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Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Max Planck Institute for the History of Science Preprint 372 2009 CHRISTOF WINDGÄTTER Ansichtssachen Zur Typographie- und Farbpolitik des Internationalen Psychoanalytischen Verlages (1919–1938) Erscheint leicht gekürzt in: Typographie und Literatur Beihefte zu TEXT. Kritische Beiträge 1 Hg. von Thomas Rahn und Rainer Falk Frankfurt/M. (Stroemfeld) 2010 „Rien ne mène à la parfaite barbarie plus sûrementqu’un attachment exclusif à l’esprit pur“1 Der Dichter stellt fest: Es ist eine ganz einfache Thatsache des Verstandes, daß derjenige, der [...] zu verkaufen, zu vertauschen, zu verhandeln hat, sagen müsse, daß und was er zu verschleißen wünsche, oder die Sachen selber zur Ansicht auslege: jedoch nicht so ganz einfach scheint es, daß diese Auslagen und Ankündigungen nicht nur den Zweck haben, daß d e r kaufe, der will, sondern vielmehr und eigentlich den, daß d e r kaufe, der n i c h t will. [...] [Außerdem lehrt d]ie Erfahrung, daß namentlich die Waarenauslagekästen immer mehr und mehr werden, so daß an gewissen Plätzen Wiens buchstäblich streckenlang kein einziges Mauerstückchen des Erdgeschoßes zu sehen ist, sondern lauter an einander gereihte, elegante, hohe Gläserkästen, in denen das Ausgesuchteste funkelt und lockt. [...] Da ist die Schnittwaarenhandlung, und vor ihr, wie ein wahres Farbengetümmel, hinter glänzendem Spiegelglase die Stoffe aus Seide, aus Wolle, aus Baumwolle [...]; dann ist der Spitzenhändler mit seinem spinnenfadigen luftweichen Zeugs; dann die Blechwaarenhandlung mit allen erdenklichen bekannten und unbekannten Gefäßen und Leuchten und Klammern und Lampen, in gelben, weißen, grünen und anderen Farben, dann die Buchhandlung mit den Kunstwerken der Typographie und des Grabstichels – der Juwelier mit seinen edlen Waarenstücken. [...] Freilich muß ich als ein aufrichtiger Schriftsteller eingestehen, daß auch hier allerdings eine Art Aufschneiderei möglich ist, die aber eben so gut im Schönheits- und Harmoniesinne ihren Grund haben mag, als in etwas Anderem, und jedenfalls dem Verkäufer nicht zur Last fallen kann, da der Käufer die Sache ja sieht, und er sich selber zuschreiben muß, wenn er so unvernünftig ist, von außerwesentlichen Nebendingen, die die Pracht der Erscheinungen darstellen helfen, nicht abstrahieren zu können.2 So Adalbert Stifter 1844, nicht weniger fasziniert als alarmiert von den Entwicklungen des Wiener Auslagen- und Werbewesens seiner Zeit. Dabei dürfte ihm dergleichen nicht gänzlich fremd gewesen sein: Als Händler-Sohn stand er in den 1840er Jahren ja nicht nur vor seinem literarischen Durchbruch, sondern nach mehreren Pfändungen in seinem Haushalt auch vor dem finanziellen Ruin. Angeblich neigte seine Frau Amalie zur Verschwendungssucht. Es ist meines Wissens nicht überliefert, ob die funkelnden Schaukästen am Graben, dem Kohlenmarkt oder der Kärntnerstraße zu dieser Kalamität beigetragen haben, auch wenn 1 Paul Valéry, Livres [1923], in: Ders., Œuvres, hrsg. von Jean Hytier, Bd. II (Paris 1960), S. 1251–1252, hier S. 1251. 2 Adalbert Stifter, Warenauslagen und Ankündigungen [1844], in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 15, Vermischte Schriften, zweite Abteilung, hrsg. von Gustav Wilhelm. (Reichenberg 1935), S. 167–180, hier S. 167, 170, 176 f. 2 Stifter selber „die Menschen“ in Gegenwart „solcher Anfechtungen“ stets für „verloren“ hielt;3 sicher aber ist, dass Schaufenster zu dieser Zeit im Straßenleben der europäischen Metropolen noch relativ neu gewesen sind. Die Perspektive Die Geschichte des Schaufensters beginnt, von wenigen Ausnahmen abgesehen,4 um 1800 mit der Frontverglasung einzelner Luxusgeschäfte: Aus den Tiefen der Innenräume, Regale, Magazine und Werkstätten heraus rücken dadurch die Waren in den Vordergrund vitrinenartig ausgebauter Fenster. Um 1830, durch Verbesserungen in der Glasherstellung und die Entstehung des Ingenieurswesens unterstützt,5 breitet sich die neue Ladenarchitektur dann im städtischen Kleinhandel aus; ist aber erst in den 1890er Jahren zu dem bis heute bekannten Massenphänomen geworden.6 Jetzt sind es, wie schon bei Stifter gelesen, die vorgebauten Gläserkästen oder Schaufronten mit ihren versprossten Fenstern, die sich an den Plätzen, Boulevards und Straßen der europäischen Metropolen etabliert haben. Abb. 1: Gläserkästen und versprosste Schaufenster in Wien um 1840. Aus: Seÿffert, Werbelehre (Anm. 4), S. 919 f. 3 Stifter, Warenauslagen und Ankündigungen, (Anm. 2), S. 172, 174. Vgl. Dirk Reinhardt, Von der Reklame zum Marketing. Geschichte der Wirtschaftswerbung in Deutschland, (Berlin 1993), S. 269 ff. bzw. Rudolf Seÿffert, Werbelehre. Theorie und Praxis der Werbung (Stuttgart 1966), S. 912 f., die von „mittelalterlichen Kaufgewölben“ mit „horizontal aufklappbaren Holzläden“ und von „Schautischen“ im 17. Jahrhundert berichten. 5 Erst jetzt wird es überhaupt möglich, blasenfreies, ungetrübtes und also durchsichtiges Glas in größeren Abmessungen herzustellen. Vgl. Reinhardt, Reklame, (Anm. 4), S. 269. 6 Vgl. Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850–1914 (München 1999), S. 573 f.; Peter Borscheid, Am Anfang war das Wort. Die Wirtschaftswerbung beginnt mit der Zeitungsannonce, in: Ders., Clemens Wischermann (Hrsg.), Bilderwelt des Alltags. Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts (Stuttgart 1995), S. 20–43, hier S. 29 f. 4 3 Einer Notiz Benjamins zufolge taucht in dieser Zeit auch die „Reklame“ als Wort und unübersehbare Tatsache in den urbanen Zentren auf.7 Ab den 1850er Jahren nämlich, nach dem Übergang von der Zunft- zur Marktwirtschaft, treten konkurrenzbetonte Handelsformen in den Vordergrund, die sich sehr schnell in einer Eskalation werblicher Aktivitäten und einer Ausdifferenzierung der daran beteiligten oder auch eigens dazu erfundenen Medien bemerkbar machen.8 Wie später nur noch die Ornamente des Jugendstils überwuchern seither Texte, Symbole, Plakate, Lichtkörper oder (emaillierte) Schilder die Fassaden, Säulen und Vitrinen der Geschäfts- und sogar der Wohnhäuser. Abb. 2: Wiener Wohnhaus im XI. Bezirk mit Außenwerbung, 1904/5. Aus: Susanne Winkler (Hrsg.), August Stauda. Ein Dokumentarist des alten Wien (Wien 2004), S.39. Nicht selten waren damals auch „ganze Kolonnen von ‚Zettelpappern’ unterwegs, um die leeren Giebelwände mit Schriftplakaten zum Sprechen zu bringen“.9 Aber man sieht Reklame gleichermaßen an den Straßenbahnen und Bussen, an Zäunen, Mauern oder in Form sog. 7 Walter Benjamin, Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts [1935], in: Ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. V/1 (Frankfurt/M. 2003), S. 45–59, hier S. 51, 59. Vgl. auch Stefan Haas, Sinndiskurse in der Konsumkultur. Die Geschichte der Wirtschaftswerbung von der ständischen bis zur postmodernen Gesellschaft, in: Michael Prinz (Hrsg.), Der lange Weg zum Überfluss. Anfänge und Entwicklung der Konsumgesellschaft seit der Vormoderne (Paderborn, München, Wien 2003), S. 292, 294 f.: „In der Vormoderne gibt es keine Produktwerbung, die jene der entwickelten Marktwirtschaft vergleichbar wäre. [...] Die eigentliche Geschichte der Werbung beginnt mit dem Industriezeitalter, mit der Aufhebung des Zunftzwanges zu Beginn des 19. Jahrhunderts und der Etablierung eines freien Unternehmertums. [...] Mit Annoncen war das erste Prinzip der modernen Werbung zur Mitte des 19. Jahrhunderts etabliert.“ 8 Reinhardt, Reklame, (Anm. 4), S. 169 ff.; Borscheid, Am Anfang war das Wort, (Anm. 6), S. 21 ff.; Haas, Sinndiskurse in der Konsumkultur, (Anm. 7), S. 294 f. 9 Borscheid, Am Anfang war das Wort, (Anm. 6), S. 37. „Auch die frühe Litfaßsäule glich vollgeklebt einer riesigen Schriftwalze“. Ebd., S. 38. 4 „Sandwichmänner“10, die mit betexteten und/oder bebilderten Papptafeln behängt durch die Geschäftsviertel spazierten. „Die Schrift“, kommentiert Benjamin, wird unerbittlich von Reklamen auf die Straße hinausgezerrt [...]. Wenn vor Jahrhunderten sie allmählich sich niederzulegen begann, von der aufrechten Inschrift zur schräg auf Pulten ruhenden Handschrift ward, um endlich sich im Buchdruck zu betten, beginnt sie nun ebenso langsam sich wieder vom Boden zu heben.“11 So wird die Stadt zu einer Art Graphosphäre, wenn damit, Benjamin weiter folgend, eine Schrift gemeint ist, die „immer tiefer in das graphische Bereich ihrer neuen exzentrischen Bildlichkeit vorstößt“. Abb. 3: Werbung für ein neues Werbemittel: die Anschlag-Säule von Ernst Litfaß in Berlin, 1855. Aus: Reinhardt, Reklame, (Anm. 4), S. 47. Daneben Sandwichmänner bei der Arbeit. Aus: Bäumler, Die Kunst zu werben, (Anm. 10), S. 107. Die veränderte Ordnung des städtischen Raumes jedenfalls geht einher mit veränderten Formen der Öffentlichkeit und der Veröffentlichung. Nicht zuletzt ‚Schaufensterbummeln’, ‚lécher les vitrines’ oder ‚window-shopping’ gehören seither zur Alltags- und Freizeitbeschäftigung keineswegs nur bürgerlicher Schichten. Immer wieder werden sie angezogen von der endlosen Parade der Gläserkästen, die dann gegen 1900, ermöglicht durch gusseiserne Konstruktionen und die Einführung der Elektrobeleuchtung,12 in den spektakulären, weil großflächig durchbrochenen Fassaden der Warenhäuser gipfeln.13 10 Reinhardt, Reklame, (Anm. 4), S. 242 f. Ebenso Susanne Bäumler, Sandwichmänner und fahrende Schreibmaschinen, in: Dies. (Hrsg.), Die Kunst zu werben. Das Jahrhundert der Reklame (München 1996), S. 107–113. 11 Walter Benjamin, Passagen, Magasins de nouveautés, calicots, in: Ders., Gesammelte Schriften, (Anm. 7), S. 103. Ebenso das direkt folgende Zitat. Nur wenige Oberflächen der Stadt sind in dieser Zeit keine Werbeträger geworden; einschließlich des Himmels durch sog. „Wolkenschreiber“. Vgl. Haas, Sinndiskurse in der Konsumkultur, (Anm. 7), S. 301. 12 In Wien etwa wurden seit 1818 in ausgewählten Straßenzügen (Krugerstraße, Walfischgasse, Kärntner Straße) Gaslaternen aufgebaut, die aber wegen Betriebsstörungen schon wenige Monate später abgestellt werden mussten. Ein zweiter, diesmal erfolgreicher Versuch konnte erst 1826 wieder unternommen werden: mit 15 Gaslampen in der Teinfaltstraße, der Löwelstraße und auf der Josefstädter Brücke. Kurz darauf errichtete der Apotheker und Chemiker Dr. Georg Pfendler in der Roßau das erste Wiener „Gaserzeugungs-Etablissement“. Unter seiner Direktion wurde 1834 auch das erste Teilstück einer 1,2 km langen Gasrohrleitung verlegt (von 5 Abb. 4: Fassade des Warenhauses Tietz in Berlin, Leipziger Straße. Damit entwickelt sich das Schaufenster, wie Weibel und Pakesch schreiben, zum „visuellen Enviroment“ der Moderne, das nicht nur ein „Kernstück des Urbanismus“ darstellt, sondern auch als „Kommunikationserreger“ zwischen Passanten und Waren, Straßen und Läden, Wünschen und Wirklichkeiten funktioniert.14 Wenig überraschend ist daher Stifters Ambivalenz angesichts des neuen Auslagewesens, das ja im Laufe des 19. Jahrhunderts neben Schreibtischen und Bibliotheken zu einem privilegierten Ort auch der Bücher zu werden beginnt: Einerseits sind da die ökonomischen und informationspraktischen Möglichkeiten, die sich durch das Vorzeigen der Waren ergeben, verbunden mit den bekannten städtebaulichen und verkehrspraktischen Roßau über das Glacis zum Schottentor bis in die Herrengasse). Bis 1850 gelang es dann, in der Inneren Stadt 564 ganznächtige und 494 halbnächtige Gasflammen aufzustellen. Die Gesamtversorgung Wiens mit Gas wurde aber erst 1912 erreicht: mit nunmehr 37.000 Laternen, die von über 600 Laternenwärtern bedient und gewartet werden mussten. In Konkurrenz dazu setzte 1882 die Elektrifizierung der österreichischen Hauptstadt ein, als erste „Bogenlampen“ (gebaut von Siemens & Halske) den Graben sowie einem Teil des Stephanplatzes beleuchteten. Bis zum Ende des Jahrhunderts freilich blieb elektrisches Licht ein Luxusgut und konnte daher auch in Schaufenstern die Gasbeleuchtungen nur langsam verdrängen – bis zur „Helligkeitseuphorie“ der 1920er Jahre. Vgl. www.wiener-gasometer.at/de/geschichte/index.html bzw. www.wien.gv.at/licht/gesch.htm. 13 Vgl. Peter Weibel, Peter Pakesch (Hrsg.), Künstlerschaufenster. Katalog zu „Kunst im Schaufenster“ (Graz 1980), S. 11 f.; Osterwold, Schaufenster (Anm. 18), S. 26 ff.; Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert (Frankfurt/M. 2004), S. 141: „Als um 1850 die Herstellung großflächiger Scheiben und damit eine Glasfront möglich würde, die [...] als ununterbrochene Glasmasse von der Decke bis zum Boden reichte, veränderte das die Erscheinungsweise der dahinter ausgestellten Waren.“ Vgl. auch die bisher einzige deutschsprachige Schaufenster-Monographie, der die vorliegenden Ausführungen zahlreiche Anregungen verdanken: Nina Schleif, SchaufensterKunst. Berlin und New York (Köln 2004), hier S. 16 ff. 14 Weibel, Pakesch, Künstlerschaufenster, (Anm. 13), S. 5, 7, 9; Osterwold, Schaufenster (Anm. 18), S. 6. Von Schleif, SchaufensterKunst, (Anm. 13), S. 11 wird das Schaufenster als „prägendes Merkmal der Kultur der Moderne“ bezeichnet. 6 Implikationen; auf der anderen Seite aber gilt es auch, mit dem Auftauchen und der Verbreitung der Schaufenster eine bisher unbekannte Verführungsmacht zu Kenntnis zu nehmen, die allemal in der Lage ist, die Vernunft und Urteilskraft des redlichen Bürgers zu unterlaufen. „Der erste Geschäftsmann“, weiß Stifter zu berichten, „war die Schlange im Paradiese“, indem sie „Waaren, die unsere Leidenschaft und Begierde reizen, in Natura herumbreitete, und mitten darunter saß“.15 Nicht anders im Wien seiner Zeit: Wenn sich gläserne Vitrinen als Anfechtungen des Willens erweisen, wenn beleuchtete Fenster (erst recht bei Nacht) Alltagsgegenstände in Objekte des Begehrens verwandeln, wenn aus der Information über Angebote raffinierte Inszenierungen werden, ist höchste Vorsicht geboten. Der Blick in den Straßen und auf die Stadt gerät da „durch alle Stände und Alter“ hindurch zu einem riskanten Unterfangen;16 jederzeit in der Gefahr, unbeherrschte, ja unbeherrschbare Kaufakte auszulösen. „Die Schriftzeichen“, erklärt 1910 der Plakatkünstler Ernst Growald, „wollen nicht mehr auf ihren verborgenen Sinn befragt werden, sondern sich der Sinne großstädtischer Passanten bemächtigen.