurückfuhr, erinnerte ihn die Szene
an eins seiner frühesten Lieblingsbilder: Die Frau hatte ihre Waden über dem Rücken
des Mannes gekreuzt, und so war es vor vielen Jahren in Annes Bett gewesen, so hatte
er sie beide in den billigen Spiegelkacheln gesehen. Das Spiel dieses Paares allerdings
besaß die ausdauernde Anmut einer Dampframme. Viel Schweiß hatte die Lieblosigkeit
vor ihren kleinen Tod gestellt.
Mord und Liebe. Das Große Geld. Interessanter als die plumpen Körper auf der Betonveranda war der Gedanke an die eintausend Einhundertmarkscheine, die in einem Hamburger Schließfach darauf warteten, dass er sie abholte – sobald er sich den Erpresser
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vom Hals geschafft hatte. Viel Geld für einen glücklosen Glücksspieler, der sich von
einer anonymen Stimme fernsteuern lassen musste.
Und dann, ein, zwei Minuten später, als Silberschopf und seine Frau dort unten, sich ihrem Höhepunkt entgegenrackerten, drang in seine Gedanken unmerklich eine Störung,
ein Geräusch, das sich in seinen Rücken bohrte. Schnelle Schritte. Wie in Trance glitt
die rechte Hand zu dem Messer in der Jackettasche ...
2
„Vorsicht, sie kommt!“ hörte er eine Frauenstimme hinter sich zischen. Im selben Augenblick schon hatte Gal ihn herumgerissen und an sich gezogen.
Harry Mann stand starr vor Verblüffung.
Sie drückte die Kamera beiseite, umschlang ihn mit beiden Armen und presste ihre
Lippen heftig auf seinen Mund. Dabei drehte sie seinen Körper langsam herum, bis er
das Mädchen mit den langen blonden Haaren erblickte, das die Straße entlang auf sie
zukam.
Selbstvergessen in der Arroganz ihrer werdenden Schönheit, ging Blondie vorbei, ohne
Eile und ohne den beiden besondere Beachtung zu schenken.
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Während Manns Augen ihrem wippenden Hintern folgten, schob er seine Zunge durch
Gals Lippen und spürte dabei, dass seine Hand immer noch das Messer in der Jackettasche festhielt.
Die Wut, es zu benutzen, war in ihm. Gals Auftauchen konnte nur eins bedeuten: Sie
steckte mit dem Erpresser unter einer Decke. Wahrscheinlich musste man das wörtlich
nehmen.
„Wie kommst du hierher?“ fragte er.
Die Frage war so hilflos, wie Harry Mann sich fühlte. Gal antwortete auf eine andere
Frage, die er nicht gestellt hatte.
„Die Kleine“, sagte sie, „ist plötzlich aufgetaucht, während du wie gebannt durch
deine Kamera gestarrt hast, fasziniert und weltvergessen. Was gab’s denn da Spannendes?“
„Hat das Mädchen was gemerkt?“
Gal schüttelte den Kopf. „Ich war vorher bei dir.“ Sie fuhr ihm tastend mit der Hand
über Kinn und Backenknochen. „Viel besser ohne Bart!“ Dann küsste sie ihn wieder.
Wie lange sie sich nicht gesehen hatten! Zehn lange Tage, in denen ... Er küsste sie,
aber er traute ihr nicht.
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Dreißig Meter weiter kletterte Blondie jetzt einen steilen Pfad hinunter zum Strand.
Auf halber Höhe blieb sie zwischen zwei mannshohen Büschen stehen, so dass von der
Straße aus gerade noch der Kopf zu sehen war. Geschützt auch zum Strand, beobachtete sie ihre Eltern.
Mann setzte die Kamera an. Blondies Mami lag ausgestreckt auf den Polstern der ausrangierten Sitzbank, Shorts und Schlüpfer in Knöchelhöhe, die Beine weit gespreizt.
Ihr Gesicht war weich und zufrieden. Silberschopf stand vor ihr und fummelte an dem
Reißverschluss herum, der seine Zeugungskraft vor Gott und der Welt schützte.
Gal löste sich von Mann und trat einen Schritt zurück. „Zeig mal her!“ Sie streckte die
Hand aus, und er gab ihr die Kamera.
Das Mädchen wartete noch zwischen den Büschen. Ihr Interesse an dem Tun ihrer Eltern
schien Mann fast wissenschaftlich.
Gal schob die Sonnenbrille hoch, setzte den Sucher ans Auge und beugte ihren Kopf
leicht vor.
Sie war wunderschön. Die schwarzen Haare hatte sie zu einem kurzen Schweif zusammengebunden, was die hohen Wangen mehr als sonst hervortreten ließ. Ihren Körper,
dessen Formen Manns Blicke vergeblich abzutasten suchten, verbarg sie in einem sehr
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weiten, togaähnlichen Fummel. Sein buntes Muster in warmen Rot- und Gelbtönen erinnerte an ein Hippie-Kabul, das es nicht mehr gab. Gal lachte leise. Er liebte sie.
„Was siehst du?“ fragte er.
Sie ließ die Kamera sinken. „Die beiden haben doch nicht etwa gevögelt?“
„Hmmh.“
„Schamlos.“
„Wieso? Ist doch schön hier. Ich hätte auch Lust.“
Gal wehrte seine Annäherungsversuche mit einer halbherzigen Bewegung ab. „Sei kein
Idiot ...“
Er nahm ihr die Kamera aus der Hand. „Lass uns ins Auto setzen“, sagte er so ernst, wie
er es meinte, „dann kannst du mir erklären, wieso du hier aufgetaucht bist!“
„Das und noch mehr ...“, sagte sie.
Gal hatte ihren Mietwagen, einen asphaltgrauen 190er Baby-Benz mit tief getönten
Scheiben, ein ganzes Stück weiter zwischen dem Wäldchen und der Auffahrt zu dem
verlassenen Campingplatz geparkt. Auf dem Weg dorthin hielten sie sich engumschlungen. Mann küsste sie und spürte, wie sie ihren Körper an den seinen schmiegte. Aber er
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spürte auch, dass Gal mit diesen Küssen jede Erklärung vermied. Nur Unangenehmes,
nur ein Betrug an ihm, konnte sie hierher geführt haben. Und doch liebte er sie, mehr
als je zuvor.
Gal schloss den Wagen auf und öffnete die hintere Tür. Er stieg ein. Auf eine halbe
Stunde kam es jetzt nicht mehr an.
Dass sie beide dasselbe wollten, aus welchen Gründen auch immer, entdeckten sie
schnell, aber ebenfalls die Vergeblichkeit ihrer Anstrengungen. Für jede mehr als handgreifliche Liebe war der kleine Mercedes nicht geschaffen.
„Ich weiß ein Motel, nicht weit“, sagte Gal. „Du brauchst bloß hinter mir herzufahren.“
„Nein!“ sagte er. „Ich werde meinen Arsch nicht aus diesem Wagen heben, bevor du mir
nicht erklärt hast, was hier gespielt wird. Vor allem, welches Spiel du mit mir treibst!“
„Genau dasselbe kann ich dich fragen!“ Gal ging zum Angriff über. „Was meinst du, wie
verblüfft ich war, als ich dich plötzlich im ,Treefrog’s‘ sitzen sah!“
Er zögerte. War es klug, ihr von der „Stimme“ zu erzählen? Oder lieferte er ihr damit
die rettende Idee, wie sie sich herausreden konnte?
„Okay ...“, sagte Gal, bevor er sich entschieden hatte. „Du traust mir nicht. Also, ich
bin hier, weil ich erpresst werde.“
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„Von wem?“
„Keine Ahnung.“
„Das dachte ich mir.“
„Es ist ein Mann. Ich kenne nur seine Stimme, vom Telefon. Ziemlich piepsig, mit einem
leichten amerikanischen Akzent. Und immer eine rauschende Leitung, als er mich in
Berlin anrief.“
„Womit erpresst er dich?“
„Dreimal darfst du raten.“
„Wie kann irgendwer außer uns davon wissen?“
Gal zuckte mit den Schultern. „Darüber habe ich mir schon einige Nächte den Kopf
zermartert. Wenn er’s nicht von dir hat, hab’ ich nicht den Schimmer einer Ahnung, von
wem er’s haben könnte ...“
„Vielleicht ein Freund der Familie Kelling?“
„Du hältst mich für blöder, als ich bin.“
„Vielleicht ist es umgekehrt, vielleicht hast du jemanden unterschätzt? Jemanden, der
gut zuhören und gut kombinieren kann?“
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„Nein, dafür wusste der piepsige Kerl zu viele Details. Es muss jemand sein, der Irene
Hexter kannte und von ihr eingeweiht wurde.“
„Aber mal grundsätzlich gesprochen: Es gibt noch andere enge Freunde der Familie?“
Gal sah ihm in die Augen. „Nicht in letzter Zeit.“
„Was verlangt man von dir?“
„Mich zur Verfügung zu halten.“
„An den Gestaden des Pazifischen Ozeans?“
„Wo du bist, möchte auch ich nicht weit sein.“ Gal lächelte ihn böse an.
„Willst mir verkaufen, dass diese anonyme Stimme dich heute nach Venice und hinter
dem Rolls hergeschickt hat?“
„Nein, das war Zufall. Der Kerl hat mich schon in Berlin ausgefragt über verschiedene
Leute, die Kelling kannte. Darunter waren auch die Schlossers.“
„Wer?“
„Du weißt nicht mal, wie die Leute heißen, denen du beim Bumsen zuschaust?“
Er schüttelte den Kopf.
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„Also, ich spaziere friedlich durch Venice, um mir ein paar Klamotten zu kaufen“, fing
Gal fast fröhlich an zu erzählen, als berichte sie von einem harmlosen Schnäppchen,
„und wen sehe ich da vor mir? Maria Schlosser.“
„Das ist die Tochter?“
„Nein, die heißt Ellen. Ihre Mutter hab’ ich gesehen. Na, sage ich mir! Und prompt.
Ich folge ihr von der Main Street zu dem weißen Bunker in der La Palma Road. Sie geht
rein, und während ich noch das Haus beobachte und überlege, ob ich mal klingeln soll
oder besser nicht, kommen die drei wieder raus und stiefeln zum Parkplatz. Ich will
unauffällig hinterher, weil, man kann ja nie wissen, und schwupp, die nächste Überraschung: Wer springt direkt vor mir auf von seinem Beobachtungsposten im ,Treefrog’s‘?
Bartfrei verkleidet und total blind für alles und jeden außer diesen dreien? Da schöpft
man natürlich Verdacht, nicht wahr?“
„Du kennst die Leute aus Deutschland?“
„Du nicht?“ Gal lächelte ihn überlegen an.
„Was soll die blöde Frage?“
„Nun, Schlosser ist immerhin dein zukünftiger Arbeitgeber, da sollte man annehmen
...“
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„Silberschopf da unten ist der Schlosser? Von ‚Schlosser, Rulow & Co.‘?“
Gal nickte.
„Wie wär’s“, sagte Mann, ärgerlich über seine eigene Begriffsstutzigkeit, „wenn du mit
der ganzen Geschichte rausrücken würdest?“
„Später ... Jetzt bist erst mal du dran, mir zu erzählen, was dich hierher verschlagen
hat!“
„Ladies first!“
Sie wollte widersprechen, aber sein Gesichtsausdruck ließ sie inne halten. Er hatte
nicht vor, sich von ihr verarschen zu lassen. Sie lehnte sich im Fahrersitz zurück und
drehte ihren Rücken dabei halb seitwärts zur Tür, so dass sie seine Augen sehen konnte.
„Ich hab’ Schlosser nur zwei-, dreimal auf Partys getroffen“, sagte sie vorsichtig.
„Was macht er hier?“
„Dasselbe wie in Berlin. Import, Export. Computer. Seine Firma in L.A. heißt ,Westcomp‘.“
„Was für Computer?“
”Woher soll ich das wissen.“ Gal verzog genervt den Mund. „Computer halt.“
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„Die Firma gehört ihm allein?“
„Wird wohl. Aber genau weiß ich’s nicht.“
„Und wer ist dieser Rulow?“
„Keine Ahnung. Kelling meinte, den gibt’s schon lange nicht mehr.“
„Bleibt das namenlose ‚& Co.‘, wer versteckt sich dahinter?“
Gal zuckte mit den Achseln. „Laut Kelling gehört die Firma inzwischen Schlosser allein.
Und der bedauernswerten Bank, die alles finanziert.“
Mann überlegte, was er noch aus ihr herausbekommen könnte. „Schlossers Vorname?“
fragte er weiter, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen.
„Fritz. Eigentlich Friedrich, glaub’ ich.“
„Und sonst?“
„Wahrscheinlich reich, der Herr. Die Schätzungen über sein Vermögen schwanken zwischen Null und zwanzig Millionen. Immer noch laut Kelling. Keine Ahnung, was davon
stimmt.“
Sie sprach inzwischen von ihrem Mann ganz selbstverständlich wie von einem sehr
flüchtigen Bekannten, dem sie vor langer Zeit zum letzten Mal begegnet war.
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„Weiter!“ sagte Mann. „Erzähl alles, was dir zu ihm noch einfällt. Auch das Unwichtigste. Vielleicht ist irgendetwas dabei, das uns erklärt, warum dieselbe ‚Stimme‘, die
dich hierhergeschickt hat, mich erpresst, Schlossers Frau zu töten.“
Gal sah ihn erstaunt an. „Sie, nicht ihn?“
„Dass überhaupt jemand sterben muss, scheint dich nicht zu verblüffen ...“
„Seit ich dich kenne, tust du nichts anderes als Leute umzubringen.“ Gal lachte anzüglich. „Mal abgesehen vom Bumsen.“
Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss. Dann lehnte sie sich wieder zurück, den Nacken an
der Kopfstütze. Ihr Profil war ein wenig spitz.
Mann sah sie an; mit, wie er hoffte, unbeweglichem Gesicht.
„Also, meinetwegen“, lenkte Gal ein. „Schlosser stammt aus kleinen Verhältnissen,
wovon noch in seinem Gebrabbel der starke hessische Dialekt zeugt. Ein typischer Aufsteiger eben, eitel, selbstbewusst bis zur Unverschämtheit. Gibt auch viel zuviel Geld
für viel zu teure Hobbys aus, für Luxuskarossen, Reitpferde und für seine ständig wechselnden farbigen Mädchen.“ Sie grinste. „Das soll sich allerdings geändert haben, seit
Aids grassiert. Beziehungsweise die Angst davor. Jedenfalls hält er sich jetzt angeblich
was Festes in einer seiner Absteigen, in Düsseldorf.“
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„Gut informiert“, sagte Mann und ärgerte sich über seine Eifersucht. „Du kennst dich in
seinem Intimleben bestens aus ...“
„Hab’ ich von einer guten Freundin der reizenden Maria. Sie behauptet, die treusorgende Gattin selbst soll drauf bestanden haben.“
„Worauf?“
„Risikominimierung.“
„Was?“ Mann sah sie verständnislos an.
„Mein Gott, Maria meint wohl, wenn ihr Fritz schon auf Briketts steht, dann soll er wenigstens für ein negatives schwarzes Loch sorgen.“
Mann spürte Wut in sich aufsteigen, gemischt mit Scham darüber, dass Gal, seine Gal so
sprach.
„Wie gut“, sagte er etwas zu verkrampft, „dass wir keine Vorurteile haben.“
„Die hab’ ich auch nicht. Ich kann nur keine schwarzen Huren leiden. Jedenfalls nicht
in Deutschland. Die sollen bleiben, wo sie herkommen.“
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Bingo. Er war ein Glückspilz. Die Frau, die er liebte, entpuppte sich als eine rassistische
Pute! Aber was wunderte ihn das eigentlich? Genaugenommen wusste er nichts von ihr.
Wahrscheinlich hasste sie auch Türken, Grüne, Arbeitslose und Schwule.
„Sag mal“, fragte er und hätte sich im selben Augenblick dafür ohrfeigen können, „was
wählste eigentlich?“
„Was ich wie bitte?“ Sie schaute ihn ehrlich verblüfft an.
„Ich meine, wie deine politischen Ansichten sind?“
„Hast du’n Hammer? Willst du mich für die Bonner Politik-Scheiße bekehren, ausgerechnet hier und jetzt?“
Nett, wie sie ihn einschätzte. Andererseits, in Kalifornien an die kalte graue Provinz zu
denken war total meschugge. Mann blickte zur Windschutzscheibe hinaus und zwischen
den Bäumen hindurch, hinaus auf den Pazifischen Ozean. Hirnverbrannt. Und vollkommen bedeutungslos. Konnte er etwa aufhören, sich nach ihr zu sehnen, sie zu lieben,
sie über alles zu lieben, wenn sie wirklich Rassistin war, und das im Zweifelsfall aus
Dummheit und Mangel an Erfahrung?
Überhaupt, er in der Rolle des selbstlosen Menschenfreundes und Weltverbesserers!
Eine größere Fehlbesetzung war wohl nicht denkbar.
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Mann machte eine hoffnungslose Handbewegung. „Vergiss es. Und was tut sie? Maria,
mein’ ich?“
Gal hatte nichts dagegen, zum Thema zurückzukommen: „Alter Adel. Ihren Geburtsnamen habe ich vergessen, aber er klingt wie der eines reinrassigen Schäferhundes. Sie ist
ein paar Jahre älter als ihr Mann und hat aus der ersten Ehe nicht nur diese Tochter ...“
„Die ist nicht von ihm?“ unterbrach er sie.
„Nein. Natürlich nicht.“
„Wieso natürlich?“
„Nun, in den zivilisierten Ländern zumindest gilt Inzest als unnatürlich ...“
„Du meinst ...“
„Nein, ich meine nicht, ich weiß ... Also, Maria jedenfalls hat nicht nur dieses reizende
Töchterlein aus erster Ehe, sondern auch eigenen Besitz, der im Gegensatz zu den angeblichen Millionen ihres Mannes vorzeigbar ist. Und dass das so bleibt, darauf scheint
sie sehr zu achten.“
In diesem Augenblick stapften ein verschwitzter Mann, eine zufriedene Frau und eine
gehässig dreinblickende minderjährige Schönheit durch den Sand die leichte Steigung
zum Parkplatz hinauf und stiegen in den goldigen Rolls Royce.
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Mann schaute auf die Uhr am Armaturenbrett des Baby-Benz. Es war kurz vor sieben,
die Sonne stand exakt in der Mitte der Bucht, sehr tief, fast in Höhe der Straße.
Der Rolls bog ohne abzubremsen auf den Highway und rollte Richtung Malibu davon.
„Das wär’ mal was anderes!“ Gal blickte dem Wagen mit unverhohlenem Neid hinterher. „In dem Schlitten könnte man für ‘nen kompletten Kegelclub Sexpartys geben.“
„Und sich den Tod holen ...“
„Und wer lebt jetzt seine Vorurteile aus?“ Sie lächelte ihn spöttisch an.
„Was?“
„Nur weil Schlosser in Düsseldorf eine Negerin ...“
„Du spinnst! Besser wär’s, du hieltest dich bei diesem Thema etwas zurück.“
„Du meinst, ich bin wie alle Weiber so strohdoof, dass ich mehr Erfolg hätte bei so superklugen Kerlen wie du ...“
„... wie dir!“
„... wie du einer bist ...“, sagte sie. „Und soll ich dir sagen, was du für einer bist? Du
bist ’n richtig mieser, zu kurz gekommener Penner!“
„Der Ton passt besser zu dir ...“
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„Zu mir passen vor allen Dingen ganz andere Männer!“
„Solche wie Kelling?“
„Der war auch nicht immer ein ...“
Gal schwieg, und Mann meinte für Sekunden so etwas wie Trauer in ihrem Gesicht zu
entdecken. Er war ein Idiot. Das Gespräch machte keinen Sinn. Vor allem machte es
keinen Sinn für ihn, und das war wahrscheinlich auch der Sinn von Gals Bemühungen.
„Was“, fragte er, als hätte es keinen Streit zwischen ihnen gegeben, „werden die drei
jetzt wohl machen?“
„Späte Siesta halten“, antwortete Gal, ohne ihn anzusehen, „damit das Abendessen
besser rutscht.“
„Wie stellt man das an?“
„Wenn du mich fragst“, sagte Gal mit einer Stimme, der er anhörte, was sie sagen
würde, „indem man seiner Alten einen Drink ans Bett stellt, ihr einen gesegneten
Schlaf wünscht und sich dann mit seiner Stieftochter vergnügt.“
„Quatsch! Du bist geil und kannst an nichts anderes denken.“ Er beugte sich zu ihr,
umarmte sie und griff dorthin, wo die weiten Falten des Toga-Fummels viel Wölbung
erkennen ließen.
