Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Max Planck Institute

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Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Max Planck Institute
Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte
Max Planck Institute for the History of Science
Preprint 372
2009
CHRISTOF WINDGÄTTER
Ansichtssachen
Zur Typographie- und Farbpolitik des Internationalen
Psychoanalytischen Verlages (1919–1938)
Erscheint leicht gekürzt in:
Typographie und Literatur
Beihefte zu TEXT. Kritische Beiträge 1
Hg. von Thomas Rahn und Rainer Falk
Frankfurt/M. (Stroemfeld) 2010
„Rien ne mène à la parfaite barbarie
plus sûrementqu’un attachment
exclusif à l’esprit pur“1
Der Dichter stellt fest:
Es ist eine ganz einfache Thatsache des Verstandes, daß derjenige, der [...] zu
verkaufen, zu vertauschen, zu verhandeln hat, sagen müsse, daß und was er zu
verschleißen wünsche, oder die Sachen selber zur Ansicht auslege: jedoch nicht
so ganz einfach scheint es, daß diese Auslagen und Ankündigungen nicht nur den
Zweck haben, daß d e r kaufe, der will, sondern vielmehr und eigentlich den, daß
d e r kaufe, der n i c h t will. [...] [Außerdem lehrt d]ie Erfahrung, daß namentlich
die Waarenauslagekästen immer mehr und mehr werden, so daß an gewissen
Plätzen Wiens buchstäblich streckenlang kein einziges Mauerstückchen des
Erdgeschoßes zu sehen ist, sondern lauter an einander gereihte, elegante, hohe
Gläserkästen, in denen das Ausgesuchteste funkelt und lockt. [...] Da ist die
Schnittwaarenhandlung, und vor ihr, wie ein wahres Farbengetümmel, hinter
glänzendem Spiegelglase die Stoffe aus Seide, aus Wolle, aus Baumwolle [...];
dann ist der Spitzenhändler mit seinem spinnenfadigen luftweichen Zeugs; dann
die Blechwaarenhandlung mit allen erdenklichen bekannten und unbekannten
Gefäßen und Leuchten und Klammern und Lampen, in gelben, weißen, grünen
und anderen Farben, dann die Buchhandlung mit den Kunstwerken der
Typographie und des Grabstichels – der Juwelier mit seinen edlen
Waarenstücken. [...] Freilich muß ich als ein aufrichtiger Schriftsteller
eingestehen, daß auch hier allerdings eine Art Aufschneiderei möglich ist, die
aber eben so gut im Schönheits- und Harmoniesinne ihren Grund haben mag, als
in etwas Anderem, und jedenfalls dem Verkäufer nicht zur Last fallen kann, da
der Käufer die Sache ja sieht, und er sich selber zuschreiben muß, wenn er so
unvernünftig ist, von außerwesentlichen Nebendingen, die die Pracht der
Erscheinungen darstellen helfen, nicht abstrahieren zu können.2
So Adalbert Stifter 1844, nicht weniger fasziniert als alarmiert von den Entwicklungen des
Wiener Auslagen- und Werbewesens seiner Zeit. Dabei dürfte ihm dergleichen nicht gänzlich
fremd gewesen sein: Als Händler-Sohn stand er in den 1840er Jahren ja nicht nur vor seinem
literarischen Durchbruch, sondern nach mehreren Pfändungen in seinem Haushalt auch vor
dem finanziellen Ruin. Angeblich neigte seine Frau Amalie zur Verschwendungssucht. Es ist
meines Wissens nicht überliefert, ob die funkelnden Schaukästen am Graben, dem
Kohlenmarkt oder der Kärntnerstraße zu dieser Kalamität beigetragen haben, auch wenn
1
Paul Valéry, Livres [1923], in: Ders., Œuvres, hrsg. von Jean Hytier, Bd. II (Paris 1960), S. 1251–1252, hier S.
1251.
2
Adalbert Stifter, Warenauslagen und Ankündigungen [1844], in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 15, Vermischte
Schriften, zweite Abteilung, hrsg. von Gustav Wilhelm. (Reichenberg 1935), S. 167–180, hier S. 167, 170, 176 f.
2
Stifter selber „die Menschen“ in Gegenwart „solcher Anfechtungen“ stets für „verloren“ hielt;3
sicher aber ist, dass Schaufenster zu dieser Zeit im Straßenleben der europäischen Metropolen
noch relativ neu gewesen sind.
Die Perspektive
Die Geschichte des Schaufensters beginnt, von wenigen Ausnahmen abgesehen,4 um 1800 mit
der Frontverglasung einzelner Luxusgeschäfte: Aus den Tiefen der Innenräume, Regale,
Magazine und Werkstätten heraus rücken dadurch die Waren in den Vordergrund vitrinenartig
ausgebauter Fenster. Um 1830, durch Verbesserungen in der Glasherstellung und die
Entstehung des Ingenieurswesens unterstützt,5 breitet sich die neue Ladenarchitektur dann im
städtischen Kleinhandel aus; ist aber erst in den 1890er Jahren zu dem bis heute bekannten
Massenphänomen geworden.6 Jetzt sind es, wie schon bei Stifter gelesen, die vorgebauten
Gläserkästen oder Schaufronten mit ihren versprossten Fenstern, die sich an den Plätzen,
Boulevards und Straßen der europäischen Metropolen etabliert haben.
Abb. 1: Gläserkästen und versprosste Schaufenster in Wien um 1840.
Aus: Seÿffert, Werbelehre (Anm. 4), S. 919 f.
3
Stifter, Warenauslagen und Ankündigungen, (Anm. 2), S. 172, 174.
Vgl. Dirk Reinhardt, Von der Reklame zum Marketing. Geschichte der Wirtschaftswerbung in Deutschland,
(Berlin 1993), S. 269 ff. bzw. Rudolf Seÿffert, Werbelehre. Theorie und Praxis der Werbung (Stuttgart 1966), S.
912 f., die von „mittelalterlichen Kaufgewölben“ mit „horizontal aufklappbaren Holzläden“ und von
„Schautischen“ im 17. Jahrhundert berichten.
5
Erst jetzt wird es überhaupt möglich, blasenfreies, ungetrübtes und also durchsichtiges Glas in größeren
Abmessungen herzustellen. Vgl. Reinhardt, Reklame, (Anm. 4), S. 269.
6
Vgl. Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels
in Deutschland 1850–1914 (München 1999), S. 573 f.; Peter Borscheid, Am Anfang war das Wort. Die
Wirtschaftswerbung beginnt mit der Zeitungsannonce, in: Ders., Clemens Wischermann (Hrsg.), Bilderwelt des
Alltags. Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts (Stuttgart 1995), S. 20–43, hier S. 29 f.
4
3
Einer Notiz Benjamins zufolge taucht in dieser Zeit auch die „Reklame“ als Wort und
unübersehbare Tatsache in den urbanen Zentren auf.7 Ab den 1850er Jahren nämlich, nach
dem Übergang von der Zunft- zur Marktwirtschaft, treten konkurrenzbetonte Handelsformen
in den Vordergrund, die sich sehr schnell in einer Eskalation werblicher Aktivitäten und einer
Ausdifferenzierung der daran beteiligten oder auch eigens dazu erfundenen Medien
bemerkbar machen.8 Wie später nur noch die Ornamente des Jugendstils überwuchern seither
Texte, Symbole, Plakate, Lichtkörper oder (emaillierte) Schilder die Fassaden, Säulen und
Vitrinen der Geschäfts- und sogar der Wohnhäuser.
Abb. 2: Wiener Wohnhaus im XI. Bezirk mit Außenwerbung, 1904/5. Aus: Susanne Winkler (Hrsg.),
August Stauda. Ein Dokumentarist des alten Wien (Wien 2004), S.39.
Nicht selten waren damals auch „ganze Kolonnen von ‚Zettelpappern’ unterwegs, um die
leeren Giebelwände mit Schriftplakaten zum Sprechen zu bringen“.9 Aber man sieht Reklame
gleichermaßen an den Straßenbahnen und Bussen, an Zäunen, Mauern oder in Form sog.
7
Walter Benjamin, Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts [1935], in: Ders., Gesammelte Schriften, hrsg.
von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. V/1 (Frankfurt/M. 2003), S. 45–59, hier S. 51, 59.
Vgl. auch Stefan Haas, Sinndiskurse in der Konsumkultur. Die Geschichte der Wirtschaftswerbung von der
ständischen bis zur postmodernen Gesellschaft, in: Michael Prinz (Hrsg.), Der lange Weg zum Überfluss.
Anfänge und Entwicklung der Konsumgesellschaft seit der Vormoderne (Paderborn, München, Wien 2003), S.
292, 294 f.: „In der Vormoderne gibt es keine Produktwerbung, die jene der entwickelten Marktwirtschaft
vergleichbar wäre. [...] Die eigentliche Geschichte der Werbung beginnt mit dem Industriezeitalter, mit der
Aufhebung des Zunftzwanges zu Beginn des 19. Jahrhunderts und der Etablierung eines freien
Unternehmertums. [...] Mit Annoncen war das erste Prinzip der modernen Werbung zur Mitte des 19.
Jahrhunderts etabliert.“
8
Reinhardt, Reklame, (Anm. 4), S. 169 ff.; Borscheid, Am Anfang war das Wort, (Anm. 6), S. 21 ff.; Haas,
Sinndiskurse in der Konsumkultur, (Anm. 7), S. 294 f.
9
Borscheid, Am Anfang war das Wort, (Anm. 6), S. 37. „Auch die frühe Litfaßsäule glich vollgeklebt einer
riesigen Schriftwalze“. Ebd., S. 38.
4
„Sandwichmänner“10, die mit betexteten und/oder bebilderten Papptafeln behängt durch die
Geschäftsviertel spazierten. „Die Schrift“, kommentiert Benjamin,
wird unerbittlich von Reklamen auf die Straße hinausgezerrt [...]. Wenn vor
Jahrhunderten sie allmählich sich niederzulegen begann, von der aufrechten
Inschrift zur schräg auf Pulten ruhenden Handschrift ward, um endlich sich im
Buchdruck zu betten, beginnt sie nun ebenso langsam sich wieder vom Boden zu
heben.“11
So wird die Stadt zu einer Art Graphosphäre, wenn damit, Benjamin weiter folgend, eine
Schrift gemeint ist, die „immer tiefer in das graphische Bereich ihrer neuen exzentrischen
Bildlichkeit vorstößt“.
Abb. 3: Werbung für ein neues Werbemittel: die Anschlag-Säule von Ernst Litfaß in Berlin, 1855. Aus:
Reinhardt, Reklame, (Anm. 4), S. 47. Daneben Sandwichmänner bei der Arbeit. Aus:
Bäumler, Die Kunst zu werben, (Anm. 10), S. 107.
Die veränderte Ordnung des städtischen Raumes jedenfalls geht einher mit veränderten
Formen der Öffentlichkeit und der Veröffentlichung. Nicht zuletzt ‚Schaufensterbummeln’,
‚lécher les vitrines’ oder ‚window-shopping’ gehören seither zur Alltags- und
Freizeitbeschäftigung keineswegs nur bürgerlicher Schichten. Immer wieder werden sie
angezogen von der endlosen Parade der Gläserkästen, die dann gegen 1900, ermöglicht durch
gusseiserne Konstruktionen und die Einführung der Elektrobeleuchtung,12 in den
spektakulären, weil großflächig durchbrochenen Fassaden der Warenhäuser gipfeln.13
10
Reinhardt, Reklame, (Anm. 4), S. 242 f. Ebenso Susanne Bäumler, Sandwichmänner und fahrende
Schreibmaschinen, in: Dies. (Hrsg.), Die Kunst zu werben. Das Jahrhundert der Reklame (München 1996), S.
107–113.
11
Walter Benjamin, Passagen, Magasins de nouveautés, calicots, in: Ders., Gesammelte Schriften, (Anm. 7), S.
103. Ebenso das direkt folgende Zitat. Nur wenige Oberflächen der Stadt sind in dieser Zeit keine Werbeträger
geworden; einschließlich des Himmels durch sog. „Wolkenschreiber“. Vgl. Haas, Sinndiskurse in der
Konsumkultur, (Anm. 7), S. 301.
12
In Wien etwa wurden seit 1818 in ausgewählten Straßenzügen (Krugerstraße, Walfischgasse, Kärntner Straße)
Gaslaternen aufgebaut, die aber wegen Betriebsstörungen schon wenige Monate später abgestellt werden
mussten. Ein zweiter, diesmal erfolgreicher Versuch konnte erst 1826 wieder unternommen werden: mit 15
Gaslampen in der Teinfaltstraße, der Löwelstraße und auf der Josefstädter Brücke. Kurz darauf errichtete der
Apotheker und Chemiker Dr. Georg Pfendler in der Roßau das erste Wiener „Gaserzeugungs-Etablissement“.
Unter seiner Direktion wurde 1834 auch das erste Teilstück einer 1,2 km langen Gasrohrleitung verlegt (von
5
Abb. 4: Fassade des Warenhauses Tietz in Berlin, Leipziger Straße.
Damit entwickelt sich das Schaufenster, wie Weibel und Pakesch schreiben, zum „visuellen
Enviroment“ der Moderne, das nicht nur ein „Kernstück des Urbanismus“ darstellt, sondern
auch als „Kommunikationserreger“ zwischen Passanten und Waren, Straßen und Läden,
Wünschen und Wirklichkeiten funktioniert.14
Wenig überraschend ist daher Stifters Ambivalenz angesichts des neuen
Auslagewesens, das ja im Laufe des 19. Jahrhunderts neben Schreibtischen und Bibliotheken
zu einem privilegierten Ort auch der Bücher zu werden beginnt: Einerseits sind da die
ökonomischen und informationspraktischen Möglichkeiten, die sich durch das Vorzeigen der
Waren ergeben, verbunden mit den bekannten städtebaulichen und verkehrspraktischen
Roßau über das Glacis zum Schottentor bis in die Herrengasse). Bis 1850 gelang es dann, in der Inneren Stadt
564 ganznächtige und 494 halbnächtige Gasflammen aufzustellen. Die Gesamtversorgung Wiens mit Gas wurde
aber erst 1912 erreicht: mit nunmehr 37.000 Laternen, die von über 600 Laternenwärtern bedient und gewartet
werden mussten. In Konkurrenz dazu setzte 1882 die Elektrifizierung der österreichischen Hauptstadt ein, als
erste „Bogenlampen“ (gebaut von Siemens & Halske) den Graben sowie einem Teil des Stephanplatzes
beleuchteten. Bis zum Ende des Jahrhunderts freilich blieb elektrisches Licht ein Luxusgut und konnte daher
auch in Schaufenstern die Gasbeleuchtungen nur langsam verdrängen – bis zur „Helligkeitseuphorie“ der 1920er
Jahre. Vgl. www.wiener-gasometer.at/de/geschichte/index.html bzw. www.wien.gv.at/licht/gesch.htm.
13
Vgl. Peter Weibel, Peter Pakesch (Hrsg.), Künstlerschaufenster. Katalog zu „Kunst im Schaufenster“ (Graz
1980), S. 11 f.; Osterwold, Schaufenster (Anm. 18), S. 26 ff.; Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der
Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert (Frankfurt/M. 2004), S. 141: „Als
um 1850 die Herstellung großflächiger Scheiben und damit eine Glasfront möglich würde, die [...] als
ununterbrochene Glasmasse von der Decke bis zum Boden reichte, veränderte das die Erscheinungsweise der
dahinter ausgestellten Waren.“ Vgl. auch die bisher einzige deutschsprachige Schaufenster-Monographie, der die
vorliegenden Ausführungen zahlreiche Anregungen verdanken: Nina Schleif, SchaufensterKunst. Berlin und
New York (Köln 2004), hier S. 16 ff.
14
Weibel, Pakesch, Künstlerschaufenster, (Anm. 13), S. 5, 7, 9; Osterwold, Schaufenster (Anm. 18), S. 6. Von
Schleif, SchaufensterKunst, (Anm. 13), S. 11 wird das Schaufenster als „prägendes Merkmal der Kultur der
Moderne“ bezeichnet.
6
Implikationen; auf der anderen Seite aber gilt es auch, mit dem Auftauchen und der
Verbreitung der Schaufenster eine bisher unbekannte Verführungsmacht zu Kenntnis zu
nehmen, die allemal in der Lage ist, die Vernunft und Urteilskraft des redlichen Bürgers zu
unterlaufen. „Der erste Geschäftsmann“, weiß Stifter zu berichten, „war die Schlange im
Paradiese“, indem sie „Waaren, die unsere Leidenschaft und Begierde reizen, in Natura
herumbreitete, und mitten darunter saß“.15 Nicht anders im Wien seiner Zeit: Wenn sich
gläserne Vitrinen als Anfechtungen des Willens erweisen, wenn beleuchtete Fenster (erst
recht bei Nacht) Alltagsgegenstände in Objekte des Begehrens verwandeln, wenn aus der
Information über Angebote raffinierte Inszenierungen werden, ist höchste Vorsicht geboten.
