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Vom Mysterium der Zeit in modernen Kinder- und Jugendromanen
(Heinke Ubben)
Gliederung
1. Ein paar Worte zum Anfang
Was also ist die Zeit?
2. Der Unterschied zwischen älteren und modernen Kinder- und Jugendromanen
Wenn man Zeit totschlägt
3. Die Bedeutung der Zeit für die Darstellung
Wenn die Zeit aus den Fugen gerät …
4. Rückwärtsgewandte Utopien
Von Zeitlecks und Zeitdieben
5. Metatheoretische Erklärungen
Vom Raum-Zeit-Kontinuum, Zeitreisen und Begegnungen
mit dem eigenen Ich
6. Adaptionen aus dem Erwachsenenbereich
Und täglich grüßt das Murmeltier …
7. Fazit
Alles zu seiner Zeit!
Gewählt habe ich für meine Abschlusspräsentation das Thema: „Vom Mysterium der Zeit
in modernen Kinder- und Jugendromanen”. Während der Recherche hat mich dieses
Thema zeitweilig „um den Verstand gebracht”, weil es so überaus komplex und vielfältig
ist, denn Zeit und Zeitformen sind letztlich Bestandteile jedes Romans. Deshalb musste
ich zunächst
einmal
mit mir selbst
klären, welche „Zeitformen” ich überhaupt
untersuchen möchte und welche Schwerpunkte ich setzen will.
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1. Ein paar Worte zum Anfang – Was also ist die Zeit? …
… fragte Augustinus bereits um 400 n. Chr. Er beantwortete diese Frage selbst:
„Wenn mich niemand fragt, weiß ich es, soll ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es
nicht.”
Dieses Zitat verdeutlicht die Schwierigkeiten beim Umgang mit der Zeit. Augustinus
erklärt, dass er zwar über einen intuitiven Zeitbegriff verfüge und wisse, was er darunter
zu verstehen habe, in dem Moment aber, wo er diesen Zeitbegriff in Worte fassen und
theoretisch untermauern soll, fehlen ihm die Worte und theoretischen Erklärungsmuster.
Was also ist die Zeit?
Zeit ist ein metaphysischer Grundbegriff. Philosophen, Physiker, Soziologen, Politologen,
Kulturwissenschaftler, Literaturwissenschaftler finden unterschiedliche Erklärungen für
das Phänomen Zeit, denn sie gewichten verschiedene Aspekte desselben Begriffs und
kommen zu abweichenden Erklärungen.
Zeit ist damit auch ein grundlegender Begriff für unser Verständnis von der Welt und
unser Verständnis von Kultur. In unserer Kultur wird die Zeit linear begriffen, wir
implizieren mit dem Vergehen von Zeit Fortschritt oder Verfall. Andere Kulturen besitzen
ein zyklisches Zeitverständnis. Für sie steht das Verstreichen von Zeit für Wiederkehr und
Vorausdeutung.
Damit zielt der Zeitbegriff unmittelbar auf unser Verständnis von Literatur. Kein Roman
ist ohne die Zeit in ihren verschiedenen Bedeutungsebenen denkbar. Zeit kann sich auf
die Konstruktion, die Gestaltung, die erzähltheoretischen Grundlagen, den Inhalt, den
metaphysischen Gehalt eines Romans u.v.m. beziehen. Diese unterschiedlichen Aspekte
möchte ich in kurzen Kapiteln an Beispielen schlaglichtartig beleuchten, wobei ich mir der
Unmöglichkeit, mein Thema in 20 min. auch nur annähernd zu umfassen, bewusst bin.
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2. Der Unterschied zwischen älteren und modernen Kinder- und Jugendromanen
- Wenn man Zeit totschlägt
Dies ist sicherlich das berühmteste Kaninchen der Literatur. (Auf dieser Zeichnung seht
ihr es als Illustration von John Tenniel.) Es ist das Weiße Kaninchen. „Jemine! Jemine!