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Gal ließ es geschehen, sah ihn an und spielte mit der Zunge an ihren Lippen. „Wenn die
Liebe jung ist ...“
„Okay, okay“, sagte er, „wo ist das Motel?“
„Willst du deinen Wagen immer noch hier stehenlassen?“
Er nickte. „Daran hat sich nichts geändert.“
3
In seinem Rücken kämpfte die Sonne mit letzter Kraft gegen das Untergehen. Wenn
Mann sich umdrehte, ließ ihn das orangene Licht, das in der feuchten Seeluft flirrte,
fast blind werden. Wendete er sich wieder nach vorne, in Fahrtrichtung, schien der
Himmel über der Küste dunkel und das Felsgestein der Canyons feuerrot. Die breiten
Strände in den Buchten, an deren äußeren Rändern entlang der Highway sie führte, lagen verlassen da. Auf dem Wasser kreuzte, so weit der Horizont reichte, kein Boot. Nur
ein paar letzte Windsurfer schälten sich auf den Parkplätzen aus ihren Gummianzügen.
Wären nicht überall die rotweißen Mülltonnen gewesen, nichts hätte daraufhingedeutet, dass sie durch das Erholungsgebiet einer der größten Großstädte dieser Erde fuhren.
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Wie anders, dachte Mann, würde die Küste aussehen, gehörte sie zu Griechenland oder
Italien oder Portugal. Hier lebte kein Volk von Fischern und Seefahrern. Kalifornien war
nicht vom Meer aus besiedelt worden, sondern aus dem Inneren des Kontinents heraus.
Die Strände des Pazifischen Ozeans standen nicht am Anfang der Zivilisation, sondern
an ihrem Ende, im Westen am Rande der Welt. Danach war eine ganze Weile nichts und
dann schon wieder Osten.
Die Uhr am Armaturenbrett zeigte kurz nach sieben. Mit jeder Meile wurde der Verkehr
auf dem vierspurigen Highway dichter, eine endlose Karawane von Luxuskarossen kam
ihnen entgegen, wohlhabende Pendler in Mercedes und BMW, Porsche und Camaro,
Jaguar und Cadillac auf ihrem alltäglichen Weg von Downtown Los Angeles oder Century
City oder Burbank zu den Villen in Malibu und in den Bergen dahinter.
Harry Mann beneidete sie.
Aber er hätte an diesem Abend jeden beneidet, der von der Arbeit friedlich nach Hause
zu seiner Frau zurückkehren durfte, auch den ärmsten der mexikanischen Lohnsklaven,
die für den Wohlstand in Gottes eigenstem Land sorgten.
Fast zehn Minuten vergingen, ohne dass sie ein Wort zueinander sprachen, bis Gal das
Schweigen brach.
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„Was wirst du tun?“
„Was die ‚Stimme‘ verlangt.“ Harry Mann war froh, dass nicht er hatte davon anfangen
müssen.
„Maria Schlosser umbringen?“ Gal sah ihm in die Augen.
Mann nickte. „Mir bleibt keine Wahl.“
„Und dann?“ fragte Gal. „Wie soll das weitergehen?“
„Es wird nicht weitergehen. Jedenfalls hat die ‚Stimme‘ das versprochen.“
„Und du glaubst dem Kerl?“
„Nein.“ Mann schüttelte den Kopf. „Kein Wort.“
„Also?“
„Also, muss ich rausfinden, wer uns erpresst.“
„Wie willst du das schaffen, wenn ich fragen darf?“
„Zunächst einmal durch Nachdenken. Irgendwer hat ein gesteigertes Interesse daran,
dass die Schlosser von der Bildfläche verschwindet, richtig?“
„Muss wohl so sein.“
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„Gut. Finde ich diesen Irgendwer, werde ich auch bald wissen, wer und was die
‚Stimme‘ ist; ob der Initiator unserer Schwierigkeiten oder nur ein Helfershelfer, richtig?“
Gal nickte und schwieg.
„Die entscheidende Frage ist demnach“, fuhr Mann fort, „wer ein besonderes Interesse
an Maria Schlossers Tod haben kann.“
„Da wüsste ich niemanden“, sagte Gal.
„Quatsch!“ Mann schüttelte unwillig den Kopf. „Deine Erzählungen liefern gleich zwei
klare Motive. Und zwar für Schlosser selbst. Erstens hat er, vielleicht, ein Verhältnis
mit der knackigen Stieftochter – und seine Frau ist ihm dabei hinderlich. Und zweitens,
falls die Affäre mit dem Balg nichts Ernstes sein sollte, so würde ihn doch, wenn die Sache rauskommt, eine Scheidung um das Vermögen seiner Angetrauten bringen. Richtig?“
Gal sah angestrengt auf die Straße und machte: „Hmmh.“
Mann musterte sie von der Seite. Sehr überzeugt schien sie nicht. Für ihre Gedanken
hätte er einiges gegeben.
„Ich werde mich also“, sagte Mann, „an Schlossers Fersen heften.“
„Ich denke, du willst Maria ...“
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„Danach natürlich. Denn danach muss Schlosser Kontakt mit der ‚Stimme‘ aufnehmen.
Und mit ein bisschen Glück, werde ich die beiden dabei erwischen.“
„Wieso?“ Gal nahm den Fuß vom Gaspedal und sah ihn misstrauisch an. „Warum muss
Schlosser das?“
„Aus lauter Lust und Liebe wird die ‚Stimme‘ dem lieben Herrn Schlosser nicht bei der
Ehepartner-Entsorgung helfen, also müssen die freundlichen Dienste bezahlt werden,
nicht wahr?“
„Hmmh“, sagte Gal skeptisch. Und : „Hinter dem Hügel kommt gleich das Motel.“
Mann konnte sich zwar von der Hinfahrt nicht daran erinnern, aber er hatte auch
wahrlich auf anderes zu achten gehabt. Gal behielt recht. Ein Schild am Straßenrand
besagte, dass die Einfahrt zum „Malibu Azur Motel“ in Kürze zu erwarten sei.
„Hast du eigentlich“, fragte Gal nachdenklich, „Schlosser mal sprechen hören?“
Sie fuhr ein wenig unkonzentriert und ruckig.
„Nein.“ Mann war verblüfft. Auf die Idee war er noch nicht verfallen: Schlosser selbst
konnte die „Stimme“ sein!
Aber dann hätte Gal ihn doch erkennen müssen!
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„Ich denke ...“, setzte Mann vorsichtig an.
„Ja, ja, ich weiß, was du denkst. Aber ich bin mir da nicht so sicher“, unterbrach ihn
Gal. „Ich bin Schlosser nur ein paar Mal über den Weg gelaufen und hab’ kaum ein Wort
mit ihm geredet, wie das bei Partys eben ist. Und telefoniert habe ich noch nie mit
ihm. Vielleicht ist er sehr geschickt im Imitieren von diesem Ami-Akzent ... Möglich jedenfalls wäre es, zumal, nachdem du mir seine Motive ...“
Eine gut zehn Meter hohe Leuchtreklame verkündete, dass sie das „Malibu Azur“
erreicht hatten, darunter avisierten Anzeigetafeln die Annehmlichkeiten des Etablissements: Queen-Size-Betten, Farbfernseher, Fitness-Studio und Sonnendeck.
Gal bremste auf zehn Meilen herunter, setzte den Blinker und bog nach rechts in die
Auffahrt des Motels. Die Anlage bestand aus einem massiven Hauptgebäude an der Einfahrt, dessen Backsteinfassade zum Teil beige verputzt war, und vielleicht drei Dutzend
beige gestrichenen Holzbungalows, die sich, Wand an Wand, um das obere Halbrund
eines kahlen, nur von Disteln und flachen Büschen bewachsenen Canyons schmiegten.
Auf dem Dach jedes Bungalows waren Sonnenzellen montiert, und neben den Türen
ragten die unförmigen Kästen der Klimaanlagen aus den Wänden. Ihr Rasseln und Rau-
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schen übertönte selbst aus dieser Entfernung noch den Lärm, der vom Highway in den
Innenhof drang.
Ein roter Pfeil wies den Weg zum „Motel Office“.
„Ich bin ein bisschen klamm“, sagte Mann, als der Baby-Benz auf den Parkplatz davor
rollte.
„Das bist du immer.“
„Die haben mir 500 Dollar Kaution für den Mietwagen abgeknöpft.“
„Hast du keine Kreditkarten?“ Gals Gesicht war, vielleicht zum ersten Mal, seit er sie
kannte, ehrlich verblüfft.
„Natürlich, Dutzende“, sagte er, „was würde ich ohne die in meinen Kreisen schon anfangen können?“
„Nun pump dich nicht gleich auf!“
Sie parkte direkt vor dem Eingang zur Rezeption und schaltete den Motor aus. Dann
griff sie in ihre Handtasche und hielt ihm drei fabrikneue Hundertdollarscheine hin.
Er steckte sie ein, stieg aus und knallte die Tür des 190ers zu. Gal ließ die elektrische
Scheibe herunter.
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„Miet’ uns was Schönes, ja?“
„Du kommst mit rein!“
„Sie sind der Mann, Herr Mann.“
„Nie was von Emanzipation gehört?“
Als sie seinen Blick sah, zog sie den Zündschlüssel ab. „Wenn der Herr alleine Angst hat
...“, sagte sie und stieg aus.
Mann entschied sich für die „Emperor Suite“, das Feinste und Teuerste, was das „Malibu Azur“ zu bieten hatte. Sie kostete 210 Dollar und war ein Muss für Hochzeitspaare,
wie die alte Frau hinter dem Counter erklärte. Dann händigte sie ihnen mit obszönen
Blicken die Schlüssel aus und beschrieb umständlich den Weg.
Um zu den Zimmern zu kommen, musste man den Wagen nehmen. Die Autos stellte
man mehr oder weniger vor dem Bett ab, maximaler Fußweg zehn Schritte.
Von außen glich jeder der einstöckigen Bungalows einer Klein-Lagerhalle. Von innen
ebenfalls. Die spärlich möblierte „Emperor Suite“ war zwar geräumig, stilistisch jedoch allenfalls das Richtige für entmachtete Potentaten von Operettenfürstentümern.
Immerhin nahm das Bett bald die Hälfte der dreißig Quadratmeter ein, und deswegen
waren sie schließlich gekommen.
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Gal machte einen Satz darauf zu, ließ ihre schwarze Handtasche auf den Boden fallen
und warf sich mit Schwung auf die Matratze. Begeistert wippte sie mit dem Hintern.
„So wässrig wie ein Wasserbett.“
„Hauptsache, du wirst nicht seekrank.“
„Mach uns was zu trinken, ja?“ Gal zog ihr Hippie-Gewand hoch, spreizte die Beine und
kratzte sich an ihrem weißen Slip.
Amerika war ein prüdes Land. Mann schloss schnell die Tür. „Was möchtest du?“
„Weißwein. Aber ich nehme auch ein Bier.“
Mann sah sich um. Eine Mini-Bar gab es nicht. In der Kochnische stand ein gigantischer
Kühlschrank, den sie im Märkischen Viertel als Kinderzimmer vermietet hätten. Er war
leer.
„Sieht schlecht aus“, sagte Mann.
„Ich hole uns von vorne was zu trinken“, sagte Gal. Sie stand auf und ließ das weite
Gewand wieder an ihrem Körper herunterrutschen. „Geh du schon mal duschen. Ich
will einen sauberen Mann.“
Bei ihren ersten beiden Begegnungen war Gal sein hygienischer Zustand noch gleichgültig gewesen. Gern hätte er ihr Verhalten als Normalisierung ihrer Beziehung ge-
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nommen. Tour und Tonfall allerdings erinnerten ihn an Kati. Bevor er noch überlegen
konnte, ob es sich bei diesem Waschzwang, den die Frauen plötzlich auf ihn ausübten,
um eine hilflose Abwehrmaßnahme gegen die neuartigen Gefahren handelte, die von
männlichen Körperflüssigkeiten drohten, kam Gal schon auf ihn zu und gab ihm einen
tiefen Kuss.
Bereitwillig verfügte er sich daraufhin ins Badezimmer, das insofern perfekt war, als an
der Dusche ein Telefon hing und vor der Badewanne ein kleiner Fernseher stand.
Fünf Minuten später lag Harry Mann nackt auf dem Bett und war zu allem bereit.
Gal war noch nicht zurück.
Er dachte an ihre erste Nacht. Und an den Tag danach. Da war wieder die Frage, die
ihm schon lange nicht aus dem Kopf ging: Was hatte Kelling wohl sagen wollen, die
vielen Stunden, die er hinter seinem Knebel gestammelt hatte? Hätte Mann damals dem
Alten zugehört, vielleicht hätte er erfahren, was hinter allem steckte, und vielleicht
wäre es dann zu all dem Morden gar nicht mehr gekommen. Wofür er jetzt einiges gegeben hätte ...
Die Klimaanlage brummte und stieß kühle, trockene Luft aus. Draußen färbte der letzte
Rest Sonne den Abend blutrot. Gal war schon über eine Viertelstunde fort. So schwer
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konnte es nicht sein, in einem Motel dieser Größe ein paar Dosen Bier aufzutun. Er
fragte sich, was sie so lange draußen trieb ...
Und dann sah er, dass ihre Handtasche nicht mehr auf dem Boden vor dem Bett lag, und
er wusste es plötzlich sehr genau.
Er hatte sich mal wieder von ihr hereinlegen lassen.
Sie würde nicht wiederkommen.
4
Das „New Italy“ war das einzige der weißen Nepp-Restaurants von Venice, das seinen
Gästen einen Meerblick bieten konnte. Am nächsten Abend, einem Dienstag, folgte
Harry Mann, nachdem er den langen Nachmittag im „Treefrog’s“ abgesessen hatte, der
Familie auf ihrem Spaziergang von dem postmodernen Betonwürfel zu dem Restaurant
am Ocean Front Walk.
Alle drei hatten sich in Schale geworfen. Silberschopf alias Fritz Schlosser trug einen
grau glänzenden Armani-Knitteranzug, Ton in Ton zu seinem gestylten Haar; Maria
Schlosser ein weites ultramarinblaues Sommerkleid mit reichlich schwarzen Punkten;
und selbst Töchterchen Ellen hatte sich in eine frisch gewaschene Blue Jeans gezwängt
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und bedeckte den Rest der schon sehr weiblichen Blöße notdürftig mit einem dieser
modischen, tief dekolletierten Schnürmieder.
Im „New Italy“ hatte sich die Familie einen Tisch im ersten Stock direkt am offenen
Fenster reservieren lassen. Vom Beach-Parking aus, versteckt hinter einem Transporter,
konnte Mann die drei beobachten. Dem geschmacklosen Paar und der frühreifen Tochter beim Essen zuzusehen, war unappetitlich, aber lehrreich. Alle Beteiligten ließen
ihrer Gier freien Lauf.
Als sie nach gut anderthalb Stunden noch Nachtisch bestellten, wurde es Harry Mann
zuviel, und er entschloss sich zu einem Spaziergang durch das dunkle und fast menschenleere Venice. Die Luft stand still und heiß und drückend. Es stank nach gegrillten
Hamburgern, und von der Pacific Avenue zog der beißende Geruch von Abgasen und
schlecht verbranntem Benzin herunter zum Wasser. Es war gegen elf Uhr, und das kalifornische Venedig begann, seine Geschäftskanäle zu schließen. Im „Treefrog’s“ brannte
bereits kein Licht mehr. Nur auf den Bänken und im Sand entlang der Strandpromenade
stieß Mann auf Spuren von Nachtleben: zwei Dutzend Penner, die hier gratis und gemeinsam einschliefen.
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Er ging weiter auf dem Ocean Front Walk bis zur Windward Avenue, spazierte links
hoch und unter den Arkaden zur Pacific Avenue und auf ihr wieder zurück bis zur La
Palma Road. In die autofreie und auch menschenleere Gasse bog er hinunter in Richtung Strand. Zu dem postmodernen Bungalow, in dem sich die Schlossers eingemauert
hatten, waren es noch zwei-, dreihundert Meter. Um diese Uhrzeit machte die Gegend
bereits einen finsteren Eindruck, und das Messer in Manns Jackettasche übte, wenn es
auch nur das zweitkleinste aus dem originalverpackten Geschenk-Set war, das er aus
seiner Berliner Speisekammer mitgebracht hatte, auf seine Nerven einen beruhigenden
Einfluss aus.
Mann bewegte sich langsam, Schritt für Schritt, und überlegte, was er tun sollte. Seit
Gal ihn gestern im „Malibur Azur“ sitzengelassen hatte, fühlte er sich elender denn je.
Die Nacht hatte er fast schlaflos in dem Motel verbracht, allein mit dem Schwachsinn,
den der Farbfernseher über ihn ergoss, und der irrwitzigen Hoffnung, Gal könnte doch
noch zu ihm zurückkehren. Sehr früh am Morgen war er dann zu dem vierstündigen Fußmarsch aufgebrochen, der ihn in die Badebucht zu seinem Mietwagen brachte.
Er wusste jetzt, dass Gal zu denen gehörte, die ihn erpressten. Wahrscheinlich war er
ihr von Anfang an auf den Leim gegangen.
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Nur änderte dieses Wissen nichts an seiner Lage und daran, wie er sich aus ihr befreien
musste. Und es änderte auch nichts an seinen Gefühlen für Gal. Er konnte sich nicht
helfen, er liebte sie deswegen keinen Deut weniger. Er sehnte sich nach ihr, und liefe
sie ihm jetzt über den Weg, er würde ihr verzeihen und versuchen, sie ins nächste Gebüsch zu zerren.
Zu allem Übel war er gestern so intelligent gewesen, von seinen Plänen zu plaudern.
Sollte Schlosser der Erpresser sein, war er jedenfalls gewarnt. Doch dem silberschopfigen Rolls Roycer würde dieses Wissen kaum mehr helfen als Mann das seine.
Gerade hatte er sich entschlossen, ein wenig schneller zu machen, um den Aufbruch
der Familie aus dem Restaurant nicht zu verpassen, als ihm zu seiner Überraschung
Fritz Schlosser und seine Stieftochter entgegenkamen, einer im Arm des anderen. Wenn
die beiden nach Hause in ihren weißen Würfel wollten, waren sie haargenau auf dem
falschen Weg.
Mann trat in eine Einfahrt und ließ sie passieren. Dabei sah er, wie die Hand des Stiefvaters auf die gespannte Wölbung der Jeans glitt, in die der Hintern des Mädchens eingeschweißt schien. War Sex im Spiel , lag Gal augenscheinlich immer goldrichtig.
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Mann haßte Schlossers satte Selbstgewißheit, wie er fettes Essen haßte. Doch die Gelegenheit war endlich da. Er musste jetzt handeln. Vielleicht ließ es sich jahrelang mit
einem Verbrechen leben, aber begehen musste man es schon etwas zügiger.
Er spürte, wie sein Kopf aufhörte zu denken. Die verwaschenen Farben der zweistöckigen Holzhäuser mischten sich vor seinen Augen mit dem grellen Bunt seiner Phantasien.
Er lief so schnell er konnte, ohne dass es auffiel.
Keine Minute später hatte er das hellerleuchtete Domizil der Schlossers an der La Palma
Ecke Speedway erreicht. Dass mit den Bewohnern dieses postmodernen Bunkers nicht
gut Kirschen essen war, wurde auf den ersten Blick deutlich. Besaßen die umliegenden
Häuser morsche Gartenpforten, so versperrte hier eine weiße Stahltür den Eingang.
Rundherum schützten eine hüfthohe weiße Betonmauer und darüber ein guter Meter
milchiges Plexiglas das Gebäude vor neugierigen Blicken und erst recht vor Eindringlingen.
Mann ging an dem Haus vorbei und den Speedway entlang zu seiner Rückseite. An ihr
lockten nur zwei einsame schießschartengroße Fenster. Dafür war sie mit Warnschildern reich verziert: An der Garageneinfahrt dekretierte ein blaues Schild mit dicken
weißen Lettern ein vierundzwanzigstündiges Parkverbot, ein gelbes drohte mit „Armed
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Response“, und für die Verlässlichkeit der Ankündigungen bürgte ein drittes Schild mit
dem Wappen der Firma, die das Haus rund um die Uhr bewachte.
Dass es ihm gelingen könnte, unbehelligt einzubrechen, schien Mann unwahrscheinlich. Also konzentrierte er sich auf das Nachbargebäude. Dort brannte kein Licht. Das
Gartentor war abgeschlossen, jedoch aus griffigen Holzlatten und leicht überwindbar.
Den unteren Teil dieses Hauses hatte man nachträglich zu einer Garage ausgebaut,
der eigentliche Eingang lag jetzt im ersten Stock. Zu ihm hinauf führte, an der linken
Seitenwand entlang, eine Holztreppe. Zwischen ihrem Geländer und der hohen geweißten Betonmauer von Schlossers Bunker blieb eine schmale, fast lichtlose Schlucht von
vielleicht einem Meter Breite. Die Treppe allerdings endete einen guten halben Meter
oberhalb der Mauer.