Der Blick in den Straßen und auf die Stadt gerät da „durch alle Stände und Alter“ hindurch zu
einem riskanten Unterfangen;16 jederzeit in der Gefahr, unbeherrschte, ja unbeherrschbare
Kaufakte auszulösen. „Die Schriftzeichen“, erklärt 1910 der Plakatkünstler Ernst Growald,
„wollen nicht mehr auf ihren verborgenen Sinn befragt werden, sondern sich der Sinne
großstädtischer Passanten bemächtigen.“17 Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, kann man daher
sagen, ist der Flaneur zum Voyeur geworden; oder: In den Straßen der europäischen
Metropolen wird der zunächst noch souveräne, dann nur noch melancholische Beobachter
vom Passanten als Kunden verdrängt, den die Reize der Waren durch die Lochfassaden der
Häuser wie in einer Peep-Show attackieren.18
Abb. 5: Reize hinter Glas; hier mit Spiegelung André Bretons im Schaufenster des
New Yorker Gotham Book Mart, 1944. In: Leonhard S. Marcus, The American Store
Window (London, New York 1978), S. 37.
15
Stifter, Warenauslagen und Ankündigungen, (Anm. 2), S. 167 f.
Ebd., S. 171.
17
Ernst Growald, Der Plakat-Spiegel. Erfahrungssätze für Plakat-Künstler und Besteller (Berlin 1910), S. 16.
„Gute Plakate brauchen nicht gelesen, sie müssen gesehen werden.“ Ebd., S. 13.
18
Marcel Duchamp hat 1913 von einem „Koitus durch die Glasscheibe hindurch mit einem oder mehreren
Objekten“ gesprochen. Zit. nach Schleif, SchaufensterKunst, (Anm. 13), S. 91. Zur Sexualisierung des
Schaufensters und vor allem der Schaufensterpuppen vgl. außerdem Weibel, Pakesch, Künstlerschaufenster,
(Anm. 13), S. 7, 14; Tilman Osterwold, Schaufenster. Die Kulturgeschichte eines Massenmediums (Stuttgart
1974), S. 176 ff.; Jean-Paul Bouillon, The Shop Window, in: Jean Clair (Hrsg.), The 1920s. Age of the
Metropolis (Montreal 1991), S. 162–181, hier S. 169, 181.
16
7
Dabei ist es weniger der moralische Aspekt, durch den sich Stifters Feststellung hier
auszeichnet, auch nicht deren konsumkritische oder kulturpessimistische Tendenz,19
interessanter dürfte vielmehr sein, dass der Dichter des Biedermeier ein epistemologisches
Vorurteil aufruft, das zum Teil bis in unsere Gegenwart hinein wirksam ist. Dieses Vorurteil
besagt: Eine Sache kann durch ihre äußere Erscheinung zwar die Un/Lust der Betrachter oder
Benutzer hervorrufen, gleichzeitig aber soll diese Äußerlichkeit nur ein ‚außerwesentliches
Nebending’ sein, da es im Bereich des Ästhetischen bzw. des Sinnlichen angesiedelt ist. Und
liest man genau, dann impliziert Stifters Formulierung gar eine doppelte Abwertung und
Hierarchie: Die Pracht der Erscheinung nämlich ist nicht nur nicht wesentlich, sondern
außerdem auch kein Hauptding.
Ganz einerlei, wie man dieses Vorurteil weiter beschreiben möchte, ob als
„Sekundarität des Signifikanten“ oder „Neutralisierung des Diskurses, ob als „Vergessen des
Mediums“ oder „Imperialismus des Logos“,20 bekanntlich gibt es aktuelle Theoriebildungen,
die dieses Vorurteil demontiert, auf den Kopf gestellt und schließlich aufgegeben haben.
Gemeinsamer Ausgangspunkt dürfte eine allgemeine Kritik des Zeichens als Stellvertretung,
Repräsentation oder Wiederholung gewesen sein; einer Ordnungsvorstellung also, nach der
Oberflächen durchdrungen, Geheimnisse enthüllt oder Hintergründe aufgedeckt werden
müssen. Man konnte deswegen auch von einem „antihermeneutischen Impuls“ dieser
Unternehmungen sprechen, mit dem Ziel fortan auf semiotische und interpretatorische
Modelle zu verzichten.21
Stattdessen, und auch das ist längst keine Nischen- oder Dissidentenforschung mehr,
hat man begonnen, sich mit den materialen Kulturen des Wissens zu beschäftigen, die nach
einer initiierenden Formel Foucaults nur als „Denken des Außen“22 zu erreichen sind: eines
Außen allerdings, das weder dialektisch noch ideographisch noch sonstwie Ausdruck,
Anwendung oder Abweichung eines ‚Innen’ darstellt,23 sondern eigenen, ebenso irreduziblen
wie historisch variablen Regeln folgt. In den Worten Bruno Latours:
19
Immerhin gibt es Dichterkollegen wie Charles Baudelaire, die dem Schaufenster als „Zauber“- oder
„Paradiesscheiben“ eine utopische, weil den Gebrauchscharakter der Waren transzendierende Wirkung
zuweisen. Entsprechend heißt es dann über die belgische Hauptstadt: „Keine Schaufenster. Die Flanerie, die von
Völkern mit Phantasie geliebt wird, ist in Brüssel nicht möglich. Es gibt nichts zu sehen und die Straßen sind
unbenutzbar.“ Zit. nach Walter Benjamin, Das Paris des Second Empire bei Baudelaire [1938], in: Ders.,
Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I/2 (Frankfurt/M. 1991),
S. 513–604, hier S. 552. Vgl. auch Paul Scheerbart, Glasarchitektur (Berlin 1914), S. 137, der die neue
„Glaskultur“ zur Bedingung für den „neuen Menschen“ erklärt.
20
Jacques Derrida, Grammatologie [1967] (Frankfurt/M. 2001), S. 17; Michel Foucault, Archäologie des
Wissens [1969] (Frankfurt/M. 1998), S. 72; Marshall McLuhan, Understanding Media. The Extensions of Man
(New York, London 1964), S. 19. Vgl. auch Christof Windgätter, Medienwechsel. Vom Nutzen und Nachteil der
Sprache für die Schrift (Berlin 2006), S. 55 f.
21
Georg Witte, Textflächen und Flächentexte. Das Schriftsehen der literarischen Avantgarde, in: Gernot Grube,
Werner Kogge, Sybille Krämer (Hrsg.), Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine (München
2005), S. 375–396, hier S. 378; David Wellbery, Die Äußerlichkeit der Schrift, in: Hans Ulrich Gumbrecht,
Ludwig K. Pfeiffer (Hrsg.), Schrift (München 1993), S. 337–348, hier S. 337 f.; neuerdings auch Dieter Mersch,
Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis (München 2002), S. 15, 18 bzw. Hans Ulrich Gumbrecht,
Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz (Frankfurt/M. 2005), S. 9.
22
Michel Foucault, Das Denken des Außen [1966], in: Ders., Von der Subversion des Wissens (Frankfurt/M.
1987), S. 46–68, hier S. 46; Wellbery, Die Äußerlichkeit der Schrift (Anm. 21), S. 342.
23
So klassischerweise bei G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes [1807], hrsg. von Hans-Friedrich
Wessels und Heinrich Clairmont (Hamburg 1988), S. 47 f., 208 f.; in neuerer Zeit aber auch Wolfgang Raible,
Von der Textgestalt zur Texttheorie. Beobachtungen zur Entwicklung des Text-Layouts und ihren Folgen, in:
8
Procedures to authorize and legitimize are important, but it’s only half of what is
needed to assemble. The other half lies in the issues themselves, in the matters
that matter [...].24
Jenseits einer (Re-)naturalisierung des Wissens also geht es um Frage nach der Kodierung
von Substanzen, um „geformte Materien“ Deleuze und Guattari folgend, die dadurch
Gegenstand und Gesetz, Materie und Matrize, die Dinge und ihr Design in einer
gemeinsamen Perspektive verbinden.25 Ein solches Denken hat in den vergangenen
Jahrzehnten zweifellos einen massiven Theorieschub ausgelöst und eine beeindruckende
Vielfalt an Forschungen hervorgebracht.
Dabei wurde diese Intervention, wie Wellbery retrospektiv festgestellt hat, zumeist
unter dem Vorzeichen der Schrift ausgetragen.26 Über „l’avenèment de l’écriture“ war ja
bereits 1967 bei Derrida zu lesen.27 Eine Wendung, nicht selten zum Paradigmenwechsel
erhoben, die zunächst über die Strukturalität und die Spur, dann über Aufschreibetechniken,
Inskriptionen und Schriftbilder sowie neuerdings über die Gesten und Praktiken des Notierens
fortgeschrieben wurde.28 Kennzeichen dieser Debatten ist allerdings nicht nur deren
Heterogenität, sondern auch der Umstand, dass dabei nur selten zwischen Skriptographie und
Typographie, d.h. zwischen Feder-, Maschinen- und Druckschrift unterschieden wurde. Was
auch immer die Gründe dafür sein mögen, bemerkenswert ist die Konsequenz dieser
Unschärfe, durch die nämlich das Buch bzw. die Drucksache allmählich in einen
historiographischen Randbereich gedrängt wurde. Wissenschafts- und mediengeschichtlich
jedenfalls scheint es heute leichter, über das Davor und Danach von Büchern, also über
handschriftliche oder elektronische Medien zumal in Laboren, Schreibstuben oder
Netzwerken zu forschen. Und selbst die üblicherweise für bedrucktes Papier zuständigen
Disziplinen (von der Literatur- und der Buchwissenschaft über die Paläographie bis zur
Kunstgeschichte) haben ihre Gegenstände nur selten unter epistemologischen, weil zumeist
anthropologischen, gewerblichen oder ästhetischen Gesichtspunkten behandeln.29
Peter Koch, Sybille Krämer (Hrsg.), Schrift, Medien, Kognition. Über die Exteriorität des Geistes (Tübingen
1997), S. 29–41, hier S. 29, 31; Sybille Krämer, Kann das ‚geistige Auge' sehen? Visualisierung und die
Konstitution epistemischer Gegenstände, in: Bettina Heintz, Jörg Huber (Hrsg.), Mit dem Auge denken:
Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten (Zürich, Wien, New York 2001, S.
347-365, hier S. 353; dies., ‚Schriftbildlichkeit’. Oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift, in:
Sybille Krämer, Horst Bredekamp (Hrsg.), Bild, Schrift, Zahl (München 2003), S. 156–176, hier S. 161, 167.
24
Bruno Latour, From Realpolitik to Dingpolitik. Or How to Make Things Public, in: Ders., Peter Weibel
(Hrsg.), Making things public. Atmospheres of democracy (Cambridge, Mass. 2005), S. 14–41, hier S. 16, 24.
25
Gilles Deleuze, Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie [1980] (Berlin 1992), S. 64 f.
26
Vgl. Wellbery, Die Äußerlichkeit der Schrift, (Anm. 21), S. 337 f.
27
Derrida, Grammatologie (Anm. 20), S. 16.
28
Vgl. insbes. Derrida, Grammatologie (Anm. 20); Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme 1800–1900 [1985]
(München 1995); Sabine Groß, Lesezeichen. Kognition, Medium und Materialität im Leseprozeß (Darmstadt
1994); Hans-Jörg Rheinberger. Iterationen [1992 ff.] (Berlin 2005); Stephan Kammer, Reflexionen der Hand.
Zur Poetologie der Differenz von Schreiben und Schrift, in: Davide Giuriato & Stephan Kammer (Hrsg.), Bilder
der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur (Basel, Frankfurt/M. 2006), S. 131–161; Susanne
Strätling, Georg Witte, Die Sichtbarkeit der Schrift zwischen Evidenz, Phänomenalität und Ikonizität. Zur
Einführung in diesen Band, in: Susanne Strätling, Georg Witte (Hrsg.), Die Sichtbarkeit der Schrift (München
2006), S. 7–18; Christoph Hoffmann, Daten sichern. Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung
(Zurich, Berlin 2008).
29
Vgl. exemplarisch Marshall McLuhan, The Gutenberg galaxy. The making of typographic man (Toronto
1962); Elizabeth Eisenstein, The Printing Press as an Agent of Change. Communications and Cultural
Transformations in Early Modern Europe (Cambridge 1979); Christina Killius, Die Antiqua-Fraktur Debatte um
9
Der Perspektivwechsel freilich ist keineswegs einfach. Wie nachhaltig nicht zuletzt die
Gelehrtenrepublik Deutschland davor zurückschreckte, zeigt Hans-Georg Gadamer noch
1984, als er ganz im Sinne eines Logozentrismus des Buches erklärt: „Sprache und Schrift
bestehen immer in ihrer Verweisung. Sie sind nicht, sondern sie meinen.“30 Dagegen hat
andernorts und früher schon Roland Barthes auf zwei sehr unterschiedliche Lektüreverhalten
hingewiesen, deren eine (gleichsam teutonisch-hermeneutische) zur „Entblätterung der
Wahrheiten“ führt („l’effeuillement des vérités“), deren andere aber, indem sie akribisch und
lustvoll vorgeht, vom „Blattwerk der Signifikanz“ („le feuilleté de la signifiance“) fasziniert
und festgehalten wird.31
Abb. 6: Doppelseite aus Stéphane Mallarmés Coup de dés, 1897.
Eine Unterscheidung, deren Relevanz von Barthes mit dem Auftauchen der modernen
Literatur verbunden wird (insbesondere der Karriere sog. „Sehtexte“ um 1900)32 und deren
1800 und ihre historische Herleitung (Wiesbaden 1999); Susanne Wehde, Typographische Kultur. Eine
zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. (Tübingen 2000);
Albert Ernst, Wechselwirkung. Textinhalt und typografische Gestaltung (Würzburg 2005).
30
Hans-Georg Gadamer, Text und Interpretation [1981], in: Philippe Forget (Hrsg.), Text und Interpretation
(München 1984), S. 24–55, hier S. 51.
31
Roland Barthes, Die Lust am Text [1973] (Frankfurt/M. 1974), S. 19 f. Vgl. auch Roger Chartier, Lesewelten.
Buch und Lektüre in der frühen Neuzeit [1982] (Frankfurt/M. 1990), S. 13.
32
Vgl. ausführlicher Bettina Rommel, Psychophysiologie der Buchstaben, in: Hans Ulrich Gumbrecht und K.
Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Materialität der Kommunikation (Frankfurt/M. 1988), S. 310–325; Waltraud Wende,
Sehtexte – oder: Vom Körper der Sprache, in: Dies. (Hrsg.), Über den Umgang mit der Schrift (Würzburg 2002),
S. 302–335.
10
Vorlage sich in einem Essay von Paul Valéry aus dem Jahr 1927 findet.33 Für Bücher, heißt es
dort, kann man sich auf zwei Weisen („deux maniere“) interessieren:
1. Man lässt sich in einem „sukzessiven und linearen Akt“ auf die Aneinanderreihung der
Worte und Zeilen ein („mot en mot le long d’une ligne“), um dadurch eine „Menge
aufeinander folgender mentaler Reaktionen hervorzurufen“ („provoque [...] une quantité
de reactions mentales successives“). So wird in jedem Augenblick die visuelle
Wahrnehmung der Zeichen getilgt („destruire à chaque instant la perception visuelle des
signes“). Es ist eben diese Praxis, die wir Lesen nennen („la lecture“): die Umwandlung
(„la transsubstantiation“) eines Textes in ein Geschehen des Geistes, die zugleich seinen
Verbrauch („la consommation“) bedeutet, seine „Vernichtung durch den Geist“ („la
destruction par l’esprit“).
2. und alternativ dazu: Man behandelt die Seiten der Bücher als Blöcke („les blocs“) im
Sinne von Text- oder Buchblöcken, bzw. als „Gefüge von Blöcken und Schichten, aus
schwarz und weiß“ („de bloc et de strates, de noirs et de blancs“). Valéry nennt dies ein
Betrachten der Bücher („un mode de regard“), das nicht auf einzelne Zeichen oder
Zeichenketten reagiert (indem es dazu „virtuelle oder wirkliche Töne“ assoziiert, also eine
Phonem-Graphem-Entsprechung herstellt), sondern von den Buchseiten einen
„Gesamteindruck“ („une impression totale“) empfängt. So wird die Seite zum Bild. „Une
page“, schreibt Valéry, „est une image“; bestehend aus „schwarzen Massen auf einem
sehr reinen Feld“. Beide Arten mit Büchern umzugehen, heißt es dann weiter, „sind
voneinander unabhängig („indépendents“). Der Text, den man betrachtet, der Text, den
man liest, sind ganz verschiedene Dinge („Le texte vu, le texte lu sont chose toutes
distintes“), da doch die Aufmerksamkeit für den einen die Aufmerksamkeit für den
anderen ausschließt.“
Nun kann man aus guten Gründen skeptisch sein gegenüber der Behauptung, bei Bildern (und
seien es Schrift- bzw. Druckbilder) handle es sich um Ordnungen der Simultanität, die
deshalb einer phonographisch-sequenziellen Bestimmung der Buchstabenschriften
entgegenstehen würden:34 Denn erstens sind auch Bildern „visuelle Abtastbahnen“
eingeschrieben, sodass sie nicht „auf einmal“ oder „als Ganzes“ gesehen werden, und
zweitens ist selbst die Linearität der Textverarbeitung nicht nur wahrnehmungsphysiologisch
längst widerlegt, sondern auch als progrediente Praxis (als würde man stets von links nach
rechts, von oben nach unten, von vorne nach hinten lesen) eine Ausnahme.35 Die Bild-SchriftDichotomie implodiert bei Valéry deshalb in anderer Weise: Unterm Bild-Begriff nämlich
33
Paul Valéry, Les deux vertus d’un livre [1927], in: Ders., Œuvres, hrsg. von Jean Hytier, Bd. II (Paris 1960), S.
