Weltrekord am Bosporus
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Weltrekord am Bosporus
ALLIANZ GROUP Journal 11 30 Deutsche Ausgabe 3 | 2014 Das richtige Leben im falschen Epidemie des Vergessens Dorf ohne Menschen Demographischer Wandel in Aktion Weltrekord am Bosporus Shutterstock Die Allianz in der Türkei Allianz Journal 3/2014 Shutterstock | Ibrahim | Allianz | Shutterstock Inhalt I MP RE SSUM Allianz Journal 3/2014 (Oktober) Zeitschrift für Mitarbeiter der Allianz Gesellschaften Herausgeber Allianz SE Verantwortlich für den Herausgeber Emilio Galli-Zugaro Chefredaktion Frank Stern Layout volk:art51 Produktion repromüller Anschrift der Redaktion Allianz SE Redaktion Allianz Journal Königinstraße 28 80802 München Tel. 089 3800 3804 [email protected] Das für die Herstellung des Allianz Journals verwendete Papier wird aus Holz aus nachhaltiger Waldbewirtschaftung hergestellt. 2 8 15 Fracking – Technologie der Zukunft oder Zerstörer der Umwelt? Europa diskutiert noch Vor zwölf Jahren eröffnete Martin Woodtli in Thailand das Haus der Ermutigung. Ein Experiment KURZ BERICHTET 4 Neues aus der Allianz Welt 18 MEINUNGEN 8 »Fracking wird die Welt verändern« Eike Wenzel vom Institut für Trend- und Zukunftsforschung über eine umstrittene Technologie 19 G LO B A L 11 Das richtige Leben im falschen De Hogeweyk – das Dorf des Vergessens 15 Am anderen Ende des Lebens Haus der Ermutigung: Martin Woodtli betreut Demenzkranke in Thailand DEUTSCHLAND 26 Notizen aus der Provinz Kalbe: Besuch in einem Krisengebiet 22 »Die Wohnformen werden sich ändern« Allianz Volkswirtin Michaela Grimm über den Umgang mit einer wachsenden Bedrohung Bühne frei für die Erinnerung Reminiscence Pods: Zeitreise in die Vergangenheit Alphörner und Medaillen 1000 Sportler, 47 Nationen – die Allianz Sports in Zürich E U RO PA 30 Dorf ohne Menschen Italiens Bergdörfer verwaisen – im Piemont halten einige Bewohner dagegen 22 42 80 Kilometer durch den Dschungel – vor 100 Jahren wurde der Panamakanal eröffnet Wettstreit vor alpenländischer Bergkulisse – im Juli gingen in Zürich die VII. Allianz Sports über die Bühne T Ü R K E I S PE Z I A L 33 Revolution im Krankenhaus Ein Deutsch-Türke will die Gesundheitsbranche der Türkei aufmischen 37 Freunde zweiter Klasse TV-Journalist Hakan Çelik über Demütigungen, Kulturkampf und Islamismus 39 Weltrekord am Bosporus Eine dritte Brücke über der Meerenge zwischen Asien und Europa soll Istanbul vor dem Verkehrskollaps bewahren AMERIK A 42 Die teuerste Abkürzung der Welt 100 Jahre Panama-Kanal 46 Traditionelle Familie auf dem Rückzug Vater-Mutter-Kind? In den USA sind neue Partnerschaftsmodelle im Kommen AU S T R A L I E N 41 Die richtige Balance Telearbeit downunder 51 ASIEN 48 China am Steuer Die Allianz bringt sich im größten Pkw-Markt der Welt in Stellung Dilbert 3 Allianz Journal 3/2014 K U RZ B ERI C H T E T 10th OPEX QUALITY AWARDS Allianz Neue Allianz Zentrale in Kairo Die Allianz Ägypten hat im Mai in Kairo ihr neues Hauptquartier bezogen. Es befindet sich in der »Cairo Festival City«, einem gesicherten Geschäftsviertel außerhalb der verstopften Innenstadt. Das neue Bürogebäude, in das die Allianz Tochter 42,6 Millionen US-Dollar investiert hat, verfügt über Druckerzentrum, Videokonferenzräume und modernste Präsentationseinrichtungen. Im obersten Stockwerk steht ein Trainingszentrum zur Verfügung, groß genug, um sechs Ausbildungskurse parallel abzuhalten. Im Erdgeschoss befindet sich das Kunden-Service-Zentrum. In dem fünfstöckigen Gebäude, das über eine Bürofläche von 15 400 Quadratmeter verfügt, arbeiten 600 Allianz Mitarbeiter. December 4 & 5, 2014 Munich-Schwabing Quality to the Power of 10 Zehn Jahre OPEX Die diesjährigen OPEX (Operational Excellence) Quality Awards finden im Dezember in München statt. Die Veranstaltung bietet Fachleuten Gelegenheit, ihre Projekte und Leistungen einem breiteren Publikum vorzustellen. Die Preise für die besten Qualitätsmanagementprojekte werden zum zehnten Mal vergeben. Im Jubiläumsjahr gingen so viele Bewerbungen ein wie nie zuvor: 25 Projekte aus 20 Ländern wurden der Jury zur Begutachtung vorgelegt. Allianz Mitarbeiter können die Bewerbungen am 5. Dezember auf einer Projektmesse selbst in Augenschein nehmen. [email protected] G LO B A L I N T R A N E T (G I N) → A L L I A NZ C O N S U LT I N G → O PE X G LO B A L C E N T E R W W W. A L L I A N Z .C O M . E G Schlaues Haus Euler Hermes ist vom Branchenmagazin Trade Finance zum besten Exportkreditversicherer der Welt (Best Global Export Credit Agency) gewählt worden. Bewertet wurden Produktangebot, Deckungsumfang und Schadenmanagement. Die Allianz UK ist bei den British Insurance Awards (BIA) zum Sachversicherer des Jahrzehnts gekürt worden. Die Allianz UK hatte den Titel in den Jahren 2004, 2005 und 2010 gewonnen und kam in den letzten vier Jahren jeweils in die engere Auswahl. Allianz AU S G E ZEI C HN E T Aktionäre und Analysten, die sich über den Kurs der Allianz Aktie oder ihrer Anleihen informieren wollen, können dies seit Sommer dieses Jahres auch per Smartphone und Tablet von Google, HTC, Samsung oder Sony tun. Wurde die App von Allianz Investor Relations zuvor nur Nutzern von iPhones und iPads im Apple App Store angeboten, so steht sie nun auch im Google Play Store zur Verfügung. Mit der Ausdehnung auf die Android-Welt geht auch eine Funktionserweiterung einher. Neben Kursinformationen, Geschäftszahlen und den jüngsten Meldungen aus der Allianz Gruppe steht Nutzern für Berichte und Präsentationen nun zusätzlich eine Volltextsuche zur Verfügung. Alle Informationen werden zeitgleich auf der Allianz Webseite und den Apps veröffentlicht. Die Allianz und die Deutsche Telekom wollen modernste Sensor- und Mobilfunktechnik mit Versicherungs- und Serviceangeboten verknüpfen und Kunden gemeinsam Sicherheitslösungen für Haus und Betrieb anbieten. Das gaben beide Unternehmen im Juni bekannt. So sollen Privatkunden künftig das eigene Heim mit Hilfe von Sensoren überwachen und diese per Smartphone steuern können. Bei einem Defekt, wie einer geborstenen Wasserleitung, oder im Falle eines Einbruchs alarmieren die Sensoren per Smartphone nicht nur den Kunden, sondern auch die Notfall-Hotline der Allianz. Die organisiert dann bei Bedarf die nötigen Handwerker oder einen Sicherheitsdienst. Das Angebot ist unter dem Namen Smart Home Assist seit Mitte Juni in Deutschland auf dem Markt. Andere europäische Länder sollen folgen. Nach ähnlichem Muster sind in Zukunft auch digitale Programme im Bereich vernetzte Gesundheit, beispielsweise für das selbstbestimmte Leben im Alter, geplant. Daneben haben Allianz und Telekom eine Partnerschaft für den Bereich Netzwerksicherheit für Großkunden und Mittelständler vereinbart. Dabei handelt es sich um einen wachsenden Markt: 87 Prozent der Unternehmen sind nach Erkenntnissen der Telekom schon einmal Opfer von Cyberattacken geworden. Zwölf Prozent werden sogar täglich angegriffen. In Europa und im asiatisch-pazifischen Raum versichert die Allianz Cyber-Risiken bis zu einer Deckungssumme von 50 Millionen Euro. W W W. A L L I A N Z .C O M | W W W.T E L E KO M .C O M Allianz Investor Relations goes Android Telekom Vorstand Reinhard Clemens (li.) und Allianz Vorstand Christof Mascher stellten das Kooperationsprojekt vor W W W. A L L I A N Z .C O M 4 5 Allianz Journal 3/2014 K U RZ B ERI C H T E T Leserbriefe Die Allianz wird Namensgeber des neuen Fußballstadions von Rapid Wien. »Das Allianz Stadion wird das modernste Stadion Österreichs mit einem klugen Besucherkonzept und einer eindrucksvollen Architektur«, erklärte Rapids General Manager, Werner Kuhn, vor der Presse. Nach München, London, Nizza, Sydney und São Paulo ist Wien die sechste Stadt mit einem Allianz Stadion. Es tritt an die Stelle des Gerhard-Hanappi-Stadions und soll 2016 eröffnet werden. Die Namensrechte gelten zunächst für zehn Jahre. W W W. S K R A P I D.C O M Ogilvy macht das Rennen Club Marine-Magazin mit Rekordauflage Das Club Marine-Magazin, eine Publikation von Allianz Tochter Club Marine, ist das führende Lifestyle-Magazin für Yacht- und Bootsfans in Australien und Neuseeland. Nach einer Aufstellung des Audit Bureau of Circulation, das Auflagen, Reichweiten und Leserstrukturen von Zeitungen und Zeitschriften ermittelt, hat das Club MarineMagazin zwischen Januar und Juni dieses Jahres seine Auflage auf die neue Rekordhöhe