Ich komme bestimmt zu spät!”, murmelt es, während es an Alice vorbeiflitzt, hinab durch
das Kaninchenloch ins Wunderland. Alice erlebt im Wunderland die verrücktesten Dinge,
und eines Tages trifft sie zum Fünf-Uhr-Tee beim Hutmacher und beim Schnapphasen
ein. Diese verwickeln sie in ein pseudo-philosophisches Gespräch über die Zeit, doch:
„Daraus konnte Alice nun gar nicht klug werden. […]
‚Du hast aber unklare Vorstellungen von Zeit!’, sagte der Hutmacher. ‚Wenn du damit so
bekannt wärst wie ich, würdest du nicht davon reden, dass man sie verschwendet. Es ist
nämlich ein Er.’[…]”
Und weiter unten fährt der Hutmacher fort:
„Schläge lässt er sich nicht gefallen. Aber wenn du dich ein wenig besser mit ihm stellst,
tut er fast alles, was du von ihm haben willst. Stell dir einmal vor, es ist acht Uhr
morgens, und gleich beginnt die Schule: nur ein Wort in sein Ohr gewispert, und schon
sausen die Zeiger wie im Fluge rundum – ein Uhr!” (S. 87f.)
Eines aber, erfahren wir weiter, mag Herr Zeit gar nicht: Er mag nicht, wenn man ihn
totschlägt. Dann verkrümelt er sich, erhört keine ins Ohr geflüsterte Bitte mehr – und
dann vergeht die Zeit leider gar nicht mehr. Es bleibt immer 5 Uhr – und der Hutmacher
und der Schnapphase müssen nun sehen, wie es ihnen gelingt, diese „Ewigkeit des
Augenblicks” totzuschlagen.
Gestern haben wir bereits gehört, dass u.a. der Sprachwitz und die Sprachspiele in „Alice
im Wunderland” im Vordergrund stehen. So auch hier. Die Zeit und das Thema Zeit
haben deshalb per se auch keine Funktion. Im Gegenteil: Der gesamte Roman ist
vielmehr von Zeitlosigkeit geprägt. Die als Traum konzipierte Handlung ist zeitlos und
auch Alice selbst ist zeitlos. Nicht Erkenntnisprozesse und Entwicklung stehen im
Vordergrund, Alice wird von ihrem Kindsein, ihrer Ich-Bezogenheit, ihrer Neugier und
ihrer Wissbegierde vorangetrieben.
„Die Moderne setzt dort ein, wo kein Feenstaub und kein Kaninchenloch mehr nötig sind,
um die (Natur-) Gesetze der Zeit durch kindliche Imagination außer Kraft zu setzen”,
schreibt Heidi Lexe in „Sternstunden – wochenlang”, und ich möchte hinzufügen, wo die
reale und irrationale Welt ineinander verwoben werden, zueinander in Beziehung stehen.
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Carroll z.B. trennt die Lebenswelt des Kindes überaus deutlich von der der Erwachsenen.
Im Wunderland sind Raum und Zeit außer Kraft gesetzt, in der realen Welt, in die Alice
beim Erwachen zurückgeworfen wird, bestimmt die Zeit wieder den Rhythmus: „… Aber
jetzt rasch heim zum Tee, es ist schon spät”(S. 156) wird Alice von ihrer Schwester
aufgefordert. Damit taktet wieder die Uhr, die ja auch das Leben des Weißen Kaninchens
prägt, Alice’ Lebensrhythmus in abstrakte, gleichförmige Einheiten.
3. Die Bedeutung der Zeit für die Darstellung – Wenn die Zeit aus den Fugen
gerät …
Hugo Aust sagt in seinem kurzen Abriss über den historischen Roman:
„Zeit stiftet die Ordnungen der Tatsachen und ihrer Folgen; wo diese Ordnungen
schwinden, gerät die Zeit aus den Fugen und bringt eine eigene Art des … Romans
hervor.” (Aust, S. 23)
Ein hervorragendes Beispiel dafür ist im kinder- und jugendliterarischen Bereich „Das
große Giggler Geheimnis” von Roddy Doyle. Durch das Verhältnis von erzählter Zeit und
Erzählzeit führt Doyle die literarische Gestaltung ad absurdum. Zeit wird von Doyle damit
bewusst als humoristisches Element genutzt. Aber worum geht es?