1246–1250, hier S. 1246 f. Ebenso die direkt folgenden Zitate.
34
Vgl. Wolfgang Raible, Die Semiotik der Textgestalt. Erscheinungsformen und Folgen eines kulturellen
Evolutionsprozesses, in: Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophischhistorische Klasse, Jg. 1991, Nr. 1, S. 5–44, hier S. 5 f. bzw. Krämer, ‚Schriftbildlichkeit’ (Anm. 23) in
Auseinandersetzung mit Lessings Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766).
35
Vgl. Sabine Groß, Schrift-Bild. Die Zeit des Augenblicks, in: Georg Christoph Tholen, Michael O. Scholl
(Hrsg.), Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit (Weinheim 1990), S. 231–
246, hier S. 235 f., 244; außerdem Ulrich Ernst, Lesen als Rezeptionsakt. Textpräsentation und Textverständnis
in der manieristischen Barocklyrik, in: Brigitte Schlieben-Lange (Hrsg.), Zeitschrift für Literaturwissenschaft
und Linguistik, Jg. 15, H. 57/58: Lesen – historisch (Göttingen1985), S. 67–94, hier S. 73.
11
thematisiert er Bücher und Buchseiten vor allem als Gegenstände, als dreidimensionale
Objekte („un livre a son physique, son extérieur visible et tangible“),36 sodass sie für den
Betrachter (wenn schon nicht für den Leser) weder auf die Eindimensionalität der Zeilen noch
auf die Zweidimensionalität der Flächen reduziert werden können. Sofern man sich also
schrift- oder druckbildtheoretisch mit Büchern beschäftigt, hat nach Valéry deren
Körperlichkeit im Vordergrund zu stehen.
Im Folgenden wird deshalb eine Art Physio-Analyse erprobt, die an ausgewählten
Drucksachen Aspekte ihrer Exteriorität erforscht. Nicht ohne ein gewisse Ironie, denn es
werden dazu Publikationen der Psycho-Analyse herangezogen, genau genommen des
Internationalen Psychoanalytischen Verlages, der von 1919 bis zu seiner Zerschlagung durch
die Nationalsozialisten 1938 in Wien existierte.
Abb. 7: Briefkopf der Wiener Firma. Collection Philippe Helaers.
Der Verlag wurde auf Sigmund Freuds Initiative hin während des V Internationalen
Psychoanalytischen Kongresses in Budapest gegründet und in den ersten Jahren durch eine
Stiftung des ungarischen Brauereibesitzers, Millionärs und Ex-Freud-Analysanden Anatal
Freund von Tószeg finanziert.37
Der auf meinen [= Freuds] Namen getaufte und mir zur Verfügung gestellte
Fonds wurde von mir zur Gründung eines ‚Internationalen Psychoanalytischen
Verlages’ bestimmt. Ich hielt dies für das wichtigste Erfordernis unserer
gegenwärtigen Lage.38
So schreibt der Wiener Chefanalytiker im Gründungsjahr; zumal ihm die Abhängigkeit von
seinen bisherigen Verlegern (insbesondere Franz Deuticke und Hugo Heller in Wien) schon
länger ein Dorn im Auge war.39 „Der Verlag“, heißt es dann in einer Dokumentation des
Budapester Kongresses, wird das „regelmäßige Erscheinen und eine verlässliche Austeilung
der beiden Zeitschriften [= Imago, IZP] sichern“. Außerdem soll er
36
Paul Valéry, Le physique du livre (Paris 1945), S. 3.
Zu Details der Verlagsgründung vgl. vor allem Karl Fallend, Sonderlinge, Träumer, Sensitive. Psychoanalyse
auf dem Weg zur Institution und Profession (Wien 1995), S. 69–88; Lydia Marinelli, Zur Geschichte des
Internationalen Psychoanalytischen Verlags, in: Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1919–1938, hrsg.
vom Sigmund Freud-Museum Wien (Wien 1995), S. 9–29; dies., Psyches Kanon. Zur Publikationsgeschichte der
Psychoanalyse rund um den Internationalen Psychoanalytischen Verlag. Dissertation Universität Wien (Wien
1999); Andrea Huppke, Zur Geschichte des Internationalen Psychoanalytischen Verlages, in: Luzifer-Amor.
Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse, 9. Jg., H. 18: Institutionalisierungen (Tübingen 1996), S. 7–33.
38
Sigmund Freud (Hrsg.), Internationale Zeitschrift für (ärztliche) Psychoanalyse [= IZP], Bd. 5, S. 137.
39
Vgl. dazu u.a. Sigmund Freud, Otto Rank, Correspondence, hrsg. von E. James Lieberman (in Vorbereitung),
Nr. 150723/R, 150802/R, 160322/R (mit Dank an den Herausgeber).
37
12
in das Gebiet der ärztlichen und angewandten Psychoanalyse einschlägige Bücher
und Broschüren zum Druck befördern, und da er kein auf Gewinn zielendes
Unternehmen darstellt, kann er die Interessen der Autoren besser in Acht nehmen,
als dies von Seite der Buchhändler-Verleger zu geschehen pflegt.40
Abb. 8: Kongress-Einladung. Aus: Freud, Ferenczi, Briefwechsel, (Anm. 45), Abbildungsteil.
Die Problemstellung
Seine Ankündigungen allerdings konnte der Verlag nicht in jeder Hinsicht realisieren: Vor
allem wirtschaftliche Krisen haben ihn immer wieder an den Rand des Ruins und an die
Grenzen seiner Personalpolitik getrieben. Dennoch hat er während der knapp 20 Jahre seines
Bestehens sämtliche Titel der damaligen, von Wien ausgehenden psychoanalytischen
Bewegung veröffentlicht: darunter Freuds Erstausgaben seit 1920, das erste
psychoanalytische Wörterbuch (1937 von Richard Sterba), als Jahrbuch den sog. Almanach,
die vier maßgeblichen Zeitschriften (neben Imago und IZP die Zeitschrift für
Psychoanalytische Pädagogik und Die Psychoanalytische Bewegung) sowie, in 12 luxuriösen
Bänden, die erste Gesamtausgabe der Freud’schen Schriften.
Mit anderen Worten: Das Verlagsprogramm bestand keineswegs nur aus einer
Versammlung von Einzelwerken, auch ging es nicht darum, die Texte bereits bekannter, in
manchen Fällen sogar erfolgreicher Psychoanalytiker zu publizieren oder eigene Reihen zu
Themen der Psychoanalyse zu starten; vielmehr wollte man als einziger Verlag in
ausschließlicher Weise für die komplette Veröffentlichung einer ganzen Theorieform
zuständig sein.
40
IZP 5, S. 137 f.
13
Abb. 9: Doppelfaltblatt zur Verlagsgründung (vermutl. als Beilage der Zeitschriften),
Collection Philippe Helaers.
14
Ein bemerkenswerter Anspruch, zumal die Buchgeschichte zeigt, das es „[b]is in die 1860er
Jahre hinein“ noch nicht einmal das „Beispiel eines Verlegers gibt, der sich planmäßig und
systematisch um Autoren einer bestimmten Disziplin bemüht hätte, um seinen Programmen
ein fachspezifisches Profil zu geben.“41 Sehr anders die neue psychoanalytische Firma: Als
sie 1919 ihre Produktion aufnimmt, trifft sie nicht nur auf eine inzwischen professionalisierte
Verlagsbranche und einen stark segmentierten Buchmarkt, sondern sie hat es auch mit einer
zunehmenden Dissoziation der Wissenschaft in abgrenzbare Disziplinen sowie deren
Binnendifferenzierung in konkurrierende Forschungsfelder zu tun. Anstatt darauf aber, wie
um 1900 üblich, durch Spezialisierung zu reagieren, indem man etwa eine
„disziplinenorientierte Verlagspolitik“ betreibt oder sich als „Dienstleister“ an den Vorgaben
der Wissenschaftsinstitutionen ausrichtet,42 ging es dem Wiener Verlag darum, eine noch im
Aufbau befindliche Theorieform durch die Formierung ihrer Printmedien auch als
wissenschaftlichen Diskurs hervorzubringen. So wird, wie Lydia Marinelli in ihrer
institutionalisierungs- und publikationsgeschichtlich angelegten Arbeit über den Verlag
gezeigt hat,43 dessen fundamentale Rolle für die Wiener Bewegung sichtbar, denn:
1. Neben der „Propagierung psychoanalytischer Literatur“ wollte er zugleich als
„Zentralsammelstätte der analytischen Autoren und Publikationen“ fungieren (Abb. 9).44
„[D]ie ganze reiche und schöne Literatur“, erklärt Freud noch im Frühjahr 1932, „wäre
nicht zustande gekommen oder nur vereinzelt, zersplittert, mit Untauglichem vermengt,
wenn der Verlag sie nicht zum Leben befördert hätte. [...] Noch für längere Zeit wird es
notwendig sein, daß Analytiker zusammenhalten, enger zu einander halten.“ (Abb. 10)45
Insofern gilt
2. das Diktum Max Eitingons, der 1927 von einer „nobile officium“ des Verlages
gesprochen hat, alle wichtigen psychoanalytischen Schriften herauszugeben;46 weshalb
ihm
3. Marinelli die Funktion einer „literarischen Kanonisierungsanstalt“ zuschreiben konnte.47
Nicht zuletzt sollte auf diesem Wege das Vokabular der Freud’schen Psychoanalyse als
41
Monika Estermann, Ute Schneider, Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Wissenschaftsverlage zwischen
Professionalisierung und Popularisierung (Wiesbaden 2007), S. 8. Gleichzeitig gilt bis heute: „Die
Wechselwirkung zwischen wissenschaftlichem Verlagswesen und Disziplinenentwicklung ist [...] noch kaum
untersucht worden.“ Ebd., S. 7.
42
Estermann, Schneider, Einleitung, (Anm. 41), S. 8 f. Ebenso Georg Jäger, Buchhandel und Wissenschaft. Zur
Ausdifferenzierung des wissenschaftlichen Buchhandels (Siegen 1990); Borscheid, Am Anfang war das Wort,
(Anm. 6), S. 12.
43
Marinelli, Psyches Kanon (Anm. 37).
44
Doppelfaltblatt zur Verlagsgründung (vermutl. als Beilage der Zeitschriften), Collection Philippe Helaers.
Vgl. auch IZP 23, S. 242. Nicht anders der zweite Direktor des Verlages, Adolf József Storfer, am 4. September
1925: Der Verlag entwickelt sich „immer mehr zu einem zentralen Organ der psa. Bewegung.“ IZP 11, S. 521.
45
Sigmund Freud, Spendenaufruf. An die Vorsitzenden der psychoanalytischen Vereinigungen! Ostern 1932,
Collection Philippe Helaers, S. 2. Darüber hinaus fungierte der Verlag immer auch als berufliche
Versorgungsanstalt für (Laien-)Analytiker; etwa Theodor Reik, Anna Freud, Beata Rank oder Editha Sterba.
Vgl. u.a. Sigmund Freud, Sándor Ferenczi, Briefwechsel. 1912–1914, hrsg. von Eva Brabant und Ernst Falzeder
(Wien 1993), Bd. II/2, S. 199, 281; Christfried Tögel, Gerhard Wittenberger (Hrsg.), Die Rundbriefe des
‚Geheimen Komitees’ 1913–1936 (Tübingen 1999), Bd. 3, S. 91; Sigmund Freud, Max Eitingon, Briefwechsel
1906–1939, hrsg. von Michael Schröter (Tübingen 2004), S. 164, 170, 203.
46
Freud, Eitingon, Briefwechsel 1906–1939, (Anm. 45), S. 570. „Und höchst erfreulich ist mir auch, was Sie
vom eigenen ps.a Verlag mitteilen, der nun alle Publikationen sicherstellt.“, Lou Andreas-Salome an Sigmund
Freud in: Dies., Briefwechsel, hrsg. von Ernst Pfeiffer (Frankfurt/M. 1980), S. 96.
15
Abb. 10: Freud, Spendenaufruf, (Anm. 45); gedruckt und vom Verfasser unterschrieben.
47
Marinelli, Psyches Kanon (Anm. 37), S. 204. Ebenso das direkt folgende Zitat.
16
wissenschaftliche Terminologie etabliert und gegen konkurrierende Theorien in Stellung
gebracht werden. Die Verlagsprodukte jedenfalls sind eine „primäre Vermittlungsform“
zwischen den Analytikern der Gründergeneration und den Alltags-, Kultur- oder
Wissenschaftswelten nach 1900 gewesen. Auch deshalb war es
4. von großer Bedeutung für die Verlagspolitik, nicht nur vergleichbaren Initiativen
anwaltlich oder sogar per Gerichtsbeschluss den Namen ‚Psychoanalyse’ zu verbieten,
sondern auch mit allen möglichen Mitteln gegen „wilde [d.h. nicht von Wien legitimierte]
Analytiker“ oder unautorisierte, also keineswegs nur schlechte Übersetzungen
vorzugehen. „Linguistische Hegemonie“ war dementsprechend das Ziel:48 Durch den
eigenen und exklusiven Namen wollte man wieder Herr werden über die
psychoanalytische Sache. Oder, in einer Formulierung von Ernest Jones: „We should thus
still achieve the essential aim of the Press, to distinguish between trustworthy psa books
and the rubbish otherwise published [...].“49
Abb. 11: Zwei vom Wiener Verlag bekämpfte Konkurrenten: Samuel A. Tannenbaums Psyche & Eros,
1920–22 in New York erschienen, sowie Xelaria, hrsg. ab Juli 1921 von Carlheinz Junker in Bad Homburg.
Jeder Kanon, heißt das dann aber, beginnt mit einem Trennstrich, der im Fall der
Psychoanalyse durch die Produkte des Verlages gezogen wurde. In diesem Sinne hat
5. auch Otto Rank als dessen erster Direktor damit begonnen, von anderen Verlagen (etwa
Deuticke, Heller oder Hippokrates) die Rechte psychoanalytischer Werke samt den
48
Ebd., S. 147. Zur Namenspolitik des Verlages vgl. daran anschließend auch Christof Windgätter, Zu den
Akten. Verlags- und Wissenschaftsstrategien der frühen Wiener Psychoanalyse, in: Berichte zur
Wissenschaftsgeschichte, hrsg. von Cornelius Borck, Bd. 32, H. 2 (2009).
49
Sigmund Freud, Ernest Jones, Complete correspondence. 1908–39 (Cambridge, Mass. 1995), S. 538.
17
dazugehörigen Lagerbeständen aufzukaufen.50 Bis auf wenige Ausnahmen war er damit
erfolgreich, sodass Abraham und Eitingon von einem „wichtigen Schritt zur
Vereinheitlichung des Verlagswesens“ gesprochen haben.51 Nach den Zerwürfnissen der
Anfangsjahre sollten die psychoanalytischen Bewegungen erneut an die Theorien Freuds
gekoppelt werden, um dann als Psychoanalyse im Singular aufzutreten. Noch einmal
Eitingon: „Man muß wirklich den Leuten zu Gemüte zu führen suchen, was der Verlag für
die Bewegung bereits getan hat und wie er unter großen Opfern auch das herausgebracht
hat, was zum ganzen unserer Literatur gehört und aus dem man in späterer Zeit in
vollständiger Weise wird erlernen können, was Sie [= Freud] und mit Ihnen wir für
Psychoanalyse halten“.52 Mit dem eigenen Publikationsort also hoffte man zugleich einen
Identifikationsort geschaffen zu haben. Demzufolge ist
6. der Verlag weder nur das Instrument seiner Autoren gewesen, eingereiht in die
psychoanalytischen Tischgesellschaften, Ortsvereine, Polikliniken etc. zur Stabilisierung
der damals noch jungen Bewegung, noch fungierte er als neutrale Schnittstelle zwischen
den internen Diskussionen oder individuellen Schreibakten und den öffentlichen, weil
gedruckten Werken. Vielmehr versuchten seine Aktivitäten, wie Freud im 1932 Rückblick
schreibt, „eine Art von offizieller Aichung“53 zu leisten. Aus dem Gewirr der zahllosen
Psychologien und Pseudo-Analysen sollte durch gezielte Publikationen das eine und
unverwechselbare Profil der Wiener Psychoanalyse hervorgehen: „our main body“54, als
Körperschaft aus lauter papiernen Einzelkörpern. So wird das Kontrollieren der Anderen
durch die Normierung des Eigenen ergänzt. Eine ebenso pragmatische wie weitsichtige
Einstellung, die
7. schon Jones zu der Forderung veranlasst haben dürfte, die Verlagsprodukte als ‚Marken’
bzw. ‚Markierungen’ der Psychoanalyse zu konzipieren.55 Aufgabe des Firma war ja nach
eigenem Bekunden weniger der kommerzielle Erfolg, als vielmehr ein
diskursstrategischer Versuch: Wie ist es möglich, nach der relativen Popularität
psychoanalytischer Einsichten in literarisch-kulturellen Mileaus seit 1900 auch in die
bisher unerreichten Kreise der „Fachgelehrten“ vorzudringen? (Abb. 12)56
Mit der Konsequenz, dass der Verlag über seine ökonomischen, personellen und distributiven
Aspekte hinaus zugleich eine epistemische Funktion erfüllen sollte. Seine Aktivitäten und
Produkte jedenfalls haben nicht nur verkauft und verbreitet, was auch anders oder ohne sie
50
Vgl. u.a. Tögel, Wittenberger, Die Rundbriefe des ‚Geheimen Komitees’ 1913–1936 (Anm. 45), Bd. 2, S. 215,
221; Ebd., Bd. 4, S. 52, 54; Freud, Rank, Correspondence (Anm. 39), Nr. 240723/F; IZP 6, S. 533.