von 91 728 Exemplare gesteigert. »In einer Zeit, da viele Printtitel über sinkende Leserzahlen klagen, ist dieses Ergebnis ungemein befriedigend«, sagt Club Marine-Chef Simon McLean. Das Mitglieder-Magazin wird alle zwei Monate von Club Marine herausgegeben, Australiens größtem Boots- und Yachtversicherer. Aus dem Rennen um den Werbeetat der Allianz ist Ogilvy & Mather als Sieger hervorgegangen. Die Agentur wird die Allianz Gruppe ab Oktober als globale Markenkommunikationsagentur betreuen und künftig alle Bereiche der Strategie der Markenkommunikation bis zur Umsetzung, einschließlich soziale Netzwerke und mobile Plattformen, abdecken. Die Zusammenarbeit wurde für drei Jahre abgeschlossen. Der Etat wird von Düsseldorf aus betreut und in den Kernmärkten von regionalen Teams und lokalen Agenturniederlassungen unterstützt. Ogilvy & Mather ist eine international tätige Werbeagentur, die mit knapp 500 Büros in über 170 Städten und 125 Ländern vertreten ist. Seit 1989 gehört sie zum Agenturnetzwerk WPP Group mit Sitz in London. W W W.O G I LV Y.C O M »Grüne Hysterie« Nichts beschönigt Paul Klostermann, Generalvertreter aus Herford, über die Diskussion zum Thema Klimawandel bei den diesjährigen Benediktbeurer Gesprächen der Allianz Umweltstiftung: Mit Interesse habe ich den Artikel »Sysiphus in Gummistiefeln« in der Ausgabe 2/2014 gelesen. Den stattfindenden Katastrophen und den Berichten kann man nicht widersprechen, wohl aber der Begründung, die dadurch nicht wahrer wird, dass Herr Plöger sie ständig wiederholt. Mit »Dem Einfluß des Menschen auf die Umwelt« sieht Herr Plöger, und nicht nur er, die Menschen als die Verursacher der Klimaerwärmung, des schmelzenden Eises etc. Die Erde ändert ihr Klima seit Ewigkeiten und das ohne jedes menschliche Zutun. Es gab ca. 70 Eiszeiten, die die Erde zufrieren ließen. Die CO2-produzierenden Menschen kamen erst sehr viel später! Susanne Bertsch von AMOS in Stuttgart zum Interview mit Prof. Manfred Kets de Vries: Herzlichen Dank für den sehr gelungenen Artikel »Von Lügnern umstellt« im letzten Allianz Journal! Ein Artikel, der negative Entwicklungen einzelner Manager/innen deutlich herausarbeitet und nichts beschönigt. Vielleicht/hoffentlich lesen dies auch diejenigen, die diese Entwicklungsprozesse durchlaufen haben und oft nicht verstehen, weshalb die Motivation in ihrem Beritt bzw. die Identifikation der Mitarbeiter mit dem Unternehmen suboptimal ist. Vielleicht hilft’s ja. Das Klima hat sich in den letzten 15 Jahren nicht mehr erwärmt, obwohl der CO2-Ausstoß deutlich zugenommen hat. Und sogar beim IPCC wird von nur 0,8 Grad Erwärmung in 120 Jahren gesprochen. So what? In der Geschichte der Menschheit haben leichte Erwärmungen des Klimas den Menschen meist gut getan. Warum also diese Aufregung? Warum werden Wissenschaftler, die nicht die Meinung Herrn Plögers und des IPCC vertreten, einfach als Klimaleugner diffamiert? Meinungen von Wissenschaftlern, dass die Sonne oder auch Vulkane viel größeren Einfluss auf unser Klima haben als der Mensch, werden schlicht und einfach weggewischt. »Tolle Einblicke« Richard Hewitt von Allianz Global Corporate & Specialty (AGCS) in London über die Juniausgabe des Allianz Journals: Vielen Dank für diese tolle Ausgabe. Endlich bin ich mal dazu gekommen, das Journal intensiver zu lesen. Besonders hat mir der Meinungsartikel gefallen. Ich habe mich gefragt, was Manfred Kets de Vries wohl über unsere Führungskräfte zu sagen hätte und über die unserer Wettbewerber. Die Dilbertseite hat dasselbe Thema am Ende dann noch mal auf amüsante Weise aufgegriffen. Auch das Brasilien-Spezial war hervorragend und hat einige tolle Einblicke in diesen großen Markt und das dortige Allianz Geschäft geliefert, von dem wir hier in Europa doch allzu oft sehr weit entfernt sind. Dieser Alleinvertretungsanspruch, dem jeglicher Nachweis für seine Thesen fehlt, ist unerträglich. Und mit Wissenschaft hat dies nun wirklich sehr wenig zu tun. Mit grüner Hysterie schon eher. Dass in Folge dieser Angstmache in Deutschland nun zig Milliarden ausgegeben, nein verbraten werden, um den Klimawandel aufzuhalten, wird wohl dereinst als Treppenwitz in die Geschichte eingehen. Den Verbrauch fossiler Brennstoffe weitest möglich zu reduzieren, bleibt dennoch ein wichtiges Ziel, aber aus völlig anderen Gründen. Shutterstock Allianz Rapid Allianz W W W.C L U B M A R I N E .C O M . AU 6 7 Shutterstock Allianz Journal 3/2014 Meinungen Zweitens: Gerade anhand der Krise in der Ukraine merken wir, dass Europa Alternativen zum derzeitigen Energiemix benötigt. Denn was passiert, wenn uns die Russen den Hahn zudrehen, beziehungsweise wenn wir uns selbst den Hahn zudrehen? Drittens: Der Energiepoker auf dem Weltmarkt wird in den nächsten Jahren unter völlig neuen Voraussetzungen stattfinden, sprich, erstmals seit langer Zeit werden die Amerikaner wieder zum Erdgas-Exporteur, zum Energie-Exporteur. Wer füllt das Vakuum, das die USA hinterlassen, wenn sie sich aus dem Mittleren Osten zurückziehen? China vielleicht? Viertens: Das Fracking-Thema hat die Debatte über die erneuerbaren Energien grundsätzlich verändert. »Fracking hat in Europa keine Chance«, sagt Eike Wenzel vom Heidelberger Institut für Trend- und Zukunftsforschung. Trotzdem wird die umstrittene Technik zur Förderung von Gas und Öl seiner Meinung nach die Welt verändern. Im Interview erläutert er, warum. Inwiefern? Insofern als wir jetzt merken: Die Energiewende kostet Geld und Durchhaltevermögen. Das zehrt an der Maxime des wirtschaftlichen Wachstums. Zweifel an den selbst gestellten Klimawandelthesen und -zielen kommen auf. Gleichzeitig zeigen uns die Amerikaner, dass man mit gefracktem Erdgas richtig reich werden kann, dass man seine Standortvorteile verbessern kann. Und plötzlich ist uns das Hemd wieder näher als die Jacke. Wir fragen uns: Hat die Energiewende, wie wir sie uns vorstellen, wirklich höchste Priorität oder sollten wir nicht erstmal schauen, dass der Strompreis im Rahmen bleibt? Anders ausgedrückt, es sieht so aus, als könnte Erdgas erst mal den Druck von den erneuerbaren Energien nehmen. In den USA wird gerade diskutiert, ob man nicht mit Fracking in Kombination mit Solar sogar eine nachhaltigere Energiewende hinbekommt. »Fracking wird die Welt verändern« Das klingt nach Energiewende »light«. Kommen wir auf dem Weg zur Wende um Fracking nicht herum? Wahrscheinlich ist, dass wir um Erdgas nicht herumkommen. Erdgas ist auf jeden Fall ein Brückenrohstoff, auf den wir bauen müssen, einfach weil die CO2-Emissionen niedriger sind als bei Kohle und Öl. Darum können wir es uns auch nicht leisten, Fracking als eine der Fördertechniken einfach zu ignorieren. Wir müssen die Technologie verstehen, Studien erstellen und dann abwägen. Viele Länder wie Frankreich, Rumänien und Bulgarien haben Fracking grundsätzlich verboten. In Deutschland hat es die große Koalition [2005-2009, Anmerkung der Redaktion] offen gelassen, weil die es nicht entscheiden wollte und vielleicht auch nicht konnte, eben weil die Grundlagenforschung noch nicht so weit war. Ein erzwungener Konsens hilft hier wenig. Wir müssen uns alle Optionen offen halten. Das gilt auch für die Erneuerbaren. Möglicherweise finden wir demnächst noch intelligentere Technologien. Im Moment kann ich aber noch keine I NT ERVIE W : M I C H A E L GR IMM Herr Wenzel, mal abgesehen von dem Boom in den USA hat Fracking in Teilen Europas und speziell in Deutschland vor allem eines zu Tage gefördert: massiven Protest. Trotzdem, sagen Sie, werde Fracking die Welt verändern. Warum? Ich nenne dafür vier Gründe. Erstens: Durch Fracking hat die Diskussion über »peak oil« und »peak gas« eine völlig neue Wendung bekommen. Es sieht so aus, als bekämen wir noch einen Aufschub. Gerade die Rohstofffunde in Nordamerika lassen vermuten, dass wir noch einige Jahre relativ entspannt aufs Erdöl bauen können. 