“17 Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, kann man daher sagen, ist der Flaneur zum Voyeur geworden; oder: In den Straßen der europäischen Metropolen wird der zunächst noch souveräne, dann nur noch melancholische Beobachter vom Passanten als Kunden verdrängt, den die Reize der Waren durch die Lochfassaden der Häuser wie in einer Peep-Show attackieren.18 Abb. 5: Reize hinter Glas; hier mit Spiegelung André Bretons im Schaufenster des New Yorker Gotham Book Mart, 1944. In: Leonhard S. Marcus, The American Store Window (London, New York 1978), S. 37. 15 Stifter, Warenauslagen und Ankündigungen, (Anm. 2), S. 167 f. Ebd., S. 171. 17 Ernst Growald, Der Plakat-Spiegel. Erfahrungssätze für Plakat-Künstler und Besteller (Berlin 1910), S. 16. „Gute Plakate brauchen nicht gelesen, sie müssen gesehen werden.“ Ebd., S. 13. 18 Marcel Duchamp hat 1913 von einem „Koitus durch die Glasscheibe hindurch mit einem oder mehreren Objekten“ gesprochen. Zit. nach Schleif, SchaufensterKunst, (Anm. 13), S. 91. Zur Sexualisierung des Schaufensters und vor allem der Schaufensterpuppen vgl. außerdem Weibel, Pakesch, Künstlerschaufenster, (Anm. 13), S. 7, 14; Tilman Osterwold, Schaufenster. Die Kulturgeschichte eines Massenmediums (Stuttgart 1974), S. 176 ff.; Jean-Paul Bouillon, The Shop Window, in: Jean Clair (Hrsg.), The 1920s. Age of the Metropolis (Montreal 1991), S. 162–181, hier S. 169, 181. 16 7 Dabei ist es weniger der moralische Aspekt, durch den sich Stifters Feststellung hier auszeichnet, auch nicht deren konsumkritische oder kulturpessimistische Tendenz,19 interessanter dürfte vielmehr sein, dass der Dichter des Biedermeier ein epistemologisches Vorurteil aufruft, das zum Teil bis in unsere Gegenwart hinein wirksam ist. Dieses Vorurteil besagt: Eine Sache kann durch ihre äußere Erscheinung zwar die Un/Lust der Betrachter oder Benutzer hervorrufen, gleichzeitig aber soll diese Äußerlichkeit nur ein ‚außerwesentliches Nebending’ sein, da es im Bereich des Ästhetischen bzw. des Sinnlichen angesiedelt ist. Und liest man genau, dann impliziert Stifters Formulierung gar eine doppelte Abwertung und Hierarchie: Die Pracht der Erscheinung nämlich ist nicht nur nicht wesentlich, sondern außerdem auch kein Hauptding. Ganz einerlei, wie man dieses Vorurteil weiter beschreiben möchte, ob als „Sekundarität des Signifikanten“ oder „Neutralisierung des Diskurses, ob als „Vergessen des Mediums“ oder „Imperialismus des Logos“,20 bekanntlich gibt es aktuelle Theoriebildungen, die dieses Vorurteil demontiert, auf den Kopf gestellt und schließlich aufgegeben haben. Gemeinsamer Ausgangspunkt dürfte eine allgemeine Kritik des Zeichens als Stellvertretung, Repräsentation oder Wiederholung gewesen sein; einer Ordnungsvorstellung also, nach der Oberflächen durchdrungen, Geheimnisse enthüllt oder Hintergründe aufgedeckt werden müssen. Man konnte deswegen auch von einem „antihermeneutischen Impuls“ dieser Unternehmungen sprechen, mit dem Ziel fortan auf semiotische und interpretatorische Modelle zu verzichten.21 Stattdessen, und auch das ist längst keine Nischen- oder Dissidentenforschung mehr, hat man begonnen, sich mit den materialen Kulturen des Wissens zu beschäftigen, die nach einer initiierenden Formel Foucaults nur als „Denken des Außen“22 zu erreichen sind: eines Außen allerdings, das weder dialektisch noch ideographisch noch sonstwie Ausdruck, Anwendung oder Abweichung eines ‚Innen’ darstellt,23 sondern eigenen, ebenso irreduziblen wie historisch variablen Regeln folgt. In den Worten Bruno Latours: 19 Immerhin gibt es Dichterkollegen wie Charles Baudelaire, die dem Schaufenster als „Zauber“- oder „Paradiesscheiben“ eine utopische, weil den Gebrauchscharakter der Waren transzendierende Wirkung zuweisen. Entsprechend heißt es dann über die belgische Hauptstadt: „Keine Schaufenster. Die Flanerie, die von Völkern mit Phantasie geliebt wird, ist in Brüssel nicht möglich. Es gibt nichts zu sehen und die Straßen sind unbenutzbar.“ Zit. nach Walter Benjamin, Das Paris des Second Empire bei Baudelaire [1938], in: Ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I/2 (Frankfurt/M. 1991), S. 513–604, hier S. 552. Vgl. auch Paul Scheerbart, Glasarchitektur (Berlin 1914), S. 137, der die neue „Glaskultur“ zur Bedingung für den „neuen Menschen“ erklärt. 20 Jacques Derrida, Grammatologie [1967] (Frankfurt/M. 2001), S. 17; Michel Foucault, Archäologie des Wissens [1969] (Frankfurt/M. 1998), S. 72; Marshall McLuhan, Understanding Media. The Extensions of Man (New York, London 1964), S. 19. Vgl. auch Christof Windgätter, Medienwechsel. Vom Nutzen und Nachteil der Sprache für die Schrift (Berlin 2006), S. 55 f. 21 Georg Witte, Textflächen und Flächentexte. Das Schriftsehen der literarischen Avantgarde, in: Gernot Grube, Werner Kogge, Sybille Krämer (Hrsg.), Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine (München 2005), S. 375–396, hier S. 378; David Wellbery, Die Äußerlichkeit der Schrift, in: Hans Ulrich Gumbrecht, Ludwig K. Pfeiffer (Hrsg.), Schrift (München 1993), S. 337–348, hier S. 337 f.; neuerdings auch Dieter Mersch, Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis (München 2002), S. 15, 18 bzw. Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz (Frankfurt/M. 2005), S. 9. 22 Michel Foucault, Das Denken des Außen [1966], in: Ders., Von der Subversion des Wissens (Frankfurt/M. 1987), S. 46–68, hier S. 46; Wellbery, Die Äußerlichkeit der Schrift (Anm. 21), S. 342. 23 So klassischerweise bei G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes [1807], hrsg. von Hans-Friedrich Wessels und Heinrich Clairmont (Hamburg 1988), S. 47 f., 208 f.; in neuerer Zeit aber auch Wolfgang Raible, Von der Textgestalt zur Texttheorie. Beobachtungen zur Entwicklung des Text-Layouts und ihren Folgen, in: 8 Procedures to authorize and legitimize are important, but it’s only half of what is needed to assemble. The other half lies in the issues themselves, in the matters that matter [...].24 Jenseits einer (Re-)naturalisierung des Wissens also geht es um Frage nach der Kodierung von Substanzen, um „geformte Materien“ Deleuze und Guattari folgend, die dadurch Gegenstand und Gesetz, Materie und Matrize, die Dinge und ihr Design in einer gemeinsamen Perspektive verbinden.25 Ein solches Denken hat in den vergangenen Jahrzehnten zweifellos einen massiven Theorieschub ausgelöst und eine beeindruckende Vielfalt an Forschungen hervorgebracht. Dabei wurde diese Intervention, wie Wellbery retrospektiv festgestellt hat, zumeist unter dem Vorzeichen der Schrift ausgetragen.26 Über „l’avenèment de l’écriture“ war ja bereits 1967 bei Derrida zu lesen.27 Eine Wendung, nicht selten zum Paradigmenwechsel erhoben, die zunächst über die Strukturalität und die Spur, dann über Aufschreibetechniken, Inskriptionen und Schriftbilder sowie neuerdings über die Gesten und Praktiken des Notierens fortgeschrieben wurde.28 Kennzeichen dieser Debatten ist allerdings nicht nur deren Heterogenität, sondern auch der Umstand, dass dabei nur selten zwischen Skriptographie und Typographie, d.h. zwischen Feder-, Maschinen- und Druckschrift unterschieden wurde. Was auch immer die Gründe dafür sein mögen, bemerkenswert ist die Konsequenz dieser Unschärfe, durch die nämlich das Buch bzw. die Drucksache allmählich in einen historiographischen Randbereich gedrängt wurde. Wissenschafts- und mediengeschichtlich jedenfalls scheint es heute leichter, über das Davor und Danach von Büchern, also über handschriftliche oder elektronische Medien zumal in Laboren, Schreibstuben oder Netzwerken zu forschen. Und selbst die üblicherweise für bedrucktes Papier zuständigen Disziplinen (von der Literatur- und der Buchwissenschaft über die Paläographie bis zur Kunstgeschichte) haben ihre Gegenstände nur selten unter epistemologischen, weil zumeist anthropologischen, gewerblichen oder ästhetischen Gesichtspunkten behandeln.29 Peter Koch, Sybille Krämer (Hrsg.), Schrift, Medien, Kognition. Über die Exteriorität des Geistes (Tübingen 1997), S. 29–41, hier S. 29, 31; Sybille Krämer, Kann das ‚geistige Auge' sehen? Visualisierung und die Konstitution epistemischer Gegenstände, in: Bettina Heintz, Jörg Huber (Hrsg.), Mit dem Auge denken: Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten (Zürich, Wien, New York 2001, S. 347-365, hier S. 353; dies., ‚Schriftbildlichkeit’. Oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift, in: Sybille Krämer, Horst Bredekamp (Hrsg.), Bild, Schrift, Zahl (München 2003), S. 156–176, hier S. 161, 167. 24 Bruno Latour, From Realpolitik to Dingpolitik. Or How to Make Things Public, in: Ders., Peter Weibel (Hrsg.), Making things public. Atmospheres of democracy (Cambridge, Mass. 2005), S. 14–41, hier S. 16, 24. 25 Gilles Deleuze, Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie [1980] (Berlin 1992), S. 64 f. 26 Vgl. Wellbery, Die Äußerlichkeit der Schrift, (Anm. 21), S. 337 f. 27 Derrida, Grammatologie (Anm. 20), S. 16. 28 Vgl. insbes. Derrida, Grammatologie (Anm. 20); Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme 1800–1900 [1985] (München 1995); Sabine Groß, Lesezeichen. Kognition, Medium und Materialität im Leseprozeß (Darmstadt 1994); Hans-Jörg Rheinberger. Iterationen [1992 ff.] (Berlin 2005); Stephan Kammer, Reflexionen der Hand. Zur Poetologie der Differenz von Schreiben und Schrift, in: Davide Giuriato & Stephan Kammer (Hrsg.), Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur (Basel, Frankfurt/M. 2006), S. 131–161; Susanne Strätling, Georg Witte, Die Sichtbarkeit der Schrift zwischen Evidenz, Phänomenalität und Ikonizität. Zur Einführung in diesen Band, in: Susanne Strätling, Georg Witte (Hrsg.), Die Sichtbarkeit der Schrift (München 2006), S. 7–18; Christoph Hoffmann, Daten sichern. Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung (Zurich, Berlin 2008). 29 Vgl. exemplarisch Marshall McLuhan, The Gutenberg galaxy. The making of typographic man (Toronto 1962); Elizabeth Eisenstein, The Printing Press as an Agent of Change. Communications and Cultural Transformations in Early Modern Europe (Cambridge 1979); Christina Killius, Die Antiqua-Fraktur Debatte um 9 Der Perspektivwechsel freilich ist keineswegs einfach. Wie nachhaltig nicht zuletzt die Gelehrtenrepublik Deutschland davor zurückschreckte, zeigt Hans-Georg Gadamer noch 1984, als er ganz im Sinne eines Logozentrismus des Buches erklärt: „Sprache und Schrift bestehen immer in ihrer Verweisung. Sie sind nicht, sondern sie meinen.“30 Dagegen hat andernorts und früher schon Roland Barthes auf zwei sehr unterschiedliche Lektüreverhalten hingewiesen, deren eine (gleichsam teutonisch-hermeneutische) zur „Entblätterung der Wahrheiten“ führt („l’effeuillement des vérités“), deren andere aber, indem sie akribisch und lustvoll vorgeht, vom „Blattwerk der Signifikanz“ („le feuilleté de la signifiance“) fasziniert und festgehalten wird.31 Abb. 6: Doppelseite aus Stéphane Mallarmés Coup de dés, 1897. Eine Unterscheidung, deren Relevanz von Barthes mit dem Auftauchen der modernen Literatur verbunden wird (insbesondere der Karriere sog. „Sehtexte“ um 1900)32 und deren 1800 und ihre historische Herleitung (Wiesbaden 1999); Susanne Wehde, Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. (Tübingen 2000); Albert Ernst, Wechselwirkung. Textinhalt und typografische Gestaltung (Würzburg 2005). 30 Hans-Georg Gadamer, Text und Interpretation [1981], in: Philippe Forget (Hrsg.), Text und Interpretation (München 1984), S. 24–55, hier S. 51. 31 Roland Barthes, Die Lust am Text [1973] (Frankfurt/M. 1974), S. 19 f. Vgl. auch Roger Chartier, Lesewelten. Buch und Lektüre in der frühen Neuzeit [1982] (Frankfurt/M. 1990), S. 13. 32 Vgl. ausführlicher Bettina Rommel, Psychophysiologie der Buchstaben, in: Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Materialität der Kommunikation (Frankfurt/M. 1988), S. 310–325; Waltraud Wende, Sehtexte – oder: Vom Körper der Sprache, in: Dies. (Hrsg.), Über den Umgang mit der Schrift (Würzburg 2002), S. 302–335. 10 Vorlage sich in einem Essay von Paul Valéry aus dem Jahr 1927 findet.33 Für Bücher, heißt es dort, kann man sich auf zwei Weisen („deux maniere“) interessieren: 1. Man lässt sich in einem „sukzessiven und linearen Akt“ auf die Aneinanderreihung der Worte und Zeilen ein („mot en mot le long d’une ligne“), um dadurch eine „Menge aufeinander folgender mentaler Reaktionen hervorzurufen“ („provoque [...] une quantité de reactions mentales successives“). So wird in jedem Augenblick die visuelle Wahrnehmung der Zeichen getilgt („destruire à chaque instant la perception visuelle des signes“). Es ist eben diese Praxis, die wir Lesen nennen („la lecture“): die Umwandlung („la transsubstantiation“) eines Textes in ein Geschehen des Geistes, die zugleich seinen Verbrauch („la consommation“) bedeutet, seine „Vernichtung durch den Geist“ („la destruction par l’esprit“). 2. und alternativ dazu: Man behandelt die Seiten der Bücher als Blöcke („les blocs“) im Sinne von Text- oder Buchblöcken, bzw. als „Gefüge von Blöcken und Schichten, aus schwarz und weiß“ („de bloc et de strates, de noirs et de blancs“). Valéry nennt dies ein Betrachten der Bücher („un mode de regard“), das nicht auf einzelne Zeichen oder Zeichenketten reagiert (indem es dazu „virtuelle oder wirkliche Töne“ assoziiert, also eine Phonem-Graphem-Entsprechung herstellt), sondern von den Buchseiten einen „Gesamteindruck“ („une impression totale“) empfängt. So wird die Seite zum Bild. „Une page“, schreibt Valéry, „est une image“; bestehend aus „schwarzen Massen auf einem sehr reinen Feld“. Beide Arten mit Büchern umzugehen, heißt es dann weiter, „sind voneinander unabhängig („indépendents“). Der Text, den man betrachtet, der Text, den man liest, sind ganz verschiedene Dinge („Le texte vu, le texte lu sont chose toutes distintes“), da doch die Aufmerksamkeit für den einen die Aufmerksamkeit für den anderen ausschließt.