51
Tögel, Wittenberger, Die Rundbriefe des ‚Geheimen Komitees’ 1913–1936, (Anm. 45), Bd. 2, S. 221. Ganz
ähnlich kommentiert der damals als Geschäftsführer amtierende Storfer seine Arbeit zur ersten Gesamtausgabe
der Freud’schen Schriften: „Damit, dass der Verlag das zerstreute Lebenswerk des Begründers der
Psychoanalyse einheitlich zusammenstellt und in würdiger Art unter Dach bringt, erfüllt er seine wichtigste und
ehrenvollste Aufgabe.“ IZP 11, S. 521.
52
Freud, Eitingon, Briefwechsel 1906–1939, (Anm. 45), S. 785.
53
Freud, Spendenaufruf, (Anm. 45), S. 1.
54
Freud, Eitingon, Briefwechsel 1906–1939, (Anm. 45), S. 311; Athol Hughes , Letters from Sigmund Freud to
Joan Riviere (1921–1939), in: International Review of Psycho-Analysis, Bd. 9 (1992), S. 65–284, hier S. 273.
Vgl. auch Storfer in: IZP 11, S. 521 f.
55
Die Formulierung lautet im Original: „should be a mark”. Tögel, Wittenberger, Die Rundbriefe des ‚Geheimen
Komitees’ 1913–1936, (Anm. 45), Bd. 3, S. 249.
56
Vgl. Faltblatt zur Verlagsgründung, (Anm. 44), S. 1 bzw. Adolf József Storfer, M e m o r a n d u m über die
Zukunftsmöglichkeiten des I. PsA Verlags. Oktober 1930, Wien. Collection Philippe Helaers, S. 3; IZP 5, S. 138.
18
Abb. 12: Storfer, M e m o r a n d u m über die Zukunftsmöglichkeiten des I. PsA
Verlags, (Anm. 56), S. 1, 4, 7, 9 von insgesamt 11 Blättern.
gewusst werden konnte, sondern sie waren eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass jene
Wiener Theorien als Subjekt und Objekt eines Wissenschaftswissens akzeptabel geworden
sind. Neben seiner Rolle als Kommunikationsinstrument ist deshalb der Verlag vor allem ein
Evidenzmedium der Psychoanalyse gewesen. Genauer noch: Es waren seine Layout-Strategien
(die Gestaltung seiner Bücher, Journale, Anzeigen, Lesezeichen, Waschzettel usw.), durch die
19
er versucht hat, sich sowohl in bestehende Forschungsrichtungen einzuschleusen, als auch im
wissenschaftlichen und nicht zuletzt universitären Feld des 20. Jahrhunderts ein eigenes
Terrain abzustecken, zu besetzen und (wenigstens eine Zeit lang) zu verteidigen.57
Zentrale Merkmale dieser Strategien waren, neben der bereits erwähnten
Durchsetzung des Verlagsnamens, die Umschlaggestaltung, die Farbwahl der Einbände, die
Typographie, die Einführung eines Firmenlogos und verschiedene Public-RelationsVersuche. Durch ihr Zusammenwirken aber, so die weiterführende These, spielen sie nicht
nur eine fundamentale Rolle in der Geschichte der Psychoanalyse, sondern sie können
darüber hinaus auch als Symptome aufgefasst werden, die Auskunft über einen allgemeinen
Wandel in den Produktions- und Legitimationsbedingungen des Wissens geben. Das heißt:
Mit seinen Gestaltungsstrategien steht der Verlag am Anfang einer Entwicklung, die Marktund Markenbildungen in wissenschaftliche Arbeitsprozesse eingeführt hat. Als Naming,
Branding, Product-Placement, Labelling etc. stellen sie seither und bis heute prägende
Eigenschaften des Wissenschaftsbetriebes dar. Vom Universitätsmarketing über die
Drittmitteleinwerbung bis zu Excellenzanträgen; es gibt inzwischen wohl keinen Bereich
akademischer oder gelehrter Tätigkeiten mehr, der es nicht mit Strategien der
Sichtbarmachung, der Aufmerksamkeitssteigerung oder der Verwandlung von Begriffen und
Methoden in Warenzeichen zu tun hätte. Insofern handelt es sich nachfolgend um eine
Fallstudie, die zugleich auf Reformationen und Regelmäßigkeiten in der
Wissen(schaft)sbildung zielt. Sie soll beispielhaft zeigen, dass und wie in der Moderne das
Auftauchen und die Stabilisierung neuer Wissensfelder nicht allein an die Modellierung von
Autorschaft, die Macht der besseren Argumente oder die Standards technischer Einrichtungen
gebunden ist, sondern auch mit den Formen der Darstellung zusammenhängt. Ab dem letzten
Drittel des 19. Jahrhunderts jedenfalls beginnt das Layout von Drucksachen in zunehmendem
Maße den Platz eines epistemischen Agenten einzunehmen. Statt äußerlich zu sein, ist so das
Außen des Buches zu einer internen Bedingung seines Wissens geworden.
Noch anders ausgedrückt: Der Wiener Verlag wird hier als eine Art Brennglas
verwendet, durch das sich eine Verschiebung in der Genesis und Geltung wissenschaftlicher
Diskurse beobachten lässt. Eine Verschiebung allerdings, die keine neuerliche oder erneuerte
Autonomie in Aussicht stellt, da sie die Konstituenten von Wissenschaft um den Aspekt der
druckgraphischen Materialität und deren Gestaltung ergänzt. Die Bedingungen der
Szientifizierung sind nicht selber szientifisch; vielmehr sind Layoutstrategien zu
Begründungsgesten geworden, denen nicht länger mehr der Makel des Sekundären anhaftet.
Was bei Stifter noch ‚außerwesentliches Nebending’ war, stellt nun ein „aktives Element des
Wissens“ dar; oder, wie Ludwik Fleck an anderer Stelle schreibt: „Das Bild gewinnt
Oberhand über die spezifischen Beweise und kehrt in dieser neuen Rolle vielfach zum
Fachmann zurück.“58 „Schlagwörtern“ oder „Kampfrufen“ gleich wirkt es „durch bloße
57
Zum konfliktreichen Verhältnis der Psychoanalyse zu den Universitäten und umgekehrt vgl. Freuds Schrift
Soll die Psychoanalyse an den Universitäten gelehrt werden? von 1919, in: Ders., Gesammelte Werke,
Nachtragsband, hrsg. von Angela Richards (Frankfurt/M. 1987), S. 699–703; ebenso die Protokolle und Briefe
der ersten Analytiker über ihre Versuche, Universitätsprofessuren zu erlangen: u.a. Freud, Ferenczi,
Briefwechsel, (Anm. 45), Bd. II/2, S. 178.
58
Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache [1935] (Frankfurt/M. 1980), S.
59, 155. Ebenso die direkt folgenden Zitate.
20
Gegenwart“, nicht mehr „durch logischen Sinn“. Zwar mag diese Feststellung zunächst auf
die Konjunktur der Aufzeichnungstechniken in den modernen Naturwissenschaften bezogen
sein (immerhin war Fleck Biologe), um dort den Status und die Funktion der Diagramme,
Kurven oder Schautafeln zu überdenken, doch lässt sich darin wohl genauso die Reaktion auf
eine neue Kultur der Visualisierung um 1900 erkennen,59 der sich nicht nur die
Wissenschaften nicht entziehen konnten, sondern deren Ubiquität und Wirkmächtigkeit auch
mit der Etablierung des Schaufensters zu tun hat.
Als „Präsentifikation“ wäre dann mit Hans-Ulrich Gumbrecht der Mechanismus dieser
gestalterisch-bildgebenden Verfahren auf den Punkt gebracht,60 und etwas programmatischer
steht dazu bei Dieter Mersch: „Das Sichzeigen geht dem Sagen voraus“. Daher liegt die
„Bedingung des Zeichens in einem Nichtzeichenhaften“, einer „unverzichtbaren“ und
zugleich „irreversiblen [...] Präsenz“; noch „bevor die Frage nach seiner Bestimmtheit, seiner
Bedeutung sich stellt. [...] Denn es ist keineswegs gleichgültig, ‚daß’ ein Zeichen gegeben
wurde und nicht vielmehr nicht“.61 Die Aufgabe ist also, sowohl zu erforschen, wodurch sich
Wissen in der Öffentlichkeit jeweils zeigt, nach Mersch die „Ekstatik der Materialität“, als
auch den Akt, der diese Materialität (im drucktechnischen ebenso wie im
präsenztheoretischen Sinne) setzt, Mersch zufolge die „Intensität der Performanz“ bzw. das
„Ereignis des In-Erscheinung-tretens“.
Das aber heißt für eine Epistemologie der Wiener Verlagsprodukte: Anstatt sich um
eine vertiefte oder gar verbesserte Deutung psychoanalytischer Theorien zu bemühen, für
oder gegen Freud, im Interesse der Orthodoxie oder als Aufforderung zur Dissidenz, treten
nunmehr „paratextuelle Elemente“ in den Vordergrund, die, wie Gérard Genette es
beschrieben hat, als „Schauplatz einer Pragmatik und einer Strategie“ dafür sorgen, den „Text
[...] im vollsten Sinne des Wortes zu präsentieren: ihn präsent zu machen“.62 Doch man
täusche sich nicht: Solche Präsentifikationen sind keine Informationsveranstaltungen, ihre
Strategien liefern keine neutralen oder zweckfreien Angebote. Vielmehr gilt auch in den
ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts noch, dass Verlage und ihre Drucksachen eine
„Schwelle“ zu jenem Prozess der Vergesellschaftung darstellen, die nicht nur über
Verkaufserfolge, Absatzzahlen oder Gewinnspannen entscheidet, als „Einbeziehung des
Buches in die kapitalistische Wirtschaft“63, sondern die darüber hinaus aus dem ‚Schauplatz’
der Waren einen „Richtplatz des Wissens“64 gemacht hat: Denn hier werden „Theorien
aufgerichtet, aber auch hingerichtet“. Was sichtbar ist und sich zu lesen gibt, hat daran seinen
Anteil. Kein öffentliches Erscheinen ohne Erscheinungsbild, dessen Gestaltung zu den
Bedingungen der Un/Möglichkeit von Wissenschaft gezählt werden muss. Mit der
59
Vgl. stellvertretend für zahlreiche Untersuchungen: Jonathan Crary, Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und
moderne Kultur [1999] (Frankfurt/M. 2002).
60
Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik (Anm. 21), S. 111.
61
Mersch, Was sich zeigt (Anm. 21), S. 21, 24 f., 27. Die direkt folgenden Zitate S. 18, 373.
62
Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches [1987] (Frankfurt/M.) 2003, S. 9 f. Ebenso das
direkt folgende Zitat.
63
Helma Schaefer, Zur Dauer und Zierde. Gestaltungsgeschichte des Einbandes von 1765 bis 1897, in: DagErnst Petersen (Hrsg.), Gebunden in der Dampfbuchbinderei. Buchbinden im Wandel des 19. Jahrhunderts
(Wiesbaden 1994), S. 9–53, hier S. 39.
64
Michael Cahn, Die Rhetorik der Wissenschaft im Medium der Typographie. Zum Beispiel die Fußnote, in:
Hans-Jörg Rheinberger, Michael Hagner, Bettina Wahrig-Schmidt (Hrsg.), Räume des Wissens. Repräsentation,
Codierung, Spur (Berlin 1997), S. 91–109, hier S. 91.
21
Konsequenz, dass Publikationspraktiken und Public-Relations, Wissen(schaft)sbildung und
Werbung nicht mehr als die Gegensätze dastehen, die sie traditionell gewesen sind oder sein
sollten.65
Das Szenario
„Omnibus Omnia”: Alles für Alle, so steht es in Stein gemeißelt über dem Haupteingang der
1847 in Brüssel eröffneten Galeries Royales Saint-Hubert. Nachdem seit Anfang des
Jahrhunderts glasüberdachte Ladenstraßen das Aussehen und die Darstellungsformen
europäischer Metropolen zu verändern begannen, ging es auch für deren Bewohner darum,
neue ‚Subjektivierungsweisen’ einzuüben. Als Passanten einer nunmehr urbanen Umwelt,
könnte man im Anschluss an Jonathan Crary sagen, mussten sie zu veritablen
Aufmerksamkeitstieren werden.66 Das hat zweifellos mit einer ungewohnten Temporalität des
städtischen Lebens zu tun, ebenso mit den Anforderungen bisher unbekannter
Kommunikationstechniken und Verkehrsformen, aber eben auch mit einer visuellen
Infrastruktur, die nicht nur, wie hinlänglich beschrieben, durch Fotographie und Film,
sondern auf den Straßen, Plätze und Alleen auch durch das Auftauchen und die Ausbreitung
von Schaufenstern geprägt worden ist.67
Entsprechend fungiert das städtische Wegenetz nicht mehr nur als Verbindung von
Durchgangsorten, als Transitraum oder Vektor der Fortbewegung und der permanenten
Mobilisierung, sondern es hat sich zu einem eigenen Ereignis- und Erlebnisraum entwickelt:
Ein „Blickwispern“ nämlich, so Benjamin, „füllt die Passagen“.68 Von überall her stürmen
nicht zuletzt optische Reize auf den Passanten ein, der deshalb seinen Gang immer wieder
verlangsamt, unterbrochen oder umgelenkt findet. Die Straße wird zu einem Parcours, mit
Aufmachungen, die sich als „Stolpereffekte“69 erweisen: Kein Schritt außer Haus ist mehr
möglich, ohne das nicht versucht würde, die Neugier, die Lust oder die Phantasie des
65
Eine knappe Skizze des Nicht-Verhältnisses von Wissenschaft und Werbung liefert Borscheid, Am Anfang war
das Wort, (Anm. 6), S. 9 f. Ebenso Thomas Wegmann, zusammen mit Erhard Schütz (Hrsg.), literatur.com.
Tendenzen im Literaturmarketing (Berlin 2002) bzw. Ders. (Hrsg.), Markt literarisch (Berlin, Bern, Bruxelles et
al. 2005), der als einer der wenigen Literaturwissenschaftler die brisante und nicht selten ignorante Beziehung
von Literatur und Markt auslotet.
66
Vgl. Crary, Aufmerksamkeit, (Anm. 59) – obwohl er das Schaufenster an keiner Stelle erwähnt. „Steigerung
des Nervenlebens“ heißt das bei Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, in: Ders.,
Gesamtausgabe, hrsg. von Otthein Rammstedt, Bd. 7 (Frankfurt/M. 1995), S. 116–131, hier S. 116.
67
Selbst wenn nicht alle Buchhandlungen über Schaufenster verfügt haben sollten: Statistisch lässt sich im Wien
der konstitutionellen Ära eine deutliche Zunahme der Buchhandlungsdichte belegen. 1854 etwa gab es dort 34
Buchhandlungen, 1860 bereits 46, eineinhalb Jahrzehnte später konnte deren Anzahl mit 121 fast verdreifacht
werden, um sich in den 1880er Jahren bei ca. 110 buchhändlerischen Firmen einzupendeln. Im Gebiet des
heutigen Österreich hat sich die Zahl der Buchhandlungen zwischen 1859 und 1890 von 178 auf 438 mehr als
verdoppelt (bis 1909 sogar mehr als verfünffacht). Eine ähnliche Entwicklung ist auch für das sehr viel größere
Deutsche Reich belegt: Dort stieg die Zahl der Buchhandelsbetriebe zwischen 1869 und 1890 von 3.506 auf
7.474. Vgl. Norbert Bachleitner, Franz M. Eybl, Ernst Fischer, Geschichte des Buchhandels in Österreich
(Wiesbaden 2000), S. 207 ff.; Jäger, Buchhandel und Wissenschaft, (Anm. 42), S. 24 f.