Die Möglichkeit, die sich ihm bot, erkannte Mann sofort.
Er kletterte ohne Schwierigkeiten über das Tor des Nachbargebäudes, stieg die Holztreppe auf halbe Höhe und sprang von dort in den Garten der Schlossers, ohne die
Mauer und ihre Alarmkontakte zu berühren.
Der Garten war leer bis auf ein halbes Dutzend Kakteen, die sich aus einer WesternDekoration hierher verirrt zu haben schienen. Mann rappelte sich auf und suchte nach
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einem Weg, in das Haus zu gelangen. Er brauchte nicht lange zu suchen. Zu seiner
Verblüffung stand die Haustür offen. Sie abzuschließen hatte Schlosser für überflüssig
gehalten, wohl im falschen Vertrauen auf die aufwendige Außensicherung. Oder waren
Stiefvater und Töchterchen nur zu einem kurzen Abendspaziergang ums Eck ausgegangen und würden jeden Augenblick zurückkommen? In diesem Fall musste Harry Mann
sich beeilen. Vielleicht aber wartete Fritz Schlosser auf das Eindringen des bestellten
Mörders und bot ihm bewusst diese Gelegenheit ? -...?
Alles war möglich, und auf nichts konnte Mann sich verlassen.
Er betrat die Eingangshalle und sah sich um. Ihr unbestrittenes Prunkstück war eine riesige Palme, deren Wurzeln ein hoher Betonkübel von mindestens drei Metern Durchmesser barg und die hinauf wuchs bis zu dem gläsernen Dach, hinter dem sich der Himmel
erahnen ließ. Ihm entgegen führte eine breite marmorne Freitreppe.
Mann hatte schon ein paar Schritte auf sie zu getan, als er in einer Nische am Eingang
vier Videomonitore entdeckte, deren Bildschirme das Außentor in Großaufnahme sowie
eine Totale der drei offenen Seiten des Eckhauses zeigten. Niemand schlich dort herum.
Unter den Monitoren stand ein Schrank aus schwarzem Schleiflack. Mann öffnete ihn
und fand vier langsam laufende Recorder, die das nächtliche Geschehen aufzeichneten.
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Er ließ die Kassetten auswerfen und verstaute sie in den Taschen seines Jacketts. Die
Aufnahmen hätten ihn erledigt. Von jedem der Videos hätte die Polizei sein Konterfei
nehmen können.
Während er in den oberen Stock hinaufstieg, zog Mann das Messer aus der Tasche. Der
Flur hatte ein halbes Dutzend Türen. Ein seltsamer und ihm doch irgendwie vertrauter
süßlicher Geruch lag in der Luft. Er kam aus dem Zimmer hinter der äußersten rechten
Tür. Vorsichtig drückte Mann die Klinke hinunter.
In dem Raum brannte nur gedämpftes Licht. Es war das luxuriös eingerichtete Schlafgemach einer Frau. Über dem Stuhl neben der barocken Schminkkommode hing das
ultramarinblaue Kleid mit den schwarzen Punkten, das Maria Schlosser heute Abend
im „New Italy“ getragen hatte. Jetzt erkannte Mann den Duft: Die Luft in dem Zimmer
war feucht und getränkt von dem Aroma des süßlichen Badezusatzes, den auch Peter
benutzte. Wahrscheinlich war es einfach der teuerste auf dem Markt.
Aus der halboffenen Tür neben dem Bett drang ein leichtes Plätschern. Wenigstens sang
die Frau nicht.
Harry Mann zögerte. Die Situation war ihm unangenehm. Bisher hatten seine Opfer
keine nackten Körper besessen, keine nassen Schultern und von Schaum gezierte Ach-
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seln. Er überlegte, ob er warten sollte, dass Maria Schlosser ihr Bad beendete. Doch
dann siegte seine Angst vor Entdeckung, vielleicht auch sein frischgebackener Professionalismus, jedenfalls stieß er die Tür auf und sagte artig und auf Deutsch:
„Entschuldigen Sie bitte vielmals, wir gehen einer Beschwerde nach ...“
Mit einem langen Schritt und einem freundlichen Lächeln trat er auf die marmorne Badewanne zu. Die Verblüffung über diesen Unsinn hielt Frau Schlosser einen Augenblick
zu lang vom Schreien ab. Der automatische Versuch, ihre Brust zu bedecken, den sie
stattdessen unternahm, war angesichts seiner Absichten so passend wie Skigymnastik in
der Karibik. Sekundenbruchteile später drückte die Klinge des Messer an ihre Kehle.
Diesmal würde er nicht wieder denselben Fehler begehen; diesmal würde er mit seinem
Opfer sprechen, nach den Hintergründen forschen, die Frau erzählen lassen, was sie
wusste.
„Bleiben Sie ruhig“, sagte er schnell, „und nichts wird Ihnen passieren.“
Maria Schlosser bewegte keinen Muskel. Selbst ihren Atem zog sie so vorsichtig ein, als
müsse sie die Luft an der Klinge vorbeischmuggeln. Nach der ersten Schrecksekunde
sackten ihre Hände herunter und verschwanden im Schaum des Badewassers.
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„Was wollen Sie von mir?“ stammelte sie entgeistert. „Um Gottes willen ... Ich gebe
Ihnen, was Sie wollen!“
„Geld hilft Ihnen in diesem Fall nicht weiter. Ich bin schon bezahlt worden.“
„Mehr ...“, stammelte Maria Schlosser, „Sie bekommen mehr!“ Sie rutschte Zentimeter für Zentimeter am Rand der Wanne hinunter, bis die schweren Brüste unter dem
Schaum verschwanden. „Ich zahle mehr, viel mehr. Jede Summe ...“ Da war ein leises
Schluchzen in ihrer Stimme.
„Ich will kein Geld“, sagte Mann. Er fühlte sich unwohl, und er spürte, wie seine Kraft
schwand, seine Kraft zu töten. „Was ich brauche, sind Informationen. Ich muss wissen,
wer Interesse haben könnte, Sie aus dem Wege zu räumen!“
„Das weiß ich doch nicht! Woher auch?“ Die Frau in der Wanne blickte noch immer
angsterfüllt zu ihm hoch, doch ihre Stimme klang ruhiger und in die Augen trat ein misstrauisches Glitzern.
„Ein Tipp, ein Name könnte Ihr Leben retten!“ Mann verstärkte den Druck des Messers.
„Sagen Sie mir, was Sie wissen!“
Maria Schlossers Reaktion verblüffte ihn. Sie sah nicht aus, als würde sie angestrengt
nachdenken. Sie fragte ihn nicht einmal, was er wissen wollte.
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„Wenn das ein Test sein soll“, sagte sie, plötzlich sehr bestimmt, „so ist es ein Scheißtest. Das können Sie Herlois ausrichten!“
„Herlois? Wer ist Herlois? Sagen Sie mir, wer das ist!“
„Nichts, gar nichts werden Sie von mir erfahren. Also richten Sie ihm aus, dass ich
dichthalte. Unter allen Umständen!“
„Ich kenne keinen Herlois ...“ Mann war ein wenig ratlos, was sollte er jetzt tun? Er
verstärkte noch einmal den Druck des Messers. „Wo finde ich diesen Herlois?“
„Hören Sie auf! Sie tun mir weh, Sie Idiot.“ Maria Schlosser, nackt und nass und gar
nicht mehr ängstlich, hob ihre Stimme und schrie nun fast. „Gehen Sie raus! Raus hier!“
Ihre Hände tauchten aus dem Wasser und schlugen nach ihm. Um die Schläge abzuwehren, musste er das Messer von ihrer Kehle nehmen. Diese Gelegenheit benutzte sie
zu dem Versuch, in der Wanne aufzustehen. Kaum gelang es ihm, sie mit seiner freien
linken Hand unten zu halten. Ihre wütende Gegenwehr spritzte ihn über und über nass.
„Raus! Ich will, dass Sie verschwinden!“
„Seien Sie ruhig!“
„Raus!“ Maria Schlossers Stimme kippte, so laut schrie sie, und ihre Arme platschten im
Wasser, als wollte sie jede Sekunde in die Luft abheben.
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Harry Mann musste alle Kraft aufbieten, um die zappelnde Frau in die Wanne zu pressen. Wie eine Gans war sie, dachte er und spürte die Wut in sich hochsteigen, Wut und
Verachtung: wie eine sehr fette Gans, die zum Fliegen zu alt und zu schwer war. Oder
nein, wie ein Engel, ein abgestürzter Barockengel mit nassen Flügeln. Und so dumm.
Viel zu dumm. Sie ließ ihm keine Wahl. Wie es im Himmel aussah, würde sie vor ihm
wissen.
Er warf das Messer auf die grauen Marmorfliesen und drückte die nassen Schultern
ins Wasser, nun mit beiden Händen, tiefer, so tief er konnte, bis der Kopf unter dem
Schaum verschwand.
Es dauerte nicht lange, nur ein paar lange zuckende Sekunden, bis alle Gegenwehr versiegte.
Vorsichtig ließ er los.
Der Körper in der Wanne bewegte sich nicht mehr.
Mann hob das Messer auf und steckte es zu den Videokassetten. Sein Jackett und seine
Hose waren nass, als hätte auch er in der Wanne gesessen. Er fühlte sich unwohl. Wenn
er erst einmal draußen war, würde er das Jackett ausziehen und über dem Arm tragen.
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Er wandte sich zum Gehen. Als er die Tür des Badezimmers schloss, war Maria Schlossers Kopf noch immer unter der dichten Schaumdecke verborgen.
Harry Mann war froh, so gut wie nichts von dem nackten Körper gesehen zu haben. Sie
war eine Frau, und er liebte die Frauen.
5
Am nächsten Morgen gegen zehn Uhr saß Harry Mann frisch rasiert und frisch gebadet
und sehr ungeduldig an einem der wackligen runden Tische des „Treefrog’s“, trank
seinen zweiten Cappuccino und beobachtete abwechselnd die bunte Szene um das Café
herum und den blau uniformierten Auflauf weiter hinten an der Ecke La Palma Road und
Speedway.
Für einen unangenehmen Augenblick zogen zwei gedrungene, spätpubertierende Schönheiten mit langen dunklen Haaren, sehr mexikanischen Gesichtern und mit Beinen, die
einem Mops zur Ehre gereicht hätten, seine Aufmerksamkeit auf sich. Sie hatten sich
untergehakt und flanierten sehnsüchtig dreinblickend an den Tischen des „Treefrog’s“
vorbei, wobei sie in einem fort einander an- und zukicherten. Gekleidet in eine extreme Spielart der Freizeit-Ungeheuerlichkeiten, die amerikanischen Minderjährigen
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zur zweiten Haut geworden waren, boten sie einen bemerkenswert jämmerlichen Anblick: schenkelkurze und himmelschreiend bunte Ballerinenröckchen, dazu weite grelle
Blusen, die den reichlich vorhandenen Körper nur ahnen ließen. Der Aufzug wurde,
den sommerlichen Temperaturen zum Trotz, von dicken, milchfarbenen Strumpfhosen
komplettiert, deren oberes, verstärktes Ende unter den knappen Röcken immer wieder
aufblitzte und deren unteres Ende in plumpen, gespritzten Plastikschuhen steckte.
Harry Mann schloss die Augen und spürte eine nie gekannte Sehnsucht, stilles Heimweh
nach einem bundesdeutschen Babystrich. Als er die Augen wieder öffnete, waren die
Schönheiten außer Sichtweite gewalzt.
Er wartete schon eine ganze Weile, und vielleicht machte zu langes Rumsitzen und
Hoffen pervers. Einen Haufen Männer um die Fünfzig kannte er, die dafür den Beweis
angetreten hatten. Aber er musste weiter warten. Die beiden überlebenden Schlossers
waren seine erste Spur, seit die „Stimme“ begonnen hatte, ihm ihre Bedingungen zu
diktieren. Eine leichenblasse Spur, streng bewacht von der bewaffneten Staatsmacht:
Um den postmodernen Betonbunker an der Ecke La Palma Road und Speedway patrouillierten mehrere Streifenbeamte, und die Straße versperrten ein paar klapprige Gitter
und zwei quergestellte Polizeifahrzeuge, deren rotgelbes Sirenenlicht sich lautlos
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drehte; ein Anblick, der Mann aus zahllosen Krimiserien wohl vertraut war, vertrauter
als die Wirklichkeit, in der er sein Leben gelebt hatte.
Entlang der provisorischen Absperrung parkten die Übertragungskombis diverser lokaler
Fernsehstationen. Die Reporter und ihre Kameramänner, das Warten augenscheinlich
besser gewohnt als Mann, saßen auf Klappstühlen vor dem Eingang zu Schlossers Domizil herum, unterhielten sich und aßen und tranken unentwegt aus Plastikgefäßen. Es
war eine entspannte Szene. Jedermann schien glücklich und zufrieden.
Nur Harry Mann fiel es schwer stillzusitzen. Seine Gedanken kreisten in wildem Leerlauf
um die „Stimme“. Für ihn gab es keine Ruhe, ehe sein Erpresser nicht ein für allemal
zum Schweigen gebracht war. Er wartete und starrte in Richtung Speedway.
Jeden Moment konnten Silberschopf und Bondie auftauchen. Sie würden aus dem Torgang des bombastischen Häuschens treten. In ihre Gesichter würde der schwere Verlust
geschrieben sein, und gewiss würde die Trauer sie beugen. An ihren schauspielerischen
Fähigkeiten zweifelte er ebenso wenig wie an der Tatsache, dass sie es waren, die den
Mord in Auftrag gegeben hatten. Und deshalb mussten sie ihn zu dem Mann führen, der
die „Stimme“ war. Also wartete er weiter.
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Vier müßige Schönlinge stolzierten, vom Strand kommend, an der Terrasse des
„Treefrogs’s“ vorbei und die La Palma Road hinauf. Er bestaunte die muskulösen
braungebrannten Körper über den Rand der Kaffeetasse hinweg. In der Ferne hörte
man heftiges Hupen und Sirenen sich nähern. Die Schönlinge trugen ihre kurzärmeligen
Hemden an der Brust offen bis zum Nabel und waren in so knappe und so kurze Höschen
geschlüpft, als gingen sie nur mal vom Bett zum Klo.
Gerade hatten sie den Speedway überquert, da raste eine Kolonne dunkler Limousinen
heran, angeführt von zwei Polizisten auf schweren Motorrädern. Die Muskelmänner
blieben wie angewurzelt stehen und wurden fast niedergetrampelt, als die Fernsehleute aufsprangen und im wilden Haufen den ankommenden Fahrzeugen entgegenstürmten. Im selben Augenblick setzten die Streifenwagen ein paar Meter zurück und
gaben den Weg bis zu Schlossers Haus frei.
Die Kolonne hielt direkt an der Ecke Speedway und La Palma Road. Es waren zwei
schwarze viertürige Lincoln-Limousinen und ein dunkelgrüner 200er Mercedes. Aus den
Lincolns quoll ein halbes Dutzend Männer in dunkelgrauen Anzügen. Einige hielten Pistolen im Anschlag und sicherten die Straße.
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Neben Manns Tisch stand der Kellner mit offenem Mund. Die meisten Gäste des Cafés
sprangen auf. Auch das Lärmen der Faulenzer auf dem Ocean Front Walk verstummte.
Erst jetzt stiegen drei weitere Männer in dunklen Anzügen aus dem Mercedes und verschwanden in dem Gebäude. Der Rest des Trupps folgte ihnen.
Die Fahrzeugkolonne rollte wieder zurück in Richtung Rose Avenue. Am Tatort blieben
nur die Streifenwagen. Sie fuhren vor und sperrten den Speedway erneut ab.
Unter den Müßiggängern setzte ein Schreien und Debattieren ein, das alles Dagewesene
übertraf. Jeder brabbelte auf den anderen ein, niemand hörte zu, dazu dröhnten konkurrierende Ghettoblaster, und Harry Mann verstand kein Wort außer „FBI“.
Stimmte wahrscheinlich, dachte er. Die kamen, weil das Opfer eine Ausländerin war,
eine reiche zudem. Und genauso, wie sie gekommen waren, würden sie auch wieder
verschwinden: aufwendig und routiniert.
Sein Blick schweifte über die plastikbunte Szenerie. Die Schönheiten dieses künstlichen
Venedigs konnten ihm nichts anhaben. Die Amerikaner allerdings. Sie verhielten sich
haargenau so kindisch, wie seine Eltern es von den Besatzer-Amis schon immer behauptet hatten: Sie kauten im Gehen, Stehen und Liegen und wackelten unentwegt mit Händen und Füßen, wobei sie ihre Körper seekrank wiegten; sie zogen sich geschmacklos
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an, litten zur guten Hälfte unter maßlosem Übergewicht, lärmten lautstark und waren
überhaupt vulgär.
Im Grunde also benahmen sie sich, erkannte Mann und musste lächeln, wie die Deutschen im südlichen Ausland, wie die Wessies jedenfalls. Breitärschig und gedankenlos,
eine nur sich selbst bewusste Internationale aller Wohlständigen. Alle gleich und alles
gleich. So fand denn auch sein Auge in ganz Venice nichts, das ihm gefiel. Nichts, das
besser gewesen wäre als die Attraktionen, die eine x-beliebige deutsche Fußgängerzone
zu bieten hatte. Und die langweilten ihn ebenfalls, solange es sie gab.
Harry Mann hatte es satt. Venice, Kalifornien, das Warten, alles, was er seit jenem
Abend vor drei Wochen trieb und wozu er getrieben wurde. An seiner Unzufriedenheit
ließ sich ebenso wenig rütteln wie an der Vertreibung aus dem Paradies. Und trotz allem sehnte er sich danach, allein mit Gal zu sein.
Er blickte auf seine Armbanduhr. Es ging auf elf. Die beiden Schlossers hatten ihre postmoderne Burg noch immer nicht verlassen. Der billige Plastikstuhl, den der Inhaber des
„Treefrog’s“ seinen Gästen zumutete, bereitete ihm allmählich Schwielen am Hintern.
In zehn Minuten, beschloss er, würde er den Standort wechseln. Er legte fünf Dollar auf
den Teller mit der Rechnung und schob die Untertasse darüber, um den Geldschein vor
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dem leichten Wind zu schützen, der vom Meer her in die schmale Gasse der La Palma
Road fegte.
Auf dem Ocean Front Walk walzten wieder die zwei mopsartigen Schönheiten in den
milchfarbenen Strumpfhosen vorbei, nun in die entgegen gesetzte Richtung. In ihrem
Gefolge befanden sich drei fiebrige Jünglinge, deren Blicke gebannt auf einen Punkt
unterhalb der Gürtellinie gerichtet waren.
Harry Mann dachte an die Liebe der Lurche und stand auf. Es sah nach Regen aus. Aber
das tat es seit Tagen immer mal wieder, und nie fiel ein Tropfen.
Er hatte erst ein paar Schritte getan, als in der Ferne erneut Hupen und Sirenen zu hören waren. Einige der parlierenden Nichtstuer riefen „Schscht“, die Freaks drehten ihre
Ghettoblaster leiser, und die meisten Leute machten ein paar unschlüssige Bewegungen
in Richtung Speedway.
Die Sirenen wurden lauter, und Mann beschloss, dichter an den Ort des Geschehens heranzugehen. So klug war fast jeder. In Sekundenschnelle entstand an der Absperrung vor
Schlossers Haus ein infernalisches Gedränge, Geschrei und Gestoße.
Die Kolonne, bestehend diesmal aus nur einer schwarzen Limousine und dem dunkelgrüne Mercedes, bog um die Ecke, voran die beiden schweren Motorräder. Das Schau-
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spiel von vorhin wiederholte sich, als hätte ein unsichtbarer Regisseur einen zweiten
Versuch befohlen. Das einzig wirklich Neue waren die beiden Männer, die dem Mercedes
entstiegen. Mann schätzte sie auf Anfang Vierzig, beide trugen blonde Bärte und braungebrannte Halbglatzen, beide steckten in Jeans und Lederjacken, und beide sahen verdammt nach Ruhrpott und Umgebung aus.
Harry Mann kannte die TV-Typologie: Wenn die Business-Anzüge vorhin FBI gewesen
waren, dann kam jetzt das BKA. Obwohl das so schnell natürlich gar nicht möglich war,
es sei denn, die Bullen reisten mit Lichtgeschwindigkeit. Oder hatten sie ihren Amtsschimmel schon vorher nach Los Angeles geritten, bereits vor dem Mord? Warum aber?
Auf seiner Spur?
Paranoia. Wie gehabt.
Normal allerdings fanden nicht einmal die Penner von Venice das Theater, das hier wegen einer einzelnen Badewannenleiche veranstaltet wurde. So verhielten sich die Bullen nicht bei jedem Mord. Irgendetwas war los mit den Schlossers, irgend etwas, wovon
Harry Mann keine Ahnung hatte.