“ Nun kann man aus guten Gründen skeptisch sein gegenüber der Behauptung, bei Bildern (und seien es Schrift- bzw. Druckbilder) handle es sich um Ordnungen der Simultanität, die deshalb einer phonographisch-sequenziellen Bestimmung der Buchstabenschriften entgegenstehen würden:34 Denn erstens sind auch Bildern „visuelle Abtastbahnen“ eingeschrieben, sodass sie nicht „auf einmal“ oder „als Ganzes“ gesehen werden, und zweitens ist selbst die Linearität der Textverarbeitung nicht nur wahrnehmungsphysiologisch längst widerlegt, sondern auch als progrediente Praxis (als würde man stets von links nach rechts, von oben nach unten, von vorne nach hinten lesen) eine Ausnahme.35 Die Bild-SchriftDichotomie implodiert bei Valéry deshalb in anderer Weise: Unterm Bild-Begriff nämlich 33 Paul Valéry, Les deux vertus d’un livre [1927], in: Ders., Œuvres, hrsg. von Jean Hytier, Bd. II (Paris 1960), S. 1246–1250, hier S. 1246 f. Ebenso die direkt folgenden Zitate. 34 Vgl. Wolfgang Raible, Die Semiotik der Textgestalt. Erscheinungsformen und Folgen eines kulturellen Evolutionsprozesses, in: Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophischhistorische Klasse, Jg. 1991, Nr. 1, S. 5–44, hier S. 5 f. bzw. Krämer, ‚Schriftbildlichkeit’ (Anm. 23) in Auseinandersetzung mit Lessings Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766). 35 Vgl. Sabine Groß, Schrift-Bild. Die Zeit des Augenblicks, in: Georg Christoph Tholen, Michael O. Scholl (Hrsg.), Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit (Weinheim 1990), S. 231– 246, hier S. 235 f., 244; außerdem Ulrich Ernst, Lesen als Rezeptionsakt. Textpräsentation und Textverständnis in der manieristischen Barocklyrik, in: Brigitte Schlieben-Lange (Hrsg.), Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Jg. 15, H. 57/58: Lesen – historisch (Göttingen1985), S. 67–94, hier S. 73. 11 thematisiert er Bücher und Buchseiten vor allem als Gegenstände, als dreidimensionale Objekte („un livre a son physique, son extérieur visible et tangible“),36 sodass sie für den Betrachter (wenn schon nicht für den Leser) weder auf die Eindimensionalität der Zeilen noch auf die Zweidimensionalität der Flächen reduziert werden können. Sofern man sich also schrift- oder druckbildtheoretisch mit Büchern beschäftigt, hat nach Valéry deren Körperlichkeit im Vordergrund zu stehen. Im Folgenden wird deshalb eine Art Physio-Analyse erprobt, die an ausgewählten Drucksachen Aspekte ihrer Exteriorität erforscht. Nicht ohne ein gewisse Ironie, denn es werden dazu Publikationen der Psycho-Analyse herangezogen, genau genommen des Internationalen Psychoanalytischen Verlages, der von 1919 bis zu seiner Zerschlagung durch die Nationalsozialisten 1938 in Wien existierte. Abb. 7: Briefkopf der Wiener Firma. Collection Philippe Helaers. Der Verlag wurde auf Sigmund Freuds Initiative hin während des V Internationalen Psychoanalytischen Kongresses in Budapest gegründet und in den ersten Jahren durch eine Stiftung des ungarischen Brauereibesitzers, Millionärs und Ex-Freud-Analysanden Anatal Freund von Tószeg finanziert.37 Der auf meinen [= Freuds] Namen getaufte und mir zur Verfügung gestellte Fonds wurde von mir zur Gründung eines ‚Internationalen Psychoanalytischen Verlages’ bestimmt. Ich hielt dies für das wichtigste Erfordernis unserer gegenwärtigen Lage.38 So schreibt der Wiener Chefanalytiker im Gründungsjahr; zumal ihm die Abhängigkeit von seinen bisherigen Verlegern (insbesondere Franz Deuticke und Hugo Heller in Wien) schon länger ein Dorn im Auge war.39 „Der Verlag“, heißt es dann in einer Dokumentation des Budapester Kongresses, wird das „regelmäßige Erscheinen und eine verlässliche Austeilung der beiden Zeitschriften [= Imago, IZP] sichern“. Außerdem soll er 36 Paul Valéry, Le physique du livre (Paris 1945), S. 3. Zu Details der Verlagsgründung vgl. vor allem Karl Fallend, Sonderlinge, Träumer, Sensitive. Psychoanalyse auf dem Weg zur Institution und Profession (Wien 1995), S. 69–88; Lydia Marinelli, Zur Geschichte des Internationalen Psychoanalytischen Verlags, in: Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1919–1938, hrsg. vom Sigmund Freud-Museum Wien (Wien 1995), S. 9–29; dies., Psyches Kanon. Zur Publikationsgeschichte der Psychoanalyse rund um den Internationalen Psychoanalytischen Verlag. Dissertation Universität Wien (Wien 1999); Andrea Huppke, Zur Geschichte des Internationalen Psychoanalytischen Verlages, in: Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse, 9. Jg., H. 18: Institutionalisierungen (Tübingen 1996), S. 7–33. 38 Sigmund Freud (Hrsg.), Internationale Zeitschrift für (ärztliche) Psychoanalyse [= IZP], Bd. 5, S. 137. 39 Vgl. dazu u.a. Sigmund Freud, Otto Rank, Correspondence, hrsg. von E. James Lieberman (in Vorbereitung), Nr. 150723/R, 150802/R, 160322/R (mit Dank an den Herausgeber). 37 12 in das Gebiet der ärztlichen und angewandten Psychoanalyse einschlägige Bücher und Broschüren zum Druck befördern, und da er kein auf Gewinn zielendes Unternehmen darstellt, kann er die Interessen der Autoren besser in Acht nehmen, als dies von Seite der Buchhändler-Verleger zu geschehen pflegt.40 Abb. 8: Kongress-Einladung. Aus: Freud, Ferenczi, Briefwechsel, (Anm. 45), Abbildungsteil. Die Problemstellung Seine Ankündigungen allerdings konnte der Verlag nicht in jeder Hinsicht realisieren: Vor allem wirtschaftliche Krisen haben ihn immer wieder an den Rand des Ruins und an die Grenzen seiner Personalpolitik getrieben. Dennoch hat er während der knapp 20 Jahre seines Bestehens sämtliche Titel der damaligen, von Wien ausgehenden psychoanalytischen Bewegung veröffentlicht: darunter Freuds Erstausgaben seit 1920, das erste psychoanalytische Wörterbuch (1937 von Richard Sterba), als Jahrbuch den sog. Almanach, die vier maßgeblichen Zeitschriften (neben Imago und IZP die Zeitschrift für Psychoanalytische Pädagogik und Die Psychoanalytische Bewegung) sowie, in 12 luxuriösen Bänden, die erste Gesamtausgabe der Freud’schen Schriften. Mit anderen Worten: Das Verlagsprogramm bestand keineswegs nur aus einer Versammlung von Einzelwerken, auch ging es nicht darum, die Texte bereits bekannter, in manchen Fällen sogar erfolgreicher Psychoanalytiker zu publizieren oder eigene Reihen zu Themen der Psychoanalyse zu starten; vielmehr wollte man als einziger Verlag in ausschließlicher Weise für die komplette Veröffentlichung einer ganzen Theorieform zuständig sein. 40 IZP 5, S. 137 f. 13 Abb. 9: Doppelfaltblatt zur Verlagsgründung (vermutl. als Beilage der Zeitschriften), Collection Philippe Helaers. 14 Ein bemerkenswerter Anspruch, zumal die Buchgeschichte zeigt, das es „[b]is in die 1860er Jahre hinein“ noch nicht einmal das „Beispiel eines Verlegers gibt, der sich planmäßig und systematisch um Autoren einer bestimmten Disziplin bemüht hätte, um seinen Programmen ein fachspezifisches Profil zu geben.“41 Sehr anders die neue psychoanalytische Firma: Als sie 1919 ihre Produktion aufnimmt, trifft sie nicht nur auf eine inzwischen professionalisierte Verlagsbranche und einen stark segmentierten Buchmarkt, sondern sie hat es auch mit einer zunehmenden Dissoziation der Wissenschaft in abgrenzbare Disziplinen sowie deren Binnendifferenzierung in konkurrierende Forschungsfelder zu tun. Anstatt darauf aber, wie um 1900 üblich, durch Spezialisierung zu reagieren, indem man etwa eine „disziplinenorientierte Verlagspolitik“ betreibt oder sich als „Dienstleister“ an den Vorgaben der Wissenschaftsinstitutionen ausrichtet,42 ging es dem Wiener Verlag darum, eine noch im Aufbau befindliche Theorieform durch die Formierung ihrer Printmedien auch als wissenschaftlichen Diskurs hervorzubringen. So wird, wie Lydia Marinelli in ihrer institutionalisierungs- und publikationsgeschichtlich angelegten Arbeit über den Verlag gezeigt hat,43 dessen fundamentale Rolle für die Wiener Bewegung sichtbar, denn: 1. Neben der „Propagierung psychoanalytischer Literatur“ wollte er zugleich als „Zentralsammelstätte der analytischen Autoren und Publikationen“ fungieren (Abb. 9).44 „[D]ie ganze reiche und schöne Literatur“, erklärt Freud noch im Frühjahr 1932, „wäre nicht zustande gekommen oder nur vereinzelt, zersplittert, mit Untauglichem vermengt, wenn der Verlag sie nicht zum Leben befördert hätte. [...] Noch für längere Zeit wird es notwendig sein, daß Analytiker zusammenhalten, enger zu einander halten.“ (Abb. 10)45 Insofern gilt 2. das Diktum Max Eitingons, der 1927 von einer „nobile officium“ des Verlages gesprochen hat, alle wichtigen psychoanalytischen Schriften herauszugeben;46 weshalb ihm 3. Marinelli die Funktion einer „literarischen Kanonisierungsanstalt“ zuschreiben konnte.47 Nicht zuletzt sollte auf diesem Wege das Vokabular der Freud’schen Psychoanalyse als 41 Monika Estermann, Ute Schneider, Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Wissenschaftsverlage zwischen Professionalisierung und Popularisierung (Wiesbaden 2007), S. 8. Gleichzeitig gilt bis heute: „Die Wechselwirkung zwischen wissenschaftlichem Verlagswesen und Disziplinenentwicklung ist [...] noch kaum untersucht worden.“ Ebd., S. 7. 42 Estermann, Schneider, Einleitung, (Anm. 41), S. 8 f. Ebenso Georg Jäger, Buchhandel und Wissenschaft. Zur Ausdifferenzierung des wissenschaftlichen Buchhandels (Siegen 1990); Borscheid, Am Anfang war das Wort, (Anm. 6), S. 12. 43 Marinelli, Psyches Kanon (Anm. 37). 44 Doppelfaltblatt zur Verlagsgründung (vermutl. als Beilage der Zeitschriften), Collection Philippe Helaers. Vgl. auch IZP 23, S. 242. Nicht anders der zweite Direktor des Verlages, Adolf József Storfer, am 4. September 1925: Der Verlag entwickelt sich „immer mehr zu einem zentralen Organ der psa. Bewegung.“ IZP 11, S. 521. 45 Sigmund Freud, Spendenaufruf. An die Vorsitzenden der psychoanalytischen Vereinigungen! Ostern 1932, Collection Philippe Helaers, S. 2. Darüber hinaus fungierte der Verlag immer auch als berufliche Versorgungsanstalt für (Laien-)Analytiker; etwa Theodor Reik, Anna Freud, Beata Rank oder Editha Sterba. Vgl. u.a. Sigmund Freud, Sándor Ferenczi, Briefwechsel. 1912–1914, hrsg. von Eva Brabant und Ernst Falzeder (Wien 1993), Bd. II/2, S. 199, 281; Christfried Tögel, Gerhard Wittenberger (Hrsg.), Die Rundbriefe des ‚Geheimen Komitees’ 1913–1936 (Tübingen 1999), Bd. 3, S. 91; Sigmund Freud, Max Eitingon, Briefwechsel 1906–1939, hrsg. von Michael Schröter (Tübingen 2004), S. 164, 170, 203. 46 Freud, Eitingon, Briefwechsel 1906–1939, (Anm. 45), S. 570. „Und höchst erfreulich ist mir auch, was Sie vom eigenen ps.a Verlag mitteilen, der nun alle Publikationen sicherstellt.“, Lou Andreas-Salome an Sigmund Freud in: Dies., Briefwechsel, hrsg. von Ernst Pfeiffer (Frankfurt/M. 1980), S. 96. 15 Abb. 10: Freud, Spendenaufruf, (Anm. 45); gedruckt und vom Verfasser unterschrieben. 47 Marinelli, Psyches Kanon (Anm. 37), S. 204. Ebenso das direkt folgende Zitat. 16 wissenschaftliche Terminologie etabliert und gegen konkurrierende Theorien in Stellung gebracht werden. Die Verlagsprodukte jedenfalls sind eine „primäre Vermittlungsform“ zwischen den Analytikern der Gründergeneration und den Alltags-, Kultur- oder Wissenschaftswelten nach 1900 gewesen. Auch deshalb war es 4. von großer Bedeutung für die Verlagspolitik, nicht nur vergleichbaren Initiativen anwaltlich oder sogar per Gerichtsbeschluss den Namen ‚Psychoanalyse’ zu verbieten, sondern auch mit allen möglichen Mitteln gegen „wilde [d.h. nicht von Wien legitimierte] Analytiker“ oder unautorisierte, also keineswegs nur schlechte Übersetzungen vorzugehen. „Linguistische Hegemonie“ war dementsprechend das Ziel:48 Durch den eigenen und exklusiven Namen wollte man wieder Herr werden über die psychoanalytische Sache. Oder, in einer Formulierung von Ernest Jones: „We should thus still achieve the essential aim of the Press, to distinguish between trustworthy psa books and the rubbish otherwise published [...].“49 Abb. 11: Zwei vom Wiener Verlag bekämpfte Konkurrenten: Samuel A. Tannenbaums Psyche & Eros, 1920–22 in New York erschienen, sowie Xelaria, hrsg. ab Juli 1921 von Carlheinz Junker in Bad Homburg. Jeder Kanon, heißt das dann aber, beginnt mit einem Trennstrich, der im Fall der Psychoanalyse durch die Produkte des Verlages gezogen wurde. In diesem Sinne hat 5. auch Otto Rank als dessen erster Direktor damit begonnen, von anderen Verlagen (etwa Deuticke, Heller oder Hippokrates) die Rechte psychoanalytischer Werke samt den 48 Ebd., S. 147. Zur Namenspolitik des Verlages vgl. daran anschließend auch Christof Windgätter, Zu den Akten. Verlags- und Wissenschaftsstrategien der frühen Wiener Psychoanalyse, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, hrsg. von Cornelius Borck, Bd. 32, H. 2 (2009). 49 Sigmund Freud, Ernest Jones, Complete correspondence. 1908–39 (Cambridge, Mass. 1995), S. 538. 17 dazugehörigen Lagerbeständen aufzukaufen.50 Bis auf wenige Ausnahmen war er damit erfolgreich, sodass Abraham und Eitingon von einem „wichtigen Schritt zur Vereinheitlichung des Verlagswesens“ gesprochen haben.51 Nach den Zerwürfnissen der Anfangsjahre sollten die psychoanalytischen Bewegungen erneut an die Theorien Freuds gekoppelt werden, um dann als Psychoanalyse im Singular aufzutreten. Noch einmal Eitingon: „Man muß wirklich den Leuten zu Gemüte zu führen suchen, was der Verlag für die Bewegung bereits getan hat und wie er unter großen Opfern auch das herausgebracht hat, was zum ganzen unserer Literatur gehört und aus dem man in späterer Zeit in vollständiger Weise wird erlernen können, was Sie [= Freud] und mit Ihnen wir für Psychoanalyse halten“.52 Mit dem eigenen Publikationsort also hoffte man zugleich einen Identifikationsort geschaffen zu haben. Demzufolge ist 6. der Verlag weder nur das Instrument seiner Autoren gewesen, eingereiht in die psychoanalytischen Tischgesellschaften, Ortsvereine, Polikliniken etc. zur Stabilisierung der damals noch jungen Bewegung, noch fungierte er als neutrale Schnittstelle zwischen den internen Diskussionen oder individuellen Schreibakten und den öffentlichen, weil gedruckten Werken. Vielmehr versuchten seine Aktivitäten, wie Freud im 1932 Rückblick schreibt, „eine Art von offizieller Aichung“53 zu leisten. Aus dem Gewirr der zahllosen Psychologien und Pseudo-Analysen sollte durch gezielte Publikationen das eine und unverwechselbare Profil der Wiener Psychoanalyse hervorgehen: „our main body“54, als Körperschaft aus lauter papiernen Einzelkörpern. So wird das Kontrollieren der Anderen durch die Normierung des Eigenen ergänzt. Eine ebenso pragmatische wie weitsichtige Einstellung, die 7. schon Jones zu der Forderung veranlasst haben dürfte, die Verlagsprodukte als ‚Marken’ bzw. ‚Markierungen’ der Psychoanalyse zu konzipieren.55 Aufgabe des Firma war ja nach eigenem Bekunden weniger der kommerzielle Erfolg, als vielmehr ein diskursstrategischer Versuch: Wie ist es möglich, nach der relativen Popularität psychoanalytischer Einsichten in literarisch-kulturellen Mileaus seit 1900 auch in die bisher unerreichten Kreise der „Fachgelehrten“ vorzudringen? (Abb. 12)56 Mit der Konsequenz, dass der Verlag über seine ökonomischen, personellen und distributiven Aspekte hinaus zugleich eine epistemische Funktion erfüllen sollte. Seine Aktivitäten und Produkte jedenfalls haben nicht nur verkauft und verbreitet, was auch anders oder ohne sie 50 Vgl. u.a. Tögel, Wittenberger, Die Rundbriefe des ‚Geheimen Komitees’ 1913–1936 (Anm. 45), Bd. 2, S. 215, 221; Ebd., Bd. 4, S. 52, 54; Freud, Rank, Correspondence (Anm. 39), Nr. 240723/F; IZP 6, S. 533. 