Das vertrag` ich nicht! Leben mit Nahrungsmittelunverträglichkeiten
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Das vertrag` ich nicht! Leben mit Nahrungsmittelunverträglichkeiten
Das vertrag’ ich nicht! Leben mit Nahrungsmittelunverträglichkeiten Immer öfter liest und hört man, dass der Körper bestimmte Nahrungsmittel nicht verträgt. Oft ist die Haut rot, juckt oder bildet Bläschen, nicht selten sind die Atemwege betroffen und manchmal reagieren die Betroffen mit Herzrasen. In den Regalen der Supermärkte sind immer mehr Produkte für Menschen mit „speziellen Ernährungsbedürfnissen“ – etwa Joghurt ohne Laktose, Glutenfreies Mehl – zu finden. Dr. Simon Zünd ist Facharzt für Innere Medizin und betreibt eine Praxis in Lustenau. Im Interview erklärt der Internist, wie es zu einer Lebensmittelintoleranz kommen kann, geht näher auf den Unterschied zwischen den Bezeichnungen „Allergie“ und „Unverträglichkeit“ ein und spricht schließlich auch darüber, wie man damit leben kann. Herr Dr. Zünd, was steckt wirklich hinter einer Nahrungsmittelunverträglichkeit? Der Begriff Nahrungsmittelunverträglichkeit wird grundsätzlich dann verwendet, wenn ein Mensch über Beschwerden im Verdauungstrakt klagt, welche in zeitlichem und kausalem Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme stehen. Dabei besteht allerdings die Schwierigkeit, zwischen einer banalen Empfindungsstörungen und medizinisch bedeutsamen Symptomen zu unterscheiden. Sie meinen, dass man sich eine Nahrungsmittelunverträglichkeit auch einbilden kann? Nein, sondern dass psychosomatische Faktoren, also beispielsweise Völlegefühl, Druck oder allgemeines Unwohlsein, beim Zustandekommen von Nahrungsmittelunverträglichkeiten bzw. Intoleranzerscheinungen eine große Bedeutung haben. Dies konnte sogar nachgewiesen werden. Daher spielt die sorgfältige Erhebung der Krankengeschichte in der Diagnostik eine wichtige Rolle. Wie und wann kann sich eine Unverträglichkeit entwickelt? Und was sind die Ursachen für diverse Unverträglichkeiten? Nahrungsmittelunverträglichkeiten können in jedem Alter entstehen. Im Kindesalter besteht ein noch unreifer Magen-Darm-Trakt, was mit einer verminderten Toleranz auf Nahrungsmittelproteinen verbunden ist. Weitere Hintergründe sind eine genetische Prädisposition, also ein angeborenes, erhöhtes Risiko, das Nicht-Stillen und der Zeitpunkt der Zuführung diverser Nahrungsmittel. Dadurch wird die Häufung der Allergien im Kindesalter erklärt. Die wohl häufigste Ursache für Nahrungsmittelunverträglichkeiten im Kindesalter stellt der angeborene oder erworbene Defekt bzw. der Mangel von Enzymen dar. Enzyme sind Stoffe, die chemische Reaktionen in lebenden Organismen beschleunigen. In der Regel bestehen sie aus Eiweißen. Enzyme sind für den Stoffwechsel unverzichtbar und in allen Zellen des Körpers enthalten. Ein weiterer Grund für Nahrungsmittelunverträglichkeiten im Kindesalter kann die pharmakologische Zusammensetzung von Nahrungsmitteln sein, aber auch Erkrankungen der Darmwand können zu unerwünschten Reaktionen führen. Außerdem sind spezifische Immunreaktionen möglich, welche als Allergie bezeichnet werden. Die Allergisierung bzw. die Ausbildung einer Allergie erfolgt je nachdem über den