Mister Mack, liebender Vater zweier Kinder, wird von den Gigglern unberechtigterweise
verdächtigt, seine Kinder ungerecht behandelt zu haben. Als Strafe dafür legen diese ihm
einen Hundehaufen in den Weg, in den er morgens auf dem Weg zur Arbeit treten soll. Er
nähert sich dem Hundehaufen, vier, drei, zwei Schritte, einer noch, sein Fuß schwebt
über dem Hundehaufen, 41 ¼ cm, 37 cm, 20 cm, 17 ½ cm usw., während die
Rettungscrew, die das Missverständnis aufgeklärt hat, naht. Sie nimmt die Abkürzung
durch die Wüste Sahara, vorbei am Eiffelturm und kommt … ja, was nun? … zu spät?
Eigentlich schon, denn Mister Mack ist bereits trotz seiner steifen, neuen Hose, die das
Senken des Beines so beschwerlich macht, in den Hundehaufen getreten. Andererseits:
Nein, nicht wirklich. Rover, der Hund, der die Rettungstruppe anführt, beschwert sich
beim Erzähler:
„‚Du behauptest allen Ernstes, ich sei zu spät gekommen? Nach all den Strapazen? Der
Mack-Typ steht bis über die Hacke in der –‚
‚Ja, Rover. Verstehst du, es ist einfach witziger, wenn Mister Macks Schuh –‛” (S. 96)
Nein, diese Schmach kann Rover unmöglich auf sich sitzen lassen. Und so wird Rover
doch noch „zum Held des Tages” (S. 98), denn der Erzähler fährt die Erzählung einfach
noch einmal ein Stück zurück, die Rettungscrew kommt rechtzeitig und Mister Mack tritt
nicht in jenen besagten Haufen hinein.
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Dieser Roman ist zum einen bewusst anachronistisch angelegt, d.h. Roddy Doyle setzt
die Formen von Analepse (Rückblick) und Prolepse (Vorausdeutung) bewusst ein, um
Humor zu erzeugen. Zum anderen wechselt er – wie in obigem Zitat gezeigt – Modus und
Stimme, d.h. Erzählerrede und Figurenperspektive/ -rede stehen direkt nebeneinander.
Zentral für die Darstellung von Zeit – und vor allem dadurch wird letztlich die
humoristische
Wirkung
erzielt
–
ist
jedoch,
dass
Doyle
unterschiedliche
Erzählgeschwindigkeiten kontrapunktisch einander gegenüber stellt. Während Mister
Macks Tritt in den Hundehaufen so weit gedehnt wird, dass sich Zentimeterangaben
besser eignen als Zeitangaben, wird Rovers „Abkürzung”, die in unserer räumlichen
Vorstellung eine Weltreise darstellt, so gerafft, dass Rover es in letzter Sekunde noch
schafft.
Erfahrene Leser, aber auch Kinder, die einen sehr analytisch ausgerichteten Intellekt
haben,
werden
diesen
Unsinn
und
diese
Absurditäten,
die
durch
die
Erzähl(de)konstruktion erzeugt werden, lieben und herzlich darüber lachen. Kinder und
Jugendliche, die vor allem inhaltlich orientiert lesen, sind sicherlich weniger begeistert,
denn letztlich passiert ja nicht viel, dargestellt wird überwiegend „Unsinn”, oder sagen
wir doch gleich „Scheiße”.
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4. Rückwärtsgewandte Utopien – Von Zeitlecks und Zeitdieben
Fragt man andere nach einem Kinder- und Jugendbuch, bei dem es um Zeit geht, dann
antworten einem die meisten sofort: „Momo” von Michael Ende. Wer sich auch mit den
Neuerscheinungen befasst, fügt wahrscheinlich noch hinzu: „Zwischen den Zeiten” von
Kate Thompson. Diese Zuordnung ist jedoch nur vordergründig richtig, denn nicht die
Zeit als metatheoretische oder philosophische Erklärung steht bei Ende und Thompson im
Zentrum, sondern gesellschaftskritische Ansätze, in denen davon ausgegangen wird,
dass die Menschen zu wenig Zeit füreinander haben. Zwar drängt sich dem Leser die Zeit
immer wieder als Thema ins Bewusstsein, doch geht es z.B. Thompson weniger darum,
dass die Zeit unaufhörlich verrinnt. Vielmehr verweist sie immer wieder darauf, dass die
irischen Traditionen, speziell die irische Volksmusik, nicht mehr gepflegt und zugedrängt
werden. Hier bewegt sie sich in der Zielsetzung auf derselben Ebene wie Michael Ende in
„Momo”.
„Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen”, schreibt Ende in „Momo”. (S.
57). „Und je mehr die Menschen daran sparten, desto weniger hatten sie.” (S. 72).
Bei Ende bemerken zuerst die Kinder, dass immer weniger Zeit da ist, denn ihre Eltern
sind nicht mehr für sie da. Schlimmer noch: „Meine Eltern haben gesagt, … ihr (= Momo,
Giggi und Benno, HU) seid bloß Faulenzer und Tagediebe. Ihr stehlt dem lieben Gott die
Zeit, haben sie gesagt. Deswegen habt ihr soviel. Und weil es von eurer Sorte viel zu
viele gibt, haben andere Leute weniger Zeit, sagen sie.” (S. 78) Ende reproduziert hier
also das typische Vorurteil gegenüber Arbeitslosen, so genannten Tagedieben.
Bei Thompson wird der zunehmende Stress von allen wahrgenommen: Es gibt keine Zeit
mehr zum Einkaufen, die Zeit reicht nicht für die Hausaufgaben, alles bleibt liegen.
Thompson schafft mit Tír na nÓg, dem Land der ewigen Jugend eine Gegenwelt. JJ, der
Protagonist der Geschichte, rettet beide Welten, indem er das Zeitleck entdeckt. Er findet
die Flöte, die vor vielen, vielen Jahren der Priester seinem Urgroßvater gestohlen hatte.
Mit dieser Entdeckung ist zugleich aber auch ein Entwicklungsprozess angedeutet. JJ
findet
zu
seinen
traditionellen
Wurzeln
zurück,
indem
er
sich
mit
seiner
Familiengeschichte und der irischen Sagenwelt und Tradition befasst.
„Er spielte wie ein Junge, der von Geburt an dazu bestimmt war, zum Tanz aufzuspielen;
wie ein Junge, der die Musik der Feen gehört hatte; wie ein Junge, der bald zu einem der
besten Folkspieler heranreifen sollte, den Irland je gesehen hatte.” (S. 304).
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Momo dagegen durchlebt – wie auch Alice – keinen Erlebnis- und Erkenntnisprozess. Sie
ist eine klassische kindliche Erlöserfigur. Sowohl „Zwischen den Zeiten” als auch „Momo”
sind deshalb als ein Plädoyer für eine sinnorientierte, selbst bestimmte Gestaltung von
Zeit zu verstehen. Solange in einer Gesellschaft musiziert werden kann, solange die alten
Traditionen bewahrt werden bzw. solange die Eltern Zeit für ihre Kinder haben, solange
Kinder das Spielen nicht verlernt haben, ist das Leben lebenswert und sinnvoll. Das Heil
oder die Erlösung wird also hier wie da in der Rückwendung zu traditionellen
Gesellschaftsmodellen gesehen. Dazu passen die märchenhafte Überhöhung bei Ende
und die sagenumwobene Mythisierung bei Thompson.
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5. Metatheoretische Erklärungen – Vom Raum-Zeit-Kontinuum, Zeitreisen und
Begegnungen mit dem eigenen Ich
Jetzt wird es richtig spannend, sowohl auf theoretischer als auch auf inhaltlicher Ebene,
denn Zeitreisen machen das Gros der fantastischen Literatur, der Abenteuerliteratur und
oft auch der historischen Kinder- und Jugendliteratur aus.
Worum geht es auf metatheoretischer Ebene?
Johann Gottfried Herder (1729-1781) prägte die Gegenüberstellung von Bildender Kunst
als
Raumkunst
und
Musik
als
Zeitkunst.
Er
folgte
damit
den
herrschenden
metaphysischen Vorstellungen seiner Zeit.
„Leibniz definierte den Raum als ‚Nebeneinander oder Koexistenz der Dinge’, die Zeit als
‚Nacheinander oder Sukzession der Dinge’”. (Spektrum, S. 86)
Diese Theorie macht deutlich, dass Raum und Zeit nicht unabhängig voneinander
existieren, sondern immer relativ auf die Dinge wie auch aufeinander bezogen sind.