8 9 M EI NUN G E N privat Global großen Durchbrüche erkennen. Hinter Fracking steht in Europa ein großes Fragezeichen. In den USA mag das funktioniert haben, aber in Europa ist das ein komplett anderes Thema. Warum ist Fracking in Europa gescheitert, bevor es überhaupt richtig angefangen hat? Wir müssen überlegen, wie viel Risiken und Gefahren wir eingehen wollen, um neue Rohstoffe zu erschließen. Um an wertvolle Ressourcen zu kommen, hat der Mensch schon immer heftig in die Natur eingegriffen. Das ist bei Fracking auch der Fall. Die Amerikaner haben ihre Entscheidung getroffen. Sie waren und sind bereit, die Risiken einzugehen. Anders in Europa. Bei uns hat Fracking auf politischer Ebene keine Lobby. Hinzu kommt, dass die Gasfördermengen nicht vielversprechend sind. Jedenfalls zeigen das erste Ansätze in Polen. Und selbst wenn die Förderraten rentabel wären, Europa ist ein dichtbesiedeltes Gebiet. Der Widerstand wäre zu hoch. Insgesamt kann ich nicht erkennen, dass wir das Thema Fracking breitflächig angehen werden. Daran werden auch Unternehmen wie BASF nichts ändern, die gedroht haben, in die USA zu gehen, sollten die Energiepreise nicht sinken. Vor ein paar Monaten machte eine kuriose Meldung die Runde: Rex Tillerson, Chef von Exxon-Mobil, einem der größten Ölkonzerne Amerikas, kämpft verbissen gegen ein Fracking-Projekt vor seiner Haustür in Texas. Offiziell, so heißt es, fürchte er, dass sein Anwesen durch die Bauarbeiten an Wert verliere. Wie gefährlich ist Fracking wirklich? 10 Einerseits hat Deutschland als erstes Land überhaupt die Energiewende ausgerufen. Andererseits wirkt ihre Umsetzung sehr zögerlich. Haben die Deutschen Angst vor der eigenen Courage? In Deutschland stehen wir neuen Technologien immer sehr ambivalent gegenüber. Wir alle nutzen zum Beispiel das Internet und lassen unsere persönlichen Hüllen auf Facebook fallen, beklagen uns aber gleichzeitig, wie furchtbar das alles ist. Das ist typisch Deutsch. Aber es hilft nichts. In den nächsten Jahren müssen wir über unseren Schatten springen. Wir brauchen einen technologischen Aufbruch, gerade im Bereich Energiewende. Nur grüne Technologie ist zukunftsweisend. Ob Fracking dazu gehört, darf bezweifelt werden, obwohl das George Mitchell wohl ganz anders gesehen hätte. Mitchell, der im vergangenen Jahr gestorben ist, gilt als Erfinder des Verfahrens. Er hat Fracking entwickelt, weil er eine Alternative zu den konventionellen Rohstoffen Öl und Kohle finden wollte. Heute fühlen wir uns vom Klimawandel dermaßen an die Wand gedrückt, dass wir uns keine weiteren Eingriffe in die Natur mehr trauen. Gleichzeitig brauchen wir aber neue Technologien, um unseren Energiebedarf zu decken und im Wettbewerb vorne dran zu bleiben. Um aus diesem Dilemma herauszukommen, hilft nur eines: Innovation. Das richtige Leben im falschen alle Fotos: Stern Eike Wenzel Darüber gehen die Meinungen auseinander. Soweit ich das im Moment beurteilen kann, wissen wir noch nicht, was nach dem eigentlichen Fracking-Prozess im Untergrund stattfindet. Was passiert mit den Chemikalien, die zusammen mit einem Gemisch aus Wasser und Sand in den Untergrund gepresst werden? Die Vermutung, dass dadurch das Grundwasser verunreinigt wird, liegt nahe. Auch Erdbeben sind nicht auszuschließen. Aber es gibt auch die andere Seite. Im vergangenen Jahr berichtete die New York Times, dass das Grundwasser gar nicht gefährdet sei. Mir ist keine seriöse Studie bekannt, die belegt, dass Fracking zu nachhaltigen Umweltschäden geführt hat. Und Fracking gibt es nicht erst seit ein paar Jahren. Früher, in den 50er und 60er Jahren, haben die Amerikaner Atombomben eingesetzt, um an gasreiche Gesteinsschichten ranzukommen. Das war eine sehr robuste Methode. Dagegen nimmt sich das heutige Verfahren fast sanft aus. Auch in Deutschland wird die Technologie schon seit den 60er Jahren angewendet. Zum Beispiel im Bereich der Geothermie. Die befürchteten Umweltschäden sind nie eingetreten. Also da ist wirklich vieles Mythologie. Fast wie im richtigen Leben: In De Hogeweyk soll alles Normalität ausstrahlen, von der Wohnungseinrichtung bis zur Kneipe an der Ecke 11 Allianz Journal 3/2014 GLOBAL Demenz – eine globale Epidemie 135 M I L L I O N EN brunnen, Theater, Restaurant und Kneipe, mit Supermarkt und Friseur. Nur der Eingang mit seinen automatischen Schiebetüren, die sich erst auf Knopfdruck der Pförtnerin öffnen, macht deutlich, dass es sich um ein besonderes Dorf handelt. Es gibt keine Außenmauer, doch sind die Häuser so angeordnet, dass sie eine Art Grenze bilden. Es ist eine globale Epidemie, die »Pest des 21. Jahrhunderts«, wie es der britische Premier David Cameron nennt. Über 44 Millionen Menschen leiden heute bereits an dem unaufhaltsamen Gedächtnisverlust, alle vier Sekunden kommt ein neuer Fall hinzu. Die Kosten für Behandlung und Pflege summierten sich 2010 weltweit auf über 600 Milliarden US-Dollar. Nach Berechnungen der Organisation Alzheimer’s Disease International (ADI) werden sie 2030 fast doppelt so hoch sein. Heilung gibt es bislang nicht. »Meine Mutter und auch meine Großmutter hatten Demenz«, sagt Yvonne van Amerongen. »Es ist recht wahrscheinlich, dass auch ich es bekomme. Natürlich macht einem das Angst.« Die Sozialarbeiterin und Therapeutin hat tagtäglich vor Augen, was eventuell auf sie zukommen könnte. Vor 30 Jahren begann sie als Betreuerin in De Hogeweyk, einem Heim für Demenzkranke, 20 Kilometer von Amsterdam entfernt – damals eine Pflegeeinrichtung wie viele andere: Krankenstationen und Aufenthaltsräume, in denen die Patienten nur auf Essen und Medikamente warteten und vor dem Fernseher verdämmerten. Tag für Tag. »Es war kein Leben, es war eine Art Sterben«, beschreibt es van Amerongen. 12 Irgendwann schließlich holte der Direktor seine Leute zusammen, um zu erfahren, was ihrer Meinung nach schiefläuft. Bei diesem Treffen gaben einige Pflegerinnen unumwunden zu, sie würden ihre Eltern davor bewahren wollen, ihre letzten Tage in einer Einrichtung wie ihrer verbringen zu müssen. Das war für die Leitung ziemlich niederschmetternd – und der Anfang vom Demenzdorf De Hogeweyk. Alles Kulisse, Betrug, Scharade – die Truman Show in Orange, bekamen die Holländer von Kritikern zu hören. Die pflegerische Beziehung werde auf einer Lüge aufgebaut, formulierte ein Schweizer Ethikfachmann, und ein Professor aus Deutschland kanzelte das Pilotprojekt per Ferndiagnose als »Ghetto« ab. Statt die Betroffenen abzuschieben, so der Rat von jenseits der Grenze, sollte man sie teilhaben lassen am gesellschaftlichen Leben und auf Nachbarschaftshilfe setzen. Truman Show in Orange Van Amerongen, heute Innovationsmanagerin in der vor fünf Jahren übergebenen Modellanlage, hat das Konzept mit entwickelt: 23 Einheiten, in denen jeweils sechs bis sieben Patienten wie in einer Wohngemeinschaft leben, sich frei bewegen können, und doch rund um die Uhr von Fachkräften betreut werden. Die Pflegerinnen und Pfleger, die als freundliche Nachbarn durchgehen könnten, tragen normale Kleidung, äußerlich unterscheidet sie nichts von ihren Patienten. »Wir nennen sie Bewohner«, korrigiert van Amerongen. Bis in die Sprache hinein soll alles möglichst Normalität ausstrahlen. De Hogeweyk erscheint auf den ersten Blick wie eine beschauliche Wohnsiedlung, mit Gärten und Spring- In De Hogeweyk am Rande der Kleinstadt Weesp werden 152 Demenzkranke von 240 Angestellten versorgt – Pflegekräfte, Verwaltungspersonal, Restaurantmitarbeiter, Ärzte, Sozialarbeiter. Ein Platz kostet pro Monat rund 5000 Euro, die von der Krankenversicherung getragen werden. Abhängig von Rente und Vermögen wird ein Eigenanteil von bis zu 2200 Euro erhoben. Mit 3,5 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts liegen die Niederlande bei den Ausgaben für die Altenpflege in Europa an der Spitze. Das Durchschnittsalter der Patienten in De Hogeweyk – 70 Prozent davon Frauen – liegt bei 84 Jahren. Es sind die schwersten Fälle, die in dem Demenzdorf untergebracht sind, Menschen die rund um die Uhr Betreuung benötigen. »Bei ihnen liegt der Ausbruch der Krankheit 604 2030 2050 Bis 2050 wird sich die Zahl der Demenzkranken deutlich erhöhen Bis 2030 werden diese Kosten um mindestens 85 Prozent steigen $ $ $ $ $ $ $ $ $ $ $ $ $ $ $ $ $ $ $ $ $ $ $ $ Ein Großteil der Kostensteigerung entfällt auf Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommensniveau. Schon 89% $ »Die Welt versteht Demenzkranke nicht und sie ist auch nicht freundlich zu ihnen«, hält van Amerongen den Kritikern entgegen. Sie weiß es aus eigener Anschauung. In einer Zeit, in der Demenzkranke in Altenheimen oder daheim am Bett festgeschnallt werden, weil das Pflegepersonal überfordert ist, in der 60 Prozent der Angehörigen, die einen Demenzfall in der Familie betreuen, depressiv werden und in der Gewalt und Vernachlässigung alter Menschen keine Seltenheit sind, ist De Hogeweyk so etwas wie ein Hoffnungsschimmer. Es ist eine Möglichkeit, wie sich die Würde von Menschen bewahren lässt, die in einer Parallelwelt leben, aus der sie nur noch sporadisch und irgendwann überhaupt nicht mehr zurückfinden. Vielleicht ist das Demenzdorf der Gegenentwurf zu Adornos These, wonach es kein richtiges Leben im falschen gibt. 2010 lagen die jährlichen Behandlungskosten für Demenzkranke bei geschätzten Milliarden US-Dollar 2013 38% heute leben dort 62 Prozent aller Demenzkranken. Bis 2050 steigt der Anteil auf 71 Prozent. $ F RA NK ST E R N Alle vier Sekunden tritt in der Welt ein neuer Demenzfall auf $ Sie wissen nicht, wer sie sind, erkennen ihre Kinder nicht mehr und verlernen schließlich auch das Sprechen – über 44 Millionen Menschen leiden heute weltweit an Demenz. Bis 2050 wird sich die Zahl verdreifachen. In Weesp, einer kleinen Stadt bei Amsterdam, hat man für die Betroffenen eine eigene Welt erschaffen. 