51 Tögel, Wittenberger, Die Rundbriefe des ‚Geheimen Komitees’ 1913–1936, (Anm. 45), Bd. 2, S. 221. Ganz ähnlich kommentiert der damals als Geschäftsführer amtierende Storfer seine Arbeit zur ersten Gesamtausgabe der Freud’schen Schriften: „Damit, dass der Verlag das zerstreute Lebenswerk des Begründers der Psychoanalyse einheitlich zusammenstellt und in würdiger Art unter Dach bringt, erfüllt er seine wichtigste und ehrenvollste Aufgabe.“ IZP 11, S. 521. 52 Freud, Eitingon, Briefwechsel 1906–1939, (Anm. 45), S. 785. 53 Freud, Spendenaufruf, (Anm. 45), S. 1. 54 Freud, Eitingon, Briefwechsel 1906–1939, (Anm. 45), S. 311; Athol Hughes , Letters from Sigmund Freud to Joan Riviere (1921–1939), in: International Review of Psycho-Analysis, Bd. 9 (1992), S. 65–284, hier S. 273. Vgl. auch Storfer in: IZP 11, S. 521 f. 55 Die Formulierung lautet im Original: „should be a mark”. Tögel, Wittenberger, Die Rundbriefe des ‚Geheimen Komitees’ 1913–1936, (Anm. 45), Bd. 3, S. 249. 56 Vgl. Faltblatt zur Verlagsgründung, (Anm. 44), S. 1 bzw. Adolf József Storfer, M e m o r a n d u m über die Zukunftsmöglichkeiten des I. PsA Verlags. Oktober 1930, Wien. Collection Philippe Helaers, S. 3; IZP 5, S. 138. 18 Abb. 12: Storfer, M e m o r a n d u m über die Zukunftsmöglichkeiten des I. PsA Verlags, (Anm. 56), S. 1, 4, 7, 9 von insgesamt 11 Blättern. gewusst werden konnte, sondern sie waren eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass jene Wiener Theorien als Subjekt und Objekt eines Wissenschaftswissens akzeptabel geworden sind. Neben seiner Rolle als Kommunikationsinstrument ist deshalb der Verlag vor allem ein Evidenzmedium der Psychoanalyse gewesen. Genauer noch: Es waren seine Layout-Strategien (die Gestaltung seiner Bücher, Journale, Anzeigen, Lesezeichen, Waschzettel usw.), durch die 19 er versucht hat, sich sowohl in bestehende Forschungsrichtungen einzuschleusen, als auch im wissenschaftlichen und nicht zuletzt universitären Feld des 20. Jahrhunderts ein eigenes Terrain abzustecken, zu besetzen und (wenigstens eine Zeit lang) zu verteidigen.57 Zentrale Merkmale dieser Strategien waren, neben der bereits erwähnten Durchsetzung des Verlagsnamens, die Umschlaggestaltung, die Farbwahl der Einbände, die Typographie, die Einführung eines Firmenlogos und verschiedene Public-RelationsVersuche. Durch ihr Zusammenwirken aber, so die weiterführende These, spielen sie nicht nur eine fundamentale Rolle in der Geschichte der Psychoanalyse, sondern sie können darüber hinaus auch als Symptome aufgefasst werden, die Auskunft über einen allgemeinen Wandel in den Produktions- und Legitimationsbedingungen des Wissens geben. Das heißt: Mit seinen Gestaltungsstrategien steht der Verlag am Anfang einer Entwicklung, die Marktund Markenbildungen in wissenschaftliche Arbeitsprozesse eingeführt hat. Als Naming, Branding, Product-Placement, Labelling etc. stellen sie seither und bis heute prägende Eigenschaften des Wissenschaftsbetriebes dar. Vom Universitätsmarketing über die Drittmitteleinwerbung bis zu Excellenzanträgen; es gibt inzwischen wohl keinen Bereich akademischer oder gelehrter Tätigkeiten mehr, der es nicht mit Strategien der Sichtbarmachung, der Aufmerksamkeitssteigerung oder der Verwandlung von Begriffen und Methoden in Warenzeichen zu tun hätte. Insofern handelt es sich nachfolgend um eine Fallstudie, die zugleich auf Reformationen und Regelmäßigkeiten in der Wissen(schaft)sbildung zielt. Sie soll beispielhaft zeigen, dass und wie in der Moderne das Auftauchen und die Stabilisierung neuer Wissensfelder nicht allein an die Modellierung von Autorschaft, die Macht der besseren Argumente oder die Standards technischer Einrichtungen gebunden ist, sondern auch mit den Formen der Darstellung zusammenhängt. Ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts jedenfalls beginnt das Layout von Drucksachen in zunehmendem Maße den Platz eines epistemischen Agenten einzunehmen. Statt äußerlich zu sein, ist so das Außen des Buches zu einer internen Bedingung seines Wissens geworden. Noch anders ausgedrückt: Der Wiener Verlag wird hier als eine Art Brennglas verwendet, durch das sich eine Verschiebung in der Genesis und Geltung wissenschaftlicher Diskurse beobachten lässt. Eine Verschiebung allerdings, die keine neuerliche oder erneuerte Autonomie in Aussicht stellt, da sie die Konstituenten von Wissenschaft um den Aspekt der druckgraphischen Materialität und deren Gestaltung ergänzt. Die Bedingungen der Szientifizierung sind nicht selber szientifisch; vielmehr sind Layoutstrategien zu Begründungsgesten geworden, denen nicht länger mehr der Makel des Sekundären anhaftet. Was bei Stifter noch ‚außerwesentliches Nebending’ war, stellt nun ein „aktives Element des Wissens“ dar; oder, wie Ludwik Fleck an anderer Stelle schreibt: „Das Bild gewinnt Oberhand über die spezifischen Beweise und kehrt in dieser neuen Rolle vielfach zum Fachmann zurück.“58 „Schlagwörtern“ oder „Kampfrufen“ gleich wirkt es „durch bloße 57 Zum konfliktreichen Verhältnis der Psychoanalyse zu den Universitäten und umgekehrt vgl. Freuds Schrift Soll die Psychoanalyse an den Universitäten gelehrt werden? von 1919, in: Ders., Gesammelte Werke, Nachtragsband, hrsg. von Angela Richards (Frankfurt/M. 1987), S. 699–703; ebenso die Protokolle und Briefe der ersten Analytiker über ihre Versuche, Universitätsprofessuren zu erlangen: u.a. Freud, Ferenczi, Briefwechsel, (Anm. 45), Bd. II/2, S. 178. 58 Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache [1935] (Frankfurt/M. 1980), S. 59, 155. Ebenso die direkt folgenden Zitate. 20 Gegenwart“, nicht mehr „durch logischen Sinn“. Zwar mag diese Feststellung zunächst auf die Konjunktur der Aufzeichnungstechniken in den modernen Naturwissenschaften bezogen sein (immerhin war Fleck Biologe), um dort den Status und die Funktion der Diagramme, Kurven oder Schautafeln zu überdenken, doch lässt sich darin wohl genauso die Reaktion auf eine neue Kultur der Visualisierung um 1900 erkennen,59 der sich nicht nur die Wissenschaften nicht entziehen konnten, sondern deren Ubiquität und Wirkmächtigkeit auch mit der Etablierung des Schaufensters zu tun hat. Als „Präsentifikation“ wäre dann mit Hans-Ulrich Gumbrecht der Mechanismus dieser gestalterisch-bildgebenden Verfahren auf den Punkt gebracht,60 und etwas programmatischer steht dazu bei Dieter Mersch: „Das Sichzeigen geht dem Sagen voraus“. Daher liegt die „Bedingung des Zeichens in einem Nichtzeichenhaften“, einer „unverzichtbaren“ und zugleich „irreversiblen [...] Präsenz“; noch „bevor die Frage nach seiner Bestimmtheit, seiner Bedeutung sich stellt. [...] Denn es ist keineswegs gleichgültig, ‚daß’ ein Zeichen gegeben wurde und nicht vielmehr nicht“.61 Die Aufgabe ist also, sowohl zu erforschen, wodurch sich Wissen in der Öffentlichkeit jeweils zeigt, nach Mersch die „Ekstatik der Materialität“, als auch den Akt, der diese Materialität (im drucktechnischen ebenso wie im präsenztheoretischen Sinne) setzt, Mersch zufolge die „Intensität der Performanz“ bzw. das „Ereignis des In-Erscheinung-tretens“. Das aber heißt für eine Epistemologie der Wiener Verlagsprodukte: Anstatt sich um eine vertiefte oder gar verbesserte Deutung psychoanalytischer Theorien zu bemühen, für oder gegen Freud, im Interesse der Orthodoxie oder als Aufforderung zur Dissidenz, treten nunmehr „paratextuelle Elemente“ in den Vordergrund, die, wie Gérard Genette es beschrieben hat, als „Schauplatz einer Pragmatik und einer Strategie“ dafür sorgen, den „Text [...] im vollsten Sinne des Wortes zu präsentieren: ihn präsent zu machen“.62 Doch man täusche sich nicht: Solche Präsentifikationen sind keine Informationsveranstaltungen, ihre Strategien liefern keine neutralen oder zweckfreien Angebote. Vielmehr gilt auch in den ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts noch, dass Verlage und ihre Drucksachen eine „Schwelle“ zu jenem Prozess der Vergesellschaftung darstellen, die nicht nur über Verkaufserfolge, Absatzzahlen oder Gewinnspannen entscheidet, als „Einbeziehung des Buches in die kapitalistische Wirtschaft“63, sondern die darüber hinaus aus dem ‚Schauplatz’ der Waren einen „Richtplatz des Wissens“64 gemacht hat: Denn hier werden „Theorien aufgerichtet, aber auch hingerichtet“. Was sichtbar ist und sich zu lesen gibt, hat daran seinen Anteil. Kein öffentliches Erscheinen ohne Erscheinungsbild, dessen Gestaltung zu den Bedingungen der Un/Möglichkeit von Wissenschaft gezählt werden muss. Mit der 59 Vgl. stellvertretend für zahlreiche Untersuchungen: Jonathan Crary, Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur [1999] (Frankfurt/M. 2002). 60 Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik (Anm. 21), S. 111. 61 Mersch, Was sich zeigt (Anm. 21), S. 21, 24 f., 27. Die direkt folgenden Zitate S. 18, 373. 62 Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches [1987] (Frankfurt/M.) 2003, S. 9 f. Ebenso das direkt folgende Zitat. 63 Helma Schaefer, Zur Dauer und Zierde. Gestaltungsgeschichte des Einbandes von 1765 bis 1897, in: DagErnst Petersen (Hrsg.), Gebunden in der Dampfbuchbinderei. Buchbinden im Wandel des 19. Jahrhunderts (Wiesbaden 1994), S. 9–53, hier S. 39. 64 Michael Cahn, Die Rhetorik der Wissenschaft im Medium der Typographie. Zum Beispiel die Fußnote, in: Hans-Jörg Rheinberger, Michael Hagner, Bettina Wahrig-Schmidt (Hrsg.), Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur (Berlin 1997), S. 91–109, hier S. 91. 21 Konsequenz, dass Publikationspraktiken und Public-Relations, Wissen(schaft)sbildung und Werbung nicht mehr als die Gegensätze dastehen, die sie traditionell gewesen sind oder sein sollten.65 Das Szenario „Omnibus Omnia”: Alles für Alle, so steht es in Stein gemeißelt über dem Haupteingang der 1847 in Brüssel eröffneten Galeries Royales Saint-Hubert. Nachdem seit Anfang des Jahrhunderts glasüberdachte Ladenstraßen das Aussehen und die Darstellungsformen europäischer Metropolen zu verändern begannen, ging es auch für deren Bewohner darum, neue ‚Subjektivierungsweisen’ einzuüben. Als Passanten einer nunmehr urbanen Umwelt, könnte man im Anschluss an Jonathan Crary sagen, mussten sie zu veritablen Aufmerksamkeitstieren werden.66 Das hat zweifellos mit einer ungewohnten Temporalität des städtischen Lebens zu tun, ebenso mit den Anforderungen bisher unbekannter Kommunikationstechniken und Verkehrsformen, aber eben auch mit einer visuellen Infrastruktur, die nicht nur, wie hinlänglich beschrieben, durch Fotographie und Film, sondern auf den Straßen, Plätze und Alleen auch durch das Auftauchen und die Ausbreitung von Schaufenstern geprägt worden ist.67 Entsprechend fungiert das städtische Wegenetz nicht mehr nur als Verbindung von Durchgangsorten, als Transitraum oder Vektor der Fortbewegung und der permanenten Mobilisierung, sondern es hat sich zu einem eigenen Ereignis- und Erlebnisraum entwickelt: Ein „Blickwispern“ nämlich, so Benjamin, „füllt die Passagen“.68 Von überall her stürmen nicht zuletzt optische Reize auf den Passanten ein, der deshalb seinen Gang immer wieder verlangsamt, unterbrochen oder umgelenkt findet. Die Straße wird zu einem Parcours, mit Aufmachungen, die sich als „Stolpereffekte“69 erweisen: Kein Schritt außer Haus ist mehr möglich, ohne das nicht versucht würde, die Neugier, die Lust oder die Phantasie des 65 Eine knappe Skizze des Nicht-Verhältnisses von Wissenschaft und Werbung liefert Borscheid, Am Anfang war das Wort, (Anm. 6), S. 9 f. Ebenso Thomas Wegmann, zusammen mit Erhard Schütz (Hrsg.), literatur.com. Tendenzen im Literaturmarketing (Berlin 2002) bzw. Ders. (Hrsg.), Markt literarisch (Berlin, Bern, Bruxelles et al. 2005), der als einer der wenigen Literaturwissenschaftler die brisante und nicht selten ignorante Beziehung von Literatur und Markt auslotet. 66 Vgl. Crary, Aufmerksamkeit, (Anm. 59) – obwohl er das Schaufenster an keiner Stelle erwähnt. „Steigerung des Nervenlebens“ heißt das bei Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, in: Ders., Gesamtausgabe, hrsg. von Otthein Rammstedt, Bd. 7 (Frankfurt/M. 1995), S. 116–131, hier S. 116. 67 Selbst wenn nicht alle Buchhandlungen über Schaufenster verfügt haben sollten: Statistisch lässt sich im Wien der konstitutionellen Ära eine deutliche Zunahme der Buchhandlungsdichte belegen. 1854 etwa gab es dort 34 Buchhandlungen, 1860 bereits 46, eineinhalb Jahrzehnte später konnte deren Anzahl mit 121 fast verdreifacht werden, um sich in den 1880er Jahren bei ca. 110 buchhändlerischen Firmen einzupendeln. Im Gebiet des heutigen Österreich hat sich die Zahl der Buchhandlungen zwischen 1859 und 1890 von 178 auf 438 mehr als verdoppelt (bis 1909 sogar mehr als verfünffacht). Eine ähnliche Entwicklung ist auch für das sehr viel größere Deutsche Reich belegt: Dort stieg die Zahl der Buchhandelsbetriebe zwischen 1869 und 1890 von 3.506 auf 7.474. Vgl. Norbert Bachleitner, Franz M. Eybl, Ernst Fischer, Geschichte des Buchhandels in Österreich (Wiesbaden 2000), S. 207 ff.; Jäger, Buchhandel und Wissenschaft, (Anm. 42), S. 24 f. 68 Walter Benjamin, Pariser Passagen II, in: Ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. V/2 (Frankfurt/M. 1991), S. 1044–1059, hier S. 1050. 