68
Walter Benjamin, Pariser Passagen II, in: Ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und
Hermann Schweppenhäuser, Bd. V/2 (Frankfurt/M. 1991), S. 1044–1059, hier S. 1050.
69
Osterwold, Schaufenster (Anm. 18), S. 92, 96. Robert Exner, Moderne Schaufenster-Reklame (Berlin 1896), S.
4 meint, dass Schaufenster „die Passanten zum Verweilen zwingen sollen“.
22
Passanten zu wecken, um ihn auf diese Weise von einem vorwärts hastenden Fußgänger in
einen kaufbereiten Kunden zu verwandeln. In den Schaufenstern und gläsernen Vitrinen soll
er das „Spiegelkabinett seiner Wünsche“70 entdecken. „Was man im Lichte der Sonne sieht,
ist weniger interessant als das Geschehen hinter einer Scheibe“, kommentiert Baudelaire 1863
dieses mäandernde Schauen und Promenieren.71
Nun sind wir, einem wohlbekannten Reflex zufolge, gerne bereit, solche Verhaltensweisen
konsumkritisch zu verurteilen oder ihnen die Zerstreuung unseres Bewusstseins vorzuwerfen.
Schon Benjamins Archäologie der Moderne trägt ja diese Züge. Indem nämlich, wie er 1935
notiert, die „Schrift unerbittlich von Reklamen auf die Straße hinausgezerrt“ wird, gibt es
neben solchen „Heuschreckenschwärmen von Schrift, die heute schon die Sonne des
vermeinten Geistes des Großstädters verfinstern“, auch noch den umgekehrten Weg der
Reklame zu fürchten, durch den „nächsthin das Buch in seiner überkommenen Gestalt seinem
Ende entgegengeht“.72 Als Beispiel dient ihm Mallarmés Coup de dés von 1897 (Abb. 6):
Dort sei „zum erstenmal [...] die graphische Spannung des Inserates ins Schriftbild
verarbeitet“ worden. Nach einer Formulierung Blumenbergs findet so bei Benjamin die
„Apokalypse des Buches“ ihr „graphisches Menetekel“.73 Eine Position, die zahlreiche
Nachahmer gefunden hat, die dabei aber die konstruktive Rolle der Werbung in der Buchund Wissenschaftsproduktion verkennt.
Dagegen
wird
hier
die
Komplizenschaft
zwischen
Passanten
und
Buchhandlungsschaufenster als ein Szenario beschreiben, in dem Drucksachen, nicht zuletzt
also auch wissenschaftliche Bücher oder Zeitschriften die Gelegenheit ihres ersten
öffentlichen Auftritts erhalten; unterstützt durch Kulissen, Requisiten, Podien, Beleuchtungen
usw., die als Wirkungsmittel der modernen Bühnentechnik entstammen.74 Das Schaufester,
schreibt Tilman Osterwold,75 stellt eine „primäre Kontaktzone“ dar, ein eigenes
„Publikationsorgan“, das nicht nur mit der Leser-Betrachter-Differenz rechnet, sondern
zugleich von einer Affektion weiß, die jeder Lektion vorhergeht. Seit Mitte des 19.
Jahrhunderts (und wohl bis in die 1980er Jahre hinein) kann deshalb vom Schaufenster als
einem „epistemischen Paradigma“76 gesprochen werden.
70
Weibel, Pakesch, Künstlerschaufenster, (Anm. 13), S. 14.
Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen. Der Spleen von Paris (Leipzig 1990), S. 455. Um der
Wunscherfüllung näher zu kommen, muss man also nicht nur träumen, wie Freud meinte, es reichte schon ein
einfacher Schaufensterbummel.
72
Benjamin, Passagen, magasins de nouveautés, calicots, (Anm. 7), S. 102; ders., Baudelaire, in: Ders.,
Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. V/1 (Frankfurt/M.
2003), S. 301–489, hier S. 480. Ebenso das direkt folgende Zitat.
73
Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt [1982] (Frankfurt/M. 1999), S. 317.
74
Wie sehr das Schaufenster räumlich, sachlich und technisch als Schaubühne verstanden wurde, dokumentiert,
besonders in den 1920er Jahren, die Berliner Zeitschrift Schaufenster-Kunst und -Technik. Vgl. auch
Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, (Anm. 13), S. 140–143.
75
Osterwold, Schaufenster (Anm. 18), S. 28, 73.
76
Weibel, Pakesch, Künstlerschaufenster, (Anm. 13), S. 16. Eine „Euphorie für Schaufenster“ lässt sich von den
1910er bis in die späten 1920er Jahren hinein nachweisen. Vgl. Schleif, SchaufensterKunst, (Anm. 13), S. 87;
Bachleitner, Eybl, Fischer, Geschichte des Buchhandels in Österreich, (Anm. 67), S. 256 f. In diese Zeit fällt
auch die Gründung der ersten Berufsorganisationen für Schaufensterdekorateure mit speziellen Lehrbüchern
sowie eigenen Zeitschriften; in Österreich etwa der Anzeiger für den Buch-, Kunst- und Musikalienhandel, der
aus zahlreichen Einsendungen regelmäßig das „Schaufenster der Woche“ wählte und abbildete. Daneben entsteht
71
23
Ist man bereit, diesem Szenario zu folgen, ergeben sich daraus spezifische Anforderungen für
das Layout von Büchern:
1. Deren Präsentation in Schaufenstern unterscheidet sich signifikant von den
Buchaufstellungsweisen in Bibliotheken, Lesesälen oder privaten Arbeitsräumen.77
Werden dort nämlich, wie seit der Renaissance üblich, die einzelnen Bände aufrecht und
parallel zueinander mit ihren Rücken nach vorne in Regale einsortiert, lässt sich in
Schaufenstern, durch Bauweise und Zwecksetzung bedingt, eine Praxis beobachten, die
eher an die Katheder bzw. Lesebänke des 16. Jahrhunderts erinnert.
Abb. 13: Katheder-Systeme. Aus: Petroski, The Book in the Bookshelf (Anm. 77), S. 70 f.
Darin wurden Bücher entweder vertikal auf Einfassungen oberhalb der Arbeitsfläche
gestellt, horizontal in Fächer gelegt oder an abgeschrägte Borde gelehnt. In jedem Fall
aber waren ihre Buchdeckel den Blicken der potentiellen Leser zugewandt.78. Nicht anders
moderne Buchhandlungen (Abb. 14): Auch sie zeigen in ihren Schaufenstern, meist im
Gegensatz zum Ladeninneren, die Vorderansicht der Bücher (als sog. „Schauseite“79),
deren Gestaltung sie zugleich voraussetzen und herausfordern.
2. Das Betrachten einer Buchauslage hinter Glas hat nur wenig mit der ordnenden
Perspektive eines Bibliothekars oder dem intimen Blick des Lesers zu tun, die ja ihre
Bücher direkt vor sich haben und sie außerdem anfassen, beschildern oder durchblättern
eine eigene Industrie zur Herstellung von Dekorationshilfsmitteln. Ebd. Vgl. auch Reinhardt, Reklame, (Anm. 4),
S. 271 ff.; Haas, Sinndiskurse in der Konsumkultur, (Anm. 7), S. 301 f.
77
Eine Geschichte der Buchaufstellungsweisen ist noch nicht geschrieben worden; sie würde aber wohl
komplementär zu Benjamins o.g. Diagnose vom Niederlegen und Aufstehen der Schrift in der Moderne
konzipiert werden müssen. Bis auf Weiteres vgl. Henry Petroski, The Book in the Bookshelf (New York 1999).
78
„When the book was not in use, it lay cover up on the lectern, as if on display.“ Petroski, The Book in the
Bookshelf (Anm. 77), S. 61.
79
Georg Kurt Schauer, Wege der Buchgestaltung. Erfahrungen und Ratschläge (Stuttgart 1953), S. 73. Dazu
Exner, Moderne Schaufenster-Reklame (Anm. 70), S. 3: „Die Reklame muss im Schaufenster gegenüber der
Warenauslage zu ihrem Rechte kommen.“
24
können. Über „den Erfolg“, heißt es deshalb in einem Fachorgan für
Schaufensterdekorateure, entscheidet „nicht die Herstellung der Ware, sondern die Art,
wie sie dem Publikum angeboten wird.“80 Insofern ist
Abb. 14: Buchschaufenster in den 1920er Jahren. Johannes Heyn, Klagenfurt.
3. auch bei Buchauslagen neben dem Gebrauchs- und dem Tauschwert der
„Ausstellungswert“81 der einzelnen Bände bzw. des Fensters insgesamt wesentlich
geworden; die Möglichkeit also, durch ihre Gestaltung innerhalb sehr kurzer Zeit und aus
einer Distanz von vielleicht zwei oder drei Metern heraus als Blickfang auf den Passanten
zu wirken.82
Abb. 15: Vermessung der Blickachsen, der Lichtregie und der räumlichen Proportionen für
Schaufenster. In: Schaufenster-Kunst und -Technik, Jg.1, Nr. 11, August 1926, S. 24.
80
H. M. Geiger, Dekoratives im Sommer, in: Schaufenster-Kunst und -Technik, 1. Jg., Nr. 9, Juni 1926, S. 6.
Ebenso Ursula Zeller, Vorwort, in: Hubert Riedel (Hrsg.), Lucian Bernhard. Werbung und Design im Aufbruch
des 20. Jahrhunderts (Stuttgart 1999), S. 7: „Der Marktauftritt wird wichtiger als die Vernunft des Produktes
selbst.“
81
Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [1939], in: Ders.,
Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I/2 (Frankfurt/M. 1991),
S. 435–508, hier S. 443 f.
82
Wolf Sluyterman von Langeweyde, Das Künstlerplakat im modernen Schaufenster (Wien, Berlin, Leipzig
1927), S. 32; Osterwold, Schaufenster (Anm. 18), S. 69. Bücherfenster sind keine Bücherlager, heißt es immer
wieder in den zuständigen Fachzeitschriften: Man solle die Ware dort nicht stapeln, sondern aus dem eigenen
Angebot auswählen und im Fenster sorgsam (natürlich mit Unterstützung professioneller Dekorateure)
arrangieren. Vgl. dazu u.a. die Rubrik „Das Schaufenster als Werber“, die regelmäßig im österreichischen
Anzeiger für den Buch-, Kunst- und Musikalienhandel erscheint (hier: Jg. 69, Nr. 44, 2. November 1928, S. 253).
25
Es kommt, wie der Journalist und Theaterkritiker Ludwig Börne schon 1823 in Paris
erklärt, „auf eine Minute, auf einen Schritt an, die Anziehungskräfte spielen zu lassen;
denn eine Minute später, einen Schritt weiter steht der Vorübergehende vor einem anderen
Laden... Die Augen werden Einem wie gewaltsam entführt, man muß hinsehen und stehen
bleiben, bis der Blick zurückkehrt.“83 Daraus aber folgt
4. und dekorationspraktisch, dass in Schaufenstern die Einbände bzw. Umschläge der
Bücher von entscheidender Bedeutung sind. Durch die Industrialisierung des Drucks
(als Abkehr von handwerklichen Arbeitsabläufen und zusammen mit der Einführung der
Gewerbefreiheit)84 ist deren Gestaltung ja erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem
Produktionsmoment der Verleger geworden.85 Vorher wurden Bücher (für
Schaufensterauslagen gänzlich unattraktiv) in rohen oder gehefteten Bogen verkauft,
manchmal zum Schutz in neutrales Papier eingeschlagen, und dann vom Kunden,
nachträglich und eigenen Wünschen gemäß, beim Buchbinder mit einem Einband
versehen. Das Ergebnis waren handwerklich-gestalterische Unikate, sodass damals
äußerliche Gleichheit viel eher unter den Büchern einer privaten oder öffentlichen
Bibliothek als unter den Exemplaren einer Auflage angetroffen werden konnte. Das
Zusammenspiel von Buchschaufenstern und Verlagseinbänden setzte dieser Tradition ein
Ende: Nicht nur, worauf man immer wieder hingewiesen hat, als Übergang zu
Massenproduktion und Großbuchbinderei, um der Nachfrage einer zunehmend
alphabetisierten Bevölkerung gerecht werden zu können,86 sondern auch, indem jede
Auflage nunmehr aus identisch aussehenden und deshalb in den Auslagen leicht
83
Ludwig Börne, Schilderungen aus Paris, VI, Die Läden, in: Ders., Sämtliche Werke (Hamburg, Frankfurt/M.
1862). Ebenso Schauer, Wege der Buchgestaltung, (Anm. 79), S. 80: „Immer bedenke man, dass Schrift und
Bild eines Umschlags auf zwei Meter Entfernung erkennbar und völlig erfaßbar sein müssen, denn so groß ist oft
der Abstand von dem Beschauer vor der Schaufensterscheibe.“ In den Fachzeitschriften der Buchhändler wird
entsprechend lebhaft diskutiert, welcher Platz hinter dem Glas für Werbezwecke der beste sei. Vgl. Abb. 15 oder
auch den Anzeiger für den Buch-, Kunst- und Musikalienhandel, Jg. 69, Nr. 41, 12. Oktober 1928, S. 219.
84
Die zünftischen Regularien (über Arbeitsmethoden, Betriebsführung, Ausbildung, Preisabsprachen etc.) sind
in Österreich am 1. Mai 1860 per Gesetz abgeschafft worden. Vgl. Bachleitner, Eybl, Fischer, Geschichte des
Buchhandels in Österreich, (Anm. 67), S. 206. Emil Zola übrigens beschreibt 1883 in Les Paradis des Dames
am Medium des Schaufensters genau diesen Übergang vom handwerklich geprägten Kleinhandel zum
industrialisierten, mit Warenhäusern und Massenproduktion rechnenden Großgewerbe.
85
Vgl. Adolf Rhein, Die frühen Verlagseinbände. Eine technische Entwicklung, in: Gutenberg-Jahrbuch 162
(1962), S. 519–532, hier S. 519, 531; Ernst-Peter Biesalski, Die Entwicklung der industriellen Buchbinderei im
19. Jahrhundert, in: Dag-Ernst Petersen (Hrsg.), Gebunden in der Dampfbuchbinderei. Buchbinden im Wandel
des 19. Jahrhunderts (Wiesbaden 1994), S. 61–98, hier S. 62 f.; ders., Die Mechanisierung der deutschen
Buchbinderei 1850–1900, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 36 (1991), S. 1–94, hier S. 5, 12. Ebenso
Schaefer, Zur Dauer und Zierde, (Anm. 63), S. 22 f., 25 f., die vor dem Hintergrund industrialisierter
Herstellungsformen des Buches auf die „technische Trennung zwischen Buchblock- und Deckenbearbeitung“
hinweist. Interessantes Detail: Noch 1833 wurde dem Brockhaus-Verlag in Leipzig durch die dortige Innung
untersagt, eine eigene Buchbinderei zu führen. Biesalski, Die Mechanisierung der deutschen Buchbinderei
1850–1900, (Anm. 85), S. 12.
86
Vg. Rhein, Die frühen Verlagseinbände (Anm. 85), S. 530; Biesalski, Die Mechanisierung der deutschen
Buchbinderei 1850–1900, (Anm. 85), S. 62. Als „Faustregel für die Progression der Lesefähigkeit in Mittel- und
Westeuropa“ gilt: Sie steht 1830 bei 30 %, steigt dann pro Dekade um weitere 10 % bis 1900 eine „nahezu
vollständige Alphabetisierung“ der über sechs Jahre alten Bevölkerung erreicht ist. Vgl. Monika Estermann,
Georg Jäger, Geschichtliche Grundlagen und Entwicklung des Buchhandels im Deutschen Reich bis 1871, in:
Georg Jäger (Hrsg.), Geschichte des Deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Das Kaiserreich 1870–
1918, Teil 1 (Frankfurt/M. 2001), S. 17–41, hier S. 21 f.
26
wiederzuerkennenden Büchern besteht. So „herrscht der Einband vor, den der Verleger
durch den Buchhandel anbietet“87; weshalb sich
5. deren Gestaltungskriterien an einem anderen, sehr erfolgreichen Medium des frühen 20.