Verdauungstrakt oder über die Atemwege. Immunreaktionen auf Kuhmilch, Hühnereiweiß, Getreide und Soja verschwinden oft bis zur Pubertät, vorausgesetzt die jeweiligen Nahrungsmittel werden gemieden. Nuss- und Fischallergien bleiben oft lebenslang bestehen. Und bei Erwachsenen? Bei Erwachsenen sind beispielsweise sogenannte Kreuzallergene auf Kern- und Steinobst bei bestehender Pollenallergie bekannt. Auch der Gluten-Enteropathie liegt eine Immunreaktion zugrunde (Anm.: Unter dem Begriff Enteropathie wird die Gesamtheit der Krankheiten der Schleimhaut von Magen- und Darmtrakt bezeichnet, deren Ursache nicht auf einer Entzündung beruht). Hand- und Fuß-Ekzeme können durch Nahrungsmittel ausgelöst werden, wenn beispielsweise Kontaktallergien bestehen. Diese können etwa bei Nickel, Vanillin oder Perubalsam vorkommen. Auch die atopische Dermatitis (Anm.: eine chronische, nicht ansteckende Hautkrankheit) zeigt oft Zusammenhänge mit Nahrungsmittelunverträglichkeiten. Unverträglichkeiten können also sowohl im Kindes- als auch im Erwachsenenalter durch immunologische (Anm.: das Immunsystem betreffend) oder nicht-immunologische Mechanismen in Erscheinung treten. Leider wird die Bezeichnung Allergie heutzutage viel zu oft und völlig unkritisch verwendet. Worin besteht denn der Unterschied zwischen Nahrungsmittelunverträglichkeiten und Allergien? Die Allergie ist eine klar definierte, nachweisbare immunologische Reaktion und ist nicht abhängig von der konsumierten Menge eines Nahrungsmittels. Alle anderen Nahrungsmittelunverträglichkeiten entstehen durch nicht-immunologische Wechselwirkungen und sind daher stark abhängig von der Dosis bzw. eben der konsumierten Menge. Allergien sind also Reaktionen des Immun- bzw. des Abwehrsystems, Nahrungsmittelunverträglichkeiten nicht. Was sind die häufigsten Nahrungsmittelunverträglichkeiten? In Europa kommen Allergien auf Nahrungsmittel bei ein bis zwei Prozent der Erwachsenen vor. Im Vordergrund stehen dabei Nüsse, Fische, Krusten- und Schalentiere, Kreuzallergene auf Obst und Gemüse und die Glutenunverträglichkeit. Außerdem wird angenommen, dass bei drei Viertel der Weltbevölkerung das Milchzuckerspaltende Enzym, Lactase, im Erwachsenenalter nur noch eine minimale Aktivität besitzt, wodurch sich unter anderem die Häufigkeit von merkbarer Lactoseintoleranz bei circa 20 Prozent der österreichischen Bevölkerung erklären lässt. Interessant ist übrigens, dass bei dieser Unverträglichkeit ein Nord-SüdGefälle existiert, sodass zum Beispiel in Afrika circa 80 Prozent der Bevölkerung eine Lactoseintoleranz bemerken. Nicht unbedeutend ist auch die Unverträglichkeit auf biogene Amine, insbesondere Histamin, Sulfite und Glutamat. Histamin entsteht in bakteriell fermentierten Nahrungsmitteln, wie Rotwein, geräuchertem Fleisch, Salami, Schinken und Innereien. Histamin kommt aber auch vielen Fischprodukten, in gereiften Käsesorten, Sauerkraut, Bier, Hefe und mitunter auch in Essig vor. Sulfite sind Salze und werden häufig als Konservierungsmittel in Wein, Trockenobst und Kartoffelprodukten eingesetzt. Bei einer Unverträglichkeit auf Sulfite sollte man diese Nahrungsmittel also vermeiden. Bei einer Glutamat-Intoleranz spricht man auch vom China-Restaurant-Syndrom, weil