Raum und Zeit sind also nicht als Behälter für irgendwelche Dinge zu verstehen, sondern
sie werden erst durch diese konstituiert. Alles, was ist, bildet damit ein Raum-ZeitKontinuum.
Diese Theorie nimmt wesentliche Elemente der Einsteinschen Relativitätstheorie vorweg.
Zeit und Raum haben wie bei Leibniz keinen eigenständigen Status, sondern bilden die
Koordinaten in einer vierdimensionalen Gesamtheit raumzeitlicher Ereignisse. Die vierte
Dimension kann man sich ebenso wenig wie den gekrümmten Raum, der in diesem
Raum-Zeit-Kontinuum impliziert ist, vorstellen. Auch kann man sie nicht sehen oder
hören. Das Raum-Zeit-Kontinuum, die vierte Dimension und den gekrümmten Raum
kann man nur denken und berechnen.
Moderne Kinder- und Jugendbuchautoren sind da allerdings ganz anderer Meinung. Joan
Lennon
schreibt
in
„Questors.
Die
Weltenretter”
über
das
Haus,
in
dem
die
Verantwortlichen die Rettungsaktion planen:
„Errichtet auf einem kosmischen Scheitelpunkt. Die herrliche Treppe eignet sich sowohl
als Verbindung zwischen den Stockwerken als auch als Verbindung von verschiedenen
Punkten im Raum-Zeit-Kontinuum. … Ein Grundriss ist auf Datenträger erhältlich; ein
Computer, der leistungsfähig genug wäre, um diesen Grundriss anzuzeigen, wurde aber
bisher nicht gebaut. … Bekannt als ‚das London-Haus’, weil es vermutlich in mindestens
einer parallelen Wirklichkeit das Einzige seiner Art ist.” (S. 20f.)
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Leider nutzt Lennon diese fantastische Beschreibung nicht, um eine Geschichte daraus zu
konstruieren. Am Anfang stellt sie kurz einzelne Szenen dar, die sich in diesem RaumZeit-Kontinuum ereignen, aber die Fülle der Möglichkeiten, die dieses Haus für den
Fortgang der Geschichte eröffnet, nutzt sie nicht.
Sehr bemüht wirkt in diesem Kontext auch Madeleine L’Engles „Die Zeitfalte”, das
erstmals 1968 erschienen ist. Meg, ihr Bruder Charles und ein Freund von ihnen, Calvin,
stolpern durch das Universum auf der Suche nach ihrem Vater. Frau Wasdenn, Frau
Wiedenn und Frau Dergestalt helfen ihnen zu „tessern”, d.h. durch Raum und Zeit zu
reisen. „Die Tesserung ist … der Übergang von vierten in die fünfte Dimension.” (S. 84)
Mithilfe der fünften Dimension könne man, so erklärt es der kleine Charles den anderen
beiden, Zeit und Raum überwinden. Dieses Prinzip müsse man sich so vorstellen, als
nähme man ein Stück Stoff, ließe dieses durchhängen und falte es dann. Auf diese Weise
könne man kürzere Wege zurücklegen, als wenn man entlang der langen Stoffbahn reise.
Abgesehen von ähnlichen Erläuterungen dieser Art und verrückten Konstruktionen, z.B.
einem zweidimensionalen Planeten hat die Zeit keine Funktion für die Konstruktion des
Plots. Die Handlung folgt dem klassischen Muster phantastischer Literatur. Das Thema
Zeit verleiht diesem Roman damit nicht mehr als einen intellektuellen Anstrich, die
Erläuterungen zum Thema sind allerdings kindgerecht aufbereitet und sind für Kinder
sicherlich interessante und aufregende Gedanken.