Jahrhunderts orientieren: dem Plakat.88 Genau wie dieses nämlich, müssen auch Bücher,
die aus den Magazinen und Regalen in die Ladenfenster versetzt worden sind, „aus der
Ferne zu zünden“89. Kleinteilig dekorierte Einbände schienen dazu wenig geeignet, denn
ein „Blickfang“, konstatierte 1926 die Schaufenstergestalterin Elisabeth Stephani-Hahn,
„könne nur durch Plakatwirkung erzeugt werden“90; d.h., um des „werblichen Erfolges
willen“ solle man „Texte und Motive zugunsten monumentaler Form, einprägsamer
Botschaft und spontaner Faßlichkeit vereinfachen“. Ein Leitsatz, der wohl von den
Eigenschaften des „Sachplakates“ beeinflusst war,91 der aber
6. schon bald durch die Entdeckung des Buchäußeren als Werbeträger wieder relativiert
worden ist (Abb. 16). Das gilt für die fest mit dem Buchblock verbundenen Einbände und
mehr noch, weil leichter herzustellen, für die losen Umschläge.92 Erst in den 1890er
Jahren jedoch wird sich die Praxis durchgesetzt haben, Inhaltsverzeichnisse,
Pressestimmen, Verlagsanzeigen oder eigens verfasste Werbetexte auf die Vorder- und
sogar Rückseiten der Bücher zu drucken. Auch einzelne, um das Buch gefaltete
Papierstreifen, sog. Bauchbinden entstehen zu dieser Zeit, meist um auf unerwartete
Ereignisse zu reagieren, die für den Vertrieb des jeweiligen Titels förderlich sein
könnten.93
Die Schutz- und Verpackungsfunktion der Umschläge also ist im Zeitalter des Schaufensters
gestaltungspraktisch überformt worden.94 Eine Emanzipationsgeschichte, die sich als doppelte
Loslösung entwickelt hat: Zum einen trennt sie das innere vom äußeren Erscheinungsbild des
Buches (etwa bei der Wahl der Typographie), zum anderen befreit sie es durch ihre Logik der
87
Schauer, Wege der Buchgestaltung, (Anm. 79), S. 58.
Vgl. u. a. Borscheid, Am Anfang war das Wort, (Anm. 6), S. 38, 50; Schleif, SchaufensterKunst, (Anm. 13), S.
108.
89
Mitteilungen des Vereins Deutscher Reklamekünstler, Nr. 23, 1911, S. 13.
90
Zit. nach Schleif, SchaufensterKunst, (Anm. 13), S. 108. Ebenso Charles Rosner, Die Kunst des
Buchumschlages (Stuttgart 1954), S. XVII in seiner frühen Geschichte des Schutzumschlages: „Einband und
Schutzumschlag können zweifellos als verfeinerte Kleinplakate angesehen werden. [...] Es waren natürlich
Plakate ‚en miniature’.“
91
Als ‚Erfinder’ dieses Plakatstils gilt der in Stuttgart geborene Graphiker Emil Kahn alias Lucian Bernhard, der
1903 mit einer Arbeit für Priester-Zündhölzer in Berlin berühmt wurde. Bis zu seiner Übersiedlung nach New
York folgten zahlreiche, heute als Ikonen der Werbegraphik gefeierte Entwürfe u.a. für Stiller, Manoli, Bosch,
Audi oder Kaffee-Hag. Auch Buchumschläge hat Bernhard gestaltet: vor allem für den Axel Juncker Verlag,
Meyer & Jessen sowie den Erich Reiss Verlag. Vgl. Riedel, Lucian Bernhard, (Anm. 80), S. 120 ff.; Jörg
Meißner, Die Straße als Bühne, in: Ders., Strategien der Werbekunst 1850–1933 (München 2004), S. 200–233.
92
Rosner, Die Kunst des Buchumschlages, (Anm. 90), S. V. Es ist nach wie vor umstritten, ob der
Buchumschlag aus dem Einschlagpapier der Druckereien oder aus einer Verselbständigung des
Broschurumschlages hervorgegangen ist. Als Zeitpunkt aber werden übereinstimmend die 1830er Jahre genannt.
Ebd., S. VII. Ebenso Schauer, Wege der Buchgestaltung, (Anm. 79), S. 72 f.; Jürgen Holstein, Blickfang.
Bucheinbände und Schutzumschläge Berliner Verlage 1919–1933 (Berlin 2005), S. 22.
93
Vgl. Holstein, Blickfang, (Anm. 92), S. 23. Das Bedrucken der Einschlagklappen oder gar der UmschlagInnenflächen ist damals zwar auch gebräuchlich geworden, spielt für die Inszenierung des Buches im
Schaufenster jedoch keine Rolle.
94
„Erst diese Kleider [= Verpackungen] machten die wahren Produkte.“ Borscheid, Am Anfang war das Wort,
(Anm. 6), S. 30. Ebenso Wilhelm Haefs, Ästhetische Aspekte des Gebrauchsbuches in der Weimarer Republik,
in: Mark Lehmstedt, Lothar Poethe (Hrsg.), Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte, 6 (1996), S. 353–382, hier
S. 353, der besonders für die 1920er Jahre eine „Autonomisierung [...] des Buchumschlages“ konstatiert.
88
27
Aufmerksamkeitssteigerung auch von dem Anspruch Form und Inhalt, Text und Ausstattung
aufeinander beziehen zu müssen. Stattdessen treten Einbände und Umschläge als selbständige
Medien auf. Durch ihre Gestaltung könnten sie nun, wie Georg Schauer bestätigt, „ebenso gut
als Prospekt oder Plakat neben dem Buch hergehen“, da sie „im Grunde nur eine Aufgabe“
erfüllen müssen: „den Beschauer zum Kaufentschluß hinzureißen.95
Abb. 16: Umschlag-Exemplare des Internationalen Psychoanalytischen Verlages
mit Bauchbinde und Werbetexten. Collection Philippe Helaers.
Das Material
Wien, im Mai 1938: Nur wenige Wochen nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in
Österreich wird der Chemiker, Sprengstoffexperte und NS-Parteigänger Dr. Anton Sauerwald
als „kommissarischer Leiter“ des Internationalen Psychoanalytischen Verlages, mit Adresse
in der Berggasse 7, eingesetzt. Sein Auftrag: „Sofortige Liquidierung“96 – ein zunächst
administrativer Vorgang, der, wie die Akten des zuständigen Handelsgerichtes zeigen, ebenso
akribisch wie erfolgreich durchgeführt wurde. Bereits Ende 1938 ist die Firma de facto
aufgelöst; ihre Löschung aus dem Wiener Handelsregister erfolgt am 15. März 1941.97
Dagegen ist das Bücher- und Aktenarchiv des Verlages dem Schicksal der Institution nur
teilweise gefolgt. Zwar wurde auch davon vieles durch die Nationalsozialisten vernichtet, ein
95
Schauer, Wege der Buchgestaltung, (Anm. 79), S. 75. Ebenso Rosner, Die Kunst des Buchumschlages, (Anm.
90), S. XVII. Ex negativo, d.h. als Anklage bestätigt diese Entwicklung auch Ernst Collin, Verlagsband, in:
Gebrauchsgrafik, Jg. 1, H. 11, 1925, S. 40–42: „[D]er Verleger verlangt nicht nur einen schönen Einband, er will
– und er will dies zum Schaden des Einbandes oft in erster Linie – daß dieses d a s Werbemittel des Buches sei.“
96
Wiener Stadt- und Landesarchiv [= WStLA], Reg. C 55-223 (85, 87). Die Vorgänge dieses Bestandes sind mit
einer fortlaufenden, allerdings lückenhaften Nummerierung versehen. Bei Zitaten ist diese jeweilige Nummer
bzw. das Datum in Klammern hinter das Archivkürzel gesetzt. Details zu den Aktivitäten Sauerwalds geben
außerdem Murray G. Hall, The Fate of the Internationale Psychoanalytische Verlag, in: Edward Timms, Naomi
Segal (Hrsg.), Freud in Exile. Psychoanalysis and its Vicissitudes (New Haven, London 1988), S. 90–105, hier
S. 97 ff.; ders., Christina Köstner (Hrsg.), …allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern… Eine
österreichische Institution in der NS-Zeit (Wien 2006), S. 222 f.
97
WStLA Reg. C 55-223 (123–126).
28
gewisser Teil jedoch scheint über verschiedene, noch heute nicht identifizierte Kanäle
abgezweigt und verteilt worden zu sein. Auf Auktionen oder im Zuge von
Restituierungsmaßnahmen jedenfalls tauchen einige dieser Exemplare und Papiere
inzwischen wieder auf.98
Andererseits gibt es bis heute keine öffentliche Einrichtung in Österreich, Deutschland
oder sonstwo, die sich über die Jahre hinweg systematisch mit der Anschaffung und
Archivierung der Verlagsprodukte befasst hätte.99 Desgleichen ist die Psychoanalyseforschung
bisher nur in wenigen Aufsätzen und kurzen Kapiteln auf die Wiener Firma eingegangen.100
Dabei dominieren wissenschaftssoziologische, biographische und ideengeschichtliche
Interessen. Eine Ausnahme freilich bilden die Arbeiten von Murray G. Hall, der als erster die
Verlagsakten in den Wiener Handelsarchiven erschlossen und in Bezug auf die Liquidierung
ausgewertet hat, sowie die bis heute unveröffentlichte Dissertation von Lydia Marinelli, die
sich entgegen einer „eng gefassten, immanenten Geschichte der Psychoanalyse“ mit den
„Entstehungsbedingungen“ der „ersten psychoanalytischen Bücher“ beschäftigt hat.101 Ihrem
publikationsgeschichtlichen Ansatz entsprechend hat sie dabei nicht nur eine Vielzahl
seinerzeit unpublizierter und unbekannter Quellen ausfindig gemacht, sondern auch erstmalig
die Kanonisierungsfunktion des Verlages für die Psychoanalyse nachgewiesen. Gleichwohl
bleibt auch vor diesem Hintergrund bestehen, dass die Bücher selber, ihre physischen
Gestaltungs- und Erscheinungsweisen, zusammen mit den Einbänden, Umschlägen,
Anzeigen, Waschzetteln, Beilagen, Banderolen, Werbepostkarten usw. noch niemals
umfassend beschrieben und analysiert worden sind. Die Frage nach den Layout-Strategien der
Wiener Firma stellt deshalb nach wie vor ein Desiderat der Forschung dar; zumal aus einer
medienhistorisch-epistemologischen Perspektive, die darin zugleich die Symptome
veränderter Legitimationsbedingungen des Wissens in der Moderne zu erkennen sucht.
Dabei kommen als Material allein die Originalausgaben des Verlages in Frage, die
sich jedoch in sehr unterschiedlichen Zuständen überliefert haben. Schlechtes, weil
säurehaltiges Papier ist ein Problem, minderwertige Druck- und Einbandfarben ein anderes.
Hinzu kommt die Angewohnheit vieler Bibliotheken, die Verlagsbindungen durch eigene
stabilere Einbände zu ersetzten. Dass die Wiener Drucksachengestaltung trotzdem untersucht
werden kann, ist deshalb drei privaten Sammlern zu verdanken, die inzwischen nicht nur
sämtliche Verlagspublikationen zusammengetragen haben, sondern diese hier auch erstmalig
und großzügigerweise einem Forschungsprojekt zur Verfügung stellen: die Collection
Philippe Helaers, das Fachantiquariat für Psychoanalyse Urban Zerfaß und das Antiquariat
Jürgen Läßig.
98
Vgl. etwa Hall, Köstner, …allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern…., (Anm. 96), S. 227 f.
Das gilt meinen Recherchen zufolge für die Freud-Museen in Wien und London genauso wie für die
entsprechenden National- und Landesbibliotheken sowie die Sigmund Freud Collection in der Washingtoner
Library of Congress bzw. die Otto Rank Paper’s Collection in der New Yorker Columbia University.
100
Vgl. Sieglinde Tömmel, Die Evolution der Psychoanalyse. Beiträge zu einer evolutionären
Wissenschaftssoziologie (Frankfurt/M. 1985); Harald Leupold-Löwenthal, Die Vertreibung der Familie Freud
1938, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 43, H. 10 (1989), S. 918–928; Fallend,
Sonderlinge, Träumer, Sensitive (Anm. 37), S. 69–88; Huppke, Zur Geschichte des Internationalen
Psychoanalytischen Verlages (Anm. 37).
101
Hall, The Fate of the Internationale Psychoanalytische Verlag (Anm. 96); Marinelli, Psyches Kanon (Anm.
37), S. 5. Den folgenden Ausführungen sind diese Texte nicht nur als Wegbereiter vorangegangen, sondern sie
sind auch den Gesprächen, die ich mit beiden Autoren in Wien und Berlin führen konnte zu Dank verpflichtet.
99
29
Auf dieser Materialbasis lässt sich nun Folgendes feststellen: Zwischen 1919 und 1938 hat
der Verlag 248 Monographien produziert, einschließlich der Sonderdrucke, Beihefte und
Bindevarianten;102 davon sind 57 Ausgaben (= 23 %) in den vier Verlagsreihen erschienen:
- Internationale Psychoanalytische Bibliothek (1919–1927)
- Quellenschriften zur seelischen Entwicklung (1919–1924)
- Imago-Bücher (1921–28)
- Neue Arbeiten zur ärztlichen Psychoanalyse (1924–1927)103
Die Produktivität des Verlages aber ist während der fast 20 Jahre seines Bestehens sehr
unterschiedlich gewesen. Der Grund waren zumeist finanzielle Engpässe, die wiederholt zu
Verzögerungen in den Geschäftsabläufen oder zu Einbußen bei den Honoraren bzw.
Gehältern geführt haben. In den 1930er Jahren stellt außerdem der Antisemitismus in
Österreich und Deutschland eine zunehmende Schwierigkeit für die Herstellung und den
Absatz der Bücher dar. Die meisten Gesellschafter, Mitarbeiter und Autoren des Verlages
sind ja jüdischer Herkunft gewesen.
Abb. 17: Gesamtproduktion der deutschsprachigen Monographien des Verlages.
Entsprechend zeigt die Graphik zu den Verlagsmonographien eine insgesamt absteigende
Linie. Doch schon ein flüchtiger Blick stolpert über zwei Amplituden, die diesem Trend
widersprechen: 1924 und 1931. Neben allgemeinen wirtschaftlichen und politischen
Problemen im ehemaligen Habsburgerreich hat aber zu diesen Zeiten nicht nur die
102
Unberücksichtigt bleiben dabei die vier Zeitschriften des Verlages, der Almanach, Freuds Gesammelte
Schriften, einige übernommene und dann unter eigenem Label vertriebene Titel sowie fremdsprachige
Publikationen z.B. der Londoner Filiale (= International Psycho-Analytical Press).
103
Da hier der Fragestellung gemäß auch die Bindevarianten einbezogen werden, unterscheidet sich die Zählung
von allen bisher vorgelegten Verlagsverzeichnissen, die zwischen 162 und 165 Einzeltitel aufführen: vgl. Andrea
Huppke, Urban Zerfaß, Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1919–1938. Eine Dokumentation der
Originalausgaben (Berlin 1995); Marinelli, Zur Geschichte des Internationalen Psychoanalytischen Verlags,
(Anm. 37); dies., Psyches Kanon (Anm. 37).
30
Währungsreform für Unsicherheiten in Österreich gesorgt und eine dramatischen Finanzkrise
ist über Europa hereingebrochen, sondern es scheinen ebenso jene Jahre gewesen zu sein, in
denen die Betriebsamkeit des Verlages durch seine Direktorenwechsel neu entfacht worden
ist. Im November 1924, heißt das, steigt Adolf József Storfer, ein aus Rumänien stammender
Journalist, Bohemien und Nicht-Analytiker vom Assistenten zum Leiter der Wiener Firma
auf, um dann wegen Streitereien über Bilanzen, Werbekosten und Gehaltsforderungen sowie
einem Rücktrittsangebot im März 1931 ein knappes Jahr später endgültig von Freuds Sohn
Martin abgelöst zu werden.104 Bezeichnenderweise ereignen sich die wichtigsten
Gestaltungsinitiativen der Verlages genau im Rahmen dieser beiden Zeitpunkte.
Abb. 18: A. J. Storfer als Karikatur (in: Olga Székely-Kovács, Robert Berèny [Hrsg.], Karikaturen vom achten
Internationalen Psychoanalytischen Kongreß [Leipzig, Wien, Zürich 1924], Collection Philippe Helaers) und
als Foto (Nachlass Milan Dubrovic, Wienbibliothek im Rathaus / Handschriftensammlung, ZPH 944).
Die Farben
„Es gibt“, um mit Georg Schauer an eine ebenso triviale wie häufig vernachlässigte
Eigenschaft gedruckter Medien zu erinnern, „kein farbloses Buch“105 Demzufolge zeigt bereits
eine kursorische Sichtung der Verlagsprodukte, dass nicht nur deren Druckqualität erheblich
schwankt (z.B. sind Färbungen ungleichmäßig verteilt, das Leinen ist zum Teil knotig gewebt
und Titelschriften sind schief aufgebracht bzw. in ungleichmäßigen Laufweiten gesetzt),
sondern man erkennt auch, dass seine frühen Veröffentlichungen gestalterisch noch stark an
den Vorgängerverlagen seiner Autoren orientiert waren.
104
Zu Storfers Ernennung als Verlagsleiter vgl. insbesondere Freud, Rank, Correspondence (Anm. 39), Nr.
210730/R, 220822/R, 220903/R; Tögel, Wittenberger, Die Rundbriefe des ‚Geheimen Komitees’ 1913–1936
(Anm. 45), Bd. 2, S. 104; ebd., Bd. 4, S. 263; Freud, Ferenczi, Briefwechsel, (Anm. 45), Bd. III/1, S. 255; ebd.,
Bd. III/2, S. 27; WStLA Reg. C 55-223 (20. Mai 1925); zu seiner Demission u.a. Freud, Eitingon, Briefwechsel
1906–1939, (Anm. 45), S. 718, 721–727, 736, 965; Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik, Bd. IV, S. 171;
Freud, Ferenczi, Briefwechsel, (Anm. 45), Bd. III/2, S. 278; Die Psychoanalytische Bewegung, Bd. IV, S. 192;
WStLA Reg. C 55-223 (59, 65).