44 MILLIO N EN $ Stern »Die Welt versteht Demenzkranke nicht, und sie ist auch nicht freundlich zu ihnen«, sagt Yvonne van Amerongen 76 M I L L I O N EN 89 Prozent dieser Kosten entfallen auf Staaten mit hohem Einkommensniveau, wo aber nur 38 Prozent der Demenzkranken leben 62% 71% 2013 2050 (Quelle: Alzheimer’s Disease International) im Schnitt bereits sieben Jahre zurück«, erläutert van Amerongen bei einem Rundgang durch die Anlage. »Jeder von ihnen wird hier sterben.« Querschnitt der Gesellschaft Die Wohnungen sind sieben unterschiedlichen Lebensstilen nachempfunden, eine Art Querschnitt der niederländischen Gesellschaft. Sie reichen vom Arbeitermilieu mit Hang zu Hausmannskost und legereren Sitten über die urbane Mittelschicht bis hin zur gehobenen Klasse mit Sinn für Kunst und Etikette. Selbst für Einwohner der ehemaligen Kolonie Indonesien gibt es zwei speziell eingerichtete Wohneinheiten. Wobei für die »besseren« Kreise nicht etwa mehr Geld aufgewendet wird. Werden kleine Zusatzleistungen gewünscht, wie Croissants zum Frühstück oder täglich frische Blumen auf dem Tisch und 13 Allianz Journal 3/2014 GLOBAL Demenz Eine Demenz, (lat. Demens »ohne Geist« bzw. Mens = Verstand, de = abnehmend) ist ein Defizit in kognitiven, emotionalen und sozialen Fähigkeiten. Sie ist vom Verlust bereits erworbener Denkfähigkeiten gekennzeichnet und Folge einer meist chronischen oder fortschreitenden Krankheit des Gehirns mit Störung vieler höherer kortikaler Funktionen, einschließlich Gedächtnis, Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache, Sprechen und Urteilsvermögen, im Sinne der Fähigkeit zur Entscheidung. Das Bewusstsein ist nicht getrübt. Die häufigste Form der Demenz ist die Alzheimer-Krankheit. Demenz tritt fast ausnahmslos erst jenseits des 60. Lebensjahres auf. Von den derzeit rund 44 Millionen Betroffenen leben nach Angaben der Organisation Alzheimer’s Disease International (ADI) 38 Prozent in den entwickelten Industriestaaten, 62 Prozent in Entwicklungs- und Schwellenländern. 2050 wird das Verhältnis bei 21 zu 79 liegen. Mit steigendem Alter wächst das Risiko, an Demenz zu erkranken. Ab dem 60. Lebensjahr verdoppelt sich das Risiko alle fünf Jahre. Jenseits der 90 trifft es jeden Dritten. Und diese Schwelle überschreiten immer mehr. ADI zufolge haben bislang nur 13 Länder eine nationale Strategie entwickelt, wie sie das Problem auf lange Sicht angehen wollen. Am anderen Ende des Lebens F RA N K ST ERN (Quelle: Wikipedia/Alzheimer’s Disease International) zum Abendessen Wein, werden sie mit der Familie des Bewohners extra abgerechnet. men, vermeiden wir unnötige Konflikte und Aggressionen. Die Bewohner sind ausgeglichener und ruhiger.« Es wurde zu Beginn auch untersucht, welche Wohnmilieus besser miteinander zurechtkommen, und das Design der Anlage entsprechend ausgerichtet. Stellt sich heraus, dass sich ein Bewohner in der Kategorie nicht wohl fühlt, die mit Hilfe seiner Angehörigen für ihn ausgewählt wurde, wird er in eine Wohneinheit verlegt, die ihm besser zusagt. In dieser kleinen Welt können sich die Patienten frei bewegen, und wenn sie nicht zu ihrer Wohnung zurückfinden, sind immer »Nachbarn« zur Stelle, die sie an die Hand nehmen. Tagsüber sind die Türen offen, nachts werden sie verschlossen. Per Kamera überwacht der Nachtdienst Wohn- und Schlafzimmer. Bemerkt er etwas Ungewöhnliches, kann er sofort eingreifen. Die reine Lehre Auch der Barkeeper im Pub ist auf die besondere Kundschaft eingestellt. »Es kann schon mal passieren, dass jemand ein Bier bestellt, es im nächsten Moment vergessen hat und rausgeht«, sagt Yvonne van Amerongen. In De Hogeweyk kein Problem. An dieses neue Konzept der Betreuung von dementen Menschen, an diese Art von »Normalität« hatte sich auch das Pflegepersonal erst gewöhnen müssen, setzt die Managerin hinzu. Während die Betreuer in den Wohngemeinschaften des Arbeitermilieus eher als Nachbarn und Freunde wahrgenommen werden, behandeln sie die höheren Schichten zuweilen von oben herab, so als wären sie Bedienstete. »Nicht jedem von den Kollegen hat das anfangs gefallen«, sagt van Amerongen. »Doch indem wir die früheren Lebensumstände nachah- 14 Auch wenn die Vertreter der reinen Lehre das als Schwindel und Festschnallen mit anderen Mitteln ansehen, können sie kaum bestreiten, dass sich die in De Hogeweyk praktizierte Behandlungsform positiv auf das Wohlbefinden der Patienten auswirkt. »Uns geht es um Lebensqualität«, sagt van Amerongen. »Es geht darum, dass die Bewohner die Zeit bis zu ihrem Tod – im Schnitt sind das drei bis dreieinhalb Jahre – mit möglichst wenigen Einschränkungen und bester Pflege verbringen können.« Damit sie lange mobil bleiben, bietet das Dorfleben 35 unterschiedliche Aktivitäten an: von Musikaufführungen im Mozartsaal bis zum Bingo, von gemeinsamen Kochstunden über Schwimmen bis zum Treff des königstreuen Oranje-Vereins. Dabei ist De Hogeweyk keine von der Außenwelt abgekapselte Anstalt. Auch wenn die Bewohner aufgrund ihrer Erkrankung das Demenzdorf nicht mehr allein verlassen können, für Gäste von außerhalb ist es jederzeit zugänglich – nicht nur für die Angehörigen der Patienten. Supermarkt und Restaurant, Pub und Theater stehen auch Besuchern von außerhalb offen. »Und es wird angenommen«, sagt van Amerongen. »Wir holen das Leben in unser Dorf.« W W W. H O G E W E Y. N L Ibrahim Irgendwann schmierte seine Mutter Kot an die Wände. An die Wände und auf den Fußboden, an die Vorhänge, ans Bettzeug – sie ließ nichts aus. Für andere wäre spätestens das der Punkt gewesen, sich nach einer Pflegeeinrichtung für Alzheimerkranke umzusehen. Martin Woodtli hat stattdessen eine gegründet. Am anderen Ende der Welt. Die Anfangsphase, sagt Martin Woodtli, sei die schwierigste. Wenn die Betroffenen quasi live miterleben, wie sich ihre Erinnerungen auflösen, eine nach der anderen. Wenn ihnen bewusst wird, dass die Lücken unaufhaltsam größer werden und die Wut über die zunehmenden Aussetzer in Verzweiflung umschlägt. Wenn sie erkennen, dass sie verloren sind. »Doch es kommt der Zeitpunkt, da überschreiten sie dann eine letzte Grenze«, sagt der Schweizer. Die Grenze zur erinnerungslosen Zeit. Er hat seine Mutter durch alle Phasen begleitet. Bis in den Tod. Am Ende hielt sie ihren Sohn für einen Fremden. Sagt der Arzt zum Patienten: »Sie haben Krebs und Alzheimer.« Sagt der Patient: »Na zum Glück keinen Krebs.« 15 GLOBAL Martin Woodtli – hier mit seiner Frau Nid und Sohn Pepino – kam 2002 mit seiner demenzkranken Mutter nach Chiang Mai, nachdem sich sein Vater in der Schweiz das Leben genommen hatte Es begann schleichend. Es beginnt immer schleichend. Wo hab ich jetzt den Schlüssel gelassen? Ist die Herdplatte aus? Wie war noch gleich Ihr Name? Nichts Beunruhigendes, alles im Rahmen. Doch die Ausfälle häufen sich, werden gravierender, belasten. Auch Margrit Woodtli driftete zunehmend in eine Parallelwelt ab. Ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. Eine Tragödie, die ihren Mann, den sie einst liebte und den sie nun einfach vergaß, verzweifeln ließ. Am 25. Februar 2002 nahm er sich das Leben. Und doch, das Experiment gelang. Margrit Woodtli nahm die neue Umgebung schnell als vertraut an, Chiang Mai wurde in ihrer Welt zu ihrer Heimatstadt Münsingen, sie glaubte, ein Haus als ihre frühere Schule zu erkennen, sprach mit ihren Pflegerinnen, als seien es alte Bekannte. Auf Schwyzerdütsch. Sprachbarriere? »Es hat sich in manchen Situationen sogar als Vorteil erwiesen, dass die Betreuerinnen ihre Patienten nicht verstehen«, lautet Woodtlis Fazit aus zwölf Jahren Praxis. »Wo ich noch manchmal versucht bin, auf unsinnige Bemerkungen zu reagieren und zu argumentieren, nehmen sie sie mit einem Lächeln hin. Argumente haben hier ihre Bedeutung verloren.