Die Rotbauchdrossel und das Strandgirl
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Die Rotbauchdrossel und das Strandgirl
Die Rotbauchdrossel und das Strandgirl Die Inspiration zu dem Welthit The Girl from Ipanema verdankt sich zwar einer realen Muse, doch es spricht einiges dafür, dass hier auch der Kehlkopf eines gleichermaßen realen Vogels mit im Spiel war. Doch der Reihe nach. Das Bossa-Nova-Stück Garota de Ipanema (so der brasilianische Originaltitel) ist das Werk zweier Freunde, die viele Bossa-Nova-Lieder zusammen geschrieben haben: Die Musik stammt von der brasilianischen Musiklegende Tom Jobim, den Text verfasste das brasilianische Multitalent Vinicius de Moraes (er war Dichter, Sänger, Komponist, Journalist und Diplomat). Die beiden waschechten cariocas (so werden die Einwohner von Rio de Janeiro im Brasilianischen genannt) trafen sich häufig in der Bar Veloso (heute: Garota de Ipanema) in Rio de Janeiros Südzone, die für ihre Strände Copacabana, Ipanema und Leblon weltberühmt ist. Im Winter 1962 sahen sie während ihrer Besuche in der besagten Bar viele Male eine junge Schönheit des Stadtviertels namens Heloísa Eneida Menezes Paes Pinto Pinheiro (kurz: Helô Pinheiro) vorbeigehen. Das 19jährige, 1,62 Meter große Mädel mit grünen Augen und langen glatten schwarzen Haaren wohnte just in der Straße, in der sich auch die Bar Veloso befand, und kam auf ihrem Weg zum Strand, zur Schule, zum Zahnarzt usw. nicht nur häufig dort vorbei, sondern sie ging auch oft hinein, um Zigaretten für ihre Mutter zu kaufen, wobei ihr Hinausgehen stets von einem engagierten Pfeifkonzert der männlichen Gäste begleitet wurde, die damit ihrer Physis Anerkennung zollten. Eine lediglich auf dem landesüblichen Pfeifen basierende Huldigung dieses sonnengebräunten Prachtfräuleins kam für unsere beiden höchst kreativen Musiker freilich nicht in Betracht, sie widmeten ihr gleich einen der bekanntesten und meistinterpretierten Songs aller Zeiten, zu dem sie durch sie inspiriert wurden. Was die Melodie des Liedes anbelangt, so behauptete vor einigen Jahren der Pianist João Donato, eine weitere Größe der brasilianischen Musikszene, Tom Jobim habe diese dem Gesang eines Vogels abgelauscht, wobei es sich nicht um irgendeinen Vogel handelt, sondern um einen Sabiá (eine Singdrossel), genauer gesagt um den Sabiá-laranjeira (Turdus rufiventris; deutsch: Rotbauchdrossel), der im Jahre 2002 offiziell zum Nationalvogel Brasiliens auserkoren wurde. Als ich Donatos These zur Kenntnis nahm,1 war ich zunächst sehr erstaunt 1 Sie ist nachzulesen in dem wunderbaren Buch von Marc Fischer: Hobalala. Auf der Suche nach João Gilberto, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2012, S. 59f. Der deutsche Autor und Bossa-Nova-Enthusiast Marc Fischer befasste sich jedoch nicht weiter mit dieser Theorie, denn er verfolgte mit großer Leidenschaft und Akribie die Spuren von João Gilberto, des geheimnisvollen Gitarristen und Sängers, der neben Tom Jobim als der Begründer der Bossa Nova gilt, und der seit vielen Jahren beinahe völlig isoliert von der Außenwelt in einem Apartment in Rio de Janeiro als Mythos lebt. 1 und eher ungläubig, zumal in Ruy Castros Buch Chega de saudade,2 der mit Abstand besten und detailreichsten Darstellung der Geschichte der Bossa Nova, absolut gar nichts über eine ornithologische Herkunft dieser weltbekannten Melodie zu lesen ist.3 Als ich mir jedoch einmal zahlreiche Aufnahmen von Gesängen der Rotbauchdrossel aus Brasilien anhörte, stellte ich fest, dass tatsächlich einige Liedchen bzw. Passagen