69 Osterwold, Schaufenster (Anm. 18), S. 92, 96. Robert Exner, Moderne Schaufenster-Reklame (Berlin 1896), S. 4 meint, dass Schaufenster „die Passanten zum Verweilen zwingen sollen“. 22 Passanten zu wecken, um ihn auf diese Weise von einem vorwärts hastenden Fußgänger in einen kaufbereiten Kunden zu verwandeln. In den Schaufenstern und gläsernen Vitrinen soll er das „Spiegelkabinett seiner Wünsche“70 entdecken. „Was man im Lichte der Sonne sieht, ist weniger interessant als das Geschehen hinter einer Scheibe“, kommentiert Baudelaire 1863 dieses mäandernde Schauen und Promenieren.71 Nun sind wir, einem wohlbekannten Reflex zufolge, gerne bereit, solche Verhaltensweisen konsumkritisch zu verurteilen oder ihnen die Zerstreuung unseres Bewusstseins vorzuwerfen. Schon Benjamins Archäologie der Moderne trägt ja diese Züge. Indem nämlich, wie er 1935 notiert, die „Schrift unerbittlich von Reklamen auf die Straße hinausgezerrt“ wird, gibt es neben solchen „Heuschreckenschwärmen von Schrift, die heute schon die Sonne des vermeinten Geistes des Großstädters verfinstern“, auch noch den umgekehrten Weg der Reklame zu fürchten, durch den „nächsthin das Buch in seiner überkommenen Gestalt seinem Ende entgegengeht“.72 Als Beispiel dient ihm Mallarmés Coup de dés von 1897 (Abb. 6): Dort sei „zum erstenmal [...] die graphische Spannung des Inserates ins Schriftbild verarbeitet“ worden. Nach einer Formulierung Blumenbergs findet so bei Benjamin die „Apokalypse des Buches“ ihr „graphisches Menetekel“.73 Eine Position, die zahlreiche Nachahmer gefunden hat, die dabei aber die konstruktive Rolle der Werbung in der Buchund Wissenschaftsproduktion verkennt. Dagegen wird hier die Komplizenschaft zwischen Passanten und Buchhandlungsschaufenster als ein Szenario beschreiben, in dem Drucksachen, nicht zuletzt also auch wissenschaftliche Bücher oder Zeitschriften die Gelegenheit ihres ersten öffentlichen Auftritts erhalten; unterstützt durch Kulissen, Requisiten, Podien, Beleuchtungen usw., die als Wirkungsmittel der modernen Bühnentechnik entstammen.74 Das Schaufester, schreibt Tilman Osterwold,75 stellt eine „primäre Kontaktzone“ dar, ein eigenes „Publikationsorgan“, das nicht nur mit der Leser-Betrachter-Differenz rechnet, sondern zugleich von einer Affektion weiß, die jeder Lektion vorhergeht. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts (und wohl bis in die 1980er Jahre hinein) kann deshalb vom Schaufenster als einem „epistemischen Paradigma“76 gesprochen werden. 70 Weibel, Pakesch, Künstlerschaufenster, (Anm. 13), S. 14. Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen. Der Spleen von Paris (Leipzig 1990), S. 455. Um der Wunscherfüllung näher zu kommen, muss man also nicht nur träumen, wie Freud meinte, es reichte schon ein einfacher Schaufensterbummel. 72 Benjamin, Passagen, magasins de nouveautés, calicots, (Anm. 7), S. 102; ders., Baudelaire, in: Ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. V/1 (Frankfurt/M. 2003), S. 301–489, hier S. 480. Ebenso das direkt folgende Zitat. 73 Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt [1982] (Frankfurt/M. 1999), S. 317. 74 Wie sehr das Schaufenster räumlich, sachlich und technisch als Schaubühne verstanden wurde, dokumentiert, besonders in den 1920er Jahren, die Berliner Zeitschrift Schaufenster-Kunst und -Technik. Vgl. auch Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, (Anm. 13), S. 140–143. 75 Osterwold, Schaufenster (Anm. 18), S. 28, 73. 76 Weibel, Pakesch, Künstlerschaufenster, (Anm. 13), S. 16. Eine „Euphorie für Schaufenster“ lässt sich von den 1910er bis in die späten 1920er Jahren hinein nachweisen. Vgl. Schleif, SchaufensterKunst, (Anm. 13), S. 87; Bachleitner, Eybl, Fischer, Geschichte des Buchhandels in Österreich, (Anm. 67), S. 256 f. In diese Zeit fällt auch die Gründung der ersten Berufsorganisationen für Schaufensterdekorateure mit speziellen Lehrbüchern sowie eigenen Zeitschriften; in Österreich etwa der Anzeiger für den Buch-, Kunst- und Musikalienhandel, der aus zahlreichen Einsendungen regelmäßig das „Schaufenster der Woche“ wählte und abbildete. Daneben entsteht 71 23 Ist man bereit, diesem Szenario zu folgen, ergeben sich daraus spezifische Anforderungen für das Layout von Büchern: 1. Deren Präsentation in Schaufenstern unterscheidet sich signifikant von den Buchaufstellungsweisen in Bibliotheken, Lesesälen oder privaten Arbeitsräumen.77 Werden dort nämlich, wie seit der Renaissance üblich, die einzelnen Bände aufrecht und parallel zueinander mit ihren Rücken nach vorne in Regale einsortiert, lässt sich in Schaufenstern, durch Bauweise und Zwecksetzung bedingt, eine Praxis beobachten, die eher an die Katheder bzw. Lesebänke des 16. Jahrhunderts erinnert. Abb. 13: Katheder-Systeme. Aus: Petroski, The Book in the Bookshelf (Anm. 77), S. 70 f. Darin wurden Bücher entweder vertikal auf Einfassungen oberhalb der Arbeitsfläche gestellt, horizontal in Fächer gelegt oder an abgeschrägte Borde gelehnt. In jedem Fall aber waren ihre Buchdeckel den Blicken der potentiellen Leser zugewandt.78. Nicht anders moderne Buchhandlungen (Abb. 14): Auch sie zeigen in ihren Schaufenstern, meist im Gegensatz zum Ladeninneren, die Vorderansicht der Bücher (als sog. „Schauseite“79), deren Gestaltung sie zugleich voraussetzen und herausfordern. 2. Das Betrachten einer Buchauslage hinter Glas hat nur wenig mit der ordnenden Perspektive eines Bibliothekars oder dem intimen Blick des Lesers zu tun, die ja ihre Bücher direkt vor sich haben und sie außerdem anfassen, beschildern oder durchblättern eine eigene Industrie zur Herstellung von Dekorationshilfsmitteln. Ebd. Vgl. auch Reinhardt, Reklame, (Anm. 4), S. 271 ff.; Haas, Sinndiskurse in der Konsumkultur, (Anm. 7), S. 301 f. 77 Eine Geschichte der Buchaufstellungsweisen ist noch nicht geschrieben worden; sie würde aber wohl komplementär zu Benjamins o.g. Diagnose vom Niederlegen und Aufstehen der Schrift in der Moderne konzipiert werden müssen. Bis auf Weiteres vgl. Henry Petroski, The Book in the Bookshelf (New York 1999). 78 „When the book was not in use, it lay cover up on the lectern, as if on display.“ Petroski, The Book in the Bookshelf (Anm. 77), S. 61. 79 Georg Kurt Schauer, Wege der Buchgestaltung. Erfahrungen und Ratschläge (Stuttgart 1953), S. 73. Dazu Exner, Moderne Schaufenster-Reklame (Anm. 70), S. 3: „Die Reklame muss im Schaufenster gegenüber der Warenauslage zu ihrem Rechte kommen.“ 24 können. Über „den Erfolg“, heißt es deshalb in einem Fachorgan für Schaufensterdekorateure, entscheidet „nicht die Herstellung der Ware, sondern die Art, wie sie dem Publikum angeboten wird.“80 Insofern ist Abb. 14: Buchschaufenster in den 1920er Jahren. Johannes Heyn, Klagenfurt. 3. auch bei Buchauslagen neben dem Gebrauchs- und dem Tauschwert der „Ausstellungswert“81 der einzelnen Bände bzw. des Fensters insgesamt wesentlich geworden; die Möglichkeit also, durch ihre Gestaltung innerhalb sehr kurzer Zeit und aus einer Distanz von vielleicht zwei oder drei Metern heraus als Blickfang auf den Passanten zu wirken.82 Abb. 15: Vermessung der Blickachsen, der Lichtregie und der räumlichen Proportionen für Schaufenster. In: Schaufenster-Kunst und -Technik, Jg.1, Nr. 11, August 1926, S. 24. 80 H. M. Geiger, Dekoratives im Sommer, in: Schaufenster-Kunst und -Technik, 1. Jg., Nr. 9, Juni 1926, S. 6. Ebenso Ursula Zeller, Vorwort, in: Hubert Riedel (Hrsg.), Lucian Bernhard. Werbung und Design im Aufbruch des 20. Jahrhunderts (Stuttgart 1999), S. 7: „Der Marktauftritt wird wichtiger als die Vernunft des Produktes selbst.“ 81 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [1939], in: Ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I/2 (Frankfurt/M. 1991), S. 435–508, hier S. 443 f. 82 Wolf Sluyterman von Langeweyde, Das Künstlerplakat im modernen Schaufenster (Wien, Berlin, Leipzig 1927), S. 32; Osterwold, Schaufenster (Anm. 18), S. 69. Bücherfenster sind keine Bücherlager, heißt es immer wieder in den zuständigen Fachzeitschriften: Man solle die Ware dort nicht stapeln, sondern aus dem eigenen Angebot auswählen und im Fenster sorgsam (natürlich mit Unterstützung professioneller Dekorateure) arrangieren. Vgl. dazu u.a. die Rubrik „Das Schaufenster als Werber“, die regelmäßig im österreichischen Anzeiger für den Buch-, Kunst- und Musikalienhandel erscheint (hier: Jg. 69, Nr. 44, 2. November 1928, S. 253). 25 Es kommt, wie der Journalist und Theaterkritiker Ludwig Börne schon 1823 in Paris erklärt, „auf eine Minute, auf einen Schritt an, die Anziehungskräfte spielen zu lassen; denn eine Minute später, einen Schritt weiter steht der Vorübergehende vor einem anderen Laden... Die Augen werden Einem wie gewaltsam entführt, man muß hinsehen und stehen bleiben, bis der Blick zurückkehrt.“83 Daraus aber folgt 4. und dekorationspraktisch, dass in Schaufenstern die Einbände bzw. Umschläge der Bücher von entscheidender Bedeutung sind. Durch die Industrialisierung des Drucks (als Abkehr von handwerklichen Arbeitsabläufen und zusammen mit der Einführung der Gewerbefreiheit)84 ist deren Gestaltung ja erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem Produktionsmoment der Verleger geworden.85 Vorher wurden Bücher (für Schaufensterauslagen gänzlich unattraktiv) in rohen oder gehefteten Bogen verkauft, manchmal zum Schutz in neutrales Papier eingeschlagen, und dann vom Kunden, nachträglich und eigenen Wünschen gemäß, beim Buchbinder mit einem Einband versehen. Das Ergebnis waren handwerklich-gestalterische Unikate, sodass damals äußerliche Gleichheit viel eher unter den Büchern einer privaten oder öffentlichen Bibliothek als unter den Exemplaren einer Auflage angetroffen werden konnte. Das Zusammenspiel von Buchschaufenstern und Verlagseinbänden setzte dieser Tradition ein Ende: Nicht nur, worauf man immer wieder hingewiesen hat, als Übergang zu Massenproduktion und Großbuchbinderei, um der Nachfrage einer zunehmend alphabetisierten Bevölkerung gerecht werden zu können,86 sondern auch, indem jede Auflage nunmehr aus identisch aussehenden und deshalb in den Auslagen leicht 83 Ludwig Börne, Schilderungen aus Paris, VI, Die Läden, in: Ders., Sämtliche Werke (Hamburg, Frankfurt/M. 1862). Ebenso Schauer, Wege der Buchgestaltung, (Anm. 79), S. 80: „Immer bedenke man, dass Schrift und Bild eines Umschlags auf zwei Meter Entfernung erkennbar und völlig erfaßbar sein müssen, denn so groß ist oft der Abstand von dem Beschauer vor der Schaufensterscheibe.“ In den Fachzeitschriften der Buchhändler wird entsprechend lebhaft diskutiert, welcher Platz hinter dem Glas für Werbezwecke der beste sei. Vgl. Abb. 15 oder auch den Anzeiger für den Buch-, Kunst- und Musikalienhandel, Jg. 69, Nr. 41, 12. Oktober 1928, S. 219. 84 Die zünftischen Regularien (über Arbeitsmethoden, Betriebsführung, Ausbildung, Preisabsprachen etc.) sind in Österreich am 1. Mai 1860 per Gesetz abgeschafft worden. Vgl. Bachleitner, Eybl, Fischer, Geschichte des Buchhandels in Österreich, (Anm. 67), S. 206. Emil Zola übrigens beschreibt 1883 in Les Paradis des Dames am Medium des Schaufensters genau diesen Übergang vom handwerklich geprägten Kleinhandel zum industrialisierten, mit Warenhäusern und Massenproduktion rechnenden Großgewerbe. 85 Vgl. Adolf Rhein, Die frühen Verlagseinbände. Eine technische Entwicklung, in: Gutenberg-Jahrbuch 162 (1962), S. 519–532, hier S. 519, 531; Ernst-Peter Biesalski, Die Entwicklung der industriellen Buchbinderei im 19. Jahrhundert, in: Dag-Ernst Petersen (Hrsg.), Gebunden in der Dampfbuchbinderei. Buchbinden im Wandel des 19. Jahrhunderts (Wiesbaden 1994), S. 61–98, hier S. 62 f.; ders., Die Mechanisierung der deutschen Buchbinderei 1850–1900, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 36 (1991), S. 1–94, hier S. 5, 12. Ebenso Schaefer, Zur Dauer und Zierde, (Anm. 63), S. 22 f., 25 f., die vor dem Hintergrund industrialisierter Herstellungsformen des Buches auf die „technische Trennung zwischen Buchblock- und Deckenbearbeitung“ hinweist. Interessantes Detail: Noch 1833 wurde dem Brockhaus-Verlag in Leipzig durch die dortige Innung untersagt, eine eigene Buchbinderei zu führen. Biesalski, Die Mechanisierung der deutschen Buchbinderei 1850–1900, (Anm. 85), S. 12. 86 Vg. Rhein, Die frühen Verlagseinbände (Anm. 85), S. 530; Biesalski, Die Mechanisierung der deutschen Buchbinderei 1850–1900, (Anm. 85), S. 62. Als „Faustregel für die Progression der Lesefähigkeit in Mittel- und Westeuropa“ gilt: Sie steht 1830 bei 30 %, steigt dann pro Dekade um weitere 10 % bis 1900 eine „nahezu vollständige Alphabetisierung“ der über sechs Jahre alten Bevölkerung erreicht ist. Vgl. Monika Estermann, Georg Jäger, Geschichtliche Grundlagen und Entwicklung des Buchhandels im Deutschen Reich bis 1871, in: Georg Jäger (Hrsg.), Geschichte des Deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Das Kaiserreich 1870– 1918, Teil 1 (Frankfurt/M. 2001), S. 17–41, hier S. 21 f. 26 wiederzuerkennenden Büchern besteht. So „herrscht der Einband vor, den der Verleger durch den Buchhandel anbietet“87; weshalb sich 5. deren Gestaltungskriterien an einem anderen, sehr erfolgreichen Medium des frühen 20. Jahrhunderts orientieren: dem Plakat.88 Genau wie dieses nämlich, müssen auch Bücher, die aus den Magazinen und Regalen in die Ladenfenster versetzt worden sind, „aus der Ferne zu zünden“89. Kleinteilig dekorierte Einbände schienen dazu wenig geeignet, denn ein „Blickfang“, konstatierte 1926 die Schaufenstergestalterin Elisabeth Stephani-Hahn, „könne nur durch Plakatwirkung erzeugt werden“90; d.h., um des „werblichen Erfolges willen“ solle man „Texte und Motive zugunsten monumentaler Form, einprägsamer Botschaft und spontaner Faßlichkeit vereinfachen“. Ein Leitsatz, der wohl von den Eigenschaften des „Sachplakates“ beeinflusst war,91 der aber 6. schon bald durch die Entdeckung des Buchäußeren als Werbeträger wieder relativiert worden ist (Abb. 16). Das gilt für die fest mit dem Buchblock verbundenen Einbände und mehr noch, weil leichter herzustellen, für die losen Umschläge.92 Erst in den 1890er Jahren jedoch wird sich die Praxis durchgesetzt haben, Inhaltsverzeichnisse, Pressestimmen, Verlagsanzeigen oder eigens verfasste Werbetexte auf die Vorder- und sogar Rückseiten der Bücher zu drucken. Auch einzelne, um das Buch gefaltete Papierstreifen, sog. Bauchbinden entstehen zu dieser Zeit, meist um auf unerwartete Ereignisse zu reagieren, die für den Vertrieb des jeweiligen Titels förderlich sein könnten.93 Die Schutz- und Verpackungsfunktion der Umschläge also ist im Zeitalter des Schaufensters gestaltungspraktisch überformt worden.94 Eine Emanzipationsgeschichte, die sich als doppelte Loslösung entwickelt hat: Zum einen trennt sie das innere vom äußeren Erscheinungsbild des Buches (etwa bei der Wahl der Typographie), zum anderen befreit sie es durch ihre Logik der 87 Schauer, Wege der Buchgestaltung, (Anm. 79), S. 58. Vgl. u. a. Borscheid, Am Anfang war das Wort, (Anm. 6), S. 38, 50; Schleif, SchaufensterKunst, (Anm. 13), S. 108. 