Als weiter nichts geschah, löste sich die Menschenansammlung wieder auf. Mann überlegte, was aus seinem Warten werden sollte.
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„Vergiss es“, sagte er zu sich selbst. „An die Schlossers kommst du nicht mehr ran.“
Allmählich wurde es zu gefährlich, noch länger hier herumzuhängen. Der Mexikaner
namens Bill schien heute glücklicherweise frei zu haben. Aber gewiss würde es bei dem
Aufwand an Menschen und Intelligenz nicht lange dauern, bis die Polizei von dem eigentümlichen Umschlag erfahren würde und von ihm, dem akzentbeladenen Fremden,
der diesen Umschlag gestern abgeholt hatte. Eine Entfernung aus Venice schien ihm
dringend geraten.
Mann ging zum Beach-Parking und löste seinen dunkelblauen Chevrolet Nova aus.
Als er durch die Schranke fuhr, kreuzte auf dem Ocean Front Walk ein jugendlicher
Rasta-Müllmann seinen Weg. Er war in eine dreckige Decke mit arabischem Muster
gehüllt und schob einen mit Abfall aller Arten überladenen Zweiradkarren vor sich her.
Bereitwillig ließ Mann, schon ziemlich amerikanisiert, der wandernden Müllkippe den
Vortritt. Sie bot ein Bild, das man so leicht nicht vergaß, eine Szene wie aus einem neorealistischen Trümmerfilm. Nur der Topf für milde Gaben, auf den an der Vorderseite
des Karrens ein dicker metallener Pfeil hinwies, störte die soziale Idylle.
Bloß weg hier, dachte Mann. Er musste raus aus diesem Dauerfasching, diesem Südeuropaverschnitt, gebastelt aus Strandgut und bevölkert von Piraten und Goldgaleeren-
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sklaven und Künstlern, die sie malten. Für Wolf allerdings wäre die Venice-Scene ein
gefundenes Fressen. Einen Essay erster Klasse könnte er darüber absondern, über Kulturverfall und US-Kommerz, vorzugsweise mit einem seiner holpernden Kalauer-Titel,
die sie in der Pöseldorfer Kampfpresse so liebten: „Freizeit fressen Freiheit auf“ oder
so ähnlich.
Als der pittoreske Müllmann sich endlich vorbeigeschleppt hatte, gab Mann ruckartig
Gas und schoss die leichte Steigung der Rose Avenue hinauf. Kein Grund zur Fröhlichkeit
eigentlich. Angebrachter war Verzweiflung. Die einzige Spur hatte er verloren. Er befand sich auf dem Rückzug, vielleicht schon auf der Flucht.
Einmal mehr war er der Verlierer. Niemand liebte Verlierer, er selbst am allerwenigsten. Und verloren auch war Gal, der einzige Mensch, den er liebte.
„Vergiss es, und vergiss sie, vergiss sie alle“, sagte er laut in die fröhliche Musik von
„KLSX“, zu den Jungens, die wussten, was beim Rock‘n’Roll Sache war, und die ihm
und allen anderen Hörer an diesem wunderbaren kalifornischen Mittwochvormittag nun
Dylan’s „It ain’t me, babe“ brachten.
„Mein lieber Mann“, sagte er freundlich und freute sich daran, dass Dylan die Unfreundlichkeit selbst war, „mein lieber Mann, du kannst froh sein, wenn du dich da lebend
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rausziehst . Das ist keine gewöhnliche Geschichte. Da ist mehr drin, als du dir vorstellen kannst. Wahrscheinlich das große Geld.“
An der Pacific Avenue fädelte er sich in das alltägliche Verkehrschaos ein. Keine Ahnung, wie er jetzt an die „Stimme“ herankommen sollte. Außerdem war er so gut wie
blank. Noch ein paar Tage länger in Los Angeles und er würde nicht einmal mehr imstande sein, die Hotelrechnung zu bezahlen.
Aber er musste bleiben.
Nur wenn er nicht tat, was die „Stimme“ verlangt hatte, wenn er nicht abreiste, bestand die kleine Hoffnung, dass der Erpresser sich sehr bald und nicht erst in ein paar
Monaten wieder bei ihm meldete – und dabei endlich den entscheidenden Fehler beging.
Freiheit war Einsicht in die Notwendigkeit, hatte ihm Peter immer weismachen wollen.
Dann war Freiheit jetzt Freizeit, Leerzeit, in der er nichts anderes tun konnte, als sich
in seiner Luxussuite zu begraben, den Fernseher dudeln zu lassen und sich sanft zu besaufen.
Und zu warten.
Und zu hoffen.
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Am nächsten Liquor Store hielt er an.
Der Laden war dekoriert wie ein Christbaum, bunt und grell und geschmacklos, und das
erinnerte ihn an Silvester. Was für ein Scheißjahr es werden würde, hätte er sich schon
vor neuneinhalb Monaten denken können, als er aus einem bekloppten Knallbonbon sein
beklopptes Jahresmotto gezogen hatte:
„Wenn ich Sie noch einmal mit meiner Frau erwische, können Sie sie behalten.“
Sobald er jetzt daran dachte, hörte er Kellings Stammeln.
Einen Haufen Alkohol brauchte er.
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SIEBTES KAPITEL: MASSAKER
1
Als Harry Mann eine Dreiviertelstunde später den Gang zu seiner Penthouse-Suite im
„Chateau Marmont“ hinunter kam, eine Flasche Remy Martin in der Hand und zwei Sixpacks Bier, stand der Servicewagen des Zimmermädchens vor der halboffenen Tür. Mann
zögerte einen Augenblick. Nichts konnte er jetzt weniger ertragen als putzendes Gewusel um sich herum. Er wollte allein sein. Er wollte in Ruhe verzweifeln, und er wollte
mit sich alleine leiden.
Um die dürre Mexikanerin nicht zu erschrecken, klopfte er an den Türrahmen, und als
sie ihm in ihrem geschmacklosen blauen Hänger entgegenkam, bedeutete er ihr, dass
sie gehen sollte. Sie wich seinem Blick aus und schien erleichtert. Keine Minute später
hatte sie ihre Utensilien zusammengekramt und verließ die Suite.
Mann zog die Gardinen vor, trat sich die Cowboystiefel von den Füßen und hängte sein
ausgebeultes bestes Jackett über die Lehne des Schreibtischstuhls. Dann knöpfte er die
schwarze 501er Jeans ein Stück weit auf und legte sich in dem sonnigen Halbdunkel mit
einer Flasche aus der Sixpack auf das King-Size-Bett. Er hatte „Miller Light“ gekauft;
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erstens schmeckte ihm dieses wässrige Diätbier am besten und zweitens, wenn sie ihn
erwischten, was jeden Tag geschehen konnte, würde er einige Aufmerksamkeit in den
Medien finden, und – bei der Vorstellung musste er grinsen – da wollte er keinen Bierbauch vor sich herschieben.
Dasselbe galt natürlich auch für jede weitere Begegnung mit Gal; wenn er sie je wiedersehen würde.
Harry Mann nuckelte an der Bierflasche und fühlte sich einsam. Er musste mit jemandem sprechen, am besten mit einer Frau. Er brauchte Liebe.
Nach einer Weile entschloss er sich, Kati anzurufen. Der Reisewecker zeigte kurz nach
ein Uhr, in Deutschland war es neun Stunden später, eine gute Zeit. Er kramte im Koffer
nach seinem Notizbuch. Als Katis Antwortmaschine sich einschaltete, hängte Mann ein.
Die Dame war unterwegs, wahrscheinlich saß sie in dem verräucherten holzgetäfelten
Schuppen in der Nähe ihrer Wohnung, wo sie beide sich kennengelernt hatten, und ließ
sich von den Songs aus den guten alten Sixties berieseln.
Mit jedem Schluck Bier fühlte Harry Mann sich einsamer. Niemand außer Anne fiel ihm
ein, den er noch anrufen konnte.
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Während er dem Freizeichen lauschte, stellte er sich vor, wie in elftausend Kilometern
Entfernung in einer von Fichtenholzmöbeln und Bücherregalen verstellten Wohnung das
giftgrüne Posttelefon sein schäbiges antiquiertes Klingeln klingelte. Anne war nie bereit
gewesen, für ein besseres Modell mehr Geld auszugeben. Und sie war auch nicht zu
Hause.
Harry Mann legte auf, lag still da und betrauerte seine Einsamkeit. Er dachte an die
Freunde, die er nicht hatte, an das gute glückliche Leben, das ihm nicht gelingen
wollte, und spürte tiefes Selbstmitleid. Alle Gedanken aber führten ihn zu Gal, und alle
Gedanken an Gal erregten ihn. Nach der zweiten Flasche Bier schlief er ein, ohne dass
er eine Lösung für dieses Problem gefunden hatte.
Als er wieder aufwachte, war es zwanzig nach drei.
Er stand auf, holte sich eine dritte Flasche aus dem Kühlschrank und schaltete den
Fernseher ein. Er war sicher, dass alle Sender ausführlich über den Mord an Maria
Schlosser berichten würden. Die hiesigen Nachrichten waren die hohe Stunde der Lokalmatadore. Um nichts anderes hatten sich die Meldungen in den Tagen seit seiner Ankunft gedreht als heimische Waldbrände und unheimliche Sexualverbrechen, verstopfte
Freeways und Korruption in der Stadtverwaltung von Los Angeles. Plus viel Sport und
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Wetter. Dazwischen gab es, gewissermaßen als Auslandsberichterstattung, sekundenlang das Neueste aus Washington oder New York. Entferntere Gebiete tauchten nicht
auf. Nach einer Woche in Südkalifornien konnten einem begründete Zweifel kommen,
ob die Alte Welt überhaupt je existiert hatte.
Ein mysteriöser Frauenmord aber musste die volle Aufmerksamkeit der Nachrichtenleute finden, auch wenn das Opfer nur eine Europäerin war. Geduldig quälte Mann sich
also durch den Schwachsinn einer Comedy-Serie um drei liebliche Arzthelferinnen, die
allesamt total sauber und total vollbusig waren, wobei mal der eine, mal der andere
Umstand ihren Umgang mit den kalifornischen Männern erschwerte, bis es endlich vier
Uhr wurde und die News-Show begann.
Was die Schlossers betraf, behielt Mann recht. Die Reportage aus der La Palma Road
kam sogar als Aufmacher der Sendung. Eine sehr junge Reporterin, deren Vorfahren
einst aus China an diese Küste verschlagen worden waren, hatte sich vor der Kulisse
von Polizeiwagen und postmodernem Bunker postiert, sprach ein paar einleitende Sätze
und begann ein hastiges Interview mit dem Pressesprecher der Polizei, einem braungebrannten Yuppie-Jüngling, der all seine Worte auf der Waagschale wog und jedes für
gewichtig befand: Maria Schlosser, verkündete er, war nicht nur eine reiche Frau von
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achtundvierzig Jahren gewesen, als konservative Abgeordnete des „Bandistegs“ hatte
sie auch eine wichtige Rolle in der politischen Szene von West Germany gespielt.
Mann fielen die Kiefer in den Schoß. Er konnte es nicht glauben. Er musste sich verhört
haben: sein Badewannen-Opfer, die Frau, die sich an einsamen Badebuchten bumsen
ließ, ein CDU-MdB? Nein, das konnte nicht stimmen, das hatte er falsch verstanden; ein
klarer Fall von mangelnden Englischkenntnissen. Doch dann wurde eine Landkarte von
Mitteleuropa eingeblendet, die dem durchschnittlichen Angelino erläuterte, wo dieses
exotische Parlament tagte, und damit war wohl jeder Zweifel beseitigt.
Mann öffnete eine weitere Flasche „Miller Light“, die vierte. Er saß entschieden tiefer
in der Scheiße, als er je gedacht hätte. Kein Wunder, dass die Bullen in Venice einen
solchen Aufstand veranstalteten. Und mit Sicherheit weiterhin veranstalten würden ...
Soviel er wusste, wurde in Kalifornien noch die Todesstrafe verhängt! Er musste sich
überlegen, wie er am schnellsten aus den USA herauskam.
Der Bericht über den Mord wurde durch Werbung für Weight-Watcher-Tiefkühlkost unterbrochen. Maria Schlosser hätte das sicher als üblen Zynismus empfunden. Aber wo
sie war, gab es keine Gefühle mehr.
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Dann erschien der optimistische Jüngling wieder auf dem Bildschirm und verkündete
die neuesten Einsichten der ermittelnden Behörden, des FBI und, Mann hatte beim
Eintreffen der zweiten Kolonne tatsächlich richtig geraten, der deutschen Sicherheitsbehörden: Terroristische Hintergründe vermutet!
Harry Mann schüttelte ungläubig den Kopf. Das war einfach zuviel des Schwachsinns,
diese weite Welt war hochgradig albern, viel alberner, als er es sich aus seiner Berliner
Hinterhofperspektive je vorgestellt hatte. Da ließ ein in jeder Hinsicht gieriger Ehemann seine alternde Lady liquidieren, und die katastrophensüchtigen Medien machten
daraus ein Politikum! Terrorismus! Wenn es das mal gewesen wäre! Diese Variante hätte
ihm selbst entschieden besser gefallen. Mord aus politischen Motiven: Pustekuchen.
Wenn es nicht so traurig gewesen wäre, hätte Mann sich totlachen können.
Aber, dachte er, man sollte den Ereignissen nicht vorgreifen.
Er stand auf und ging pinkeln. Als er aus dem Badezimmer zurückkam, lief ein Bericht
von einem Baseballspiel. Allemal genauso albern.
Mann schaltete den Fernseher aus. Dann öffnete er eine weitere Flasche, die fünfte,
und versuchte, einen Entschluss zu fassen. Es misslang ihm. Sosehr er sich auch mühte,
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er fand einfach keinen Ansatzpunkt für seine Gedanken. Vielleicht gab es keine Lösung.
Aber wo es etwas nicht gab, musste man es erfinden.
So kreisten seine Gedanken leer um seine Ratlosigkeit, und nach einem Dutzend Umrundungen kreisten sie zurück, um sich spiralförmig wieder ...
Bis das Telefon klingelte.
Er setzte sich auf und sah auf die Uhr. Er konnte nur kurz eingenickt sein. Es war zehn
vor fünf. Und das Telefon klingelte.
Es klingelte wirklich. Er hatte es nicht geträumt.
Ein Mensch, ein einziger Mensch auf der Welt wusste, dass er im „Chateau Marmont“
wohnte. Die „Stimme“!
Das Telefon läutete zum dritten Mal.
Mann überlegte, wie lange es wohl dauern würde, bis der Anrufer aufgab. Nach dem
vierten Klingeln nahm er den Hörer ab.
„Gut, dass ich Sie noch antreffe, mein Bester. Wann geht Ihr Flug?“
„Keine Ahnung“, sagte Mann und bemühte sich, betont schläfrig zu sprechen. „Ich bin
todmüde, so was nimmt mich einfach mit. Ich bin noch nicht zum Buchen gekommen.“
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„Um so besser. Wir haben da nämlich ein kleines Problem.“
„Sie müssen sich irren. Wir haben nichts mehr gemeinsam, nicht mal ein Problem.“
„Nun seien Sie nicht gleich so schroff. Es gibt unvorhersehbare Schwierigkeiten. Wir
benötigen Ihre Hilfe.“
Mann hätte schreien können vor Glück. Jetzt bekam er seine neue Chance, den Erpresser zu finden... Kurz entschlossen legte er auf.
Es dauerte keine Minute, bis das Telefon wieder klingelte.
„Wir sind leider unterbrochen worden“, sagte die „Stimme“.
„Nein“, sagte Mann, „wir sind nicht unterbrochen worden, ich habe aufgelegt.“
„Was soll denn das? Sie wissen doch, mein Bester, Sie und ich ...“
„Ein kleiner Test. Ich wollte ausprobieren, wie wichtig Ihnen Ihr kleines Problem ist ...“
„Es ist gravierend, außerordentlich gravierend. Aber über meinen Sorgen sollten Sie
nicht vergessen, in welcher Lage Sie sich selbst befinden.“
„Wir haben ein Abkommen!“
„Ja, gewiss, ja. Und Sie können mir glauben, wie gerne ich dazu stehen würde.“ Der
Tonfall der „Stimme“ wurde geradezu salbungsvoll, pastoral. „Sehen Sie, ich bin stolz
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darauf, bei denen, die mich kennen, als ein Ehrenmann zu gelten. Mein Wort genügt.
Normalerweise. Aber die augenblicklichen Umstände sind nun einmal nicht danach ...“
„Sie haben versprochen, dass ich ...“
„Lassen Sie mich das ganz offen aussprechen“, unterbrach ihn sein Erpresser am anderen Ende der Leitung, „in diesem Fall gibt es nichts und niemanden, der mich zwingen
könnte, diese Zusage einzuhalten!“
„Sagen wir es doch mal so: Was könnte mich hindern, wieder aufzulegen?“
„Seien Sie nicht kindisch! Ein Anruf von mir und Sie kommen nicht einmal mehr bis zur
Tiefgarage.“
„Sie wollen mir drohen, mich anzuzeigen? Bei den Bullen? Sie! Nach allem, was ich ...“
„Ungern. Höchst ungern. Aber sehen Sie, ich bin auch nicht ganz frei in meinen Entscheidungen, ich selbst muss den Wünschen dritter Personen willfahren ... Kurzum, lassen Sie uns diese unfruchtbare Diskussion beenden. Ich nenne Ihnen jetzt eine Adresse,
zu der Sie sich noch heute begeben werden.“
„Zu welchem Zweck?“
„Dem üblichen.“
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„Ich denke nicht daran. Irgendwann ist einmal Schluss.“
„Selbstverständlich. Nach diesem ... äh, Gefallen.“
„Nein.“ Mann legte auf. Allmählich wurde es ihm ernst. Er würde niemanden mehr töten.
Diesmal dauerte es fast fünf Minuten, bis das Telefon wieder klingelte.
„Ich habe mit meinen Auftraggebern gesprochen“, sagte die „Stimme“. „Wir stellen
Ihnen folgendes Ultimatum: Falls Sie zu der Adresse fahren, die ich Ihnen gleich mitteilen werde, und dort erledigen, was getan werden muss, werden Sie von uns dafür
einhunderttausend Mark erhalten beziehungsweise den Gegenwert in Dollar. Also genau
die Summe, die Sie, wenn ich mich recht erinnere, auch bei Irene kassiert haben.“
„Das ist kein Ultimatum“, sagte Mann fast obenhin. „Da fehlt die Drohung.“
„Die bleibt dieselbe wie seit Beginn unserer Geschäftsbeziehungen. Aber ich will die
unangenehmen Konsequenzen für Sie gerne aktualisieren: Sollten Sie noch einmal auflegen, ohne unserem Vorschlag zugestimmt zu haben, werde ich unmittelbar die Nummer
des örtlichen FBI-Büros wählen.“
„Ach ja? Sind Sie sich da ganz sicher, dass Sie das tun würden?“
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„Four-seven-seven-six-five-six-five. Die Jungs sitzen am Wilshire Boulevard und können
ruckzuck bei Ihnen sein.“
„Ich fahre“, sagte Mann.
„756 Canyon View“, sagte die piepsige „Stimme“ mit dem leichten amerikanischen
Zungenschlag. „Das ist in den Santa Monica Bergen. Einen Namen brauchen Sie nicht, es
handelt sich um ein alleinstehendes Haus. Sie werden erwartet.“
Die Leitung war tot.
Mann hielt den Hörer in der Hand. Er überlegte, dann entschloss er sich, Peter anzurufen. Natürlich durfte er ihm nichts erzählen, aber es würde ihn beruhigen, mit seinem
Freund zu sprechen. In Deutschland war es jetzt halb zwei Uhr morgens. Mit ein bisschen Glück saß Peter noch im „Vaterland“.
Doch mit dem Glück war es nicht weit her. Ein weibliches Wesen, vermutlich die neue
Blonde mit dem roten Mund, teilte ihm mit, dass Peter am Freitag zu einem kleinen
Zwischenurlaub nach Griechenland geflogen sei. Für vierzehn Tage.
Der Teufel sollte ihn holen.
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Eine Stunde später fuhr Harry Mann mit seinem dunkelblauen Mini-Chevrolet vom
Ventura Freeway ab und bog auf die Las Virgenes Road in Richtung Küste. Seit er das
flirrende smogige Häuschenmeer von Los Angeles hinter sich gelassen hatte, war er mit
sich und der Welt zufrieden. Der knalligblaue Himmel über ihm strahlte wie frisch lackiert, und die Pflanzen in den gepflegten Villengärten entlang dieser Jungfrauenstraße
wucherten so fettgrün wie im Tropenhaus.