« Im Januar 2006 ist seine Mutter im Alter von 77 Jahren in der fremd-vertrauten Heimat gestorben. Die Asche brachte der Sohn zurück in die Schweiz. Nun war es an Martin Woodtli, die Betreuung zu übernehmen, doch die wurde immer schwieriger, die Mutter nennt ihren Sohn Sauhund; sie reibt sich Zahnpaste ins Gesicht; statt der Semmel isst sie die Serviette. Woodtli, selbst Sozialarbeiter, stößt an seine Grenzen. Wie viele in seiner Situation sieht auch er sich nach einem geeigneten Pflegeheim um, doch er findet nur Verwahranstalten mit hohen Kosten und zu wenig Personal, wo die Patienten routinemäßig »fixiert« werden. Klingt besser als »gefesselt«. Es sind keine Orte, an denen er seine Mutter guten Gewissens in Obhut geben könnte. Heute zählt Baan Kamlangchay zwölf »Gäste« zwischen 59 und 91 Jahren, die in neun, über die Siedlung Faham Village verstreuten Einfamilienhäusern leben und von jeweils drei Pflegekräften im Wechsel rund um die Uhr betreut werden. Deren Bezahlung bewegt sich je nach Qualifikation zwischen 9000 und 15 000 Baht pro Monat (200 bis 340 Euro). »Insgesamt liegen die Kosten für einen Platz in der tropischen Wohngemeinschaft mit monatlich rund 2900 Euro um ein Drittel bis zur Hälfte unter dem, was für die Vollpflege in der Schweiz oder in Deutschland anfallen würde«, sagt Woodtli. Fremd-vertraute Heimat Der 53-Jährige schätzt die Sanftheit der Thailänder im Umgang mit alten Menschen, ihre Geduld und Fürsorge, ihren Respekt. Ein Wesenszug, der die Integration der aus ihrer Welt gefallenen Patienten im Faham Village erst möglich gemacht hat. Die »Großfamilie« ist ins Dorfgeschehen eingebunden, besucht den Tempel und geht auf dem Markt einkaufen. Für ihre demenzkranken Nachbarn hat die Gemeinde dort extra Holzbänke mit Kissen aufstellen lassen. Und die Dorfgemeinschaft trauert mit den »Farangs«, den Europäern, um jeden ihrer Toten. Seit Bestehen der Einrichtung sind acht Mitglieder der Baan Kamlangchay-Kommune gestorben und wurden nach buddhistischem Ritus verbrannt. Szenenwechsel. Chiang Mai im Norden von Thailand. Hier, in einer ruhigen Siedlung am Rande der Stadt, startete Martin Woodtli vor zwölf Jahren mit seiner Mutter ein Experiment, von dem ihm manche Fachleute dringend abgeraten hatten, und das heute oft als Modell für den humanen Umgang mit Alzheimerkranken angeführt wird. Baan Kamlangchay hat er es genannt, Haus der Ermutigung. Soll man einen alten Baum verpflanzen? Darf man es? Verwirrt der Ortswechsel die ohnehin Orientierungslosen nicht noch mehr? »Was hatten wir zu verlieren?« entgegnet Woodtli auf den Einwand. »Wäre das Experiment fehlgeschlagen, hätte ich mit meiner Mutter jederzeit zurück in die Schweiz gehen können. Den Versuch war es wert.« Er kannte das Land, seit er in den 90er Jahren in Chiang Mai für »Ärzte ohne Grenzen« ein AIDS-Projekt aufgebaut hatte. Er kannte die Menschen, er beherrschte die Sprache. Seine Mutter nicht. 16 In der Schweiz könnte sich Woodtli wahrscheinlich vor Auflagen nicht retten, in Thailand aber kommt er ohne einen großen Verwaltungsapparat aus, ohne Pflegestufen, ohne die Abrechnung von Leistungen nach Minutentakt. Ein wenig deplatziert erscheint da vielleicht die Stempeluhr am Eingang zum Haupthaus, wo sich jeder Angestellte zu Arbeitsbeginn an- und nach Dienstschluss wieder abmeldet. »Und doch ist sie hilfreich, um den Überblick zu behalten«, sagt der Pflegechef. Soviel Schweiz muss sein. Mittagszeit. Woodtlis thailändische Frau Nid kehrt gerade von einer Gemeinderatssitzung zurück. Der gute Draht zu den Ortsvorstehern ist für den reibungslosen Betrieb des Pflegeheims immens hilfreich. Nach und nach kommen nun auch die Mitglieder von Woodtlis »Großfamilie« zum Mittagessen, manche am Arm ihrer Pflegerinnen, die Schwächeren im Rollstuhl. Zum Beispiel Gustav, den seine Betreuerin Amporn beim Kartenspiel immer gewinnen lässt, weil er sonst wütend wird; Elisabeth, die durch einen hindurch sieht und ständig fragt: »Was mache ich hier?«; Bernhard, einst eine Ikone des Schweizer Journalismus, und nun ein Wrack, das gefüttert werden muss; oder Geri, der zum Leidwesen seiner Betreuerin den ganzen Tag herumläuft, weil ihn etwas umtreibt, von dem niemand je erfahren wird, was es ist. Ibrahim Es gab vielleicht mal Zeiten, da hat Martin Woodtli über so was lachen können. Zeiten, als Alzheimer, der unwiederbringliche Gedächtnisverlust, noch nicht in sein Leben gedrungen war. Als sein Vater sich noch nicht aufgehängt hatte, und seine Mutter beide noch erkannte. Keine Wunderwaffe »Wir schränken den Bewegungsdrang nicht ein«, sagt Woodtli. »Wenn jemand irgendwohin will, dann begleitet ihn die Betreuerin eben. Durchs ganze Dorf und darüber hinaus, wenn’s sein muss. Durch die unbeschränkte Mobilität geht es hier einfach entspannter zu.« Was unter anderem dazu geführt hat, dass die Dosis an Medikamenten, die den Patienten bis zu ihrer Übersiedlung nach Chiang Mai zur Ruhigstellung verabreicht wurden, drastisch heruntergefahren werden konnte. »In allen Fällen«, sagt Woodtli. »Oft können wir sogar ganz darauf verzichten.« Trotz der guten Erfahrungen verkauft der Schweizer sein Modell nicht als Wunderwaffe im Kampf gegen den Pflegenotstand in der westlichen Welt. »Ich finde nicht, dass Thailand für alle die Lösung ist«, erläutert er seine Sicht. »Sie wurde es für mich aus einer sehr persönlichen Situation heraus. Es ist ein Nischenangebot, vielleicht auch ein Denkanstoß, dass man ganz verschiedene Dinge ausprobieren sollte.« Einige westliche Investoren haben den Anstoß auf ihre ganz eigene Weise aufgegriffen und planen, in Thailand große Pflegeheime für europäische Alzheimerpatienten zu errichten. Einige hatten ihm angeboten, mit einzusteigen, aber Woodtli lehnte ab. Wenn zuallererst von Rendite und der Anzahl der Betten die Rede ist statt von Menschen, wird er misstrauisch. Kritiker führen ins Feld, dass Baan Kamlangchay und ähnliche Projekte in Thailand und anderswo der Versuch seien, sich auf billige Weise eines lästigen Problems zu entledigen. Der Leiter eines Schweizer Pflegeheims sprach gar von Deportation. Abschieben, entgegnet Martin Woodtli, das könne man auch in ein Heim in Deutschland oder der Schweiz, wo man die dementen Anverwandten abliefert und sich dann nie wieder blicken lässt. »Wenn ich den Eindruck hätte, dass Familien ihre Angehörigen nur loswerden wollen – ich würde mich nicht zum Komplizen machen«, sagt er. »Doch die Menschen, mit denen ich bislang zu tun hatte, suchten alle einen Platz, an dem ihre Familienmitglieder eine möglichst liebevolle und gleichzeitig professionelle Betreuung in familiärer Umgebung erhalten.« Im Haus der Ermutigung haben sie beides offenbar gefunden. W W W. A L Z H E I M E R T H A I L A N D.C O M 17 Allianz Journal 3/2014 Roth GLOBAL »Die Wohnformen werden sich ändern« Michaela Grimm, Volkswirtin im Bereich Group Public Policy & Economic Research der Allianz, zum Anstieg der Zahlen von Demenzerkrankungen und den Auswirkungen auf die Gesellschaft. Frau Grimm, in Deutschland werden heute 70 Prozent der pflegebedürftigen Menschen in der Familie betreut. Doch während die Zahl der Erkrankungen kontinuierlich steigt, geht die Zahl der Kinder, die die Betreuung übernehmen könnten, zurück. Steuern wir auf einen Pflegenotstand zu? Pflegekräfte fehlen ja heute schon. Und die Situation wird sich weiter verschärfen. Es gibt Untersuchungen, wonach in zehn Jahren in Deutschland über 110 000 vollzeitbeschäftigte Pflegekräfte fehlen werden. IN TERV I EW: FRANK S TERN Wäre Thailand eine Alternative? Pflege im Ausland ist sicher eine Option, aber nicht für jeden die Lösung. Nicht jeder kann sich vorstellen, im Ausland zu leben. Für Demenzkranke sind die gewohnte Umgebung und der Kontakt mit Familie, Freunden und Nachbarn wichtig. Ab einem bestimmten Stadium erkennen die Patienten ihre Freunde und Familie doch gar nicht mehr. Man weiß nicht, was die Betroffenen noch erkennen, oder was sich in ihrer Gefühlswelt abspielt. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die Angehörigen wollen, dass ein demenzkrankes Familienmitglied weit entfernt irgendwo im Ausland in einer Einrichtung lebt und jeder Besuch mit hohem Aufwand verbunden ist. Wie kann man sich als heute noch gesunder Mensch auf so ein Schicksal vorbereiten? Man sollte sich ein finanzielles Polster zulegen – zum Beispiel über eine Pflegeversicherung, um im Alter die Mittel für den pflegegerechten Umbau der Wohnung oder des Hauses zu haben und angemessene Pflege organisieren zu können. Sei es häusliche Pflege oder formale Pflege durch RemPods Michaela Grimm ambulante Dienste oder auch der Umzug in ein Pflegeheim. All das ändert nichts daran, dass Pflegepersonal fehlt. Wir wissen nicht, wie in Zukunft die Verfügbarkeit von Pflegekräften aussehen wird. Aber es gibt bereits jetzt verschiedene alternative Konzepte, von denen Sie ja auch einige auf diesen Seiten beschreiben. Ich finde es richtig, dass solche Projekte wie in den Niederlanden oder Thailand ausprobiert und umgesetzt werden. Wir werden in Zukunft eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Modelle sehen – Familienbetreuung, ambulante Pflege, Alten-WGs, Demenzdörfer. Die Wohnformen werden sich mit Sicherheit ändern. Ein Universalmodell, das für alle Fälle geeignet ist, gibt es nicht. Norman Neschen holte die RemPods-Idee nach Deutschland Bühne frei für die Erinnerung Erinnerungen mögen schön sein oder traumatisch. In jedem Fall machen sie uns zu dem, was wir sind. Fehlen sie, versinkt das Leben im Nichts. Der Brite Richard Ernest hat einen Weg gefunden, wie er in Demenzkranken wieder ein Gefühl für das Leben entfacht. Reminiscence Pods, eine Art Bühnenbild mit musikalischer Untermalung, befreien die Menschen aus ihrem Dämmerzustand und sorgen für längst verloren geglaubte Emotionen. Nach erfolgreicher Anwendung in England, hat Ernest seine Idee im Sommer erstmals in Deutschland vorgestellt. M ICHA EL G RIM M 18 19 Allianz Journal 3/2014 GLOBAL Ernests Erfindung besteht aus mobilen Stellwänden mit unterschiedlichen Tapetendrucken und Requisiten. Sein erstes Set gestaltete er in Form eines Wohnzimmers im Stil der 60er Jahre, mit dazu passenden Möbeln, einem Retro-Plattenspieler, auf dem Platten von den Beatles oder Edith Piaf knistern, einem holzverkleideten Fernseher, über den Originalaufnahmen flimmern, sowie Zeitschriften und Gesellschaftsspielen von früher. Was aussieht wie ein Bühnenbild aus einem Kammertheater, ist für Demenzkranke eine Brücke in eine verloren gegangene Gefühlswelt. Dass sich der heute 36-jährige Brite und Familienvater damit selbst eine Brücke in ein neues Leben bauen würde, hätte er sich nicht träumen lassen. »Und doch begann alles mit einem Traum«, erzählt Ernest bei der Vorstellung der RemPods im Seniorenzentrum Theo-Burauen-Haus in Köln. Vor sechs Jahren, er war infolge der Finanzkrise gerade seinen Job in der Verlagsbranche losgeworden, klingelte es an der Tür seines Reihenhauses in Stroud, einer kleinen Stadt in der Grafschaft Gloucestershire. Sein 92 Jahre alter Nachbar fragte, ob er ihn zu seiner an Alzheimer erkrankten Frau ins Pflegeheim fahren könnte. Ernest willigte ein. »Komplett übergeschnappt« Nie zuvor hatte er ein solches Heim betreten. Und was er sah, schockierte ihn zutiefst. Wenige Tage nach dieser Erfahrung brachen sich seine Eindrücke Bahn. Ernest träumte davon, wie er ein Loch in die kalte, graue Krankenhausatmosphäre reißt, wie er mithilfe von Stellwänden Licht ins Dunkel bringt und damit Wohlgefühl erzeugt. »Dieser Traum hat sich so real angefühlt. Ich musste die Idee nur noch in die Realität umsetzen.« Daran, dass darüber beinah seine Beziehung zerbrach und ihn Freunde und Verwandte für komplett übergeschnappt hielten, kann sich Ernest heute mit einem 20 dabei je nach Motiv zwischen 1700 und 2000 Euro pro Set. Allein in England sind schon mehr als 700 RemPods fester Bestandteil von Seniorenzentren und Pflegeheimen. Für den US-amerikanischen Markt hat Ernests Team eigene Modelle entwickelt. Die mobilen Stellwände zeigen Szenen aus einem klassischen Diner und einem Barbershop aus den 60er Jahren. Um den Vertrieb in Deutschland will sich Neschen kümmern. Als erste Erinnerungs-Wand sollen die 60er-Jahre-WohnzimmerPods erhältlich sein. Lächeln zurückerinnern, denn sein Plan ging auf. Nachdem er die erste Erinnerungsstellwand für seine Nachbarin gebaut hatte, verlangten immer mehr Heime nach seinen RemPods. Von ihnen profitieren nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch die Angehörigen, die anderen Heimbewohner und letztlich auch das Pflegepersonal. Als Norman Neschen im Herbst 2013 über das Fernsehen von dieser Idee erfuhr, war für ihn klar: die RemPods müssen auch in deutschen Heimen zum Einsatz kommen. Der 38-Jährige kümmert sich seit Jahren um Menschen mit Demenzerscheinungen im Kölner Theo-BurauenHaus. Dass es über die Wirkung der RemPods noch keine wissenschaftlichen Studien gibt, hielt ihn nicht davon ab, Ernest sofort nach der Reportage zu kontaktieren. Ein halbes Jahr später präsentierte das deutsch-britische Duo die Nostalgiewände, wie Neschen die RemPods nennt, in Köln. In einem Meer voller Rätsel Um den richtigen Nerv der Patienten zu treffen, beschäftigt Ernest Mitarbeiter, die ständig neue Motive suchen, sich mit den Angehörigen von Patienten unterhalten und Erinnerungen freigraben. Ein Schreiner formt die Ergebnisse der Recherche schließlich in Erlebbares für die Sinne. Eine kleine Redaktion kümmert sich um die Zusammenstellung der Inhalte für die Magazine und Fernsehsendungen. Für den individuellen Touch sorgen die Angehörigen, die den RemPods persönliche Erinnerungsstücke hinzufügen, wie etwa kleine Möbel oder Bilder. »Das Wichtigste für mich ist, dass wir mit den Nostalgiewänden einen völlig neuen Zugang zu dementen Menschen finden können«, sagt Neschen. Die RemPods sind ein beliebter Treff, es wird geplauscht, die Heimbewohner öffnen sich, zeigen Gefühle. Neschen weiß, dass ein Lächeln in einem scheinbar schon erloschenen Gesicht manchmal mehr zählt als Empirie. Doch genau diese Hürde hätte die Erfolgsgeschichte beinah im Keim erstickt. Nachdem Ernest seine gesamten Ersparnisse in die Entwicklung der ersten RemPods gesteckt hatte, bewarb er sich als Kandidat für die BBCFernsehserie »Dragons‘ Den«. In der Reality TV-Show werben findige Köpfe für eine Anschubfinanzierung ihrer Geschäftsideen. Wenn Ernest einen entscheidenden Moment in seinem Leben auf Tapete drucken müsste, sein Auftritt in der Höhle der Drachen wäre sicher ein Motiv. Dunkle Holzdielen, rußige Backsteine, dämmriges Licht, vor ihm eine Jury aus fünf düster dreinblickenden Investoren. Dreien war der wissenschaftliche Unterbau der RemPods zu dünn. Die übrigen zwei schlugen nach einigem Zaudern schließlich ein und gaben Ernest ein Startkapital von 100 000 Pfund. auf einmal wieder Lust haben, zu essen und zu trinken. Am Anfang musste sich Ernest gegen Skeptiker wehren, die seine Erfindung als gewinnbringenden Hokuspokus abtaten. Doch der breitschultrige Brite mit den sanften Gesichtszügen und der sonoren Stimme hat dazugelernt. Er wehrt sich gegen das Urteil der Illusion. Wenn es sein muss, beantwortet er Fragen nach wissenschaftlichem Nutzen und Wirtschaftlichkeit mit dem Hinweis, dass seine Erfindung unter anderem den Einsatz von Medikamenten reduziert. Vor allem aber zählen für Ernest die zwischenmenschlichen Momente, die entstehen, wenn ein Patient zum ersten Mal mit seinen Stellwänden in Kontakt kommt – so wie zum Beispiel ganz zum Schluss der Vorstellung des Tanzsaal-RemPods im Seniorenzentrum in Köln, als eine ältere Demenzpatientin den Ring von Journalisten und Heimmitarbeitern durchbricht, ihren Betreuer Norman Neschen sanft anlächelt und ihn schließlich zum Tanz auffordert. W W W. R E M P O D S .C O.U K RemPods erzeugen Emotionen in Menschen, holen sie heraus aus einem Meer voller Rätsel, geben ihnen Halt und Lebensfreude. Immer wieder berichten Pfleger, wie sich ihre Patienten verändern, zum Beispiel indem sie beide Fotos: RemPods Es gibt Augenblicke im Leben, die man nicht vergisst. Sie graben sich ins Unterbewusstsein wie Gebirgsbäche ins Gestein. Bei Menschen mit Demenz werden diese Erinnerungstäler zugeschüttet. Richard Ernest hilft das Relief der Erinnerung zu erhalten, indem er vertraute Momente wieder freilegt, sie erlebbar macht. Mit so genannten Reminiscence Pods, kurz RemPods, gibt der Brite Demenzkranken und ihren Angehörigen wieder ein Stück Lebensqualität zurück. Am