darunter waren, die eine ziemlich große Ähnlichkeit mit dem Girl from Ipanema hatten und somit also durchaus als Inspirationsquelle in Frage kämen. Wenn man zudem berücksichtigt, dass es nach Aussage des brasilianischen Ornithologen Johan Dalgas Frisch keine zwei Rotbauchdrosseln gibt, die auf die gleiche Weise singen, Tom Jobim also durchaus Gesängen gelauscht haben könnte, die sogar noch stärker an das Girl from Ipanema erinnern als jene, die ich im Rahmen meiner Stichprobe gehört habe, und wenn man darüber hinaus in Rechnung stellt, dass der Komponist ein leidenschaftlicher Naturfreund war, der in Rio sehr oft den Botanischen Garten besuchte, wo viele Rotbauchdrosseln ihre Lieder erklingen lassen, dann erscheint die Aussage seines Musikerkollegen Donato durchaus als plausibel – das Lied Brasiliens schlechthin, seine die weibliche Schönheit feiernde Sommer-Sonne-Strand-„Nationalhymne“, die um die Welt ging, hätte der größte Komponist des Landes somit – bewusst oder unbewusst – nach den Sangeskünsten des Nationalvogels komponiert. Dies wäre jedoch keineswegs der einzige „Auftritt“ des Sabiá im Kulturgut des Tropenlandes, denn dieser so überaus melodienreiche Piepmatz begegnet häufig in der brasilianischen Literatur als der Vogel, dessen Gesang für die Liebe, den Frühling, die Heimat, die Kindheit, die schönen Seiten des Lebens steht. Als der brasilianische Dichter Gonçalves Dias Mitte des 19. Jahrhunderts im portugiesischen Coimbra weilte, um dort Jura zu studieren, plagte ihn die Sehnsucht nach seiner Heimat, und er verfasste sein Gedicht Canção do Exílio (Lied aus dem Exil), eines der bekanntesten Poeme der brasilianischen Literatur, dessen erste Strophe lautet: Minha terra tem palmeiras, Onde canta o Sabiá; As aves, que aqui gorjeiam, Não gorjeiam como lá. In meiner Heimat stehen Palmen, in denen der Sabiá sein Lied singt; die Vögel, die hier singen, singen nicht so wie dort. (Übersetzung: Stefan Barme) Im Jahre 1968, also während der Zeit der brasilianischen Militärdiktatur (1964–1985), schrieb Tom Jobim (Musik) gemeinsam mit Chico Buarque (Text) das Lied Sabiá, nach meinem 2 Ruy Castro: Chega de saudade. A história e as histórias da Bossa Nova, São Paulo, Companhia das Letras, 2008; dieses Standardwerk wurde erfreulicherweise ins Deutsche übersetzt: Ruy Castro: Bossa Nova – The sound of Ipanema. Eine Geschichte der brasilianischen Musik, Innsbruck, Hannibal Verlag, 2011. 3 Auch eine ausgiebige Internetrecherche auf Brasilianisch führte zu keinem Fund. 2 Geschmack eines der schönsten Lieder der gesamten brasilianischen Musikgeschichte – aber wie sollte es auch anders sein, wenn zwei Genies kooperieren: Tom Jobim hat hier eine sehr anspruchsvolle, abwechslungsreiche und wunderbar melancholische Melodie ersonnen, und Chico Buarque, der nicht nur ein grandioser Komponist und Sänger, sondern auch ein begnadeter Autor ist, hat einen wundervollen poetischen Text beigetragen. Sabiá (Tom Jobim/Chico Buarque): Vou voltar Sei que ainda vou voltar Para o meu lugar Foi lá e é ainda lá Que eu hei de ouvir cantar Uma sabiá Cantar o meu sabiá. Ich werde zurückkehren Ich weiß, dass ich zurückkehren werde Zu meinem Ort Wo ich wie einst wieder Singen hören werde Einen Sabiá Den Gesang meines Sabiá. Vou voltar Sei que ainda vou voltar Vou deitar à sombra De uma palmeira Que já não há Colher a flor Que já não dá E algum amor Talvez possa espantar As noites que eu não queria E anunciar o dia. Ich werde zurückkehren Ich weiß, dass ich zurückkehren werde Ich werde mich im Schatten Einer Palme