Mann kurbelte die Seitenfenster herunter, schaltete die Klimaanlage hoch und sang,
weil die Berge den Radioempfang störten, laut gegen den Fahrtwind an, laut und wild
entschlossen, als wäre er noch sechzehn und mit seinem ersten Moped unterwegs zu
einer Petting-Party.
„Sex und Geld, Sex und Geld, haben, haben, haben“, schrie er, und links und rechts
zischten Villen und Auffahrten, Auffahrten und Villen vorbei, „ich bin ein roter Sputnik
in einem toten All, alles dreht sich, alles dreht sich, ich ich ich ich ich ...“
Weitere fünf Minuten später ging von der Las Virgenes Road eine kleinere Straße namens Canyon Park ab und von ihr kurz darauf die noch kleinere Canyon View. Sie führte
steil hinauf ins Gebirge.
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Mann war unsicher, was ihn erwartete. Unwillkürlich tastete er nach dem Nylonstrumpf
und dem Fleischmesser in der Innentasche seines Jacketts. Wen würde er am Ende des
Weges treffen? Nur eins wusste er genau: Diesmal brachte er niemanden um.
Jedenfalls nicht, ohne zuvor den Namen der „Stimme“ erfahren zu haben. Und wenn
irgend möglich, auch dann nicht.
Nach zwei, drei Meilen verwandelte sich der Canyon View in einen ungepflasterten
Feldweg, an dem weit und breit kein Haus mehr lag. Mann fuhr langsamer. Zum ersten
Mal roch er die Luft. Sie war warm und sauber und klar, und sie roch nach Eukalyptus
und Tannenharz. Hier war es allemal so schön wie in den Bergen des fernen Griechenland und allemal so einsam.
756 Canyon View, ein gewaltiger Villenkomplex mit dem einfallsreichen Namen ShangriLa, lag fernab der Durchgangsstraße mutterseelenallein direkt am Rande eines Canyons. Der vordere Teil des Grundstückes war unbebaut und verwildert. Offensichtlich
hatten die Eigentümer das große Gelände einzig und allein erworben, um jede Form
von Nachbarschaft auszuschalten. Den bewohnten hinteren Teil des Besitzes schützte
zusätzlich eine hohe Backsteinmauer vor neugierigen Blicken. Lediglich von einem
kurzen, erhöhten Stück des Weges, der in Windungen durch die kahle, von der Sonne
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verbrannte Hügellandschaft führte, fiel die Sicht frei auf den tropischgrünen Park innerhalb der Mauern und das schneeweiße und schlossgroße Haupthaus mit seinen großflächigen Glasfronten.
Mann hatte kaum auf dem lehmigen Privatweg das offene Tor an der Einfahrt passiert,
als vier gewaltige Boxerhunde auf den Kleinwagen losschossen, um mit ihren Krallen
den Lack zu ruinieren. Er bremste und beeilte sich, die Fenster hochzukurbeln, bevor
ihm die Bestien die Kehle durchbeißen konnten.
Auf einer Art Feldherrnhügel vor dem einstöckigen Dienstbotengebäude, das zur rechen
Hand kurz hinter der Einfahrt stand, saß ein stämmiger alter Mann in einer orangefarbenen Hollywoodschaukel und präsentierte seine braun gegerbte Haut der Nachmittagssonne. Er trug einen Strohhut und eine unförmige Badehose, über die ein gut gewachsener Bauch hing, und gewiss hätte er ein Mannsbild des irdischen Friedens geboten,
wenn nicht neben diesem rüstigen Senioren, der hier inmitten der schönsten Natur
seinen Lebensabend verbrachte, eine handliche, schwarz glänzende Maschinenpistole
gelehnt hätte.
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Mit sichtlicher Befriedigung sah der Alte der Zerstörung des Kleinwagens zu. Fast widerwillig rief er schließlich seine vier Köter zurück, griff zu der Waffe und winkte den
Eindringling heran.
Mann fuhr so dicht neben ihn, wie es der Weg erlaubte, kurbelte das Seitenfenster wieder halb herunter und beugte sich verbindlich hinaus.
„I am Mann.“
„Hmmh, ja“, sagte der Alte. „Das kann ich sehen. Wenn auch nicht gerade ein Prachtexemplar.“
An seinem Akzent musste er die Nationalität des Ankömmlings erkannt haben. Dass sein
Gegner Deutscher war, gab Mann Mut. In seiner Muttersprache brauchte er sich keine
Unverschämtheiten gefallen zu lassen.
„Und wenn ich ein ganz Böser wäre?“ fragte er und lächelte wie ein Vertreter, der mit
Schweinsleder-Enzyklopädien hausieren geht. „Wenn ich eine Fünfundvierziger auf dem
Schoß hätte und Ihnen mit dem Öschi das Gehirn wegpusten würde?“
„Dann“, sagte der Alte, wiegte sich in dem quietschenden Sitz und lächelte so männlich-ausdruckslos, als habe er sich in seinem Leben zuviel mit Hemingway beschäftigt,
„dann würde Mamma“ – er zeigte auf eine freundlich winkende alte Frau, deren brei-
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ter, fülliger Oberkörper hinter den Pflanzen des kleinen Balkons im oberen Stock des
Dienstbotengebäudes hervorlugte – „ihrem guten alten Paps zu Hilfe kommen und den
Bösen samt seinem Klapperkasten wegzaubern. Mit zwei, drei hartgekochten Eiern.“
Mann kannte diese Art Humor aus zahllosen Nachtvorstellungen. Sie trat fast immer
in Verbindung mit Waffen auf. Erst nachdem er die Sonnenbrille auf seine neue Kurzhaarfrisur geschoben hatte, entdeckte er im Schatten der Balkonpflanzen das olivgrüne
Rohr, an dem Mamma emphatisch ruckelte, als könnte es sie glücklich machen.
Das Sicherheitsbedürfnis der Reichen nahm allmählich bedrohliche Formen an. Mann
verabscheute schwere Waffen. Er war für einseitige Abrüstung. Seit einem guten Jahrzehnt bemühte er sich, wenn auch in den vergangenen Wochen mit gegenteiligem Erfolg, ein friedfertiger Mensch zu sein.
„Man erwartet mich“, sagte er, um deutlich zu machen, dass er an weiteren militärischen Demonstrationen keinerlei Interesse hegte.
„Stimmt. Das tut Frau Block.“ Paps lehnte sich zurück und begann, sanft zu schaukeln,
was unter den Freunden Hemingways entweder „Weg frei“ oder „Verpiss dich“ bedeutete.
Mann tat, als bemerkte er es nicht.
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„Womit vertreibt sich diese Frau Block denn so die Zeit, während sie auf mich wartet?“
Er konnte es nicht ändern, er mochte Paps nicht leiden.
Paps tat, als bemerkte er es nicht.
„Was soll ‘n schönes reiches Mädchen schon groß tun, wenn es gerade fünfunddreißig
geworden ist und deshalb den Katzenjammer hat und sich obendrein haufenweise mit
schlechter Gesellschaft umgibt?“ sagte der alte Mann gleichgültig, und seine langen,
dreckigen Fingernägel spielten klick, klick auf dem Metall der Maschinenpistole. „Die
Dame liegt tagein, tagaus nackt inner Sonne rum, säuft viel, bumst ‘n bisschen. Und da
wird sie nicht extra ‘ne Ausnahme von machen, nur weil ‘n Schlaumeier wie Sie daherkommt.“
Mann nickte verständnisvoll und versteckte sich wieder hinter der Sonnenbrille, einem
amerikanischen Fliegermodell, das er an seinem ersten Tag in Venice erstanden hatte.
Dann nahm er den Fuß von der Bremse und rollte im Schritt-Tempo die Auffahrt hinauf, an einem Tennisplatz und einer Mini-Mehrzweckhalle vorbei und in einer weiten
Schleife um den kreisrunden künstlichen Fischteich, bis vor das Portal des Haupthauses,
auf dessen Dach viele Quadratmeter hässlichster Sonnenzellen installiert waren. Wahr-
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scheinlich wurde mit ihrer Hilfe die Gluthitze wieder wegklimatisiert, die das unsinnige
Treibhausdesign ins Innere des Glaspalastes dringen ließ.
Seinen bescheidenen Mietwagen parkte Mann zwischen einem zitronengelben Porsche
Targa, einem pechschwarzen Jaguar und einem tarngrünen Samurai-Jeep, die kreuz und
quer die Auffahrt blockierten.
Als er den Motor abstellte, vernahm er zum ersten Mal die Stille. So war Einsamkeit. Er
blieb sitzen und lauschte dem Rauschen der Ruhe. Eine friedliche Welt. Welch wunderbare Sinnestäuschung.
3
Das Vergnügen währte nicht lange, über den Frieden legte sich eine gepflegte männliche Stimme.
„Willkommen in Shangri-La.“
Die Stimme gehörte zu einem grauhaarigen, sehr distinguierten Mann um die Fünfzig
mit weichlichen Gesichtszügen und einem schlanken Körper. Er steckte in einem blütenweißen kurzärmeligen Hemd, einer blütenweißen Tropenhose sowie grauweißen
Golfschuhen.
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Mann öffnete die Wagentür und stieg aus.
„Ich bin Harry Mann.“
„Paul Wineck.“ Er deutete eine Verbeugung an und streckte Mann seine gepflegte
rechte Hand entgegen, wobei er das Gefühl vermittelte, dass er seine verwöhnten Fingerchen zu diesem Zweck am liebsten in weiße Glacéhandschuhe gehüllt hätte. „Wir,
äh, Frau Block und ich, sind außerordentlich froh, dass Sie zu uns herauskommen konnten. Die fragliche Angelegenheit duldet, ähh, keinerlei Aufschub. Wir sind, wie soll ich
sagen, ähh, in einer Art, ja ..., Notlage.“
Nach diesem wortreichen und nichtssagenden Willkommen gab Wineck endlich Manns
Hand frei.
„Ich darf vorausgehen ...“ säuselte der grauhaarige Schönredner und stiefelte los.
Während Mann ihm folgte, überlegte er, wo er diesen Edel-Schnorrer, diese bundesdeutsche Version des Mitessers, schon getroffen haben könnte. Plötzlich meinte er es
zu wissen: Nicht ihn, den Typ kannte er. Der Schönredner musste mal eine Tagesschau
gesehen haben, in der zu viele Staatssekretäre aufgetreten waren. Seitdem imitierte er
sie.
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Die Terrasse, auf die Mann von ihm geführt wurde, war Teil eines großzügig angelegten
Gartens, der sich bis unmittelbar zum Rande des Canyons erstreckte und von einer
hüfthohen Hecke eingefasst wurde. Ein anderes Haus war weit und breit nicht zu sehen, und die Aussicht ging weiter, als das Auge reichte, mit einem guten Fernglas wahrscheinlich bis zum Stillen Ozean, der in zwanzig Meilen Entfernung an die Küste stieß.
So ziemlich in der Mitte der Terrasse und ziemlich dekorativ hatte sich ein wohl gebautes Stück weißes Fleisch recht nackt hingegossen und nutzte die letzten Strahlen
der Sonne aus. Die Beine der Frau lagen gespreizt, und die winzige silberne Bikinihose
schnitt ein wenig in die Schenkel und gab einen Flaum heller Haare frei. Noch etwas
heller als der weiße Rest des Körpers waren die schmalen Brüste. Mann mochte, wie sie
sich nach links und rechts verschoben hatten. Karin Block schien zu schlafen. Über das
Gesicht hatte sie die neueste Ausgabe des „Spiegel“ gelegt. Das Titelbild zeigte einen
anderen Mädchentorso, der in Schwarz-Rot-Gold glänzte und dem ein stark geschminkter Adlerkopf anmontiert war. „Ist die Republik käuflich?“ fragte die Schlagzeile.
Für Mann war das keine Frage, nur das nötige Kleingeld fehlte ihm. Ganz im Gegensatz
zu der Besitzerin dieses kalifornischen Palastes.
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Mann sah sich bewundernd um. Die Terrasse besaß die Ausmaße von mindestens zwei
Dutzend Sozialwohnungen, der Pool war kein Bad, sondern ein Vermögen wert, und
selbst die Sonne, die am Horizont rotglühend vom Himmel herabtauchte, schien ihm
mehr, als er sich leisten konnte.
„Karin?“ sagte Staatssekretär halblaut. Er ging zu der Liege und hob die Zeitschrift
hoch. Die Frau rekelte sich und schlug die Augen auf. Staatssekretär blickte sie aufmunternd an: „Karin, bitte, Harry Mann ist da.“
Die Frau sah kurz zu dem Ankömmling herüber, dann stand sie auf. Ohne jedes Anzeichen von Verlegenheit schüttelte sie ihre schulterlangen blonden Haare und kam ihm
ein paar Schritte entgegen. Wenn’s ihr egal war, konnte es auch ihm egal sein, dachte
Mann. Er musterte ungeniert die nicht ganz festen, spitz zulaufenden Brüste, den straffen Bauch und die kräftigen Schenkel.
Die schönste aller Frauen war sie nicht, aber sie war eine Frau, und er war seit Tagen
überfällig.
„Ich freue mich, Sie kennenzulernen.“ Sie streckte ihm ihre Hand entgegen.
„Darf ich vorstellen ...“, sagte Staatssekretär. Er zeigte auf Harry Mann: „Herr Mann.“
Er zeigte auf die weiße Schönheit: „Frau Block.“
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Wie absurd die Situation war, kam Harry Mann erst später ganz zu Bewusstsein. Denn
in diesem Augenblick, als ihm Karin Block beide Hände hinstreckte, erinnerte er sich,
woher er Wineck kannte. Er hatte sein Foto auf der Titelseite der „BZ“ gesehen, vor ein
paar Tagen erst, als Wineck aus irgendwelchen Gründen irgendetwas aufgegeben hatte.
Wahrscheinlich war er wirklich Staatssekretär.
Karin Block knetete die fünf Finger der rechten Hand ihres Gastes, dann griff sie sich
einen Bademantel aus dunkler Seide und verhüllte, was inzwischen Manns ungeteilte
Aufmerksamkeit gefunden hatte. Der schönredende Staatssekretär lief schließlich nicht
weg.
„Herr Wineck hat Ihnen erklärt, warum wir Sie haben rufen lassen?“
Harry Mann schüttelte den Kopf.
Karin Block gab Staatssekretär ein Zeichen, der daraufhin im Haus verschwand.
Die beiden verloren keine Zeit. Mann hatte gerade an seinem Campari mit Orangensaft
genippt, den ihm seine blonde Gastgeberin gerührt hatte, da hielt ihm Staatssekretär
schon einen Diplomatenkoffer aus rostrotem Leder hin. Er öffnete das Zahlenschloss,
klappte den Koffer ein Stück weit auf und ließ Mann einen Blick in das halbleere Innere
werfen.
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„Hunderttausend Mark, wie immer. In Dollar natürlich“, sagte Staatssekretär leichthin,
als wäre er seit Jahren illegale Geschäfte gewohnt, bei denen kleine Koffer mit größeren Summen die Hauptrolle spielten.
„Wie immer?“ Mann stellte sich, als wisse er nicht, was die beiden damit meinten.
Übermäßig viel Verstellung gehörte nicht dazu.
„Ihr übliches Honorar“, circte die Blonde, „für einen Mord.“
„Sie sind verrückt“, sagte Mann und ließ sich in einen Korbstuhl sinken, von dem aus
man den Sonnenuntergang beobachten konnte. Augenscheinlich hielten ihn die beiden
für eine Art Profi-Killer. Die Sache gefiel ihm nicht.
Das eigentümliche Pärchen schwieg und starrte ihn an. Viel Kapital, wenig Hirn.
Aber sehr viel klüger verhielt er sich auch nicht. Er hätte die beiden nach der „Stimme“
aushorchen sollen und sehen, wie er dann möglichst schnell und möglichst heil an Leib
und Seele aus Shangri-La rauskam. Stattdessen suchte er nach dem einfachsten und
ungefährlichsten Weg, die Kohle zu kassieren.
„Gesetzt den Fall, ich wäre, für was Sie mich halten“, sagte er ganz langsam, um die
beiden nicht zu überfordern, „müsste ich dann nicht auf ein bisschen mehr Vorsicht und
Diskretion Wert legen?“
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„Für das ganze Trarara war keine Zeit“, sagte die Frau schnell.
Ihr Gesicht schien ihm zu jung und die Haut ein wenig zu weiß für das Antlitz einer reichen Erbin von fünfunddreißig Jahren, die es sich tagein, tagaus in der Sonne gut gehen
ließ.
„Immerhin“, schaltete sich Staatssekretär ein, „halten wir die zukünftige Leiche hier
schon eine ganze Weile unter Verschluss!“
„Hier?“ Harry Mann war sprachlos. Die hemmungslose Direktheit irritierte ihn. Wozu
brauchten sie ihn noch, wenn sie das Opfer schlachtreif parat hatten?
Staatssekretär bemerkte seine Verwirrung und nutzte die Gunst dieser Sekunden.
„Kommen Sie bitte mit!“
Wieder schritt er voraus, gelassen und gemessen, jeder Zoll ein Staatsmann, als ginge
es nicht um Mord, sondern nur darum, einen Vertrag über gegenseitige Zusammenarbeit
bei der grenzüberschreitenden Insektenvernichtung zu ratifizieren.
Von der Terrasse gelangten sie in einen hohen vierzig, fünfzig Quadratmeter großen
Saal, der mit rötlichen Marmorplatten ausgelegt war. An den weißverputzten Wänden
hingen ungemein bunte Ölbilder, linker Hand stand eine samtblaue Sitzgruppe, zur
Rechten gab es einen dunkelroten Esstisch mit klobigen, hochlehnigen Stühlen. Im
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hinteren Teil, in der Nähe der Flügeltür zur Halle, lockte eine Bar mit sechs Chromhockern, deren Sitzflächen mit blauem Leder bezogen war. Zwischen diesen drei Sektoren
lag reichlich Niemandsland, das Staatssekretär zügig durchquerte.
Sie erklommen die große Freitreppe, die von der Halle in den ersten Stock führte.
Staatssekretär schloss eine Tür auf, und sie traten in einen von giftgrünen Jalousien
abgedunkelten Schlafraum.
Die Wände hatte ein enthemmter Innenarchitekt mit einer fast plastischen Stofftapete
in einem braungelbgrünen Blumenmuster tapeziert, der Teppichboden war zum Versinken weich und gleichfalls giftgrün. Das zerwühlte Satin der Bettlandschaft glitzerte
dazu passend in einem sehr cremigen Gelb. In Größe, Farbe und Funktion erinnerte der
Raum Harry Mann an die versteckte, mit Butterblumen übersäte Lichtung, auf der ihn
vor einem Vierteljahrhundert eine kinderliebende Kriegerwitwe entjungfert hatte.
Die Stimmung verstohlener Lust störte jedoch beträchtlich ein schwarzhaariges weibliches Wesen in weiten hellen Shorts und karierter Leinenbluse, das geknebelt und
gefesselt auf der gelben Liegestatt keuchte und zappelte. Soviel Mann von dem Opfer,
dessen Gesicht mit einem Handtuch verbunden war, sehen konnte, war die Frau weit-
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aus mehr nach seinem ganz privaten Geschmack als die weiße Zicke, die ihn anheuern
wollte.
Plötzliches Misstrauen erfasste ihn. Er musste an das freundliche Rentnerpaar draußen
denken, an Opa-Paps mit MP und seine Mamma mit Granatwerfer. Bislang hatte er es
mit halbwegs Normalen zu tun gehabt. Jedenfalls vermittelte die anonyme „Stimme“,
die ihn fernsteuerte, den Eindruck, als ginge es ihr nur um die möglichst unauffällige
Fortführung der üblichen Geschäfte mit anderen Mitteln. Diese beiden jedoch verhielten sich merkwürdig.
Mann fürchtete eine Falle. Wollten die Dame mit dem scharfen Gesicht und ihr soignierter Edeltyp ihn erst dafür bezahlen, dass er vor ihren Augen irgendein armes
Ding vom Leben zum Tode beförderte – einfach nur so, zum perversen Vergnügen, der
Horrorfilmtraum, den man sich zur Feier von sonstwas erfüllte –, um ihn selbst anschließend von Opa-Paps & Co. wegzaubern zu lassen? Mit ein bisschen Glück gab das nicht
einmal Schlagzeilen in der deutschen Presse. Eine kleine Spende für die Festkasse der
örtlichen Polizei, kombiniert mit ein bisschen Druck, und ein gewisser Harry Mann und
ein unbekanntes gefesseltes Mädchen mit langen braunen Beinen wären spurlos von
Erden gegangen.
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Er drehte sich um und schüttelte den Kopf.
„Zweihunderttausend“, rief Karin Block, die ihnen nachgekommen war und nun in Bademantel und Pumps auf halber Treppe stand. Das Mädchen auf dem Bett stieß hinter
dem Knebel dumpfe Laute aus.
„Es geht nicht ums Geld“, sagte Mann.