105
Schauer, Wege der Buchgestaltung, (Anm. 79), S. 82.
31
Abb. 19: Vorgängerpublikationen und erste Veröffentlichungen des Wiener Verlages.
Collection Philippe Helaers.
Ab 1922 aber, beginnend mit Freuds Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, und
dann auffallend häufig ab 1924, beginnend mit Bernfelds Vom dichterischen Schaffen der
Jugend, sind immer öfter gelbe und orange-rote Einbände mit schwarzer Schrift zu finden.
Abb. 20: Die ersten in gelb und orange-rot eingebundenen Bücher des Verlages.
Collection Philippe Helaers (oben), Antiquariat Jürgen Läßig (unten).
Eine Auszählung der entsprechenden Ausgaben ergibt zunächst, dass die Kurve der gelben
Einbandexemplare ungefähr parallel zur Kurve der Gesamtproduktion des Verlages verläuft
(Abb. 17), die Amplituden für die orange-roten Bände jedoch zeitlich vor dem gehäuften
Einsatz der gelbe Einbandfarbe liegen (Abb. 21). Darüber hinaus lässt sich an der Graphik
Folgendes ablesen:
- Von den genannten 248 Monographien des Verlages sind 35 Ausgaben (= 14 %) in
orange-roten, 78 Ausgaben (= 31,5 %) in gelben sowie 15 Ausgaben (= 6 %) in anteilig
gelben Einbänden erschienen. Das heißt,
- es haben 93 Ausgaben (= 37,5 %) des Verlages gelbe und anteilig gelbe Einbände; oder:
- Insgesamt sind 128 Titel, also mehr als die Hälfte aller Verlagsbücher in den zwei
dominanten Einbandfarben Gelb und Orange-Rot erschienen.
32
Abb. 21: Häufigkeitsverteilung der gelben und orange-roten Einbände des Verlages.
Das Ergebnis dieser Zahlen lässt sich aber noch weiter zuspitzen; etwa um auf die Bedeutung
Storfers für die Farbpolitik des Verlages hinzuweisen, denn im Laufe seines Direktorates vom
November 1924 bis Ende 1931 sind allein 82 % aller gelben und anteilig gelben
Verlagsbücher entstanden. Im Einzelnen heißt das:
- Während dieser Zeit hat die Wiener Firma 156 Monographien publiziert; beinahe ! ihrer
Gesamtproduktion. Davon wurden 63 Ausgaben mit gelben und 13 Ausgaben mit anteilig
gelben Umschlägen gestaltet. Zusammen ergibt das 76 Ausgaben (= 49 %) in dieser Farbe
und also 11,5 % mehr als in der Gesamttendenz des Verlages.
- Berücksichtigt man außerdem die zweite dominante Einbandfarbe, dann wurden unter
Storfer 69 % aller orange-roten Verlagsbücher hergestellt. Das sind 24 Titel oder, bezogen
auf sämtliche Monographien während seines Direktorates, 16 % und also 2 % mehr als in
der orange-roten Gesamttendenz der Wiener Firma.
- Insofern gilt: Von den 156 Büchern, die unter Storfer publiziert wurden, sind 100
Ausgaben, also fast ! in den beiden genannten Einbandfarben erscheinen.
Abb. 22: Häufigkeit der gelben und orange-roten Verlagseinbände unter Storfer.
33
Diese Gestaltungstendenz gilt nicht nur für die Einzelwerke des Verlages, sondern auch für
seine Zeitschriften. Dazu ganz kurz:
- 1926 gründete Storfer innerhalb der Wiener Firma die Zeitschrift für psychoanalytische
Pädagogik. Sie erschien stets in gelber Broschur, zuerst durch einen grünen, dann durch
einen roten Rand ergänzt.106
- Auch der von Storfer seit 1926 herausgegebene Almanach erschien häufig in gelbem oder
orange-rotem Leinen.
- Ab Mai/Juni 1927 kam der Verlag mit der Zeitschrift Die psychoanalytische Bewegung
auf den Markt. Sie war durchwegs in einer gelben Broschur eingeschlagen, zumeist mit
rotem Rand.
- Und schließlich initiierte Storfer zwischen 1930 und 1931 die Umstellung der Imago und
der IZP auf gelbe Einbände.
Abb. 23: Die Zeitschriften des Verlages in gelb und orange-rot.
Collection Philippe Helaers (oben), Fachantiquariat für Psychoanalyse Urban Zerfaß (unten).
106
Der grüne Rand soll Storfer, wenn man den Äußerungen seines Freundes Milan Dubrovic (vgl. dessen
Nachlass in der Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung ZPH 944) trauen darf, an die Wiesen seiner
rumänischen Heimat erinnern.
34
Warum immer wieder und vor allem diese Farbe? Einen ersten Hinweis dazu liefert die von
Storfer ab Mai 1939 im Shanghaier Exil herausgegebene Halbmonatsschrift Gelbe Post. Im
Vorwort des ersten Heftes nämlich erklärt der ehemalige Wiener Verlagsdirektor:
Man lege ihn [= den Namen Gelbe Post] nicht aus und nichts in ihn hinein.
Tiefere Bedeutung suche man nicht hinter ihm. Er hat weder mit der gelben
Rasse, noch mit dem gelben Fleck, noch mit dem Schwarz-Gelb der einstigen
österreichisch-ungarischen Monarchie zu tun. Auch kann wohl niemand
Vernünftiger auf den Gedanken kommen, dass wir uns selbst in jene mit Recht
verrufene der ultrapatriotischen und skandallüsternen Presse einreihen wollen, die
der Amerikaner als „Yellow Press“ zu bezeichnen pflegt. Es ist experimentell
nachgewiesen worden, dass schwarzer Druck auf gelbem Papier die dem Auge
günstigste Zusammenstellung darstellt. Der Herausgeber hat in Europa eine Reihe
von Zeitschriften verlegt, die gelbe Umschläge hatten und wünscht auch seine
neue Zeitschrift im gelben Gewand in die Welt zu schicken.107
Diese Auskunft mag Psychoanalytiker erstaunen. Storfer jedoch war in seinen Interessen
niemals nur auf deren Theoriebildungen festgelegt. Als Kaffeehaus-Enthusiast, FeuilletonSchreiber und Sprachforscher jedenfalls scheint er nicht nur einen „hervorragenden
Geschmack“ besessen zu haben, immerhin bescheinigen ihm Richard Sterba und Anna Freud,
dass er im Verlag ein „begabter Gestalter“ gewesen ist, der insbesondere Sigmund Freuds
Gesammelte Schriften „äußerlich ausgezeichnet ausgestattet“ hat,108 sondern er scheint auch
aufmerksam für Mitteilungen zur experimentellen Leseforschung gewesen zu sein. Anstatt
also, wie vielleicht zu erwarten, für die Gestaltung der Verlagseinbände auf psychologische
oder
symboltheoretische
Überlegungen zurückzugreifen, liefert Storfer
eine
wahrnehmungsphysiologische Begründung. Das heißt: Er koppelt Erkenntnisse aus der
Laborpraxis mit buchhändlerischen Entscheidungen, die deshalb zu epistemischen, auf die
Rezeptionsverhalten der Leser einwirkenden Faktoren werden.
Leider war vor dem Hintergrund der wenigen Dokumente, die von Storfer überliefert sind
noch nicht zu klären, auf welche Experimente er sich genau bezieht. Dennoch sei hier – in
aller Vorläufigkeit – auf eine Studie des Physikers und „Father of the Science of Seeing“
Matthew Luckiesh hingewiesen, die sowohl zeitlich als auch sachlich zu den Wiener
Gestaltungsstrategien passt: „Satisfactory seeing“, heißt es nämlich bei Luckiesh in einem
Kapitel über Schaufenster, „is largely a matter of a proper contrast.“109 Entsprechende
Testreihen „on the legibility of various combinations of colors in advertisements“ haben dann
aber keineswegs die Überlegenheit von schwarzer Schrift auf weißem Grund bewiesen,
sondern zu der folgenden Rangliste geführt:
107
Adolf József Storfer, In eigener Sache, in: Ders., Gelbe Post. Ostasiatische Halbmonatsschrift, Jg. 1, H.1, Mai
1939, S. 1.
108
Richard Sterba, Erinnerungen eines Wiener Psychoanalytikers [1982] (Frankfurt/M. 1985), S. 49 f.; Anna
Freud, Vorwort der Herausgeber [1951], in: Sigmund Freud, Gesammelte Werke, hrsg. von Anna Freud
(Frankfurt/M. 1999), S. V–VII, hier S. V; Joachim F. Danckwardt, A. J. Storfer (1888–1944).
„Räuberhauptmann“ und „Bohémien“ oder verkappter psychoanalytischer Sprach- und Kulturforscher, in:
Storfer, Adolf Joseph (Hrsg.): Wörter und ihre Schicksale, Reprint (Berlin 2000), Bd. 1, S. 11–23, hier S. 17.
109
Matthew Luckiesh, Light and Color in Advertising and Merchandising (New York 1927), S. 166. Das direkt
folgende Zitat S. 250.
35
Abb. 24: Rangliste zur Lesbarkeit verschiedener Farbkombinationen. Aus: Luckiesh,
Light and Color in Advertising and Merchandising, (Anm. 109), S. 250.
Was freilich bei Luckiesh unter anderem fehlt, ist eine Berücksichtigung der
Buchstabenformen, die in den Experimenten jeweils verwendet wurden. Nicht nur, weil
gerade in den 1920er Jahren ein drastischer Wandel auf dem Gebiet typographischer
Konventionen zu beobachten ist, sondern auch, weil sich dieser Wandel zumindest im
deutschsprachigen Raum vor dem Hintergrund einer immer noch verbreiteten
Zweischriftigkeit ereignet hat. Neben den Diskussionen um die Grotesk-Schriftarten der
„neuen“ oder „elementaren typografie“ muss man hier also nach wie vor mit den Ausläufern
eines „Antiqua-Fraktur-Debatte“ rechnen, deren Anfänge bis in das 18. Jahrhundert
zurückreichen.110
Die Typographie
In unterschiedlichem Ausmaß lässt sich jede dieser Schriftarten unter den Publikationen des
Wiener Verlages finden. Die Fraktur allerdings ist als Akzidenzia nur ein einziges Mal
verwendet worden,111 während vor allem ab 1932 (also kurz nach Storfers Demission) eine
Reihe von Umschlägen und Einbänden in zeitgenössischen Sans-Serif-Typen gestaltet
wurde.112 Ansonsten überwiegen klassizistische Antiquas; in der Vox-Klassifikation Didones
genannt: als schwarze Schrift auf zumeist gelbem oder orange-rotem Grund. Auch dass es
sich dabei, von wenigen Ausnahmen abgesehen, um rein typographische Entwürfe handelt,
gehorcht inzwischen klassisch gewordenen Mustern;113 ebenso, wie deren räumliche
110
Vgl. dazu vor allem Christina Killius, Die Antiqua-Fraktur-Debatte um 1800 und ihre historische Herleitung
(Wiesbaden 1999) bzw. Susanne Wehde, Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und
kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung (Tübingen, 2000).
111
Das ist eine Sonderausgabe von Freuds Eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert, die speziell für den
Deutschen Bibliophilentags in Wien (29. September bis 2. Oktober 1928) hergestellt wurde. Um ganz genau zu
sein: Es sind noch drei Werbezettel überliefert, deren Zwischentitel in Fraktur gesetzt wurde und es gibt zwei
Umschlagexemplare von 1930, die eine Fraktur-Schrift auf ihren simulierten Bauchbinden tragen.
112
Beispielsweise: Melanie Klein, Die Psychoanalyse des Kindes; Sigmund Freud, Neue Folge der Vorlesungen
zur Einführung in die Psychoanalyse; Georg Groddeck, Der Mensch als Symbol. Unmaßgebliche Meinungen
über Sprache und Kunst; Imre Hermann, Die Psychoanalyse als Methode.
113
Peter Neumann, Buchgestaltung, in: Jäger, Geschichte des Deutschen Buchhandels im 19. und 20.
Jahrhundert, (Anm. 86), S. 170–196, hier S. 189: „Im Jahrzehnt nach 1900 wurde die ‚ornamentale und bildliche
‚Dekoration’’ der Bücher durch eine ‚typographische Periode’ abgelöst“. Ebenso Wulf D. v. Lucius,
36
Anordnung: Mittelachsig gesetzt, in gemischten Graden, steht immer wieder der Reihentitel
zuoberst, darunter folgt der Buchtitel, dann der Autorname, noch weiter unten das Firmenlogo
(falls vorhanden) und am Fuß des Einbandes der Verlagsname mit seinen beiden Druckorten.
Der dadurch entstehende Freiraum auf der Schauseite der Bücher ist aber nicht einfach leer
oder nur unbedruckt, sondern selber ein prägendes Element. Um 1920 gibt es dafür sicher
ästhetische Motive, etwa als Abkehr von den Extravaganzen des Jugendstils; gleichwohl
scheint es auch vor dem Hintergrund jenes Passanten-Schaufenster-Szenarios angebracht, mit
der Einbandgestaltung auf die Veränderungen moderner Lebens-, Verkehrs- und
Rezeptionsverhältnisse zu reagieren.
Aber noch ein weiteres Gestaltungselement ist an den Büchern des Wiener Verlages
bemerkenswert: Denn wie schon für die Farbpolitik, so gilt auch für die Wahl der
Titelschriften, dass nach einer heterogenen Anfangsphase, vor allem unter Storfers Direktorat
zwei dominante Typen für die Einbände und Umschläge charakteristisch wurden: Zum einen
die Cochin-Antiqua (Abb. 16, 20, 25), die 1912 von Charles Malin bei Deberny & Peignot
(damals noch G. Peignot & Fils) in Paris geschnitten wurde, benannt nach dem französischen
Graveur Charles Nicolas Cochin d. J., 1715–1790;114 zum anderen die Tiemann-Antiqua (Abb.
16, 27), entworfen von Walter Tiemann, die 1920 in der Offenbacher Gießerei Gebrüder
Klingspor hergestellt wurde.115
Abb. 25: Verlagsexemplare in der Chochin-Antiqua.
Collection Philippe Helaers (links), Antiquariat Jürgen Läßig (rechts).
Buchgestaltung und Buchkunst, in: Ernst Fischer, Stephan Füssel (Hrsg.), Geschichte des deutschen Buchhandels
im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 2: Die Weimarer Republik 1918–1933, Teil 1 (München 2007), S. 315–340, hier
S. 315 ff.
114
In einschlägigen Schriftbüchern wird diese Type auch als „Sonderdruck“ geführt, 1922 von der Frankfurter
Schriftgießerei Ludwig & Mayer hergestellt. Vgl. W. Turner Berry, A. F. Johnson, W. P. Jaspert (Hrsg.), The
Encyclopaedia of Type Faces (London 1962), S. 133.
115
Mit Dank an Friedrich Forssman und Oliver Linke für die Entschlüsselung der Verlagsschriften. Die These
von Georg Fritsch, Ein Sieben-Kilo-Packet edelster bibliophiler Gaben, in: Marinelli, Zur Geschichte des
Internationalen Psychoanalytischen Verlags, (Anm. 37), S. 49–55, hier S. 52 und Marinelli, Psyches Kanon
(Anm. 37), S. 66, es handle sich dabei vor allem um die von Lucian Bernhard (vgl. Anm. 91) entworfene
Bernhard Modern kann nicht bestätigt werden.
37
Von Maximilian Vox, einem der berühmten Buchgestalter bei Deberny
& Peignot wird die Cochin als eine „spezifisch französische
Werkschrift“ charakterisiert.116 Beginnend mit ihrem „Hahnenschrei [...]
von 1912–1913“ hat sie sich deshalb nicht nur zu einer weit
verbreiteten Type entwickelt, sondern sie ist zugleich als ein „CochinStil“ wahrgenommen worden, der seinen Einfluss „bis ungefähr 1936“
geltend machen konnte. Vox zufolge hat die Cochin „nichts von einer
archaischen Rekonstruktion an sich“; sie sei vielmehr „psychologisch“
geartet, sodass ihre schlanke, durch auffällige Ober- und Unterlängen
geprägte Gestalt eine „Gegenströmung“ zu jener „neuen Romantik“ Abb. 26: Die Normande
gebildet hat, die vor allem in Frankreich mit den „schwarzen Lettern als Titelschrift, 1920.
der ‚Normande’“ assoziiert wurde.