ausstrecken Die es nicht mehr gibt Die Blume pflücken Die nicht mehr blüht Und irgendeine Liebe Kann vielleicht die Nächte Vertreiben, die ich nicht will Und den Tag ankündigen. Vou voltar Sei que ainda vou voltar Não vai ser em vão Que fiz tantos planos De me enganar Como fiz enganos De me encontrar Como fiz estradas De me perder Fiz de tudo e nada De te esquecer. Ich werde zurückkehren Ich weiß, dass ich zurückkehren werde Es wird nicht umsonst sein Dass ich so viele Pläne machte Um mich selbst zu täuschen So wie ich Irrtümer beging Auf der Suche nach mir selbst So wie ich herumirrte Um mich zu verlieren Ich tat alles und nichts Um Dich zu vergessen. (Übersetzung: Stefan Barme) Im September 1968 wurde diese Komposition auf einem Liederfestival in Rio de Janeiro präsentiert, wo sie mit einem 23 Minuten anhaltenden Pfeifkonzert bedacht wurde, denn das Publikum begeisterte sich für ein anderes Lied, eines, das sich explizit gegen die Militärdiktatur richtete, ja sogar als Aufruf zum bewaffneten Kampf gegen selbige interpretiert wurde. Die Militärs sorgten natürlich dafür, dass dieser Beitrag nicht gewählt 3 wurde, und so landete Sabiá auf dem ersten Platz. Dass dieser Song beim Publikum auf eine so starke Ablehnung stieß, hatte vor allem den folgenden Grund: Nachdem Tom Jobim und Chico Buarque das Lied fertiggestellt hatten, begab letzterer sich auf Reisen, und Jobim, der der Auffassung war, dem Lied täte noch eine weitere Strophe gut, ergänzte in dessen Abwesenheit rasch ein paar Zeilen, was er besser nicht getan hätte, denn hauptsächlich wegen dieser hinzugefügten Strophe (die anschließend wieder entfernt wurde) empfand das FestivalPublikum den Beitrag als eskapistisch: „ich werde zurückkehren, um zu bleiben, ich weiß, dass die Liebe existiert, ich bin nicht mehr traurig, das neue Leben wird beginnen“. Betrachtet man hingegen die vorangehenden Strophen aus der Feder von Chico Buarque, erkennt man, dass diese keineswegs die Augen vor der Realität verschließen. Als Chico Buarque den Text schrieb, befand er sich zwar noch nicht im Exil, doch angesichts der Militärdiktatur war der Gedanke daran natürlich naheliegend (nur ein Jahr später, 1969, sah Buarque sich gezwungen, Brasilien für einige Zeit zu verlassen, und ging nach Italien), und so lässt er in Sabiá ein imaginiertes lyrisches Ich, das sich im Exil befindet, über die ferne Heimat Brasilien sprechen, die ihm in so vielerlei Hinsicht fremd geworden ist. Ebenso wie in dem Gedicht von Gonçalves Dias begegnen uns auch in dem Liedtext Palmen und der Gesang des Sabiá, doch während in dem Poem eine ausschließlich optimistisch gefärbte Sehnsucht nach der prächtigen, blühenden Heimat Brasilien (wo es so viel schöner sei als in Portugal) zum Ausdruck gebracht wird, treffen wir in Chico Buarques Strophen eine mit Trauer und Melancholie gepaarte Sehnsucht an, denn das „alte“, vom lyrischen Ich so geliebte Brasilien wurde zerstört: Ich werde mich im Schatten Einer Palme ausstrecken Die es nicht mehr gibt Die Blume pflücken Die nicht mehr blüht Der poetische Sprecher betont, dass die Werte, die Vorzüge Brasiliens vernichtet wurden, aber dennoch hegt er die Hoffnung, dass er in die Heimat zurückkehren wird und dass sich dort die einstigen, von ihm so sehr vermissten Verhältnisse wieder herstellen werden, wobei der Sabiá, der Gesang des Sabiá, das frühere, schöne Brasilien symbolisiert: „Ich werde zurückkehren, ich weiß, dass ich zurückkehren werde, zu meinem Ort, wo ich wie einst wieder singen hören werde einen Sabiá, den Gesang meines Sabiá“. 4