„Es geht immer ums Geld!“ antwortete Staatsekretär, als kenne er sich nicht nur im
Reich der schönen Worte und des Müßiggangs aus. „Dreihunderttausend und keinen
Pfennig mehr.“
Mann blieb dabei, den Kopf zu schütteln.
„Denken Sie daran“, sagte der Weißgewandete, von Kopf bis Fuß in der Rolle des verantwortungsbewussten Staatsmannes, „dass wir einige Informationen über Sie besitzen.“
„Und die wären?“
„Schlosser!“ sagte Staatssekretär.
„Wer?“
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Mann versuchte möglichst unschuldig zu lächeln. Doch blieb ihm keine Wahl mehr. Sie
hatten ihn in der Hand. Sie wussten, was die „Stimme“ wusste. Wollte er diesen Trip in
Freiheit beenden, durfte er keinen von den dreien leben lassen. Was sollte er tun? Er
war so gut wie unbewaffnet, und draußen wachten Paps und seine Mamma. Die Situation, in der er sich befand, war haltlos, und sie wurde immer haltloser. Was hätte er
vor drei Wochen von den Gedanken gehalten, die ihm nun ganz selbstverständlich durch
den Kopf schossen? Er atmete tief durch.
Staatssekretär sah ihn fragend an. „Also?“
Er musste sich entscheiden, schnell. Es hieß: sein Kopf oder der aller Anwesenden! Und
jetzt war es, als dächte in ihm ein anderer. Wie, überlegte dieser andere, sollte ein
unfreiwilliger und unerfahrener Mörder, der in seiner kurzen Karriere erst drei bis vier
missliebige Exemplare der Gattung Homo sapiens beseitigt hatte, je nachdem, ob man
den Punkie Sven auf sein oder Gals Konto rechnete, wie sollte so einer nun auf einen
Schlag mindestens genauso viele Lebewesen auf einmal ausradieren?
Ein Massaker ...!
War nicht allein der Gedanke daran maßlos, vulgär, unhygienisch? Und hatten sich
Massaker, historisch gesehen, nicht später immer als überflüssig erwiesen? Jede dieser
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Überlegungen erschreckte ihn. Aber nicht er war Schuld an dem, was geschehen würde,
es war ja die Schuld der anderen, die ihn erpressten, die ihn zwingen wollten, nach ihren Vorschriften zu leben. Alle wollten sie das, und alle dachten sie gleich! Was jedoch,
wenn er allein es war, der verrückt spielte? Wenn nur er so verrückt war, anders als die
anderen zu denken? Peters Lieblingsweisheit schoss ihm durch den Kopf: Der Verlust des
Individuellen, der Untergang des Einzelmenschen in der Masse ist zu beklagen. Da half
auch kein Zynismus mehr, das war das Drama des modernen Alltags, erfahren an der
eigenen Haut. Und halb so schlimm. Man gewöhnte sich an alles, wenn das Leben nur
weiterging. Doch würde es weitergehen für ihn, unbewaffnet bis auf Nylonstrumpf und
Küchenmesser, allein bis auf die Opfer ...
Staatssekretär nahm ihm die Entscheidung ab. Aus seinem blütenweißen Gewand zauberte er eine kleinkalibrige Pistole.
„Sie machen es, gleich!“ Die winzige Mündung zeigte auf Harry Manns Unterleib. „Sie
schaffen diese Frau aus dem Haus und lassen sie verschwinden!“
Eine Villa unter Waffen, dachte Mann und rührte sich nicht.
„Wenn Sie die Leiche beseitigt haben, können Sie sich das Geld nach wie vor abholen“,
hörte er Staatssekretär sagen.
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Es sollte wohl beruhigend klingen. Doch als Therapeut war sein Gegenspieler ebenso
fehlbesetzt wie als Söldner. Wineck stand drei Meter entfernt. Ohne erschossen zu werden, konnte Mann ihn nicht erreichen. Aber er kam ohne Mühe mit dem Fuß an die Tür,
und so stieß er sie gegen die ausgestreckte Hand mit der Waffe.
Der Schuss traf knapp neben dem gefesselten Mädchen das Bett.
Pech und noch mal Pech, dachte Mann, während Staatssekretär vorsprang, direkt in die
erneut zuschlagende Tür. Es gab ein dumpfes Geräusch, und er sackte zusammen.
Mann ging zu ihm und schnappte sich den Revolver, den Staatssekretärs ohnmächtige
Finger umklammert hielten.
Absätze klapperten auf dem Marmor der Terrasse. Mann sah, dass die blonde Herrin von
„Shangri-La“ verschwunden war.
Im Hof startete ein Motor.
Mann stand unschlüssig vor dem gefesselten Mädchen. Er wusste nicht, was er tun
sollte. Niemand durfte entkommen, erst recht nicht Karin Block, doch mit einem lausigen Revolver konnte er schlecht gegen die hochgerüstete Hausmacht vorgehen ...
Zwei Schüsse fielen, und vom Tor her bellte eine Maschinenpistole auf. Mann ließ, hinter der Wand in Deckung, die Jalousien hoch laufen und öffnete das Fenster. Vorsichtig
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beugte er sich hinaus. Auf dem Kiesweg zwischen Villa und Tor raste der tarngrüne
Samurai-Jeep. Er hatte eine ungewöhnliche, eine blutige Kühlerfigur.
Paps.
Warum die Block ihr eigenes Personal niedermähte, war Mann ein Rätsel. Aber vielleicht
war es andersherum? Vielleicht wollten ihm aus unerfindlichen Gründen Paps Hemingway und seine Mamma einen Teil der Arbeit abnehmen?
Piranhas unter sich. Mann mochte das nicht. Warum sich alle Welt nach Gewalt sehnte,
würde er nie verstehen.
Mammas füllige quadratische Gestalt erschien auf dem Balkon des Dienstbotengebäudes. Er war gespannt, was sie unternehmen würde.
Die alte Frau zögerte keinen Augenblick. Sie knallte eine Granate in die Einfahrt. Der
Einschlag kurz vor der Kühlerhaube brachte den Jeep zum Stehen. Die Fahrerin stieß
ruckartig zurück und beging damit den letzten Fehler ihres Lebens. Denn nun rutschte
Paps langsam vom Kühler und fiel wie ein nasser, roter Sack in den Sand. Der Jeep war
seiner schützenden Galionsfigur beraubt.
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Nach gut zehn Metern schaltete Karin Block krachend wieder in den Vorwärtsgang und
setzte zu einem neuen Anlauf an. Eine Schrecksekunde später feuerte Mamma eine
zweite Granate. Sie traf den Wagen.
Paps hatte übertrieben, als er von „wegzaubern“ gesprochen hatte. Ein paar dicke
fette Metallklumpen waren von dem Jeep noch übrig, und die fingen jetzt Feuer.
Aus der Richtung des Bettes waren erneut dumpfe Laute zu hören. Mann drehte sich
um. Manche Mädels, schoss es ihm durch den Kopf, haben einfach den sechsten Sinn.
Staatssekretär hatte sich aufgerappelt und schickte sich an, mit einem Gegenstand, der
in englischen Kriminalromanen als Ming-Vase bezeichnet worden wäre, auf ihn loszugehen. Die Gelegenheit war, zumindest unter moralischen Gesichtspunkten, günstig.
Es war ein ungezielter Schuss aus der Hüfte, der so gut wie alles hätte treffen können,
von Staatssekretärs großem Zeh bis zum Putz an der Decke, und es war vor allem der
erste Schuss, den Mann in seinem Leben abfeuerte, aber wer außer ihm wusste das
schon? Bevor jedenfalls das Porzellanding sein Gehirn erschüttern konnte, wurde der
Angreifer von einer Kugel in den Bauch gestoppt. Staatssekretär schrie auf und fiel
stöhnend zu Boden.
Etwas unschlüssig richtete Mann den Revolver auf das gefesselte Mädchen.
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Wieder wurde ihm die Entscheidung abgenommen.
„Das würde ich an deiner Stelle lassen, mein Junge“, sagte ein sympathischer Sopran.
Es war Mamma, und wenn sie nicht eine ganze Sammlung davon im Haus hatten, dann
war es wohl des seligen Paps’ Maschinenpistole, die sie auf Mann gerichtet hatte.
Er ließ den Revolver fallen. Allmählich wurde er neugierig.
„Ein Mann muss wissen, wann er verloren hat“, sagte er laut und überlegte vergeblich,
aus welchem Superthriller dieser glorreiche Satz stammen mochte. Er erinnerte nur
noch, dass der Held die Bemerkung angesichts einer halbnackten Schönheit gemacht
hatte. Kein Vergleich mit Mamma.
„Und jetzt losbinden!“
Die Alte schnaufte atemlos und fuchtelte wild mit der MP herum. Er ging zu dem Bett
und wollte mit den Fußfesseln beginnen.
„Du kannst ihr die Augenbinde ruhig gleich abnehmen“, sagte Mamma hinter ihm. „Du
wirst keine Gelegenheit finden, mich zu überwältigen.“
Er wandte ihr sein Gesicht zu und grinste.
„Richtig“, sagte die Alte. Sie schien vollkommen aufgekratzt und kurz vor dem Umkippen. „Mit Charme und gutem Aussehen, damit konnte man mich früher mal kriegen.
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Aber erstens siehst du dafür nicht gut genug aus, und zweitens bin ich aus dem Alter
raus, in dem der Unterleib meinem Verstand Konkurrenz machte.“
Er glaubte ihr das sofort.
„Ich dachte nur“, sagte er, „wir sollten erst den da verarzten.“ Er zeigte auf Staatssekretär, der bewusstlos auf dem giftgrünen Boden lag und dessen blütenweißes Hemd
sich rot und röter färbte.
Mamma wandte nicht mal die Augen in die Richtung, die seine Hand zeigte. „Später,
vielleicht.“
Wie er sich’s gedacht hatte: Alles war nicht seine Schuld. Mann zuckte mit den Schultern und ging zu dem Bett. Möglichst langsam riss er der gefesselten jungen Frau das
Klebeband, mit dem das Taschentuch in ihrem Mund gehalten wurde, von den Wangen.
Dann zog er den durch gesabberten Lappen raus.
„Diese Schweine“, schrie es gleich los. „Dieser kleine Wichser und meine beste ...“
Er schob den Knebel wieder rein. Die Alte erhob keinerlei Einwände. Fast ein wenig
neugierig löste er das Handtuch von dem Kopf. Das Gesicht dahinter war nicht mehr so
jung, wie es der Körper hatte vermuten lassen, Mitte, Ende Dreißig, aber dafür war es
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um einiges schöner, als Mann es erwartet hatte. Die dunkelbraunen Augen warfen ihm
böse Blicke zu.
„Weiter!“ befahl Mamma hinter seinem Rücken.
Er sah keine Möglichkeit, sich ihren Wünschen zu widersetzen, also löste er die Fußfesseln und dann die Stricke an den Händen.
Sofort zog sich die Frau das Taschentuch aus dem Mund.
„Er soll sich drüben an die Wand stellen, Mamma!“ Sie sagte es ziemlich gefasst, aber
mit einem panischen Unterton. „Sicher ist sicher.“
„Wie Sie meinen, Frau Block“, erwiderte Mamma widerwillig. Sie hob die Maschinenpistole, die unverändert auf seinen Bauch gerichtet war, leicht an.
Er traute seinen Ohren nicht. „Sie sind Karin Block? Sie haben mich herbestellt?“
Die Frau nickte kurz. Mann kam sich vor wie im Irrenhaus, doch aus eigener Anschauung
kannte er kein Feriendomizil reicher Leute, wo es nicht früher oder später so zuging.
Seine Erfahrungen in dieser Hinsicht waren zwar bescheiden – sie beschränkten sich auf
Peters Villa in der Toskana –, aber nachhaltig.
„Mach schon“, drängte Mamma, „meine Geduld ist heute nicht die größte.“
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Sie schien ihm der Panik ebenso nahe wie Karin Block. Also tat Harry Mann genau das,
was man von ihm verlangte. Er ging zu der Wand neben dem Nachttisch, möglichst weit
von Staatssekretär entfernt, der immer noch zwischen Bett und Fenster verblutete. Auf
den ohnmächtigen Körper starrte Karin Block voller Hass.
Als Mann sich mit dem Rücken an die Wand lehnte, machte sie zwei schnelle Schritte
zu der Pistole, die er hatte fallen lassen, und hob sie auf. Karin Bock schien zu zögern.
Plötzlich wusste Mann, was sie tun würde.
Sein „Nein!“ und der erste Schuss fielen zur selben Sekunde.
Karin Block schoss fünfmal, und bei jedem Schuss bewegte sie sich ein Stück weit auf
Staatssekretär zu. Sie tötete nicht, sie richtete hin.
Aus unerfindlichen Gründen fühlte sich Mann mit den Nerven am Ende. Ihm war, als
wäre der ohnmächtige Mann dort unten, unendlich entfernt auf der Lichtung des giftgrünen Bodens, der erste Mensch, den er im Augenblick des Todes sah. Jeder Einschlag
in das Fleisch hinter der weißen Stoffhaut ließ ihn würgen. Seine Knie zitterten. Doch
konnte er nicht wegschauen. Etwas faszinierte ihn. Warum waren die Augen in Staatssekretärs frisch rasiertem Gesicht plötzlich so weit offen? Es schien, als ob der Kopf nicht
zu dem blutüberströmten Körper gehörte. War da ein Lächeln?
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Karin Block beugte sich zu der Leiche hinunter. „Mistkerl, verdammter Mistkerl ...“,
sagte sie mit ruhiger Stimme.
Dann spuckte sie in die offenen Augen.
Aber es half nichts. Kein Muskel reagierte mehr. Ihre Rache fand keinen Gegner.
Karin Block wandte sich ab. „Was jetzt?“
Ihr fast gleichgültiges Gesicht blickte zu der alten Frau mit der Maschinenpistole. Ihn,
ihren Retter, beachtete sie nicht.
Da erst erkannte Mann, dass er Zeuge eines Mordes geworden war, ein potentieller Erpresser oder Denunziant, den die Täter nicht leben lassen konnten.
„Paps ist tot“, sagte Mamma und rührte sich nicht.
Die beiden Frauen blickten einander an, Auge in Auge, und es sah aus, als würden jeden
Moment aus allen vier Augen die Tränen hervorbrechen.
Mann tastete nach dem Messer in der Innentasche des Jacketts. Er hatte kaum eine
Chance, aber besser so als anders. War jetzt der Zeitpunkt gekommen zu sterben?
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In sein Zögern hinein explodierte etwas, unten im Hof. Die Fenster im ganzen Haus
klirrten leicht, und im Parterre schepperte eine Scheibe zu Bruch. Beide Frauen zuckten zusammen. Mamma lief zum Fenster und sah hinaus.
„Nur der Tank vom Jeep“, sagte sie, und es klang, als mache sie das glücklich. „Die
Schickse verbrennt!“
Zusammen mit diesem Satz sprang Mann vor, trat die Pistole aus Karin Blocks Hand und
schlug mit der Faust in die Mitte ihres Körpers. Sie riss den Mund auf, ihre vollen Lippen
schnappten nach Luft, und dann klappte sie vornüber zusammen wie ein Rasiermesser.
Im Fallen bekam Mann sie mit dem rechten Arm von hinten um den Hals zu fassen.
Mamma wirbelte herum, doch es war zu spät.
Nur durch den Körper von Karin Block konnte sie noch auf ihn schießen.
Mit der freien linken Hand fummelte Mann das Messer aus der Innentasche seines
Jacketts. Er bog den Kopf des schützenden Körpers ein Stück weiter nach hinten und
setzte Karin Block das Messer an die Kehle.
„Runter mit der MP!“ schrie er.
Mamma machte einen Schritt auf ihn zu.
„Ich stech’ sie ab“, drohte er.
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„Mal sehen“, sagte Mamma, „ob du’s tust.“ Sie ging langsam, Schritt für Schritt, links
am Bett vorbei, um in seinen Rücken zu gelangen.
Mann zog Karin Block in die Zimmerecke, er mit dem Rücken zur Wand, sie vor ihm. Allmählich kam sie wieder zur Besinnung. Aber sie wehrte sich nicht. Ihr Körper lag sanft
und weich in seinen Armen. Der Druck und die Wärme entspannten ihn. Wäre es nicht
Gewalt gewesen und hässlich, so hätte es Sex sein können und schön.
„Ich kann euch versichern“, sagte er, jetzt ruhiger, „ich tu’s. Es wär’ nicht das erste
Mal ...“
„Mamma“, befahl Karin Block schwach, „lass die MP fallen!“
Mamma rührte sich nicht. „Paps ist tot“, sagte sie.
„Doch der hier kann nichts dafür ...“ Karin Block sprach mit einem konzentrierten,
eindringlichen Tonfall wie zu einem kleinen Kind. „Im Gegenteil, er hat mir das Leben
gerettet, und er hat auf den Scheißkerl da geschossen. Er hat jetzt nur Angst vor uns.
Aber wir brauchen keine Angst vor ihm zu haben, Mamma. Er wird uns nichts tun. Warum auch?“
Mamma rührte sich nicht. Sie starrte Mann überrascht und böse an. „Paps ist tot“, wiederholte sie.
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Sie tat ihm leid. „Die Welt ist voller Gewalt“, sagte er, und obwohl er es ernst gemeint
hatte, klang es ironisch.
Die rechte Hand der Alten verkrampfte sich um die Maschinenpistole.
„Mamma!“ sagte Karin Block scharf. Sie schrie es fast.
„Nicht genug Gewalt“, zischte Mamma, und dann ruhiger: „Noch lange nicht genug.“
Sie warf den beiden aus ihren alten Augen einen gehässigen Blick zu, drehte sich plötzlich um und feuerte durch das offene Fenster hinaus in die Auffahrt; fetzte die Rinden
der Palmen auf, während ihr feister Leib die Stöße der Waffe abfing; rasierte die Blüten
von den Blumen, jagte die Vögel in Todesangst auf, ließ das trübe Wasser in dem künstlichen Fischteich tanzen.
Als das Magazin endlich geleert war, schienen Mammas Schultern, erschöpft wie nach
einem lebenslangen Krampf, kraftlos in sich zusammenzusacken.
In Manns Kopf hallten die Schüsse noch sekundenlang nach, bis sich wieder das Rauschen der Stille darüberlegte.
„Das reicht“, sagte Karin Block in die Stille hinein. „Verschwinde, bis du dich beruhigt
hast!“
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„Nein!“ sagte Mann. „Sie lassen die Waffe fallen und stellen sich mit dem Gesicht an
die Wand.“
Mamma tat es. Alle Kraft schien aus ihr gewichen zu sein. Rückwärts trat sie zu der
Wand neben der Eingangstür und drehte sich um.
Mann bugsierte sich und den Körper, der ihn schützte, zu der Pistole, die sein Tritt in
Richtung Fenster befördert hatte. Am Ziel angekommen, lockerte er seinen Griff und
schob Karin Block vor das Fenster.
„Ein Stoß von mir und Sie sind draußen!“ warnte er sie.
Karin Block nickte. Vorsichtig bückte er sich und hob die Pistole auf. Er hatte keine
Ahnung, wie viele Patronen so ein Magazin hatte. Mit Schusswaffen kannte er sich nicht
aus. Er richtete die Waffe auf Mamma.
„Die Hände hoch!“ sagte er.
Sie tat es, fast war er überrascht.
„Zum Bett!“ befahl er.
Sie ging hinüber und setzte sich auf die Bettkante.
Er sah Karin Block an: „Sie fesseln Mamma!“
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„Einverstanden.“ Karin Block nickte wieder. „Und dann beruhigen Sie sich mal zur Abwechslung.“
Harry Mann sah sie an. Sie war schön, aber ganz anders als Gal, auf die dezente Art;
und mindestens so verschlagen.
Plötzlich erschien ihm alles zu leicht, viel zu leicht. Die beiden Frauen wollten ihn reinlegen, und gewiss planten sie auch schon, wie sie das tun würden. Soviel war so gut wie
sicher. Nur er war blind dafür, nur er hatte keine Ahnung, auf welche Weise es geschehen würde. Bis es zu spät war.
„Warten Sie!“ befahl er und sah Mamma an: „Umdrehen! Mit dem Bauch zum Bett.“
Mamma legte sich hin, wie er es befohlen hatte.
Mann hob die MP auf, ging mit zwei schnellen Schritten zum Bett und schlug der Alten
den Metallkolben in den Nacken. Mamma rührte sich nicht mehr.
„Das war unnötig.“ Karin Blocks Stimme klang missbilligend.
Mann gab ihr keine Antwort darauf. „Los“, sagte er, „jetzt sind Sie dran. Und tun Sie’s
lieber gleich richtig, sonst kriegt die Alte noch n’ weichen Kopf.“
Karin Block hob die Stricke vom Boden auf und machte sich an die Arbeit.