89 Mitteilungen des Vereins Deutscher Reklamekünstler, Nr. 23, 1911, S. 13. 90 Zit. nach Schleif, SchaufensterKunst, (Anm. 13), S. 108. Ebenso Charles Rosner, Die Kunst des Buchumschlages (Stuttgart 1954), S. XVII in seiner frühen Geschichte des Schutzumschlages: „Einband und Schutzumschlag können zweifellos als verfeinerte Kleinplakate angesehen werden. [...] Es waren natürlich Plakate ‚en miniature’.“ 91 Als ‚Erfinder’ dieses Plakatstils gilt der in Stuttgart geborene Graphiker Emil Kahn alias Lucian Bernhard, der 1903 mit einer Arbeit für Priester-Zündhölzer in Berlin berühmt wurde. Bis zu seiner Übersiedlung nach New York folgten zahlreiche, heute als Ikonen der Werbegraphik gefeierte Entwürfe u.a. für Stiller, Manoli, Bosch, Audi oder Kaffee-Hag. Auch Buchumschläge hat Bernhard gestaltet: vor allem für den Axel Juncker Verlag, Meyer & Jessen sowie den Erich Reiss Verlag. Vgl. Riedel, Lucian Bernhard, (Anm. 80), S. 120 ff.; Jörg Meißner, Die Straße als Bühne, in: Ders., Strategien der Werbekunst 1850–1933 (München 2004), S. 200–233. 92 Rosner, Die Kunst des Buchumschlages, (Anm. 90), S. V. Es ist nach wie vor umstritten, ob der Buchumschlag aus dem Einschlagpapier der Druckereien oder aus einer Verselbständigung des Broschurumschlages hervorgegangen ist. Als Zeitpunkt aber werden übereinstimmend die 1830er Jahre genannt. Ebd., S. VII. Ebenso Schauer, Wege der Buchgestaltung, (Anm. 79), S. 72 f.; Jürgen Holstein, Blickfang. Bucheinbände und Schutzumschläge Berliner Verlage 1919–1933 (Berlin 2005), S. 22. 93 Vgl. Holstein, Blickfang, (Anm. 92), S. 23. Das Bedrucken der Einschlagklappen oder gar der UmschlagInnenflächen ist damals zwar auch gebräuchlich geworden, spielt für die Inszenierung des Buches im Schaufenster jedoch keine Rolle. 94 „Erst diese Kleider [= Verpackungen] machten die wahren Produkte.“ Borscheid, Am Anfang war das Wort, (Anm. 6), S. 30. Ebenso Wilhelm Haefs, Ästhetische Aspekte des Gebrauchsbuches in der Weimarer Republik, in: Mark Lehmstedt, Lothar Poethe (Hrsg.), Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte, 6 (1996), S. 353–382, hier S. 353, der besonders für die 1920er Jahre eine „Autonomisierung [...] des Buchumschlages“ konstatiert. 88 27 Aufmerksamkeitssteigerung auch von dem Anspruch Form und Inhalt, Text und Ausstattung aufeinander beziehen zu müssen. Stattdessen treten Einbände und Umschläge als selbständige Medien auf. Durch ihre Gestaltung könnten sie nun, wie Georg Schauer bestätigt, „ebenso gut als Prospekt oder Plakat neben dem Buch hergehen“, da sie „im Grunde nur eine Aufgabe“ erfüllen müssen: „den Beschauer zum Kaufentschluß hinzureißen.95 Abb. 16: Umschlag-Exemplare des Internationalen Psychoanalytischen Verlages mit Bauchbinde und Werbetexten. Collection Philippe Helaers. Das Material Wien, im Mai 1938: Nur wenige Wochen nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Österreich wird der Chemiker, Sprengstoffexperte und NS-Parteigänger Dr. Anton Sauerwald als „kommissarischer Leiter“ des Internationalen Psychoanalytischen Verlages, mit Adresse in der Berggasse 7, eingesetzt. Sein Auftrag: „Sofortige Liquidierung“96 – ein zunächst administrativer Vorgang, der, wie die Akten des zuständigen Handelsgerichtes zeigen, ebenso akribisch wie erfolgreich durchgeführt wurde. Bereits Ende 1938 ist die Firma de facto aufgelöst; ihre Löschung aus dem Wiener Handelsregister erfolgt am 15. März 1941.97 Dagegen ist das Bücher- und Aktenarchiv des Verlages dem Schicksal der Institution nur teilweise gefolgt. Zwar wurde auch davon vieles durch die Nationalsozialisten vernichtet, ein 95 Schauer, Wege der Buchgestaltung, (Anm. 79), S. 75. Ebenso Rosner, Die Kunst des Buchumschlages, (Anm. 90), S. XVII. Ex negativo, d.h. als Anklage bestätigt diese Entwicklung auch Ernst Collin, Verlagsband, in: Gebrauchsgrafik, Jg. 1, H. 11, 1925, S. 40–42: „[D]er Verleger verlangt nicht nur einen schönen Einband, er will – und er will dies zum Schaden des Einbandes oft in erster Linie – daß dieses d a s Werbemittel des Buches sei.“ 96 Wiener Stadt- und Landesarchiv [= WStLA], Reg. C 55-223 (85, 87). Die Vorgänge dieses Bestandes sind mit einer fortlaufenden, allerdings lückenhaften Nummerierung versehen. Bei Zitaten ist diese jeweilige Nummer bzw. das Datum in Klammern hinter das Archivkürzel gesetzt. Details zu den Aktivitäten Sauerwalds geben außerdem Murray G. Hall, The Fate of the Internationale Psychoanalytische Verlag, in: Edward Timms, Naomi Segal (Hrsg.), Freud in Exile. Psychoanalysis and its Vicissitudes (New Haven, London 1988), S. 90–105, hier S. 97 ff.; ders., Christina Köstner (Hrsg.), …allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern… Eine österreichische Institution in der NS-Zeit (Wien 2006), S. 222 f. 97 WStLA Reg. C 55-223 (123–126). 28 gewisser Teil jedoch scheint über verschiedene, noch heute nicht identifizierte Kanäle abgezweigt und verteilt worden zu sein. Auf Auktionen oder im Zuge von Restituierungsmaßnahmen jedenfalls tauchen einige dieser Exemplare und Papiere inzwischen wieder auf.98 Andererseits gibt es bis heute keine öffentliche Einrichtung in Österreich, Deutschland oder sonstwo, die sich über die Jahre hinweg systematisch mit der Anschaffung und Archivierung der Verlagsprodukte befasst hätte.99 Desgleichen ist die Psychoanalyseforschung bisher nur in wenigen Aufsätzen und kurzen Kapiteln auf die Wiener Firma eingegangen.100 Dabei dominieren wissenschaftssoziologische, biographische und ideengeschichtliche Interessen. Eine Ausnahme freilich bilden die Arbeiten von Murray G. Hall, der als erster die Verlagsakten in den Wiener Handelsarchiven erschlossen und in Bezug auf die Liquidierung ausgewertet hat, sowie die bis heute unveröffentlichte Dissertation von Lydia Marinelli, die sich entgegen einer „eng gefassten, immanenten Geschichte der Psychoanalyse“ mit den „Entstehungsbedingungen“ der „ersten psychoanalytischen Bücher“ beschäftigt hat.101 Ihrem publikationsgeschichtlichen Ansatz entsprechend hat sie dabei nicht nur eine Vielzahl seinerzeit unpublizierter und unbekannter Quellen ausfindig gemacht, sondern auch erstmalig die Kanonisierungsfunktion des Verlages für die Psychoanalyse nachgewiesen. Gleichwohl bleibt auch vor diesem Hintergrund bestehen, dass die Bücher selber, ihre physischen Gestaltungs- und Erscheinungsweisen, zusammen mit den Einbänden, Umschlägen, Anzeigen, Waschzetteln, Beilagen, Banderolen, Werbepostkarten usw. noch niemals umfassend beschrieben und analysiert worden sind. Die Frage nach den Layout-Strategien der Wiener Firma stellt deshalb nach wie vor ein Desiderat der Forschung dar; zumal aus einer medienhistorisch-epistemologischen Perspektive, die darin zugleich die Symptome veränderter Legitimationsbedingungen des Wissens in der Moderne zu erkennen sucht. Dabei kommen als Material allein die Originalausgaben des Verlages in Frage, die sich jedoch in sehr unterschiedlichen Zuständen überliefert haben. Schlechtes, weil säurehaltiges Papier ist ein Problem, minderwertige Druck- und Einbandfarben ein anderes. Hinzu kommt die Angewohnheit vieler Bibliotheken, die Verlagsbindungen durch eigene stabilere Einbände zu ersetzten. Dass die Wiener Drucksachengestaltung trotzdem untersucht werden kann, ist deshalb drei privaten Sammlern zu verdanken, die inzwischen nicht nur sämtliche Verlagspublikationen zusammengetragen haben, sondern diese hier auch erstmalig und großzügigerweise einem Forschungsprojekt zur Verfügung stellen: die Collection Philippe Helaers, das Fachantiquariat für Psychoanalyse Urban Zerfaß und das Antiquariat Jürgen Läßig. 98 Vgl. etwa Hall, Köstner, …allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern…., (Anm. 96), S. 227 f. Das gilt meinen Recherchen zufolge für die Freud-Museen in Wien und London genauso wie für die entsprechenden National- und Landesbibliotheken sowie die Sigmund Freud Collection in der Washingtoner Library of Congress bzw. die Otto Rank Paper’s Collection in der New Yorker Columbia University. 100 Vgl. Sieglinde Tömmel, Die Evolution der Psychoanalyse. Beiträge zu einer evolutionären Wissenschaftssoziologie (Frankfurt/M. 1985); Harald Leupold-Löwenthal, Die Vertreibung der Familie Freud 1938, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 43, H. 10 (1989), S. 918–928; Fallend, Sonderlinge, Träumer, Sensitive (Anm. 37), S. 69–88; Huppke, Zur Geschichte des Internationalen Psychoanalytischen Verlages (Anm. 37). 101 Hall, The Fate of the Internationale Psychoanalytische Verlag (Anm. 96); Marinelli, Psyches Kanon (Anm. 37), S. 5. Den folgenden Ausführungen sind diese Texte nicht nur als Wegbereiter vorangegangen, sondern sie sind auch den Gesprächen, die ich mit beiden Autoren in Wien und Berlin führen konnte zu Dank verpflichtet. 99 29 Auf dieser Materialbasis lässt sich nun Folgendes feststellen: Zwischen 1919 und 1938 hat der Verlag 248 Monographien produziert, einschließlich der Sonderdrucke, Beihefte und Bindevarianten;102 davon sind 57 Ausgaben (= 23 %) in den vier Verlagsreihen erschienen: - Internationale Psychoanalytische Bibliothek (1919–1927) - Quellenschriften zur seelischen Entwicklung (1919–1924) - Imago-Bücher (1921–28) - Neue Arbeiten zur ärztlichen Psychoanalyse (1924–1927)103 Die Produktivität des Verlages aber ist während der fast 20 Jahre seines Bestehens sehr unterschiedlich gewesen. Der Grund waren zumeist finanzielle Engpässe, die wiederholt zu Verzögerungen in den Geschäftsabläufen oder zu Einbußen bei den Honoraren bzw. Gehältern geführt haben. In den 1930er Jahren stellt außerdem der Antisemitismus in Österreich und Deutschland eine zunehmende Schwierigkeit für die Herstellung und den Absatz der Bücher dar. Die meisten Gesellschafter, Mitarbeiter und Autoren des Verlages sind ja jüdischer Herkunft gewesen. Abb. 17: Gesamtproduktion der deutschsprachigen Monographien des Verlages. Entsprechend zeigt die Graphik zu den Verlagsmonographien eine insgesamt absteigende Linie. Doch schon ein flüchtiger Blick stolpert über zwei Amplituden, die diesem Trend widersprechen: 1924 und 1931. Neben allgemeinen wirtschaftlichen und politischen Problemen im ehemaligen Habsburgerreich hat aber zu diesen Zeiten nicht nur die 102 Unberücksichtigt bleiben dabei die vier Zeitschriften des Verlages, der Almanach, Freuds Gesammelte Schriften, einige übernommene und dann unter eigenem Label vertriebene Titel sowie fremdsprachige Publikationen z.B. der Londoner Filiale (= International Psycho-Analytical Press). 103 Da hier der Fragestellung gemäß auch die Bindevarianten einbezogen werden, unterscheidet sich die Zählung von allen bisher vorgelegten Verlagsverzeichnissen, die zwischen 162 und 165 Einzeltitel aufführen: vgl. Andrea Huppke, Urban Zerfaß, Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1919–1938. Eine Dokumentation der Originalausgaben (Berlin 1995); Marinelli, Zur Geschichte des Internationalen Psychoanalytischen Verlags, (Anm. 37); dies., Psyches Kanon (Anm. 37). 30 Währungsreform für Unsicherheiten in Österreich gesorgt und eine dramatischen Finanzkrise ist über Europa hereingebrochen, sondern es scheinen ebenso jene Jahre gewesen zu sein, in denen die Betriebsamkeit des Verlages durch seine Direktorenwechsel neu entfacht worden ist. Im November 1924, heißt das, steigt Adolf József Storfer, ein aus Rumänien stammender Journalist, Bohemien und Nicht-Analytiker vom Assistenten zum Leiter der Wiener Firma auf, um dann wegen Streitereien über Bilanzen, Werbekosten und Gehaltsforderungen sowie einem Rücktrittsangebot im März 1931 ein knappes Jahr später endgültig von Freuds Sohn Martin abgelöst zu werden.104 Bezeichnenderweise ereignen sich die wichtigsten Gestaltungsinitiativen der Verlages genau im Rahmen dieser beiden Zeitpunkte. Abb. 18: A. J. Storfer als Karikatur (in: Olga Székely-Kovács, Robert Berèny [Hrsg.], Karikaturen vom achten Internationalen Psychoanalytischen Kongreß [Leipzig, Wien, Zürich 1924], Collection Philippe Helaers) und als Foto (Nachlass Milan Dubrovic, Wienbibliothek im Rathaus / Handschriftensammlung, ZPH 944). Die Farben „Es gibt“, um mit Georg Schauer an eine ebenso triviale wie häufig vernachlässigte Eigenschaft gedruckter Medien zu erinnern, „kein farbloses Buch“105 Demzufolge zeigt bereits eine kursorische Sichtung der Verlagsprodukte, dass nicht nur deren Druckqualität erheblich schwankt (z.B. sind Färbungen ungleichmäßig verteilt, das Leinen ist zum Teil knotig gewebt und Titelschriften sind schief aufgebracht bzw. in ungleichmäßigen Laufweiten gesetzt), sondern man erkennt auch, dass seine frühen Veröffentlichungen gestalterisch noch stark an den Vorgängerverlagen seiner Autoren orientiert waren. 104 Zu Storfers Ernennung als Verlagsleiter vgl. insbesondere Freud, Rank, Correspondence (Anm. 39), Nr. 210730/R, 220822/R, 220903/R; Tögel, Wittenberger, Die Rundbriefe des ‚Geheimen Komitees’ 1913–1936 (Anm. 45), Bd. 2, S. 104; ebd., Bd. 4, S. 263; Freud, Ferenczi, Briefwechsel, (Anm. 45), Bd. III/1, S. 255; ebd., Bd. III/2, S. 27; WStLA Reg. C 55-223 (20. Mai 1925); zu seiner Demission u.a. Freud, Eitingon, Briefwechsel 1906–1939, (Anm. 45), S. 718, 721–727, 736, 965; Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik, Bd. IV, S. 171; Freud, Ferenczi, Briefwechsel, (Anm. 45), Bd. III/2, S. 278; Die Psychoanalytische Bewegung, Bd. IV, S. 192; WStLA Reg. C 55-223 (59, 65). 