Auf den Verlagsbüchern findet sich die Cochin zum ersten Mal 1922 (Abb. 20), also
genau ein Jahr nach Storfers Eintritt als Assistent, und ist in der Folge dann, zumindest bis
1932 als Martin Freud das Direktorat übernimmt, zu der am meisten verwendeten
Einbandschrift der Wiener Firma geworden. Auf deren Gesamtproduktion berechnet sind in
dieser Type 109 Ausgaben (= 44 %) erschienen; davon allein 103 Ausgaben, das ist 53 % aller
Verlagsbücher, während Storfers Assistenz- und Direktorenzeit.117
Abb. 27: Verlagsexemplare in der Tiemann-Antiqua.
Collection Philippe Helaers (links), Antiquariat Jürgen Läßig (rechts).
116
Vgl. Maximilian Vox, Das halbe Jahrhundert 1914–1964, in: Georg Kurt Schauer (Hrsg.), Internationale
Buchkunst im 19. und 20. Jahrhundert (Ravensburg 1969), S. 247–259, hier S. 257. Die direkt folgenden Zitate
S. 247, 250. Ebenso Charles Peignot: Deberny et Peignot. La Belle Époque de la Typographie, in: caractère.
revue mensuelle des industries graphiques et transformatrice du papier et du carton, (Paris) Dezember 1975, S.
33–53, hier S. 39: „Les Cochins [...] domineront la typographie française après la guerre.“ Auf S. 43 ist sogar
von „le succès mondial des ‚Cochin’“ die Rede, für den der Wiener Verlag dann ein Beispiel wäre.
117
In diese Zählung sind auch 11 Ausgaben mit aufgenommen, deren Umschlagschrift der Cochin bis auf zwei
Merkmale (das unten leicht geöffnete g und das unten etwas abgerundete y) gleicht.
38
Auf einem quantitativ etwas geringeren Niveau gilt Ähnliches für die Tiemann-Antiqua. Auch
sie findet ihre erste Verwendung kurz nach Storfers Eintritt in den Verlag, endet aber nicht
mit dessen Demission, sondern wurde von Martin Freud bis 1934 weiter eingesetzt. Eine
abschließende Zählung zeigt, dass die beiden dominanten Titelschriften des Verlages während
Storfers Amtszeit auf 78,5 % aller Einzelausgaben zu sehen sind, also in etwas mehr als "
aller Fälle.
Abb. 28: Häufigkeit der Titelschriften des Verlages unter Storfer.
Allerdings: Über die Bücher hinaus ist vor allem die Cochin-Type auch auf den Zeitschriften
des Verlages zu sehen (Abb. 23) sowie auf einer ganzen Reihe sog. ephemerer Drucksachen
der Wiener Firma, wie z.B. Inseraten, Sonderangeboten, Werbebeilagen, Briefköpfen und,
leider nur in schwarz/weiß, weil im Original sehr gelb-orange, bei einem gemeinsamen
Werbeauftritt in Storfers Almanach von 1926 (Abb. 28).
Abb. 29: Werbematerialien des Verlages in der Cochin-Antiqua. Anzeiger für den Buch-, Kunstund Musikalienhandel, Wien 1928 (oben links); Antiquariat Jürgen Läßig (oben rechts); Sigmund Freud
Museum Wien (unten links); Fachantiquariat für Psychoanalyse Urban Zerfaß (unten rechts).
39
Angesichts dieser Ergebnisse lässt sich nun Folgendes behaupten:
1. Die typographisch-gestalterische Bedeutung des Internationalen Psychoanalytischen
Verlages liegt nicht darin, ästhetisch einzigartige oder kunsthistorisch bemerkenswerte
Bücher vorgelegt zu haben. Ganz im Gegenteil, denn es gilt
2. dass der Verlag in den fast 20 Jahren seiner publikatorischen Tätigkeit eine Tendenz zur
Vereinheitlichung seiner Einband- und Umschlagentwürfe gezeigt hat. Man könnte deshalb
3. von einer Entindividualisierung seines Buchäußeren sprechen. Statt jedem Band ein
spezielles Gesicht zu geben, kam es auf deren Uniformierung an, die dann zugleich als
eine Bedingung ihrer epistemischen Funktion erscheint: Die gestalterischen Differenzen
nach Innen sind minimiert worden, sodass sich ihre Unterscheidbarkeit nach Außen
maximieren konnte. Distinktionsgewinn ist das erste Resultat dieser Strategie, die darüber
hinaus aber auch ein Verfahren der Diffusion gewesen ist: Durch das Layout der Bücher,
Journale etc. sollte die Implementierung psychoanalytischen Wissens in bereits etablierte
wissenschaftlichen Zusammenhänge erreicht werden.
4. Mit dieser Strategie wendet die Wiener Firma ein allgemeines Kennzeichen der modernen
Buchproduktion ins Besondere. An der Uniformität ihrer Publikationen nämlich sind
keineswegs nur die Folgen der Industrialisierung mit ihren Massenauflagen abzulesen, die
dann ja nicht selten als ‚Verelendung’ der Buchdruckkunst gedeutet wurden, sondern sie
zeigen mindestens genauso, dass und wie die Affirmation dieser Verhältnisse zu einer
nachhaltigen Waffe im agonistischen Feld der Wissenschaften geworden ist. Aus der
„Gleichartigkeit des Maschinenfabrikates“118 jedenfalls hat der Wiener Verlag
5. die Konsequenz gezogen, seine Bücher als Markenartikel zu entwickeln. Dabei geht es
weniger um eine erwartbare Absatzförderung, auch stehen hier nicht die Anforderungen
überregionaler Märkte oder die Verbindung von Semiotik und Ökonomie im
Vordergrund, vielmehr handelt es sich um einen Registerwechsel, der die Produktion des
Wissens an ein visuelles Marketing gekoppelt hat. Die Etablierung von Hausschriften und
Verlagsfarben gehört unbedingt dazu.119 Sie fungieren als eine Art Schnittstellendesign,
das neben der Produktgestaltung genauso die Produktbeziehung gestaltet. An den
Dingen=Büchern entsteht auf diese Weise ein sinnliches Moment, das ihrem Sinn
vorhergeht; eine konnotative Dimension, die über alle Tauschwerte und Textgehalte
hinaus wuchert und wirkt. Der Verlag arbeitet darum auch
6. nicht nur an der Konzentration und Kanonisierung psychoanalytischer Schriften, sondern
mit seinen Gestaltungsstrategien führt er ein „neues Signifikationsprinzip“120 in die
Praktiken der Szientifizierung ein. Das heißt: Indem die Wiener Firma jene Verschiebung
von der Produktgestaltung zum Markendesign anzeigt, lässt sie gleichermaßen erkennbar
werden, dass in der Moderne eine Informationspolitik über Bücher die Fabrikation von
Images eingeschlossen hat. Das Layout ist die Basis dieser Imagologie, die Werbung ihr
vielseitiger Motor. Als solche setzt sie eine Wunsch- und Bildermaschine in Gang, die
118
Biesalski, Die Mechanisierung der deutschen Buchbinderei 1850–1900, (Anm. 85), S. 12.
Wie oben erwähnt, werden diese Merkmale durch die Namenspolitik der Verlages, die Einführung seines
Firmenlogos und die konkreten Public-Relations-Aktivitäten ergänzt. Vgl. Windgätter, Zu den Akten, (Anm. 48).
120
Clemens Wischermann, Einleitung. Der kulturgeschichtliche Ort der Werbung, in: Peter Borscheid, ders.
(Hrsg.), Bilderwelt des Alltags. Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts (Stuttgart
1995), S. 8–19, hier S. 14.
119
40
historisch wohl nur mit dem Kino vergleichbar ist. „An die Stelle der zeitaufwendigen
Begutachtung einzelner Güter tritt“, wie Thomas Wegmann es formuliert, „die
Begutachtung von Medien, von Namen, Texten und Bildern [...].“121 Statt Produktkenntnissen
werden seither Markenkenntnisse erwartet. Eine Kompetenz, die längst auch für die
Rezipienten von Sachtexten und Fachliteratur relevant geworden ist, weshalb sich hier
7. nicht nur ein neues Betätigungsfeld für die Werbung, sondern zugleich ein neues
Verhältnis der Wissenschaften zu den Formen ihrer Präsentation eröffnet hat: „Mit dem
Aufkommen der Markenartikel gewann die Verpackung eine nie dagewesene
Bedeutung“122 Die Einband- und Farbstrategien des Wiener Verlages bezeugen und
vollziehen diesen Wandel, denn es ist
8. überhaupt nicht ungewöhnlich, dass er seine Gesamtausgabe der Freud’schen Schriften in
einem einheitlichen Layout publiziert hat,123 auch nicht, dass daneben mehrere
fachspezifische Reihen eingerichtet worden sind, deren Ausgaben gestalterisch
aufeinander verweisen; bemerkenswert ist es aber sehr wohl, dass ein wissenschaftlicher
Verlag in den 1920er Jahren danach strebt, seine Drucksachen insgesamt in ein
gleichförmiges Layout zu bringen. Umsetzbar wurde dies, in dem die Wiener Firma
9. als eine Pioniertat im Bereich wissenschaftlicher Publizistik auf Darstellungsmittel der
Industriekultur zurückgriff, die in den 1910er Jahren vor allem von dem „Produkt-,
Schrift- und Raumgestalter“ Peter Behrens für die Berliner AEG entwickelt wurden und
die man heute als Corporate Design bezeichnet.124
Abb. 30: Behrens-Entwürfe für die AEG. Aus: Buddensieg, Industriekultur, (Anm. 123), Abbildungsteil.
121
Thomas Wegmann, Einleitung, in: Ders. (Hrsg.), Markt literarisch (Berlin, Bern, Bruxelles et al. 2005), S. 7–
19, hier S. 11. Vgl. auch Haas, Sinndiskurse in der Konsumkultur, (Anm. 7), S. 295: „Mit diesem Schritt [zum
Markenartikel] entstand eine moderne Produktwerbung, die aber mit einer entscheidenden Produktmodifikation
einherging.“
122
Borscheid, Am Anfang war das Wort, (Anm. 6), S. 30. Vgl. auch Haas, Sinndiskurse in der Konsumkultur,
(Anm. 7), S. 299 ff.
123
Zur Politik der Gesamtausgabe vgl. Hans-Jörg Rheinberger, Gesammelte Werke, in: Günter Abel, HansJürgen Engfer, Christoph Hubig (Hrsg.), Neuzeitliches Denken. Festschrift für Hans Poser zum 65. Geburtstag
(Berlin 2002), S. 13–22; Michael Cahn, Opera Omnia. The Produktion of Cultural Authority, in: Karine Chemla
(Hrsg.), History of Science, history of Text (Doderecht 2004), S. 81–94.
124
Tilmann Buddensieg, Industriekultur. Peter Behrens und die AEG (1907–1914), in: Ders. (Hrsg.),
Industriekultur. Peter Behrens und die AEG 1907–1914 (Berlin 1979), S. 9–89, hier S. 12.
41
„Diesem Moment“, schreibt Henning Rogge über die Allianz von künstlerischer und
industrieller Arbeit, „kommt historische Bedeutung zu“, denn hier wird zum ersten Mal
„die visuelle Koordination des gesamten Firmengefüges vom Einzelbestandteil über das
Produkt, seine Werbung, seine Produktionsstätten bis hin zum sozialen- und
Repräsentationsbereich zu einem einheitlichen Erscheinungsbild gestaltet“.125 Nicht anders
der Wiener Verlag, der dieses Modell in doppelter Weise für sich nutzbar gemacht hat: als
Übergang von der Konzerngestaltung zur Buchgestaltung, der zugleich einen Wechsel von
der Ästhetik zu Epistemologie bedeutet. Statt kommerzieller Interessen oder
künstlerischer Vorzüge geht es nun um Strategien der Szientifizierung.
Abb. 30: Werbeseite aus dem Verlagsalmanach von 1926. Original und Rekonstruktion.
Collection Philippe Helaers.
125
Henning Rogge, ‚Ein Motor muß aussehen wie ein Geburtstagsgeschenk’, in: Buddensieg, Industriekultur,
(Anm. 123), S. 91–126, hier S. 108, 113.
42
Nun könnte man freilich argwöhnen, dass die Cochin-Type für sich genommen eher
traditionalistisch anmutet und daher den Vorgaben einer konservativen Moderne gefolgt
ist, ebenso, wie man über Tiemann weiß, dass er in den 1920er Jahren von den Vertretern
der ‚elementaren typografie’, namentlich Jan Tschichold, seinem einstigen Schüler
vehement angegriffen wurde; nichtsdestoweniger erscheint gerade mit Blick auf Behrens
und sein Engagement für die AEG das Gesamtkonzept, in das der Verlag die
gestalterischen Elemente seiner Bücher zu stellen wusste, höchst zeitgenössisch,
avantgardistisch gar. „Im allgemeinen“, erklären Karl Abraham und Hanns Sachs 1922
gegenüber Freud, „ist es sicher günstiger, wenn die Werke eines Verlages einander
möglichst ähnlich sind, schon um in den Fenstern der Buchhandlungen durch ihr
gleichartiges Äußeres aufzufallen.“126 Der Passant also, um auf dieses Szenario
zurückzukommen, soll
10. in den Schaufenstern ganz unmissverständlich und schon von weitem die Produkte des
Verlages (wieder)erkennen. So wird das Layout seiner Einbände sowohl zu einem
Signalelement, das Aufmerksamkeit hervorruft und öffentliche Sichtbarkeit bewirkt, als
auch zu einem Leitsystem, das in der Unübersichtlichkeit des (wissenschaftlichen)
Buchmarktes Orientierung verschafft, Zusammengehörigkeiten oder Konkurrenzen
markiert und auf diese Weise die Profilbildung steuert. Michael Cahn hat eben dies eine
„Rhetorik des Drucks“ bzw. eine „visuelle Rhetorik“ genannt.127 Das Layout der
Verlagsprodukte fungiert dabei
11. als „optische Konditionierung“128. Es versucht, einen zunächst willkürlichen
Zusammenhang zwischen der noch jungen Wiener Bewegung und ausgewählten
gestalterischen Merkmalen zu konventionalisieren. Ziel ist die Verselbständigung dieser
Konvention, um zugleich einen Automatismus in der Wahrnehmung des Betrachters
auszulösen; beispielsweise: Gelb + Cochin = Die Psychoanalyse. Mit Fleck wäre ein
solches Kalkül auch als „passive Koppelung“ zu bezeichnen, die ihre Wirksamkeit
jenseits „formal-logischer Verhältnisse“ oder den „individuellen Prozessen eines
theoretischen Bewußtseins“ entfaltet.129 Neue „Motive“ für die Produktion und
Legitimation wissenschaftlicher Tatsachen müssen deshalb hinzugezogen werden; nur das
damit im vorliegenden Fall kein „Denkkollektiv“ gemeint ist, dessen Erforschung die
„soziale Bedingtheit allen Erkennens“ aufzeigt, sondern eine Art Drucksachenkollektiv,
das durch seine integrale Gestaltung einen gleichermaßen verbindlichen „Zwang auf das
Denken ausübt“.130 Noch der Umstand, dass Freuds Traumdeutung nie im eigenen Verlag
erschienen ist, spricht schließlich dafür: Um ein Terrain im Feld der Wissenschaften zu
126
Tögel, Wittenberger, Die Rundbriefe des ‚Geheimen Komitees’ 1913–1936, (Anm. 45), Bd. 3, S. 124; mit
Ausnahmen zur Bestätigung der Regel: „Was die Ausstattung unserer Bücher betrifft, so liegt die
Verschiedenheit zum größten Teil in der Schwierigkeit der Materialbeschaffung.“ Ebd., S. 136.
127
Michael Cahn, Die Medien des Wissens. Sprache, Schrift, Druck, in: Ders. (Hrsg.), Der Druck des Wissens.
Geschichte und Medium der wissenschaftlichen Publikation (Wiesbaden 1991), S. 31–64, hier S. 43, 55.
128
Strätling, Witte, Die Sichtbarkeit der Schrift zwischen Evidenz, Phänomenalität und Ikonizität (Anm. 28),
S. 10.
129
Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, (Anm. 58), S. 131, 40, 54.
130
Ebd., S. 54, 57, 59. Mit der Konsequenz, dass auch Werbung nicht einfach Täuschungen oder Scheinwelten
produziert, sondern veränderte Realitäten.
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erobern, zu besetzen und zu verteidigen reicht kein einzelnes Buch, und sei es, wie immer
wieder beschworen wird, der „Gründungstext einer Bewegung“131.
Dabei ist es inzwischen sehr fraglich, ob diese Bewegung als Theorie und Therapeutik noch
anhält oder gar eine Zukunft hat – die Layoutstrategien ihres ersten und einzigen Verlages
dagegen sind nicht nur für Buchproduzenten bis heute selbstverständlich, sondern sie haben
auch den Sprung aus der ‚Gutenberg-Galaxis’ hinaus in elektronische Medien geschafft.
Vielleicht also ist es Zeit, das Erbe der Psychoanalyse weniger durch die Interpretation ihrer
Texte, als vielmehr durch eine Historiographie ihrer Etikette zu bestimmen.
!
131
Lydia Marinelli, Andreas Mayer, Träume nach Freud. Die ‚Traumdeutung’ und die Geschichte der
psychoanalytischen Bewegung (Wien 2002), S. 7.
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