Total überfrachtet mit metatheoretischen Erklärungen ist „Tanglewreck. Das Haus am
Ende der Zeit” von Jeanette Winterson. Die Fülle an Ideen zu „Zeitphänomenen” lähmt
die Handlung. Zeittornados toben, das Gefüge der Zeit löst sich allmählich auf, Menschen
geraten in Zeitfallen, Forscher experimentieren mit Zeittransfusionen, die Protagonistin
reist zu den Dünen der Zeit, sie findet dort die Einstein-Linie und erfährt Einiges über
Zeitreisen. Zwar dreht sich alles um Zeit, aber die Einzelheiten zu diesem Thema sind so
verworren und so wenig konsistent, dass die Zeit keine handlungskonstituierende
Bedeutung gewinnt. Wie auch die vorherigen beiden Bücher folgt dieser Roman dem
klassischen Muster phantastischer Literatur.
Gut
gelungen
sind
Zeitreisegeschichten
bzw.
-romane
zu
metatheoretischen
Fragestellungen dann, wenn sie sich auf einen einzelnen Aspekt beschränken und diesen
ausgestalten. Paradox werden Zeitreisen vor allem dann, wenn man sich selbst
begegnet, wie es etwa in „Harry Potter und der Gefangene von Askaban” mithilfe des
Time Turners, des Stundenglases, vorgeführt wird.
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Wie sich dieses Herumgepfusche in der Zeit und mit der Zeit konkret auswirken könnte,
malt Joachim Friedrich in „Zeitenriss” aus. Die Protagonistin Lisa bricht an ihrem neunten
Geburtstag ins Eis ein, als sie ihre neuen Schlittschuhe ausprobiert. Seit diesem Tag ist
ihr Leben eine Katastrophe, geprägt von Angst vor unvorhergesehen Unfällen und einer
Familie, die nicht über ihre Probleme spricht. Der Vater verlässt die Familie und brennt
mit Tante Margret durch, die Mutter versinkt in Depressionen und Lisa will ihr Leben von
Grund auf verändern. Sie studiert und stellt Forschungen zu Zeitreisen an. Als Flora reist
sie zurück in die Vergangenheit und versucht ihren Einbruch ins Eis zu verhindern.
Da dies misslingt, greift Flora zu härteren Maßnahmen. Sie will Tante Margret vernichten.
„Sie würde so unwiderruflich und erinnerungslos verschwinden, wie es bis dahin noch
keinem Menschen widerfahren war.” (S. 38)
Flora reist also noch weiter in die Vergangenheit und verhindert die Zeugung von Tante
Margret. Dann aber geschieht Unglaubliches:
„Aber wie war es dann möglich, dass Lisa sich an sie (= Tante Margret, HU) erinnerte?
Wie war die Erinnerung an einen Menschen möglich, den es für Lisa nie gegeben haben
konnte, dessen Zeugung Flora vor fast vierzig Jahren verhindert hatte?” (S. 96)
Kurz gesagt: Die Manipulation der Vergangenheit gerät außer Kontrolle. Lisa kann sich
auf die Gegenwart nicht mehr verlassen. Am Abend leben ihre Eltern nicht mehr dort, wo
sie sie am Morgen verlassen hat. Aus einer normalen Durchschnittsfamilie ist am Abend
plötzlich eine steinreiche Unternehmerfamilie geworden usw.
Lisa gelingt es schließlich, Flora zur Sprache zu stellen und sich von ihrem älteren Alter
Ego zu befreien, indem sie selbst bestimmt handelt.
Die Dramaturgie des Romans ist genial, die Handlung ist äußerst spannend und die
dargestellten Ideen und Überlegungen zu Zeitreisen sind faszinierend und anregend.
Dieser Roman ist ein gutes Beispiel für kontrafaktisches Erzählen, das es in der Kinderund
Jugendliteratur
kaum
gibt.
Die
Fakten
widersprechen
sich,
Irrationalitäten
bestimmen den Handlungsverlauf, wodurch der Konstruktionscharakter der Erzählung
herausgestrichen und „Zufall” nicht nur als Lebensprinzip konstituiert wird.
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6. Adaptionen aus dem Erwachsenenbereich – Und täglich grüßt das Murmeltier …
Auch Sabine Ludwig betont in „Der 7. Sonntag im August” den Konstruktionscharakter
ihrer Erzählung und streicht den „Zufall” als Prinzip heraus.