105 Schauer, Wege der Buchgestaltung, (Anm. 79), S. 82. 31 Abb. 19: Vorgängerpublikationen und erste Veröffentlichungen des Wiener Verlages. Collection Philippe Helaers. Ab 1922 aber, beginnend mit Freuds Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, und dann auffallend häufig ab 1924, beginnend mit Bernfelds Vom dichterischen Schaffen der Jugend, sind immer öfter gelbe und orange-rote Einbände mit schwarzer Schrift zu finden. Abb. 20: Die ersten in gelb und orange-rot eingebundenen Bücher des Verlages. Collection Philippe Helaers (oben), Antiquariat Jürgen Läßig (unten). Eine Auszählung der entsprechenden Ausgaben ergibt zunächst, dass die Kurve der gelben Einbandexemplare ungefähr parallel zur Kurve der Gesamtproduktion des Verlages verläuft (Abb. 17), die Amplituden für die orange-roten Bände jedoch zeitlich vor dem gehäuften Einsatz der gelbe Einbandfarbe liegen (Abb. 21). Darüber hinaus lässt sich an der Graphik Folgendes ablesen: - Von den genannten 248 Monographien des Verlages sind 35 Ausgaben (= 14 %) in orange-roten, 78 Ausgaben (= 31,5 %) in gelben sowie 15 Ausgaben (= 6 %) in anteilig gelben Einbänden erschienen. Das heißt, - es haben 93 Ausgaben (= 37,5 %) des Verlages gelbe und anteilig gelbe Einbände; oder: - Insgesamt sind 128 Titel, also mehr als die Hälfte aller Verlagsbücher in den zwei dominanten Einbandfarben Gelb und Orange-Rot erschienen. 32 Abb. 21: Häufigkeitsverteilung der gelben und orange-roten Einbände des Verlages. Das Ergebnis dieser Zahlen lässt sich aber noch weiter zuspitzen; etwa um auf die Bedeutung Storfers für die Farbpolitik des Verlages hinzuweisen, denn im Laufe seines Direktorates vom November 1924 bis Ende 1931 sind allein 82 % aller gelben und anteilig gelben Verlagsbücher entstanden. Im Einzelnen heißt das: - Während dieser Zeit hat die Wiener Firma 156 Monographien publiziert; beinahe ! ihrer Gesamtproduktion. Davon wurden 63 Ausgaben mit gelben und 13 Ausgaben mit anteilig gelben Umschlägen gestaltet. Zusammen ergibt das 76 Ausgaben (= 49 %) in dieser Farbe und also 11,5 % mehr als in der Gesamttendenz des Verlages. - Berücksichtigt man außerdem die zweite dominante Einbandfarbe, dann wurden unter Storfer 69 % aller orange-roten Verlagsbücher hergestellt. Das sind 24 Titel oder, bezogen auf sämtliche Monographien während seines Direktorates, 16 % und also 2 % mehr als in der orange-roten Gesamttendenz der Wiener Firma. - Insofern gilt: Von den 156 Büchern, die unter Storfer publiziert wurden, sind 100 Ausgaben, also fast ! in den beiden genannten Einbandfarben erscheinen. Abb. 22: Häufigkeit der gelben und orange-roten Verlagseinbände unter Storfer. 33 Diese Gestaltungstendenz gilt nicht nur für die Einzelwerke des Verlages, sondern auch für seine Zeitschriften. Dazu ganz kurz: - 1926 gründete Storfer innerhalb der Wiener Firma die Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik. Sie erschien stets in gelber Broschur, zuerst durch einen grünen, dann durch einen roten Rand ergänzt.106 - Auch der von Storfer seit 1926 herausgegebene Almanach erschien häufig in gelbem oder orange-rotem Leinen. - Ab Mai/Juni 1927 kam der Verlag mit der Zeitschrift Die psychoanalytische Bewegung auf den Markt. Sie war durchwegs in einer gelben Broschur eingeschlagen, zumeist mit rotem Rand. - Und schließlich initiierte Storfer zwischen 1930 und 1931 die Umstellung der Imago und der IZP auf gelbe Einbände. Abb. 23: Die Zeitschriften des Verlages in gelb und orange-rot. Collection Philippe Helaers (oben), Fachantiquariat für Psychoanalyse Urban Zerfaß (unten). 106 Der grüne Rand soll Storfer, wenn man den Äußerungen seines Freundes Milan Dubrovic (vgl. dessen Nachlass in der Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung ZPH 944) trauen darf, an die Wiesen seiner rumänischen Heimat erinnern. 34 Warum immer wieder und vor allem diese Farbe? Einen ersten Hinweis dazu liefert die von Storfer ab Mai 1939 im Shanghaier Exil herausgegebene Halbmonatsschrift Gelbe Post. Im Vorwort des ersten Heftes nämlich erklärt der ehemalige Wiener Verlagsdirektor: Man lege ihn [= den Namen Gelbe Post] nicht aus und nichts in ihn hinein. Tiefere Bedeutung suche man nicht hinter ihm. Er hat weder mit der gelben Rasse, noch mit dem gelben Fleck, noch mit dem Schwarz-Gelb der einstigen österreichisch-ungarischen Monarchie zu tun. Auch kann wohl niemand Vernünftiger auf den Gedanken kommen, dass wir uns selbst in jene mit Recht verrufene der ultrapatriotischen und skandallüsternen Presse einreihen wollen, die der Amerikaner als „Yellow Press“ zu bezeichnen pflegt. Es ist experimentell nachgewiesen worden, dass schwarzer Druck auf gelbem Papier die dem Auge günstigste Zusammenstellung darstellt. Der Herausgeber hat in Europa eine Reihe von Zeitschriften verlegt, die gelbe Umschläge hatten und wünscht auch seine neue Zeitschrift im gelben Gewand in die Welt zu schicken.107 Diese Auskunft mag Psychoanalytiker erstaunen. Storfer jedoch war in seinen Interessen niemals nur auf deren Theoriebildungen festgelegt. Als Kaffeehaus-Enthusiast, FeuilletonSchreiber und Sprachforscher jedenfalls scheint er nicht nur einen „hervorragenden Geschmack“ besessen zu haben, immerhin bescheinigen ihm Richard Sterba und Anna Freud, dass er im Verlag ein „begabter Gestalter“ gewesen ist, der insbesondere Sigmund Freuds Gesammelte Schriften „äußerlich ausgezeichnet ausgestattet“ hat,108 sondern er scheint auch aufmerksam für Mitteilungen zur experimentellen Leseforschung gewesen zu sein. Anstatt also, wie vielleicht zu erwarten, für die Gestaltung der Verlagseinbände auf psychologische oder symboltheoretische Überlegungen zurückzugreifen, liefert Storfer eine wahrnehmungsphysiologische Begründung. Das heißt: Er koppelt Erkenntnisse aus der Laborpraxis mit buchhändlerischen Entscheidungen, die deshalb zu epistemischen, auf die Rezeptionsverhalten der Leser einwirkenden Faktoren werden. Leider war vor dem Hintergrund der wenigen Dokumente, die von Storfer überliefert sind noch nicht zu klären, auf welche Experimente er sich genau bezieht. Dennoch sei hier – in aller Vorläufigkeit – auf eine Studie des Physikers und „Father of the Science of Seeing“ Matthew Luckiesh hingewiesen, die sowohl zeitlich als auch sachlich zu den Wiener Gestaltungsstrategien passt: „Satisfactory seeing“, heißt es nämlich bei Luckiesh in einem Kapitel über Schaufenster, „is largely a matter of a proper contrast.“109 Entsprechende Testreihen „on the legibility of various combinations of colors in advertisements“ haben dann aber keineswegs die Überlegenheit von schwarzer Schrift auf weißem Grund bewiesen, sondern zu der folgenden Rangliste geführt: 107 Adolf József Storfer, In eigener Sache, in: Ders., Gelbe Post. Ostasiatische Halbmonatsschrift, Jg. 1, H.1, Mai 1939, S. 1. 108 Richard Sterba, Erinnerungen eines Wiener Psychoanalytikers [1982] (Frankfurt/M. 1985), S. 49 f.; Anna Freud, Vorwort der Herausgeber [1951], in: Sigmund Freud, Gesammelte Werke, hrsg. von Anna Freud (Frankfurt/M. 1999), S. V–VII, hier S. V; Joachim F. Danckwardt, A. J. Storfer (1888–1944). „Räuberhauptmann“ und „Bohémien“ oder verkappter psychoanalytischer Sprach- und Kulturforscher, in: Storfer, Adolf Joseph (Hrsg.): Wörter und ihre Schicksale, Reprint (Berlin 2000), Bd. 1, S. 11–23, hier S. 17. 109 Matthew Luckiesh, Light and Color in Advertising and Merchandising (New York 1927), S. 166. Das direkt folgende Zitat S. 250. 35 Abb. 24: Rangliste zur Lesbarkeit verschiedener Farbkombinationen. Aus: Luckiesh, Light and Color in Advertising and Merchandising, (Anm. 109), S. 250. Was freilich bei Luckiesh unter anderem fehlt, ist eine Berücksichtigung der Buchstabenformen, die in den Experimenten jeweils verwendet wurden. Nicht nur, weil gerade in den 1920er Jahren ein drastischer Wandel auf dem Gebiet typographischer Konventionen zu beobachten ist, sondern auch, weil sich dieser Wandel zumindest im deutschsprachigen Raum vor dem Hintergrund einer immer noch verbreiteten Zweischriftigkeit ereignet hat. Neben den Diskussionen um die Grotesk-Schriftarten der „neuen“ oder „elementaren typografie“ muss man hier also nach wie vor mit den Ausläufern eines „Antiqua-Fraktur-Debatte“ rechnen, deren Anfänge bis in das 18. Jahrhundert zurückreichen.110 Die Typographie In unterschiedlichem Ausmaß lässt sich jede dieser Schriftarten unter den Publikationen des Wiener Verlages finden. Die Fraktur allerdings ist als Akzidenzia nur ein einziges Mal verwendet worden,111 während vor allem ab 1932 (also kurz nach Storfers Demission) eine Reihe von Umschlägen und Einbänden in zeitgenössischen Sans-Serif-Typen gestaltet wurde.112 Ansonsten überwiegen klassizistische Antiquas; in der Vox-Klassifikation Didones genannt: als schwarze Schrift auf zumeist gelbem oder orange-rotem Grund. Auch dass es sich dabei, von wenigen Ausnahmen abgesehen, um rein typographische Entwürfe handelt, gehorcht inzwischen klassisch gewordenen Mustern;113 ebenso, wie deren räumliche 110 Vgl. dazu vor allem Christina Killius, Die Antiqua-Fraktur-Debatte um 1800 und ihre historische Herleitung (Wiesbaden 1999) bzw. Susanne Wehde, Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung (Tübingen, 2000). 111 Das ist eine Sonderausgabe von Freuds Eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert, die speziell für den Deutschen Bibliophilentags in Wien (29. September bis 2. Oktober 1928) hergestellt wurde. Um ganz genau zu sein: Es sind noch drei Werbezettel überliefert, deren Zwischentitel in Fraktur gesetzt wurde und es gibt zwei Umschlagexemplare von 1930, die eine Fraktur-Schrift auf ihren simulierten Bauchbinden tragen. 112 Beispielsweise: Melanie Klein, Die Psychoanalyse des Kindes; Sigmund Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse; Georg Groddeck, Der Mensch als Symbol. Unmaßgebliche Meinungen über Sprache und Kunst; Imre Hermann, Die Psychoanalyse als Methode. 113 Peter Neumann, Buchgestaltung, in: Jäger, Geschichte des Deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, (Anm. 86), S. 170–196, hier S. 189: „Im Jahrzehnt nach 1900 wurde die ‚ornamentale und bildliche ‚Dekoration’’ der Bücher durch eine ‚typographische Periode’ abgelöst“. Ebenso Wulf D. v. Lucius, 36 Anordnung: Mittelachsig gesetzt, in gemischten Graden, steht immer wieder der Reihentitel zuoberst, darunter folgt der Buchtitel, dann der Autorname, noch weiter unten das Firmenlogo (falls vorhanden) und am Fuß des Einbandes der Verlagsname mit seinen beiden Druckorten. Der dadurch entstehende Freiraum auf der Schauseite der Bücher ist aber nicht einfach leer oder nur unbedruckt, sondern selber ein prägendes Element. Um 1920 gibt es dafür sicher ästhetische Motive, etwa als Abkehr von den Extravaganzen des Jugendstils; gleichwohl scheint es auch vor dem Hintergrund jenes Passanten-Schaufenster-Szenarios angebracht, mit der Einbandgestaltung auf die Veränderungen moderner Lebens-, Verkehrs- und Rezeptionsverhältnisse zu reagieren. Aber noch ein weiteres Gestaltungselement ist an den Büchern des Wiener Verlages bemerkenswert: Denn wie schon für die Farbpolitik, so gilt auch für die Wahl der Titelschriften, dass nach einer heterogenen Anfangsphase, vor allem unter Storfers Direktorat zwei dominante Typen für die Einbände und Umschläge charakteristisch wurden: Zum einen die Cochin-Antiqua (Abb. 16, 20, 25), die 1912 von Charles Malin bei Deberny & Peignot (damals noch G. Peignot & Fils) in Paris geschnitten wurde, benannt nach dem französischen Graveur Charles Nicolas Cochin d. J., 1715–1790;114 zum anderen die Tiemann-Antiqua (Abb. 16, 27), entworfen von Walter Tiemann, die 1920 in der Offenbacher Gießerei Gebrüder Klingspor hergestellt wurde.115 Abb. 25: Verlagsexemplare in der Chochin-Antiqua. Collection Philippe Helaers (links), Antiquariat Jürgen Läßig (rechts). Buchgestaltung und Buchkunst, in: Ernst Fischer, Stephan Füssel (Hrsg.), Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 2: Die Weimarer Republik 1918–1933, Teil 1 (München 2007), S. 315–340, hier S. 315 ff. 114 In einschlägigen Schriftbüchern wird diese Type auch als „Sonderdruck“ geführt, 1922 von der Frankfurter Schriftgießerei Ludwig & Mayer hergestellt. Vgl. W. Turner Berry, A. F. Johnson, W. P. Jaspert (Hrsg.), The Encyclopaedia of Type Faces (London 1962), S. 133. 115 Mit Dank an Friedrich Forssman und Oliver Linke für die Entschlüsselung der Verlagsschriften. Die These von Georg Fritsch, Ein Sieben-Kilo-Packet edelster bibliophiler Gaben, in: Marinelli, Zur Geschichte des Internationalen Psychoanalytischen Verlags, (Anm. 37), S. 49–55, hier S. 52 und Marinelli, Psyches Kanon (Anm. 37), S. 66, es handle sich dabei vor allem um die von Lucian Bernhard (vgl. Anm. 91) entworfene Bernhard Modern kann nicht bestätigt werden. 37 Von Maximilian Vox, einem der berühmten Buchgestalter bei Deberny & Peignot wird die Cochin als eine „spezifisch französische Werkschrift“ charakterisiert.116 Beginnend mit ihrem „Hahnenschrei [...] von 1912–1913“ hat sie sich deshalb nicht nur zu einer weit verbreiteten Type entwickelt, sondern sie ist zugleich als ein „CochinStil“ wahrgenommen worden, der seinen Einfluss „bis ungefähr 1936“ geltend machen konnte. Vox zufolge hat die Cochin „nichts von einer archaischen Rekonstruktion an sich“; sie sei vielmehr „psychologisch“ geartet, sodass ihre schlanke, durch auffällige Ober- und Unterlängen geprägte Gestalt eine „Gegenströmung“ zu jener „neuen Romantik“ Abb. 26: Die Normande gebildet hat, die vor allem in Frankreich mit den „schwarzen Lettern als Titelschrift, 1920. der ‚Normande’“ assoziiert wurde. Auf den Verlagsbüchern findet sich die Cochin zum ersten Mal 1922 (Abb. 20), also genau ein Jahr nach Storfers Eintritt als Assistent, und ist in der Folge dann, zumindest bis 1932 als Martin Freud das Direktorat übernimmt, zu der am meisten verwendeten Einbandschrift der Wiener Firma geworden. Auf deren Gesamtproduktion berechnet sind in dieser Type 109 Ausgaben (= 44 %) erschienen; davon allein 103 Ausgaben, das ist 53 % aller Verlagsbücher, während Storfers Assistenz- und Direktorenzeit.117 Abb. 27: Verlagsexemplare in der Tiemann-Antiqua. Collection Philippe Helaers (links), Antiquariat Jürgen Läßig (rechts). 