in chinesischen Gerichten traditionell eine hohe Dosierung von Glutamat vorkommt. Zum Beispiels weisen sowohl Sojasauce als auch Fischsauce einen hohen natürlichen Glutamatgehalt auf. Wie kann sich eine Unverträglichkeit auswirken? Bei Nahrungsmittelunverträglichkeiten zeigen sich in 45 Prozent der Fälle Symptome an der Haut. Es treten beispielsweise Rötung, Juckreiz, Bläschen oder Ekzeme auf. In 25 Prozent der Fälle sind Atemwege und Verdauungstrakt betroffen. Die Beschwerden reichen von „Schnupfen“, Niesen, Heiserkeit, Husten und Asthma über eine Schwellung der Lippen, Kribbeln, Bläschen der Mundschleimhaut bis hin zu Blähungen, Durchfall, Koliken und Gewichtsverlust. Und in circa zehn bis 15 Prozent der Fälle reagiert das Herz-Kreislaufsystem. Es kommt zu Herzrasen, Herzstolpern, Kollaps oder Blutdruckabfall. Stimmt es, dass sich Nahrungsunverträglichkeiten häufig auf den Stoffwechsel auswirken und dies zur Fettleibigkeit führen kann? Nahrungsmittelunverträglichkeiten können einen Einfluss auf den Stoffwechsel haben, führen aber nicht zu Fettleibigkeit, sondern es kommt eher zum Gewichtsverlust. Kann man prinzipiell gegen jedes Nahrungsmittel eine Unverträglichkeit entwickeln? Wenn man sämtliche immunologischen und nicht-immunologischen, aber insbesondere auch die psychosomatischen Faktoren berücksichtigt, dann ist diese Möglichkeit gegeben. Kann man Nahrungsunverträglichkeiten bzw. eine Allergie bekämpfen bzw. heilen? Man kann sie nicht bekämpfen, sondern durch eine angepasste Ernährungsweise damit leben. Eine Heilung ist eigentlich nur bei Kindern möglich. Allergien, die im Kindesalter auftreten, können wie bereits erwähnt, nach entsprechender Allergenkarenz wieder verschwinden. Sollte dies jedoch nicht der Fall sein bzw. sollte man im Erwachsenenalter eine Allergie entwickeln, dann muss man das Allergen, also das Lebensmittel, das die Allergie auslöst, meistens ein Leben lang meiden. Eine Linderung der Beschwerden können Antiallergika, sogenannte H1-Antagonisten, ermöglichen. Ansonsten ist eine Heilung nur dann möglich, wenn die zugrunde liegende Ursache bekannt ist und behoben werden kann. Dies ist aber oft sehr schwierig, vor allem bei Allergien im Erwachsenenalter. Es gilt also: bestimmte Produkte zu vermeiden? Handelt es sich um eine Allergie, dann ist das so. Handelt es sich hingegen um eine Nahrungsmittelunverträglichkeit, dann muss man die Menge der entsprechenden Nahrungsmittel reduzieren. Es gibt auch die Möglichkeit von alternativen Produkten, so werden etwa bereits eine Vielzahl von Lactosefreien Nahrungsmitteln angeboten. Und wie verhält man sich im Restaurant? Wichtig ist natürlich die Kenntnis des Nahrungsmittels, auf das man mit einer Unverträglichkeit reagiert. Denn dadurch kann man aus der Speisekarte gezielt wählen. Es gibt auch bereits Restaurants, die Lactose- oder Gluten- freie Speisen anbieten. Ein Problem stellen aber sicherlich die Fertigsaucen oder Büchsen- und Fertiggerichte dar, deren Inhaltsstoffe vom Gast nicht erkennbar sind. Ob im Restaurant oder zuhause, entscheidend ist, dass man das unverträgliche Nahrungsmittel kennt und auch dass man über deren Mechanismen bzw. Auswirkungen auf den eigenen Körper Bescheid weiß.