Es ist der letzte Sonntag in den Sommerferien und die elfjährige Freddy, mit richtigem
Namen Frederike, hat überhaupt keine Lust auf den morgigen Schultag. Dass der am
nächsten Morgen dann auch nicht stattfindet, überrascht sie selbst. Statt Montag ist
nämlich wieder Sonntag. Schlimmer noch: Niemandem außer ihr ist bewusst, dass sie
diesen Sonntag schon einmal verlebt hat. Freddy ist in einer Zeitschleife gefangen!
Sie versucht die Situation ihren Eltern zu erklären, aber die glauben sie sei krank bzw.
versuchen sie davon zu überzeugen, dass sie ein Déjà-vu-Erlebnis habe.
Freddy ist frustriert, sie fühlt sich wie ein Hamster in einem Laufrad, der auch immer
denkt, es ginge voran, dabei dreht sich alles doch nur im Kreis.
Aufgrund dieser Wiederholungen gewinnt Freddy viele Erfahrungen und Erkenntnisse. So
versucht sie z.B., den Unfall zwischen einem Rad- und einem Autofahrer zu verhindern.
Es gelingt ihr auch, aber was ist der Dank? Wüste Anschuldigungen, die noch nicht
einmal der Wahrheit entsprechen, durch den Autofahrer.
Freddy erlebt noch Vieles mehr, im Wesentlichen aber sind es zwei Dinge, die sie
begreift:
1. „Es ist so ein komisches Gefühl, dass das Leben nur vom Zufall abhängen soll. Es ist
ein Gefühl, das mir nicht gefällt” (S. 96), sagt Freddy an einer Stelle. Aber sie lernt im
Lauf der sieben Sonntage, dass sie diesen Zufall durch eigene Tatkraft beeinflussen kann.
2. „Komisch, ich erlebe seit vier Tagen immer wieder denselben Sonntag und doch ist
jeder Sonntag anders. Heute ist so viel passiert, dass mir richtig der Kopf schwirrt.” (S.
150)
Die Zeitschleife endet, als Freddys Schwester Mia ihr ein Wunscharmband schenkt, genau
so eines wie Freddy zu Beginn der Geschichte verloren hat. Freddys Grundschullehrerin
hatte es den Kindern im letzten Jahr, am Ende der vierten Klasse, geschenkt und gesagt,
dass die Kinder einen Wunsch frei hätten, wenn das Band abfiele. Dass dieser Wunsch,
am nächsten Tag nicht in die Schule zu müssen, in einer Zeitschleife endet, hätte Freddy
natürlich nicht gedacht – die LeserInnen schon.
Natürlich hätte Sabine Ludwig den Erkenntnis- und Entwicklungsprozess, den Freddy
durchläuft, auch in anderer Form darstellen können, aber dadurch wäre eine ganze
Portion Humor und Spannung verloren gegangen. Die Geschichte lebt davon, dass man
sich von Sonntag zu Sonntag fragt, was gleich bleibt und was sich ändert, und wann der
Protagonistin endlich klar wird, warum sie in dieser Zeitschleife gelandet ist.
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7. Fazit – Alles zu seiner Zeit!
Die Auswahl an Büchern und Themen hat gezeigt, wie vielfältig und komplex das Thema
Zeit ist. Vieles konnte nur näherungsweise und an Beispielen beleuchtet werden, einige
Aspekte z.B. „Reisen in die Zukunft” (Dragt; „Das Geheimnis des Uhrmachers”), das
„Leben nach der eigenen Uhr” (Nilsson, „Jetzt schlägt’s dreizehn!”; Kozik, „Moritz in der
Litfasssäule”) oder Begegnungen der Generationen (Krauß, „Kurz vor morgen”; Waldis,
„Tita und Leo”) fehlen hier.
Deutlich geworden ist mir beim Lesen der zahlreichen Romane, dass nicht die
Komplexität, sondern die Ausgestaltung eines einzelnen Aspektes oder einiger weniger
Aspekte zum Thema Zeit den inhaltlichen, philosophischen und/oder metatheoretischen
Reiz einer gut komponierten Erzählung ausmacht. Es muss eben „alles zu seiner Zeit”
geschehen!
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Literaturliste
Primärliteratur
Carroll, Lewis, Alice im Wunderland, Hildesheim: Gerstenberg 1998.