116 Vgl. Maximilian Vox, Das halbe Jahrhundert 1914–1964, in: Georg Kurt Schauer (Hrsg.), Internationale Buchkunst im 19. und 20. Jahrhundert (Ravensburg 1969), S. 247–259, hier S. 257. Die direkt folgenden Zitate S. 247, 250. Ebenso Charles Peignot: Deberny et Peignot. La Belle Époque de la Typographie, in: caractère. revue mensuelle des industries graphiques et transformatrice du papier et du carton, (Paris) Dezember 1975, S. 33–53, hier S. 39: „Les Cochins [...] domineront la typographie française après la guerre.“ Auf S. 43 ist sogar von „le succès mondial des ‚Cochin’“ die Rede, für den der Wiener Verlag dann ein Beispiel wäre. 117 In diese Zählung sind auch 11 Ausgaben mit aufgenommen, deren Umschlagschrift der Cochin bis auf zwei Merkmale (das unten leicht geöffnete g und das unten etwas abgerundete y) gleicht. 38 Auf einem quantitativ etwas geringeren Niveau gilt Ähnliches für die Tiemann-Antiqua. Auch sie findet ihre erste Verwendung kurz nach Storfers Eintritt in den Verlag, endet aber nicht mit dessen Demission, sondern wurde von Martin Freud bis 1934 weiter eingesetzt. Eine abschließende Zählung zeigt, dass die beiden dominanten Titelschriften des Verlages während Storfers Amtszeit auf 78,5 % aller Einzelausgaben zu sehen sind, also in etwas mehr als " aller Fälle. Abb. 28: Häufigkeit der Titelschriften des Verlages unter Storfer. Allerdings: Über die Bücher hinaus ist vor allem die Cochin-Type auch auf den Zeitschriften des Verlages zu sehen (Abb. 23) sowie auf einer ganzen Reihe sog. ephemerer Drucksachen der Wiener Firma, wie z.B. Inseraten, Sonderangeboten, Werbebeilagen, Briefköpfen und, leider nur in schwarz/weiß, weil im Original sehr gelb-orange, bei einem gemeinsamen Werbeauftritt in Storfers Almanach von 1926 (Abb. 28). Abb. 29: Werbematerialien des Verlages in der Cochin-Antiqua. Anzeiger für den Buch-, Kunstund Musikalienhandel, Wien 1928 (oben links); Antiquariat Jürgen Läßig (oben rechts); Sigmund Freud Museum Wien (unten links); Fachantiquariat für Psychoanalyse Urban Zerfaß (unten rechts). 39 Angesichts dieser Ergebnisse lässt sich nun Folgendes behaupten: 1. Die typographisch-gestalterische Bedeutung des Internationalen Psychoanalytischen Verlages liegt nicht darin, ästhetisch einzigartige oder kunsthistorisch bemerkenswerte Bücher vorgelegt zu haben. Ganz im Gegenteil, denn es gilt 2. dass der Verlag in den fast 20 Jahren seiner publikatorischen Tätigkeit eine Tendenz zur Vereinheitlichung seiner Einband- und Umschlagentwürfe gezeigt hat. Man könnte deshalb 3. von einer Entindividualisierung seines Buchäußeren sprechen. Statt jedem Band ein spezielles Gesicht zu geben, kam es auf deren Uniformierung an, die dann zugleich als eine Bedingung ihrer epistemischen Funktion erscheint: Die gestalterischen Differenzen nach Innen sind minimiert worden, sodass sich ihre Unterscheidbarkeit nach Außen maximieren konnte. Distinktionsgewinn ist das erste Resultat dieser Strategie, die darüber hinaus aber auch ein Verfahren der Diffusion gewesen ist: Durch das Layout der Bücher, Journale etc. sollte die Implementierung psychoanalytischen Wissens in bereits etablierte wissenschaftlichen Zusammenhänge erreicht werden. 4. Mit dieser Strategie wendet die Wiener Firma ein allgemeines Kennzeichen der modernen Buchproduktion ins Besondere. An der Uniformität ihrer Publikationen nämlich sind keineswegs nur die Folgen der Industrialisierung mit ihren Massenauflagen abzulesen, die dann ja nicht selten als ‚Verelendung’ der Buchdruckkunst gedeutet wurden, sondern sie zeigen mindestens genauso, dass und wie die Affirmation dieser Verhältnisse zu einer nachhaltigen Waffe im agonistischen Feld der Wissenschaften geworden ist. Aus der „Gleichartigkeit des Maschinenfabrikates“118 jedenfalls hat der Wiener Verlag 5. die Konsequenz gezogen, seine Bücher als Markenartikel zu entwickeln. Dabei geht es weniger um eine erwartbare Absatzförderung, auch stehen hier nicht die Anforderungen überregionaler Märkte oder die Verbindung von Semiotik und Ökonomie im Vordergrund, vielmehr handelt es sich um einen Registerwechsel, der die Produktion des Wissens an ein visuelles Marketing gekoppelt hat. Die Etablierung von Hausschriften und Verlagsfarben gehört unbedingt dazu.119 Sie fungieren als eine Art Schnittstellendesign, das neben der Produktgestaltung genauso die Produktbeziehung gestaltet. An den Dingen=Büchern entsteht auf diese Weise ein sinnliches Moment, das ihrem Sinn vorhergeht; eine konnotative Dimension, die über alle Tauschwerte und Textgehalte hinaus wuchert und wirkt. Der Verlag arbeitet darum auch 6. nicht nur an der Konzentration und Kanonisierung psychoanalytischer Schriften, sondern mit seinen Gestaltungsstrategien führt er ein „neues Signifikationsprinzip“120 in die Praktiken der Szientifizierung ein. Das heißt: Indem die Wiener Firma jene Verschiebung von der Produktgestaltung zum Markendesign anzeigt, lässt sie gleichermaßen erkennbar werden, dass in der Moderne eine Informationspolitik über Bücher die Fabrikation von Images eingeschlossen hat. Das Layout ist die Basis dieser Imagologie, die Werbung ihr vielseitiger Motor. Als solche setzt sie eine Wunsch- und Bildermaschine in Gang, die 118 Biesalski, Die Mechanisierung der deutschen Buchbinderei 1850–1900, (Anm. 85), S. 12. Wie oben erwähnt, werden diese Merkmale durch die Namenspolitik der Verlages, die Einführung seines Firmenlogos und die konkreten Public-Relations-Aktivitäten ergänzt. Vgl. Windgätter, Zu den Akten, (Anm. 48). 120 Clemens Wischermann, Einleitung. Der kulturgeschichtliche Ort der Werbung, in: Peter Borscheid, ders. (Hrsg.), Bilderwelt des Alltags. Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts (Stuttgart 1995), S. 8–19, hier S. 14. 119 40 historisch wohl nur mit dem Kino vergleichbar ist. „An die Stelle der zeitaufwendigen Begutachtung einzelner Güter tritt“, wie Thomas Wegmann es formuliert, „die Begutachtung von Medien, von Namen, Texten und Bildern [...].“121 Statt Produktkenntnissen werden seither Markenkenntnisse erwartet. Eine Kompetenz, die längst auch für die Rezipienten von Sachtexten und Fachliteratur relevant geworden ist, weshalb sich hier 7. nicht nur ein neues Betätigungsfeld für die Werbung, sondern zugleich ein neues Verhältnis der Wissenschaften zu den Formen ihrer Präsentation eröffnet hat: „Mit dem Aufkommen der Markenartikel gewann die Verpackung eine nie dagewesene Bedeutung“122 Die Einband- und Farbstrategien des Wiener Verlages bezeugen und vollziehen diesen Wandel, denn es ist 8. überhaupt nicht ungewöhnlich, dass er seine Gesamtausgabe der Freud’schen Schriften in einem einheitlichen Layout publiziert hat,123 auch nicht, dass daneben mehrere fachspezifische Reihen eingerichtet worden sind, deren Ausgaben gestalterisch aufeinander verweisen; bemerkenswert ist es aber sehr wohl, dass ein wissenschaftlicher Verlag in den 1920er Jahren danach strebt, seine Drucksachen insgesamt in ein gleichförmiges Layout zu bringen. Umsetzbar wurde dies, in dem die Wiener Firma 9. als eine Pioniertat im Bereich wissenschaftlicher Publizistik auf Darstellungsmittel der Industriekultur zurückgriff, die in den 1910er Jahren vor allem von dem „Produkt-, Schrift- und Raumgestalter“ Peter Behrens für die Berliner AEG entwickelt wurden und die man heute als Corporate Design bezeichnet.124 Abb. 30: Behrens-Entwürfe für die AEG. Aus: Buddensieg, Industriekultur, (Anm. 123), Abbildungsteil. 121 Thomas Wegmann, Einleitung, in: Ders. (Hrsg.), Markt literarisch (Berlin, Bern, Bruxelles et al. 2005), S. 7– 19, hier S. 11. Vgl. auch Haas, Sinndiskurse in der Konsumkultur, (Anm. 7), S. 295: „Mit diesem Schritt [zum Markenartikel] entstand eine moderne Produktwerbung, die aber mit einer entscheidenden Produktmodifikation einherging.“ 122 Borscheid, Am Anfang war das Wort, (Anm. 6), S. 30. Vgl. auch Haas, Sinndiskurse in der Konsumkultur, (Anm. 7), S. 299 ff. 123 Zur Politik der Gesamtausgabe vgl. Hans-Jörg Rheinberger, Gesammelte Werke, in: Günter Abel, HansJürgen Engfer, Christoph Hubig (Hrsg.), Neuzeitliches Denken. Festschrift für Hans Poser zum 65. Geburtstag (Berlin 2002), S. 13–22; Michael Cahn, Opera Omnia. The Produktion of Cultural Authority, in: Karine Chemla (Hrsg.), History of Science, history of Text (Doderecht 2004), S. 81–94. 124 Tilmann Buddensieg, Industriekultur. Peter Behrens und die AEG (1907–1914), in: Ders. (Hrsg.), Industriekultur. Peter Behrens und die AEG 1907–1914 (Berlin 1979), S. 9–89, hier S. 12. 41 „Diesem Moment“, schreibt Henning Rogge über die Allianz von künstlerischer und industrieller Arbeit, „kommt historische Bedeutung zu“, denn hier wird zum ersten Mal „die visuelle Koordination des gesamten Firmengefüges vom Einzelbestandteil über das Produkt, seine Werbung, seine Produktionsstätten bis hin zum sozialen- und Repräsentationsbereich zu einem einheitlichen Erscheinungsbild gestaltet“.125 Nicht anders der Wiener Verlag, der dieses Modell in doppelter Weise für sich nutzbar gemacht hat: als Übergang von der Konzerngestaltung zur Buchgestaltung, der zugleich einen Wechsel von der Ästhetik zu Epistemologie bedeutet. Statt kommerzieller Interessen oder künstlerischer Vorzüge geht es nun um Strategien der Szientifizierung. Abb. 30: Werbeseite aus dem Verlagsalmanach von 1926. Original und Rekonstruktion. Collection Philippe Helaers. 125 Henning Rogge, ‚Ein Motor muß aussehen wie ein Geburtstagsgeschenk’, in: Buddensieg, Industriekultur, (Anm. 123), S. 91–126, hier S. 108, 113. 42 Nun könnte man freilich argwöhnen, dass die Cochin-Type für sich genommen eher traditionalistisch anmutet und daher den Vorgaben einer konservativen Moderne gefolgt ist, ebenso, wie man über Tiemann weiß, dass er in den 1920er Jahren von den Vertretern der ‚elementaren typografie’, namentlich Jan Tschichold, seinem einstigen Schüler vehement angegriffen wurde; nichtsdestoweniger erscheint gerade mit Blick auf Behrens und sein Engagement für die AEG das Gesamtkonzept, in das der Verlag die gestalterischen Elemente seiner Bücher zu stellen wusste, höchst zeitgenössisch, avantgardistisch gar. „Im allgemeinen“, erklären Karl Abraham und Hanns Sachs 1922 gegenüber Freud, „ist es sicher günstiger, wenn die Werke eines Verlages einander möglichst ähnlich sind, schon um in den Fenstern der Buchhandlungen durch ihr gleichartiges Äußeres aufzufallen.“126 Der Passant also, um auf dieses Szenario zurückzukommen, soll 10. in den Schaufenstern ganz unmissverständlich und schon von weitem die Produkte des Verlages (wieder)erkennen. So wird das Layout seiner Einbände sowohl zu einem Signalelement, das Aufmerksamkeit hervorruft und öffentliche Sichtbarkeit bewirkt, als auch zu einem Leitsystem, das in der Unübersichtlichkeit des (wissenschaftlichen) Buchmarktes Orientierung verschafft, Zusammengehörigkeiten oder Konkurrenzen markiert und auf diese Weise die Profilbildung steuert. Michael Cahn hat eben dies eine „Rhetorik des Drucks“ bzw. eine „visuelle Rhetorik“ genannt.127 Das Layout der Verlagsprodukte fungiert dabei 11. als „optische Konditionierung“128. Es versucht, einen zunächst willkürlichen Zusammenhang zwischen der noch jungen Wiener Bewegung und ausgewählten gestalterischen Merkmalen zu konventionalisieren. Ziel ist die Verselbständigung dieser Konvention, um zugleich einen Automatismus in der Wahrnehmung des Betrachters auszulösen; beispielsweise: Gelb + Cochin = Die Psychoanalyse. Mit Fleck wäre ein solches Kalkül auch als „passive Koppelung“ zu bezeichnen, die ihre Wirksamkeit jenseits „formal-logischer Verhältnisse“ oder den „individuellen Prozessen eines theoretischen Bewußtseins“ entfaltet.129 Neue „Motive“ für die Produktion und Legitimation wissenschaftlicher Tatsachen müssen deshalb hinzugezogen werden; nur das damit im vorliegenden Fall kein „Denkkollektiv“ gemeint ist, dessen Erforschung die „soziale Bedingtheit allen Erkennens“ aufzeigt, sondern eine Art Drucksachenkollektiv, das durch seine integrale Gestaltung einen gleichermaßen verbindlichen „Zwang auf das Denken ausübt“.130 Noch der Umstand, dass Freuds Traumdeutung nie im eigenen Verlag erschienen ist, spricht schließlich dafür: Um ein Terrain im Feld der Wissenschaften zu 126 Tögel, Wittenberger, Die Rundbriefe des ‚Geheimen Komitees’ 1913–1936, (Anm. 45), Bd. 3, S. 124; mit Ausnahmen zur Bestätigung der Regel: „Was die Ausstattung unserer Bücher betrifft, so liegt die Verschiedenheit zum größten Teil in der Schwierigkeit der Materialbeschaffung.“ Ebd., S. 136. 127 Michael Cahn, Die Medien des Wissens. Sprache, Schrift, Druck, in: Ders. (Hrsg.), Der Druck des Wissens. Geschichte und Medium der wissenschaftlichen Publikation (Wiesbaden 1991), S. 31–64, hier S. 43, 55. 128 Strätling, Witte, Die Sichtbarkeit der Schrift zwischen Evidenz, Phänomenalität und Ikonizität (Anm. 28), S. 10. 129 Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, (Anm. 58), S. 131, 40, 54. 130 Ebd., S. 54, 57, 59. Mit der Konsequenz, dass auch Werbung nicht einfach Täuschungen oder Scheinwelten produziert, sondern veränderte Realitäten. 43 erobern, zu besetzen und zu verteidigen reicht kein einzelnes Buch, und sei es, wie immer wieder beschworen wird, der „Gründungstext einer Bewegung“131. Dabei ist es inzwischen sehr fraglich, ob diese Bewegung als Theorie und Therapeutik noch anhält oder gar eine Zukunft hat – die Layoutstrategien ihres ersten und einzigen Verlages dagegen sind nicht nur für Buchproduzenten bis heute selbstverständlich, sondern sie haben auch den Sprung aus der ‚Gutenberg-Galaxis’ hinaus in elektronische Medien geschafft. Vielleicht also ist es Zeit, das Erbe der Psychoanalyse weniger durch die Interpretation ihrer Texte, als vielmehr durch eine Historiographie ihrer Etikette zu bestimmen. ! 131 Lydia Marinelli, Andreas Mayer, Träume nach Freud. Die ‚Traumdeutung’ und die Geschichte der psychoanalytischen Bewegung (Wien 2002), S. 7. 44