Anfang musste Richard Ernest für seine Idee kämpfen, doch der Erfolg gab ihm Recht Inzwischen ist das Sortiment der Rempods auf zwölf Modelle angewachsen. Dem ursprünglichen 60er JahreWohnzimmermotiv folgten Arrangements, die die Patienten unter anderem in einen prunkvollen Tanzsaal oder ihren Lieblingspub entführen. Die Kosten schwanken 21 GLOBAL Alphörner und Medaillen Schweizerfahne, Alphörner, Kuhglocken – bei der Eröffnungsfeier der Allianz Sports auf der Radrennbahn im Züricher Stadtteil Örlikon zauberten die Organisatoren typisches Schweizer Ambiente auf die Bühne. Pünktlich zum Auftakt waren zuvor bereits die 45 Teilnehmer der 1000 Kilometer langen Fahrradtour von Allianz Global Assistance, die eine Woche zuvor in Venedig gestartet war, in Zürich eingetroffen. Unter lautstarken Rufen der Teams zogen dann die Fahnen der 47 vertretenen Länder ein, wobei die deutschen Zuschauer in den Trikots des Fußballweltmeisters schon mal deutlich machten, wer bei den Sports ihrer Meinung nach am Ball den Ton angeben würde. Und sie sollten Recht behalten. Am Freitagmorgen in einem der Shuttle-Busse, die zwischen den Veranstaltungsstätten pendelten, schlug die Stimmung bereits hohe Wellen. Zu dieser frühen Stunde schätzten die US-Beachvolleyballer ihre Gewinnchancen noch außerordentlich gut ein, nur um wenig später von ihren Gegnern recht unsanft auf den sandigen Boden der Tatsachen zurückgeholt zu werden. Doch auch wenn manche Blütenträume nicht in Erfüllung gingen, tat das der guten Stimmung unter den Teams keinen Abbruch. alle Fotos: Allianz 1000 Sportler aus 47 Ländern vor alpenländischer Bergkulisse – im Juli gingen in der Schweiz die VII. Allianz Sports über die Bühne. Am Ende stand auch in Zürich fest: Im Fußball ist Deutschland derzeit nicht zu schlagen. Als gute Verliererin erwies sich auch Caitlin Lloyd aus Großbritannien. Die 23-Jährige erkannte die Leistung ihrer Gegnerin Jessica Lewerenz vom Team Deutschland Süd neidlos an, die im 1500-Meter-Lauf die Goldmedaille gewann. Für Jessica Lewerenz hätte es kaum besser laufen Höher – schneller – weiter: Teams aus aller Welt kamen im Sommer zu den VII. Allianz Sports nach Zürich KA RI N N E A L 22 23 Allianz Journal 3/2014 alle Fotos: Allianz GLOBAL Der Pionier vom Sprachendienst Bei den Allianz Sports in Zürich wurde erstmals ein Rollstuhlturnier veranstaltet, an dem auch zehn Allianz Mitarbeiter teilnahmen. Zusammen mit Behindertensportlern bildeten sie fünf Teams, die auf dem speziell angelegten Rollstuhlparcour gegeneinander antraten Erich Hubel trat vor 20 Jahren als Übersetzer in den Dienst der Allianz – im Anschluss an eine große Sportlerkarriere. Geboren 1951 in München wuchs Hubel in Australien auf. Im Alter von sieben Jahren erkrankte er an Kinderlähmung – zwei Wochen bevor die Impfung gegen Kinderlähmung an seiner Schule eingeführt wurde. »Den Letzten beißen die Hunde«, sagt Hubel dazu heute ohne Groll. Er lernte mit der Behinderung zu leben. Sportbegeistert probierte er trotz des Handicaps zahlreiche Sportarten aus, bis er im Alter von 22 Jahren seine sportliche Bestimmung fand: Rollstuhlbasketball. Er bedauere diesen späten Einstieg, erklärt Hubel, aber »ich wusste schlichtweg nicht, dass es existiert«. Schnell lernte er das Spiel lieben, schloss sich 1974 dem Rollstuhl-Basketballverein in Melbourne an, wurde 1979 zum Sportler des Jahres gewählt und später zum Kapitän der australischen Rollstuhlbasketball-Nationalmannschaft. Als Chef des Organisationskomitees betreute er die RollstuhlbasketballWM 1986 in Melbourne. Hubel wurde damit zu einem der Pioniere des australischen Behindertensports. Einer seiner Gegner war damals der heutige Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees, Sir Philip Craven. Neben dem Rollstuhlbasketball war Hubel auch in anderen Sportarten erfolgreich. So gewann er bei den Paralympics 1980 in Holland zwei Silbermedaillen über 800 und 1500 Meter und Bronze über 100 Meter im Rollstuhlrennfahren. 1981 gewann er den Melbourne Marathon. Obwohl er so lange Zeit in Australien lebte und »zwei Herzen in seiner Brust schlagen«, wie er sagt, war die Rückkehr nach Deutschland immer ein großer Wunsch: »Ich wollte zurück zu meinen Wurzeln«, sagt er. 1989 ging er dann zurück nach München, wo er weiterhin erfolgreich Rollstuhlbasketball spielte und mit dem USC München Deutscher Meister wurde. Später zwangen ihn Verletzungen zum Rücktritt. Erich Hubel (li.) bei den Allianz Sports in Zürich Im Jahr 1994 startete Hubel dann als Übersetzer beim Sprachendienst der Allianz. Neben dem Sport gehört sein Herz der Musik. Seit 2000 ist er Mitglied der »Blue Eagles«, einer von Allianz Mitarbeitern gegründeten Band. Mit ihr trat Hubel auch bei den diesjährigen Allianz Sports in Zürich auf, was für ihn bedeutete, dass er seine beiden Leidenschaften vereinen konnte: Musik und Rollstuhlbasketball._Daniel Noe können. Bei ihrer ersten Sports-Teilnahme sicherte sie sich nicht nur den Sieg im 1500-Meter-Rennen, sondern gewann auch noch Silber über die 3000 Meter. Keine Frage, wo sie das her hat: Im Halbmarathon holte ihre Mutter, Elke Lewerenz, für das Team Deutschland Süd ebenfalls Silber. Caitlin Lloyd aber schaute nach vorn: »Es gibt immer ein nächstes Mal«, machte sie sich Mut. Monika Fischer vom Team Deutschland Süd wollte nicht so lange warten. Wie schon in Budapest sicherte sie sich in ihrer Altersgruppe auch in Zürich Gold über 1500 und 3000 Meter. Alain Decorde aus Frankreich – mit seiner siebten Teilnahme hält er unangefochten den Rekord – verabschiedete sich mit einem überzeugenden Auftritt von den Allianz Sports und lief über 100 Meter bei den über 55-Jährigen der Konkurrenz ein letztes Mal davon. Während es die Bocciaspieler ruhig angehen ließen, ging es auf dem benachbarten Fußballfeld umso lauter zu. Die geplante Revanche für die WM-Schmach von Belo Horizonte gelang den Brasilianern allerdings nicht, sie mussten sich im Halbfinale gegen Deutschland Nord mit 4:1 geschlagen geben. Beim Spiel um Platz 3 unterlagen sie auch noch Italien mit 5:1 – es ist nicht das Jahr des brasilianischen Fußballs. Dafür waren die Deutschen auch bei den Allianz Sports nicht zu stoppen. Im Finale standen sich schließlich Deutschland Nord und Deutschland Süd gegenüber – mit dem glücklicheren Ende für die Norddeutschen, die knapp mit 4:3 gewannen. Im Basketball trafen im Finale, wie schon in Budapest, wieder Russland und Italien aufeinander. Auch wenn die italienischen Fans ihr Team enthusiastischer anfeuerten, auf dem Platz behielten die Russen mit 99:82 Punkten recht deutlich die Oberhand. So wie Phil Wicks aus Großbritannien im Halbmarathon, der nach einer Stunde, sechs Minuten und 15 Sekunden über die Ziellinie lief. Danach passierte eine Viertelstunde lang nichts, bevor schließlich knapp hintereinander Mateusz Dabrowski aus Polen und als Dritter der Kolumbianer Castillo Sergio Veloza eintrafen. In vier Jahren finden die Allianz Sports dann in der bayerischen Landeshauptstadt statt – Servus München. Großer Sport Wenn man sich mit Evan O’Hanlon unterhält, hat man das Gefühl, dass man es mit einem kerngesunden 100-MeterSprinter zu tun hat. Dabei ist der 26jährige Australier körperlich stark eingeschränkt. Er kann die linke Körperseite kaum benutzen, die Koordination seines linken Armes bereitet ihm Probleme, ein Greifen mit der linken Hand ist kaum möglich. Grund ist ein angeborener Hirnschaden. Ärzte sind immer wieder überrascht, wie er es überhaupt schafft, sich auf den Beinen zu halten. Doch trotz der Einschränkung ist Evan O’Hanlon einer der schnellsten Paralympioniken der Welt. Bei den Allianz Sports in Zürich lief er als einer von zehn Behindertensportlern im Vorlauf über die 100 Meter Weltjahresbestzeit. Aufgewachsen in Sydney zog O‘Hanlon nach dem Schulabschluss nach Canberra, wo er im »Australian Institute of Sports« seit über acht Jahren trainiert. Nebenbei absolviert er gerade ein Studium in Landschaftsarchitektur. »Meine Mutter ist Landschaftsarchitektin, mein Vater und meine Schwester sind Architekten – da lag dieses Studium nahe«, sagt er. Daneben hat er mit seiner Verlobten vor kurzem ein eigenes Café eröffnet. Aktuell aber gilt seine volle Konzentration seiner Sportlerkarriere: Bereits fünfmal gewann er in der Kategorie T38 Gold bei den Paralympischen Spielen über 100 und 200 Meter. Vor allem die Paralympics in London seien ein Wendepunkt in der Wahrnehmung von Paralympioniken gewesen, sagt er. In Australien sieht er dennoch Nachholbedarf. Evan O’Hanlon Die Einbindung von Paralympioniken bei Veranstaltungen wie den Allianz Sports sieht O‘Hanlon als einen Weg, in der Öffentlichkeit das Bewusstsein zu schaffen, dass auch behinderte Sportler in der Lage sind, großen Sport zu bieten: »Man sollte Menschen nicht abschreiben, nur weil sie in einem Rollstuhl sitzen.