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Mann stellte sich rechts neben das Fenster und schaute ihr dabei zu. Aus den Augenwinkeln konnte er im Hof die leise kohlenden Überreste des tarngrünen Samurai-Jeep
sehen. Er bildete sich ein, das verbrannte Fleisch der Blonden zu riechen. Nur wenige
Meter weiter lag Paps’ Leiche.
„Jemand muss sich um alles kümmern“, sagte er zu Karin Block. „Wir müssen überlegen, was wir tun ...“
Er sagte es in den Raum. Karin Block hatte ihn nicht um Hilfe gebeten, und sie tat es
auch jetzt nicht. Er stand da, beobachtete, wie sie auf dem Bett herumturnte und die
Alte fesselte, und versuchte sich vorzustellen, wie sie wohl ohne weite Shorts und karierte Bluse aussehen mochte.
Sie spürte seine Blicke und schien sich nicht daran zu stören.
Mann verstand nicht, was hier gespielt worden war. Er verstand nicht, warum Staatssekretär und sein Liebchen die Gans hatten schlachten wollen, die ihnen zu jedem Frühstück die goldenen Eier bescherte. Und vor allem verstand er nicht, welche Rolle ihm
selbst in diesem High-Society-Melodram zugedacht war.
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„Bei Mamma weiß ich nie“, sagte Karin Block unsicher. Sie goss sich einen Southern
Comfort ein. Ihre Hand zitterte, als sie die Flasche auf der Bar abstellte.
„Hat Sie doch ‘n bisschen mitgenommen, was? Trotz Ihrer Kaltschnäuzigkeit.“ Mann
stand vor der Bar und blickte hinaus auf die leere Terrasse.
„Ich hab’ mich drauf konzentriert“, sagte Karin Block laut und schlechtgelaunt, „dass
diese verrückte Alte mir meinen Retter nicht umlegt, kapisko, Sie Idiot?“
Mann lächelte sie an. „Ich trink ‘n’ Metaxa“, sagte er.
„Was glauben Sie, wo Sie hier sind?“ Sie schob ihm ein Glas hin, griff sich den Remy
Martin aus dem Regal und stellte ihn daneben.
Er nahm die Flasche und schüttete das Glas randvoll. „Wollen wir uns nicht setzen?“
„Nein“, sagte Karin Block, „meine Beine kribbeln noch immer.“
Mann rutschte auf den nächsten der Chromhocker, versuchte vergeblich, auf dem glatten blauen Leder eine bequeme Position zu finden, trank einen Schluck und beobachtete, wie Karin Block hinter der Bar herumtänzelte. Schön war sie ohne Zweifel.
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„Nur der Vollständigkeit halber und weil nachher die Polizei ohnehin danach fragt“,
sagte er: „Warum bin ich hier?“
„Sie sind ein alter Freund der Familie, den ich mir zur Gesellschaft eingeladen habe,
basta.“
„Wie originell.“
„Die hiesige Polizei mag nichts Originelles. Keine Polizei der Welt liebt Erklärungen, die
origineller sind als die Handlung einer Vorabendserie.“
„Sie müssen’s wissen.“ Er grinste mal wieder. Vielleicht trat sie, was sein dümmliches
Verhalten betraf, die Nachfolge von Irene Hexter an?
„In der Tat.“ Karin Block grinste zurück. „Und außerdem kommt keine Polizei.“
„Keine Polizei?“
„Nein. Ich halte es für besser, wenn wir die Angelegenheit unter uns regeln“, sagte Karin Block.
„Wer ist wir, wenn ich fragen darf?“
„Mamma“, sagte Karin Block. „Und Sie.“
„Zählen Sie nicht auf mich. Ich will nichts damit zu tun haben.“
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„Sie werden bezahlt!“ sagte Karin Block mit deutlicher Herablassung. „Und dafür machen Sie, was ich Ihnen sage!“
„Was zum Teufel bilden Sie sich eigentlich ein, wer Sie sind?“ Mann lächelte so überlegen, wie es ihm möglich war: „Ziemlich albern, sich hier aufzuspielen wie Dragona,
große Herrin über tausend Sklaven ...“
Doch Karin Block lächelte so selbstbewusst zurück, dass Mann allmählich Zweifel kamen, ob er sie als arrogante reiche Zicke, Typus: Vatis verwöhntes Töchterlein, richtig
eingeschätzt hatte.
„Wollen Sie wirklich behaupten“, fragte sie ihn, „dass Sie nicht wissen, wer ich bin?“
„Sollte ich?“
„Langsam glaube ich’s Ihnen ... Sie lesen vermutlich keine Zeitungen?“
„Vielleicht die falschen. Das ‚Goldene Herz der Frau‘ habe ich jedenfalls vor’n paar
Jahren abbestellt, kurz nach meiner Konfirmation, um genau zu sein.“
Karin Block lächelte und schwieg.
Mann schüttelte unwillig den Kopf. „Soll das hier’n Quiz werden oder geben Sie mir
jetzt eine Kurzfassung Ihres erstaunlichen Lebenslaufs?“
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„Sagen wir ...“ Karin Block zögerte. Mann sah ihr an, dass sie es nicht gewohnt war, jemandem erklären zu müssen, wer sie war. „Also, sagen wir, ich besitze ein paar Firmen,
die in den vergangenen Monaten bedauerlicherweise ins Gerede gekommen sind.“
„Pleite?“
„Nein, nein. Im Gegenteil. Wir hatten augenscheinlich zuviel Geld, und deshalb haben
einige meiner Leute es mit vollen Händen unter die Politiker geworfen.“
„Illegale Spenden, Steuerhinterziehung? Den Staat kaufen! Zu dem Pack gehören Sie!“
„Wer wäre wohl so verrückt, ausgerechnet diesen Staat kaufen zu wollen! Nicht mal
geschenkt würd’ ich den nehmen.“
Karin Block kippte ihr Gesöff, knallte das Glas auf die Theke und ging hinüber zu der
samtblauen Sitzgruppe.
„Damit wir uns nicht missverstehen“, sagte sie dabei über die Schulter, „ich spreche
natürlich von unserer deutschen Bananenrepublik. Mit Kalifornien wär’ das was anderes. Aber dafür reicht selbst mein Geld nicht.“
Sie ließ sich in die Polster fallen und schloss die Augen.
Er nahm sein Glas und folgte ihr.
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Karin Block lag auf dem Sofa und zappelte mit den nackten Beinen in der Luft. „Fünf
Stunden angebunden“, sagte sie, „das geht höllisch in die Knochen.“
Er setzte sich in einen Sessel ihr gegenüber. „Wie wär’s“, schlug er nach einer Ewigkeit
an Sekunden vor, „wenn Sie das Reden übernehmen würden?“
„Da gibt es nicht viel zu erzählen“, sagte sie gleichgültig. „Ich habe Sie holen lassen,
weil ich wollte, dass Sie mir Paul und diese Schlampe vom Hals schaffen.“
Es klang, als hätte sie mal kurz nach dem Klempner geschickt. Dieses Mädchen war genau von der Sorte, die er schon immer nicht kennenlernen wollte.
„Was gefiel Ihnen an den beiden nicht?“ fragte er vorsichtig.
„Einiges. Vor allem, dass das saubere Paar versucht hat, mich zu erpressen.“
„Und, gab’s ‘n’ guten Grund dafür?“
„Wird es wohl.“ Karin Block warf ihren Kopf nach hinten und strich sich die langen
Strähnen aus dem Gesicht. „Bringen Sie mir noch’n Drink, und ich werd’s Ihnen erklären.“
Mann stand auf und durchquerte das Niemandsland des grauen Marmorsaals in Richtung
Bar. „Mit Eis?“
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„Hmmh.“
„,Hmmh ja‘ oder ,hmmh nein‘?“
„Hmmh ja.“
Er sah sich um. Kein Eis in Sicht.
„Unter der Theke, in dem kleinen Kühlschrank, rechts“, sagte Karin Block. Sie hatte
diesen Dienstbotenton, den Mann nur aus alten englischen Spielfilmen kannte.
Als er wieder hinter der Bar auftauchte, lag sie auf dem Bauch, die Ellenbogen aufgestützt, und beobachtete ihn. Er gab ihr ein Glas voll Eis mit einer überdimensionierten
Portion Southern Comfort und ließ sich in seinen samtenen Sessel fallen.
„Uhh“, sagte sie nach dem ersten Schluck. Sie begann, ihre Hand in sanften Kreisen zu
bewegen, bis die Eiswürfel rhythmisch klingelten. Dabei starrte sie auf das Glas, als
übe sie ein Kunststück, das besondere Konzentration erfordere.
„Sehen Sie, wir leben doch, ich meine drüben in der Bundesrepublik, in einer Gesellschaft der Ehrgeizlosen. Die meisten, die bei uns oben sitzen, haben nicht mal geglaubt, dass sie das erreichen würden, was sie heute sind. Mehr will da keiner werden,
jedenfalls nicht viel mehr. Wäre nicht ratsam. Die meisten sind via Partei oder Gewerkschaft alle Treppen hoch gefallen, und wenn sie zu groß werden, hackt die Basis ihnen
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die Beine ab. In der Wirtschaft ist es nicht viel anders. Da setzt ‘ne Firma eine Millionenpleite hin, und ein halbes Jahr drauf sind alle Verantwortlichen avanciert, natürlich
bei anderen Firmen. Persönliches Risiko geht niemand ein. Keiner spielt mit eigenem
Geld. Keiner fällt tief. Das soziale Netz, die Wohlstandsversicherung der Verlierer und
der Ehrgeizlosen, fängt sie alle auf.“
„Irre interessant“, sagte Mann, der geduldig zugehört hatte, „so fein bemerkt und so
leicht zu sagen, wenn man nur reich genug ist.“ Er kippte seinen Cognac. „Allerdings
blieb Ihr Vortrag ohne jeden Zusammenhang mit der Frage, um die es geht.“
„Keineswegs“, sagte Karin Block. „Dori und Wineck waren von genau dieser Sorte. Nur
dass sie nun doch zu fallen drohten, mit viel Pech, aber verdient und tiefer, als sie es
sich je vorgestellt hatten. Und das schien ihnen so unglaublich, vor allem so unglaublich ungerecht, dass sie meinten, mich als Ersatz für das gerissene soziale Netz benutzen zu müssen.“
„Was hatten die beiden ausgegraben?“
Karin Block rekelte sich auf den Polstern und lachte verächtlich. „Sie halten mich für
zu verwöhnt und zu dumm. Aber Sie selbst sind es, der dumm ist. Sie besitzen keine
Menschenkenntnis.“ Karin Block setzte sich mit einem Ruck auf und griff wieder nach
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ihrem Glas. Das Eis hatte sich fast aufgelöst. „Weil Ihnen andere Menschen herzlich
egal sind.“
„Nun, ich glaube nicht, dass ich auf Ihre Auskünfte angewiesen bin.“ Mann strahlte sie
geradezu an. „Ich habe jetzt schon mehr gegen Sie in den Händen als die beiden je
hatten.“
„Meine Rache an Wineck?“
Mann nickte.
„Ach“, sagte Karin Block, „da steht ihre Aussage gegen die von Mamma und mir.“ Sie
lachte und hob drohend den Finger: „Wenn Sie Ärger machen wollen, werden wir den
Mord einfach Ihnen anhängen.“ Sie nippte an ihrem Whisky. „Außerdem, bei derlei
kommt man immer davon, wenn man genug Geld hat. Die Tour, die Wineck und Dori
versuchten, war entschieden gefährlicher. Aber lassen wir das ...“
„Wenn Sie so superschlau sind, warum lagerten Sie dann auf der Schlachtbank, als ich
ankam?“
„Keine Ahnung, wie die beiden gemerkt haben, was ich vorhatte.“ Es klang ehrlich.
Mann zeigte zu dem rostroten Diplomatenkoffer mit dem Geld, der geschlossen auf
dem Tisch vor der Sitzgruppe lag. Karin Block nickte.
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„Ja, aber das allein... Auf so etwas kommt man ja nicht einfach so, ich meine, wer
denkt schon, dass jemand sich einen Mörder ins Haus bestellt?“
„Woher hatten Sie meinen Namen?“
Sie zögerte.
„Paps“, sagte sie dann.
Er glaubte ihr kein Wort. „Und sicher haben Sie keine Ahnung, woher Paps mich kannte
und wusste, wo ich gerade zu erreichen war?“
Karin Block schüttelte den Kopf. „ Ich weiß nur, dass er früher bei der Kripo war, vielleicht kannte er von damals jemanden ... Aber im Grunde ist das egal, denn Paps hätte
mich nie...“
Harry Mann machte mit Gesicht und Händen eine Bewegung, in der aller Verrat dieser
Welt beschlossen lag. Karin Block schüttelte wieder den Kopf und strich dabei mit den
Händen ihre langen schwarzen Haare zurück.
„Nein“, sagte sie. „Paps hasste Paul ...“
„Wen?“
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„Paul, das ist Winecks Vorname. Sie lesen wirklich keine Zeitungen. Naja. Paps jedenfalls hätte nie mit jemandem gemeinsame Sache gemacht, den er so verachtete.“
„Aber Sie waren es nicht, der mich hierher bestellt hat. Und Paps auch nicht ...“
„Paps nannte mir eine Telefonnummer. Bei der habe ich dann angerufen und ...“
„Geben Sie mir die Nummer!“ Mann hörte seiner eigenen Stimme die Aufregung an.
„Ich hab’ den Zettel hinterher weggeworfen.“ Karin Block sah ihn mit großen ehrlichen
Augen an, viel zu ehrlichen Augen. „Zerrissen und im Klo runtergespült. Paps bestand
darauf.“
„Sie lügen!“
„Ich lüge nicht, zum Teufel noch mal. Warum sollte ich Ihnen die Nummer nicht sagen,
wenn ich sie noch hätte?“
Mann gab ihr keine Antwort darauf. Er wusste nicht, warum sie das tun sollte. Er wollte
es auch nicht wissen. Ihm reichte, dass sie es tat. Sie log. Sie belog ihn, wie Gal ihn belogen hatte. Diese Sache war keine Privatsache mehr, keine Mordserie aus Geldgier und
Leidenschaft. Diese Sache war größer, und zwar noch viel größer, als er heute Morgen
gedacht hatte: nicht nur um’s große Geld ging es, sondern um Politik. Eine Bundestagsabgeordnete und ein Staatssekretär hatten in den letzten beiden Tagen dran glauben
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müssen, hier in Kalifornien! Und Block war in die Bestechungsaffäre verwickelt. Da
hatte er Geber und Nehmer beisammen. So fern der Heimat konnte diese Häufung von
Bonnern, Bonzen und Gewalt kein Zufall sein!
„Was für eine Art Staatssekretär war Wineck überhaupt?“ fragte Mann.
Karin Block sah ihn überrascht an. „Wie kommen Sie denn auf diese Idee?“
„Erzählen Sie mir, wer er war.“
Karin Block sah ihn amüsiert an. „Sie kennen Niedersachsen, nicht wahr, das kennen Sie
doch?“
„Ungemein witzig.“
„Wineck war niedersächsischer Innenminister.“
„Ich denke, diese Herren reisen nicht ohne Bodyguard ...“
„Das eben war sein Problem.“
„Die Bodyguards?“ Mann hatte das Gefühl, dass sie ihn verarschte.
„Nein“, sagte Karin Block, „dass er keine mehr hatte.“
„Weiter“, sagte Mann, „lassen Sie sich bloß nicht unterbrechen ...“
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„Gott, die Sache ist doch wirklich nicht kompliziert. Wineck musste letzte Woche
zurücktreten. Wegen erklecklicher Summen, die er in bar als Spenden für die Partei
kassiert hatte, in diesen billigen braunen Din-A5-Umschlägen, Sie wissen schon, und die
er entweder gar nicht erst abgeliefert hatte oder wenn, dann nicht versteuert, oder
was weiß ich. Jedenfalls hatten sie ihn am Kanthaken. Der Staatsanwalt, die Presse und
obendrein die eigenen Parteifreunde. Die hat er ja nebenbei noch auf’s Kreuz gelegt.“
„Und daraufhin jettete er flugs hierher zu Ihnen?“
„Das habe ich Ihnen erzählt. Er verlangte von mir Hilfe, ich sollte meinen Einfluss geltend machen. Weil er sich rehabilitieren wollte. Sich weißwaschen. Für ihn war die Sache ziemlich ernst, er glaubte, seine Parteifreunde hätten ihn fallengelassen. Geopfert.
Er traute denen zu, dass sie ihn sogar ins Gefängnis stecken würden. Obwohl ich das für
übertrieben halte.“
„Wenn so jemand in’n Knast kommt für seine Gaunereien?“
„Nein, mein Lieber. Übertrieben finde ich die Angst von, wie Sie sagen, ,so jemandem‘,
diese absurde Angst, es könnte auch nur die geringste Gefahr bestehen, dass er für
seine Gaunereien mal ernsthaft bezahlen müsste.“
„Woher kannte Wineck Sie und Ihre kleinen Geheimnisse?“
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„Wir hatten mal eine Affäre. Zwei Monate bumsen, zwei Jahre Ärger.“
„Okay. Und daraufhin wollten Sie ihn umbringen lassen.“
Karin Block nickte.
„Warum zum Teufel“, fragte Mann, „haben Sie nicht einfach bezahlt? Sie scheinen doch
genug zu haben.“
„Weil der Mann kein Geld wollte. Jedenfalls nicht nur. Und weil er nicht mehr zurechnungsfähig war; vollkommen durchgedreht. Krank, Alkoholiker, labil. Ich konnte mir
beim besten Willen nicht sicher sein, ob er nicht eines Tages doch auspackte. Aus dem
blödsinnigsten Grund. Vielleicht, wenn irgendein linker Staatsanwalt aus der Provinz
ihn mal vor Gericht zerrte. Oder falls ihm unsere Hamburger Scheckbuchjournalisten
sehr viel Geld boten. Wie weit Wineck in seiner Verfassung gehen würde, hing nur vom
Zufall ab. Der Mann war ein echtes Sicherheitsrisiko.“
„Wieso Risiko? Gerade haben Sie mir erzählt, dass einer wie Wineck immer geschützt
wird. Da dürfte Leuten Ihres Kalibers erst recht keine Gefahr drohen, jedenfalls nicht
von der irdischen Gerechtigkeit.“
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„Ich bin kein Staatspensionär, ich muss Geschäfte machen, und in diesem Bereich kann
so etwas ... Ach, was erzähle ich Ihnen das, die Gefahrenabwägung müssen Sie schon
mir überlassen!“
„Soll mir auch egal sein.“ Mann trank einen kräftigen Schluck Cognac. „Aber nicht egal
ist mir, wer Wineck über meine Ankunft Bescheid steckte. Paps war ehrlich, sagen Sie;
Mamma dann wahrscheinlich auch?“
Karin Block nickte.
„Sie selbst haben es denen nicht erzählt, da sind Sie sicher? Ich meine, Sie haben sich
nicht vielleicht mal verquasselt oder denen mit irgendetwas gedroht?“
Karin Block schüttelte den Kopf.
Mann grinste sie an. „Dann müssen die beiden wohl Hellseher gewesen sein!“
Karin Block zuckte die Achseln und schwieg.
„Und Sie haben sich wirklich mit niemandem sonst beraten? Ich meine, einen Killer anzuheuern, wird ja selbst für Sie nichts Alltägliches gewesen sein?“
„Alle ein- und ausgehenden Telefongespräche werden überwacht“, sagte Karin Block.
„Von Mamma. Niemand hätte Wineck und Dori warnen können, ohne dass ich es erfahren hätte.“
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„Sie haben also doch mit jemandem drüber gesprochen?“
„Das ist bedeutungslos. Und es geht Sie nichts an!“
„Vielleicht hat man Sie belauscht?“
„Nein, natürlich nicht. Darauf habe ich geachtet. Ich hab’ extra von meinem Schlafzimmer aus ...“
Sie brach ab, weil er aufgesprungen war. Wenn sie zur Abwechslung mal die Wahrheit
sprach, gab es nur eine einzige Möglichkeit!
„Wo ist Pauls Zimmer?“
„Er hat bei mir geschlafen, wo sonst?“ Karin Block guckte verständnislos. „Ich meine,
wo er schon mal da war ...“
„Und seine Blonde?“
„Dori? Im Gästezimmer. Warten Sie, ich zeig’s Ihnen.“
Auf der Treppe drehte sie sich um und lächelte Mann müde an. „Sie war übrigens nicht
unbedingt seine Blonde.“
Wenig konnte ihm im Augenblick gleichgültiger sein. Es ging um seinen Hals. Waren
seine Schlussfolgerungen richtig, so würde er nun endlich erfahren, wer die „Stimme“
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war – auf dieselbe Weise, auf die Wineck und Dori erfahren hatten, dass sie sterben
sollten.