Doyle, Roddy, Das große Giggler-Geheimnis, München: Omnibus 32001.
Dragt, Tonke, Das Geheimnis des Uhrmachers, Frankfurt a.M: Fischer 1997.
Friedrich, Joachim, Zeitenriss, München: cbt 2006.
Kozik, Christa, Moritz in der Litfasssäule, Berlin: Kinderbuchverlag 1980.
Krauß, Irma, Kurz vor morgen, Weinheim: Beltz & Gelberg 2002.
L’Engle, Madelaine, Die Zeitfalte, München: cbj 2008.
Lennon, Joan, Questors. Die Weltenretter, München: cbj 2007.
Ludwig, Sabine, Der 7. Sonntag im August, Hamburg: Dressler 2008.
Nilsson, Per, Da schlägt’s dreizehn! Aarau: aare 1997.
Rowling, Joanne K., Harry Potter und der Gefangene von Askaban, Hamburg:
Carlsen 1999.
Thompson, Kate, Zwischen den Zeiten, München: cbj 2006.
Waldis, Angelika, Tita und Leo. Eine Feriengeschichte, Zürich: Haffmans 1999.
Winterson, Jeanette, Tanglewreck. Das Haus am Ende der Zeit, Bloomsbury 2006.
Sekundärliteratur:
Aust, Hugo, Der historische Roman, Stuttgart/Weimar: Metzler 1994 (=
Sammlung Metzler, Band 278).
Bachtin, Michail, Formen der Zeit in Romanen, hg. v. Kowalski, Edward/ Wegner,
Michael, Frankfurt a.M. 1989.
Fluter. Das Zeit-Heft, hg. v. Bundeszentrale für politische Bildung, Heft Nr. 16,
Sept. 2005.
Hurrelmann,
Bettina;
Quadflieg,
Barbara,
Ach,
du
liebe
Zeit!,
http://www.lesebar.uni-koeln.de/srezensionlesen.php?id=24, erschienen 2000,
Zugriff am 17.5.2008.
Lexe, Heidi, Sternstunden – wochenlang. Irrationale Zeitphänomene in den
Klassikern der KJL, in: 1000 und 1 Buch . Das Magazin für Kinder- und
Jugendliteratur, hg. v. AG Kinder- und Jugendliteratur, Heft 4: Nov. 2003, S. 16.
Kalteis, Nicole, „Keine Punkte mehr, nur noch Striche“. Bewegung und
Geschwindigkeit im Adoleszenzroman, in: 1000 und 1 Buch . Das Magazin für
Kinder- und Jugendliteratur, hg. v. AG Kinder- und Jugendliteratur, Heft 4: Nov.
2003, S. 12f.
Kalteis, Nicole, Zeit, Ewigkeit und Augenblick, in: 1000 und 1 Buch . Das Magazin
für Kinder- und Jugendliteratur, hg. v. AG Kinder- und Jugendliteratur, Heft 3:
Aug. 2008, S. 6 – 8.
Martinez, Matias/ Scheffel, Michael, Einführung in die Erzähltheorie, München:
Beck 22000.
Knödler, Christine, Zeichen Zeit. Von der Bedeutung und Deutung einer flüchtigen
Größe, in: 1000 und 1 Buch . Das Magazin für Kinder- und Jugendliteratur, hg. v.
AG Kinder- und Jugendliteratur, Heft 1: Feb. 2008, S. 18 – 22.
Nowak, Klaus, 41,25 Zentimeter erzählte Zeit. Roddy Doyle und sein Umgang mit
Zeit. Eine Art Meta-Gefasel, in: 1000 und 1 Buch . Das Magazin für Kinder- und
Jugendliteratur, hg. v. AG Kinder- und Jugendliteratur, Heft 4: Nov. 2003, S. 8.
Phänomen Zeit, Spektrum der Wissenschaft Spezial, Heft 1/2007.
Roeder, Caroline, Schildkröten stürmen an einem vorbei. Ein Wettlauf der
Langsamkeit durch die Kinderliteratur, in: 1000 und 1 Buch . Das Magazin für
Kinder- und Jugendliteratur, hg. v. AG Kinder- und Jugendliteratur, Heft 4: Nov.
2003, S. 9 – 11.
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