5
Die Rokoko-Kommode unter dem Schminkspiegel schien ihm das am besten geeignete
Versteck. Als Kind hatte Harry Mann einmal im Fernsehen gesehen, wie ein Schakal sich
durch ein totes Zebra fraß. Genauso fühlte er sich jetzt, als er Dori’s Wäsche durchwühlte. Vergeblich.
Zwei Fächer der Kommode waren abgeschlossen. Mit dem Absatz trat er das jahrhundertealte Holz der Seitenwände ein. Und da lag ein kleiner Radio-Walkman mit Kassettenteil. Er fischte das Gerät durch die zersplitterte Öffnung und spulte die Kassette ein
Stück zurück.
„Das war unnötig“, plärrte Karin Blocks Stimme aus dem Lautsprecher. „Los“, hörte er
sich selbst sagen, „jetzt sind Sie dran. Und tun Sie’s lieber gleich richtig, sonst kriegt
die Alte noch’n weichen Kopf.“
Er stoppte den Recorder. Das Gerät schaltete sich auf Geräusche hin ein und hatte bei
dem Kampf im Schlafzimmer prompt mit der Aufzeichnung begonnen. Irgendwo auf diesem Band musste auch Paps seiner Chefin vorschlagen, ihr kleines Problem von einem
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Idioten namens Harry Mann lösen zu lassen. Wobei ihm allerdings schleierhaft war, welche Verbindung zwischen dem strohblöden Paps und der „Stimme“ bestand.
Er spulte weiter zurück.
„Geben Sie die Kassette her!“ sagte Karin Block in einem befehlsgewohnten Kasernenhofton, den er ihrem sanften Gesicht nicht zugetraut hätte. „Die Aufnahmen gehen Sie
nichts an!“
Er würdigte sie keiner Antwort und stoppte das Band wieder. Die Geräusche, die er
jetzt hörte, waren eindeutiger Natur. Karin Block liebte es lauter. Warum sie mit diesem Baby-Face-Ekel von Staatssekretär ins Bett gestiegen war, blieb ihm ein Rätsel.
„Her damit!“ brüllte hinter ihm dieselbe Frau, die auf dem Band vor Lust fast schrie. Er
schaltete ab und spulte weiter zurück.
„So schnell wie möglich!“ sagte Karin Blocks Stimme, als Mann den Rücklauf stoppte.
Zu wem sagte sie das? Es folgte ein kurzes Schweigen. „Nein“, sagte sie dann.
Ein Telefonat! War das der Teil, den er suchte?
„Ausschalten!“ schrie Block. „Sofort.“
Sie stürzte auf ihn zu und versuchte, ihm den Recorder zu entreißen. Er rammte ihr
seine Faust in den Bauch, und als sie sich krümmte, aber nicht von ihm abließ, stieß
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er noch einmal nach und traf sie ein Stück weit unter der Gürtellinie in die Seite. Sie
sackte zusammen und ließ sich auf den Boden fallen. Ihr Schluchzen glich einem Schrei,
und es war mehr ein Wut- als ein Schmerzensschrei.
Harry Mann drückte die Stopptaste. Jetzt war er sicher, den richtigen Teil der Kassette
erwischt zu haben. Nur ein paar Sekunden mehr, eine kurze Anstrengung noch, und er
würde einen Schlussstrich ziehen können unter die schlimmsten Wochen seines Lebens.
Hier war die Spur, um freizukommen. Und niemand, der ihn daran hindern konnte!
Er spulte ganz zum Anfang und schaltete wieder ein:
„Hallo ...“, sagte Karin Blocks Stimme. „Es ist alles geregelt. Er hat das Chateau noch
nicht verlassen. Rufen Sie ihn an, er soll heute Nachmittag kommen.“
Pause.
„So schnell wie möglich!“
Pause.
„Nein.“
Pause.
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„Ich weiß, dass das nicht einfach sein wird. Aber für einfache Sachen zahle ich Ihnen
auch nicht diese horrenden Summen, mein lieber Herlois ...“
Pause.
„Gut. Ich melde mich dann.“
Der Telefonhörer wurde aufgelegt, Schritte, die Tür des Schlafzimmers fiel ins Schloss,
und das Aufzeichnungsgerät schaltete sich ab.
Piepen wie bei einem Anrufbeantworter zeigte die nächste Aufnahmeperiode an:
Die Schlafzimmertür fiel wieder ins Schloss. Die Stimmen eines Mannes und einer Frau,
Karin Block und Paul Wineck. Das Geräusch ihrer Körper, die einander berührten, das
Rascheln und Knistern von Kleidung, das Wippen des Bettes, sinnloses Gestöhne, obszöne Aufforderungen, mehr Stöhnen ...
Mann schaltete ab. Er war genauso klug wie vorher. Das Telefongespräch, mit dem er
gerechnet hatte, war nicht auf dem Band!
Warum nicht?
Natürlich nicht!
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Er hätte sich ohrfeigen können. Wie hätten Wineck und Dori über ihn Bescheid wissen
können, ohne die Kassette abgehört zu haben! Im Zweifelsfall hatten sie das Band
danach wieder zurückgespult! Alles, was er wissen wollte, war also bereits überspielt,
gelöscht!
Er begann das Zimmer systematisch zu durchsuchen. Karin Block beobachtete ihn dabei. Sie lag immer noch auf dem Boden, aber jetzt grinste sie. Er fand nichts außer einer zweiten Kassette, funkelnagelneu in ihrer Plastikhülle eingeschweißt. Pech gehabt!
Mal wieder!
Harry Mann zog den obersten Schubkasten ganz aus der Rokoko-Kommode und schlug
ihn an die Wand, bis das Holz zersplitterte.
Dann drehte er sich langsam um und lächelte freundlich. „Vielleicht“, schlug er vor,
„sollten wir den Sender suchen?“
„In Ordnung“, sagte Karin Block.
Sie marschierten im Gänsemarsch hinüber in das Zimmer, in dem er seine Auftraggeberin als verschnürtes Päckchen, fertig zur Beseitigung, vorgefunden hatte.
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Mamma lag noch auf dem Bett. Sie hatte sich auf den Rücken gedreht und schaute sie
beide böse an. Mann überlegte, ob er ihr das Handtuch vors Gesicht binden sollte, sah
dann aber einfach weg.
Während Karin Block ihren Nachttisch durchkramte, betrachtete er die Leiche von
Staatssekretär, starrte in die weiten offenen Augen, auf den großen roten Fleck in der
Mitte seines Körpers und auf die kleineren in der Brust, in der rechten Schulter, in beiden Beinen. Es war Wahnsinn; ein Wahnsinn, der nicht dadurch normaler wurde, dass
sich alle daran gewöhnt hatten.
Karin Block machte sich jetzt hinter dem Bett zu schaffen. Mit einem zufriedenen
„Ha!“ drehte sie sich zu ihm um.
„Das wär’s!“ sagte sie und hielt ihm einen dunklen metallenen Gegenstand von der
Größe einer Tonbandkassette hin. „Ich schlage vor, wir gehen runter und trinken noch
einen.“
Mann nickte, wunderte sich einen Augenblick, woher ein Polit-Fuzzi wie Wineck das
Know-how und die Hardware für einen solchen Abhörjob hatte, vergaß aber diese Frage
wieder, während sie die Treppe hinab stiegen und seine Augen und seine Phantasie der
schmalen Gestalt in den weiten hellen Shorts und der karierten Leinenbluse folgten.
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Karin Block verschwand hinter der Bar, holte Eis aus dem Kühlschrank und goss sich einen ein. Ihm reichte sie die Flasche Remy.
„Harry ...“ Sie schenkte ihm ein Lächeln, das direkt aus einem Werbespot zu kommen
schien. „Ich darf dich doch Harry nennen?“
„Sicher, Karin.“
„Du überlegst dir jetzt, wie du an Herlois herankommen kannst, nicht wahr?“
„Warum sollte ich das wollen, deiner Ansicht nach?“
„Weil Herlois der Mann ist, dessen Nummer mir Paps gegeben hat.“ Sie machte eine
vielsagende Pause. „Vielleicht können wir uns im Guten einigen. Du weißt, eine Hand
wäscht die andere ...“
„Aber die Nummer hast du ja leider nicht mehr ...“
Karin Block zog die Augenbrauen hoch und strahlte ihn stumm an. Wahrscheinlich hielt
sie das für neckisch. Und wahrscheinlich spielte sie nur nach, was ihr Frauen in zahllosen tollen Filmen vorgespielt hatten.
Höchste Zeit für ein bisschen Wirklichkeit in diesem Traumschloss, dachte Mann. Ohne
auszuholen, schlug er Karin Block seine Faust ins Gesicht. Ihr Kopf flog zurück und stieß
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gegen das Spiegelregal mit den Flaschen. Blut tropfte aus ihrer Nase. Aber sie schrie
nicht.
„Du bist verrückt“, sagte sie ruhig, vollkommen ruhig. „Wie Wineck. Nur noch verrückter.“
„Mamma tut mir leid“, sagte er, als tränken sie gemütlich ein Gläschen. „Es muss
fürchterlich für sie sein; nach soviel Jahren plötzlich allein, der Mann tot, mit dem ...“
„Ach, hör doch auf.“ Karin Block wischte sich das Blut mit einer Serviette aus dem Gesicht. „Die haben ihre alten Bettpartner schon vor einer halben Ewigkeit unter die Erde
gepackt. Von denen könnte ich dir einiges erzählen ...“
„Tu das. Für den Anfang vielleicht besser als gar nichts ...“
„Okay.“ Karin Block schnappte sich ihr Glas und ließ die Eiswürfel klingeln. „Es waren
einmal eine Witwe und ein Witwer“, begann sie in einem Gutenachtgeschichten-Ton,
bei dem nur irritierte, dass sie immer wieder das Blut in ihrer Nase hochziehen musste, „zwei richtig nette alte Menschen, die waren beide um die Siebzig und hatten
noch nie voneinander gehört. Beide vögelten sich mit ihren üppigen Pensionen durch
die Rentner-Puffs auf Mallorca und an der Costa del Sol, bis sie sich eines Tages, vor
ungefähr drei Jahren, bei einem dieser Tanztees trafen und in der Nacht, als sie besof-
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fen aufeinanderlagen, feststellten, dass sie blendend zueinander passten. Er bei der
Gestapo und Weltkriegsheld im Osten, später dann Kripo-Kommissar; sie irgendwie auch
am Endsieg beteiligt und begeisterte Kunstschützin. Beide Waffenfetischisten, reichlich
gemeinsame Erinnerungen. Da haben sie halt ihre Pensionen und ihre Gelüste zusammengelegt.“
„Warum holst du dir solche Leute ins Haus?“ fragte er, für einen Augenblick ehrlich betroffen.
„Paps war ein Schulfreund von meinem Vater. Und wovon lebe ich denn? Leute wie Paps
haben die Dreckarbeit gemacht, und Leute wie meine Eltern haben kassiert. Dass ich
mir diese Gestalten suche, sie durchfüttere und mich von ihnen beschützen lasse, ist
eben meine Art von Vergangenheitsbewältigung, Do-it-myself-Psychoanalyse. Paps hat
das sehr schnell kapiert. Solche Leute denken mit dem Bauch.“
„Und ich“, fragte er, „wie passe ich in deine Pläne?“
„Du, Harry, gefällst mir. Dich kann ich brauchen.“ Dabei musterte sie ihn so kühl, als
kalkuliere sie eine kurzfristige Investition mittlerer Größenordnung.
Er erwiderte ihren Blick, dann sah er weg. Sie hatte ihn.
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Harry Mann dachte an Staatssekretär und Dori und Paps, und er dachte an die
„Stimme“. Er war knapp davongekommen; auf Abruf, denn lange Tag hatte ihm eine
vage Spur gebracht, einen Namen: Herlois.
Doch Karin Block hatte nicht nur ihn, er hatte auch sie. Solange sie noch allein waren
jedenfalls. Sie war schön, sie war rücksichtslos, und sie kannte den Weg zu Herlois. Vor
allem aber wusste sie, dass Harry Mann zuviel wusste.
Dass er ihr Leben gerettet hatte, half ihm nicht.
Sie oder er.
Er musste dieses Problem bald lösen. Aber nicht jetzt. Wenn er tat, was sie wollte,
würde sie ihn nicht sofort töten lassen. Zwei Männer waren ihr heute abhanden gekommen, Paps für die harten Probleme, Staatssekretär für die feuchten Träume. Ihre Augen
verrieten, was sie dachte: dass es praktisch wäre, für beide Fälle nur einen neuen Mann
zu engagieren. Harry Mann.
„Nun?“ fragte sie.
Er schwieg.
„Bleib bei mir, Harry“, sagte sie schließlich ohne jeden bittenden Unterton.
„Mir gefällt nicht, was hier gespielt wird.“
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„Das ist keine Antwort.“
„Sag mir, was du weißt! Dann bleibe ich.“
„Das werde ich nicht.“
„Okay“, murmelte er in Richtung der Terrassentür, hinter der irgendwo ein dunkler Canyon lag. „Ich bleibe, und ich tue, was du verlangst. Aber ich schlafe nicht mit dir.“
„Gut“, sagte Karin Block. „Du hattest deine Chance.“
„Nein, du hattest sie“, sagte Mann.
Er entschloss sich, ohne nachzudenken.
Er musste diese Gelegenheit nutzen. Nie wieder würde er Karin Block so wehrlos antreffen.
Er griff nach ihr, hielt ihren rechten Oberarm fest umfasst, und als sie zu entkommen
suchte, schlug er sie ins Gesicht und auf jeden Körperteil, den er treffen konnte, bis sie
halb bewusstlos in seine Arme sackte.
Er zerrte sie durch die Halle und ohrfeigte sie wieder zur Besinnung. Sie zeigte ihm die
Tür zu ihrem Arbeitszimmer. Die Einrichtung bestand aus ein paar grauen Büroschränken, einem Schreibtisch aus eisgrauem Marmor, zwei Besuchersesseln aus grauem Leder
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und einer kleinen Bibliothek, deren ledergebundene alte Bücher auf grauen Regalen
standen und sehr preisbewusst eingekauft worden waren: nur die teuersten.
Zu bekommen, was er wollte, war lächerlich einfach. Auf dem Schreibtisch stand der
vertraute graue Computer; nicht sein alter Kasten, sondern natürlich das neueste Modell, wie Peter es besaß. Trotzdem spürte Mann so etwas wie Wiedersehensfreude. Die
schwarzweißen Explosionen eines Mini-Feuerwerks auf seinem sonst dunklen Bildschirm
zeigten an, dass das Gerät eingeschaltet war. Mann stieß Karin Block in den rechten der
beiden Besuchersessel.
„Du bleibst da sitzen und hältst die Schnauze.“
„Genieße deine letzten Stunden!“ sagte Karin Block leise. Sie schien in dem wuchtigen
Sessel zu versinken. Ihre Augen folgten ihm ein paar Sekunden voller Hass. Dann verbarg sie ihr Gesicht in den Armen und begann lautlos zu weinen.
Harry Mann aktivierte den Bildschirm des Computers und stellte ohne Überraschung
fest, dass das Adressenprogramm bereits gestartet war. Natürlich hatten sich hier Wineck und Dori schon vor ihm auf die Suche begeben.
Mann tippte den Suchbefehl für „Herlois“ ein und fand „Pater Thomas Herlois, ‚Europäischer Verein zur Förderung grenzüberschreitenden Denkens‘; Geschäftsführer“. Es
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folgten eine Adresse am Ku’damm und zwei Berliner Telefonnummern. Der Name des
Vereins kam Mann bekannt vor, er erinnerte sich, ihn ein paar Mal in den Nachrichten
zur öden Spendenaffaire gehört zu haben. In dem Feld „Notizen“ war zusätzlich eine
Anschrift in Los Angeles angegeben: „Pinewood Apartments, # 156, 7676 Sepulveda
Blvd, CA 90025. 213-8386726“.
Einer plötzlichen Eingebung folgend, blätterte Mann die imaginären Adresskarten auf
dem Bildschirm weiter durch. Die Datei war alphabetisch sortiert, und so stieß er
wenige Mausklicks später auf „Irene Hexter“. Zu ihrem Namen waren drei Anschriften
verzeichnet, je eine in Berlin, Hamburg und hier in Los Angeles.
Mann gab einen weiteren Suchbegriff ein und fand, was er erwartet hatte: „Gallathea
und Rudolf Kelling“, dazu die Adresse und Telefonnummer in Konradshöhe.
Mechanisch blätterte er weiter. Nach sechs, sieben weiteren Klicks tauchte der Namen
des Bundeskanzlers auf.
Nicht, dass ihn das wirklich überraschte. Genaugenommen hätte es ihn verwundert,
wenn der Name in dieser Liste fehlen würde. Beweisen tat sein Fund zudem gar nichts,
schließlich durfte man noch miteinander telefonieren, ganz privat von mächtiger Mann
zu reicher Frau. Trotzdem, der Name des Kanzlers, über den er sonst nur lachte, er-
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schreckte ihn; nicht aus moralischen, sondern aus ganz anderen, praktischen Gründen:
Immer mehr fühlte er sich als Leiche auf Abruf.
„Reicht das?“ fragte Karin Block in seinem Rücken. Aus ihrem geschwollenen Mund
klang es ziemlich zahnlos.
„Danke ja.“ Er drehte sich zu ihr um und grinste sie wieder an.
Ohne auf ihre Flüche zu achten, schob er sie die Treppe hoch und in das Schlafzimmer.
Dort fesselte er sie mit Stoffgürteln aus dem Kleiderschrank und stieß sie auf den Boden, direkt neben Winecks fahles Gesicht.
Harry Mann wusste, dass er sie töten musste. Beide, sie und Mamma.
Von dem giftgrünen Teppich blickte Karin Block angsterfüllt zu ihm hoch. Sie sagte
nichts. Sie konnte sich ausrechnen, was er überlegte: Wenn er sie jetzt leben ließ,
würde sie keine Ruhe geben, bis er, der Zeuge ihres Verbrechen, aus der Welt geschafft
war.
Harry Mann zog Winecks Winzpistole aus der Jackettasche, bückte sich und setzte die
Mündung an Karin Blocks Schläfe.
Sein Opfer sah ihn nicht an. Karin Block hatte die Augen geschlossen und lag bewegungslos da, als wäre sie schon tot.
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Um sich aus der Blockschen Falle zu befreien, brauchte es nur eine kleine Krümmung
seines Fingers. Doch Harry Mann spürte, dass er es nicht tun konnte. Er brachte es nicht
über sich. Er konnte Karin Block nicht töten. Er konnte überhaupt niemanden mehr töten. Und erst recht nicht sie. Dafür war sie einfach viel zu schön.
„Ich hoffe“, sagte er, „du wirst dich mal an das erinnern, was ich jetzt nicht tue.“
Mann ließ die Waffe fallen und richtete sich wieder auf.
Karin Block reagierte nicht. Ihre Augen blieben geschlossen.
Vielleicht war sie ohnmächtig geworden, vielleicht traute sie Harry Mann nicht. Ihm
war es egal.
Dass er sie nicht töten konnte, hatte nicht wirklich mit ihr zu tun. Es war ein erster
Schritt, ein ungeschickter erster Schritt auf seinem Schleichweg aus der Schuld in die
Freiheit.
Fast erleichtert stieg er die Freitreppe hinunter in die Halle. Die Tür zu dem mit rotem
Marmor ausgelegten Saal stand offen und dahinter auch die Tür zur Terrasse. Draußen
war es Nacht.
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Auf halber Höhe blieb Harry Mann stehen. Er konnte es wieder hören, das Rauschen der
Ruhe. Unendliche Stille. Zu friedlich, um wahr zu sein. Er zögerte, dann schrie er: „Ich
bin ein roter Sputnik in einem toten All ...“
Er wartete lange Sekunden, aber niemand widersprach ihm.
Schließlich gab er sich einen Ruck und ging in Karin Blocks Arbeitszimmer. Er schrieb
sich Herlois’ Adresse auf einen Notizzettel, kopierte die gesamte Datei von der Festplatte des Computers auf eine Diskette und verließ Shangri-La, wie er gekommen war,
durch den Marmorsaal mit den bunten Bildern, von wo er den rostroten Diplomatenkoffer mitnahm, und durch die Tür zur dunklen Terrasse, über der sich die Sterne drängelten.
Im Auto öffnete er das Zahlenschloss des Diplomatenkoffers und verstaute die Diskette
zwischen den Geldbündeln.
Ein neues Spiel begann. Im Grunde war es das alte. Aber diesmal hatte er bessere Karten.
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Über
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Autor
Gundolf S. Freyermuth ist Professor für Angewandte Medienwissenschaften an der ifs Internationale Filmschule
Köln (www.filmschule.de). Weitere Angaben finden sich auf www.freyermuth.com.
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