«_Daniel Noe HT T P S://E V ENT S. A LLI A NZ .CO M. AW IN/A LLI A NZ _ SPO RT S 24 25 Allianz Journal 3/2014 Deutschland Auch Frank Tepper, einziger Allianz Vertreter am Ort, hat den Schwund zu spüren bekommen. Um rund 20 Prozent sei sein Bestand in den letzten Jahren zurückgegangen, sagt er. Im August hat Tepper die Agentur an seinen Nachfolger Stefan Wolf übergeben. Der ist gerade 30 Jahre, gut ausgebildet, ledig. Allzu viele findet man in der Gegend nicht mehr von seiner Sorte. Während etliche seiner Altersgenossen – Frauen noch mehr als Männer – längst das Weite gesucht haben, ist Wolf geblieben. »Weggehen kam für mich nie in Frage«, sagt er. Auch wenn die Statistiken ziemlich düster scheinen – Wolf glaubt an eine Zukunft für Kalbe. Stern Notorisch klamm Notizen aus der Provinz Sachsen-Anhalts Bevölkerung schrumpft wie in keinem anderen Bundesland. Seit der Wende hat jeder fünfte Einwohner seiner Heimat den Rücken gekehrt, und die Zurückgebliebenen sind in die Jahre gekommen – nirgendwo sind die Deutschen älter. Besuch in einem Krisengebiet. FR AN K ST E R N 26 Sachsen-Anhalt gilt als das vom demographischen Wandel am stärksten betroffene Bundesland. Von den 20 Gemeinden mit den schlechtesten Demographiewerten in Deutschland liegen sechs zwischen Altmark und Burgenlandkreis. Nirgendwo sind die Deutschen älter, 2030 werden die Sachsen-Anhaltiner die ältesten Menschen in ganz Europa sein. Prognosen des Landesentwicklungsministeriums in Magdeburg zufolge steigt der Anteil der über 65-Jährigen bis dahin von heute 25 auf 36 Prozent. Und es gibt ja durchaus einige Lichtblicke. Zum ersten Mal seit der Wende hat das notorisch klamme Städtchen in diesem Jahr einen ausgeglichenen Haushalt verabschiedet. Und das trotz Straßenausbaus und der Sanierung von Schule, Kindergarten und Sporthalle. Auch ein paar Auswanderer haben inzwischen wieder den Rückweg aus dem Westen angetreten. »Was uns zur Zeit fehlt, sind vorzeigbare Bauplätze für Eigenheime«, sagt Bürgermeister Ruth. »Aber wir arbeiten gerade an einem Flächennutzungsplan, in dem auch ein neues Eigenheimbaugebiet vorgesehen ist.« Einer der wenigen Vorteile, die ein Gebiet wie Kalbe bietet, sind günstige Baulandpreise. Eines der demographischen Krisengebiete ist Kalbe in der Altmark, ein Städtchen mit 2600 Einwohnern, zu dessen größten Arbeitgebern das Seniorenpflegeheim »Klein Sanssouci« zählt. Umgeben von Wäldern und Feldern, fernab der Autobahn und ohne direkte Bahnverbindung hat Kalbe an der Milde alles, was einen Ort ohne Zukunft auszeichnet. Außer einem Solarpark mochte sich bislang kein Betrieb in seinem Gewerbegebiet ansiedeln. In den 90er Jahren hatte Kalbe versucht, sich als pittoreske Adresse für sanften Tourismus zu empfehlen. Inzwischen ist die »Stadt der 100 Brücken« staatlich anerkannter Erholungsort, aber so richtig gezündet hat die Idee nicht. »Wir haben keine Berge wie der Harz, wir haben keinen See, wir haben kein Meer«, sagt Ruth. Dafür könne die Region mit der größten Saatkrähenkolonie in Europa aufwarten. Ruth überlegt eine Weile, aber viel Aufregenderes fällt ihm im Moment nicht ein. »Das Potenzial von Leuten, die sich für Krähen begeistern, ist natürlich begrenzt«, setzt er hinzu. Der Mann hat Humor. Den braucht er auch. Schon bald nach der Wende hatten hier die Großbäckerei und der Kreisbetrieb für Landtechnik dichtgemacht, die großen Baubetriebe wanderten ab, und das Grenzregiment wurde mangels Feind abgewickelt. »Alles ist damals schlagartig weggebrochen, und das hatte eine massive Abwanderungswelle zur Folge«, sagt Bürgermeister Karsten Ruth. »Mit den Folgen haben wir bis heute zu kämpfen.« Karsten Ruth ist parteilos und steht seit fast fünf Jahren einer Gemeinde vor, zu der durch mehrere Gebietszusammenlegungen neben der Stadt Kalbe heute auch viele umliegende Dörfer gehören. Die Gesamtfläche ist von einst 30 auf über 270 Quadratkilometer angewachsen, auf denen sich knapp 8000 Einwohner verteilen, viele Pendler darunter. Die 60 Kilometer bis zu VW in Wolfsburg schafft man in gut einer Stunde. 27 Allianz Journal 3/2014 alle Fotos: Stern D EU T S C H L A ND Kalbes Bürgermeister Karsten Ruth Angaben des Statistischen Landesamtes zufolge schrumpft die Bevölkerung Sachsen-Anhalts bis 2025 gegenüber 2008 durch Sterbeüberschuss und weitere Abwanderung um 16 Prozent. Im Altmarkkreis Salzwedel, zu dem auch Kalbe gehört, rechnet man sogar mit einem Minus von über 21 Prozent. Und es sind vor allem die jungen Frauen, die sich in Scharen davonmachen: 2025 werden sich im Altmarkkreis 100 Frauen im Alter zwischen 15 und 45 Jahren unter 124 Männern umsehen können. Frank Tepper zusammen mit der Leiterin des Projekts Kunststadt Kalbe, Corinna Köbele, und seinem Nachfolger Stefan Wolf Nach dem Krieg hatten die Sowjets Ruths Großvater als Bürgermeister in Kalbe eingesetzt. Damals schrieb sich der Ort noch mit C, was gelegentlich zu Verwechslungen mit Calbe an der Saale führte. So hätte das überdimensionierte Kulturhaus von Kalbe, das dort in den 50er Jahren gebaut wurde, eigentlich an der Saale stehen sollen. Als man den Fehler bemerkte, waren die Arbeiten bereits zu weit fortgeschritten. So jedenfalls besagt die Legende. Um ähnliche Fehler für die Zukunft auszuschließen, habe man Calbe an der Milde schließlich in Kalbe umgetauft. »Ein böses Gerücht«, sagt Ruth. Schon der Familienehre wegen will er nicht an den Schildbürgerstreich glauben. Ein Hauch von Zukunft Ob geplant oder nicht, Corinna Köbele hätte schon ein paar Ideen, wie man das Kulturhaus samt dem seit Jahren unbespielten Theatersaal wieder beleben könnte. Die Frau wirkt zerbrechlich, doch der erste Eindruck täuscht. Köbele ist ein Energiebündel. Nicht zuletzt ihr ist es zu verdanken, dass durch Kalbe gerade ein Hauch von Zukunft weht. Fast im Alleingang hat die Psychotherapeutin und Malerin das Projekt »Künstlerstadt Kalbe« auf die Beine gestellt, das mit mietfreien Wohnungen und kostenlosen Ateliers Kunststudenten aus Deutschland und der Welt an die Milde locken soll. Wenn Kalbe etwas im Überfluss hat, sind es leere Gebäude, doch anfangs wollte kaum einer der Eigentümer Köbele und ihre Truppe von Malern, Grafikern, Designern, Musikern und Autoren über die seit Jahren unbenutzten Schwellen lassen. Kennt man doch, diese Künstler – nichts als Partys, Sex und Drogen. Doch Köbele ließ nicht locker. Sie gründete den Verein »Künstlerstadt Kalbe«, stellte ihre Idee im Stadtrat vor und schlug beim Gewerbestammtisch die Werbetrommel. An dem finden sich regelmäßig auch Frank Tepper und Stefan Wolf ein. Und die sprangen sofort an. 28 Mittlerweile hat sich ihnen ein Großteil der Kalbenser angeschlossen. »Die Resonanz ist unglaublich«, staunt Frank Tepper. »Die jungen Künstler bringen Leben in unsere kleine, verschlafene Stadt.« Geht es nach Corinna Köbele, wird es dabei nicht bleiben. Im österreichischen Gmünd wie im norddeutschen Worpswede sei das Konzept Künstlerstadt durch den dadurch angestoßenen »Kulturtourismus« längst zu einem Wirtschaftsfaktor geworden. Ähnliches möchte die 51-Jährige auch in Kalbe bewirken. Auch Bürgermeister Ruth hofft darauf, dass die »Künstlerstadt« die Abwärtsspirale aus Abwanderung und Überalterung bremsen kann. »Wir müssen aus dem, was wir haben, das Beste machen«, sagt er. Aus der Natur, aus den Krähen, aus den leerstehenden Wohnungen. Aus allem. Gleichzeitig bereitet Ruth seine Stadt auf das Unvermeidliche vor. Einige seit langem ungenutzte Gebäude wurden bereits abgerissen. Rapide Abnahme Und nicht nur sie. Inzwischen schleppen die Einwohner alte Möbel an, um die Häuser, die zum Teil 20 Jahre leer standen, für die Gäste wieder bewohnbar zu machen. Sie versorgen sie mit Obst und Gemüse oder mit selbstgemachtem Kuchen, spendieren Arbeitsmaterial für Kunstprojekte und stehen Schlange, wenn Rundgänge durch die Ateliers der jungen Künstler angeboten werden. »Eigentlich unglaublich«, wundert sich Frank Tepper über seine Mitbürger. Manch Einheimischer habe sich sogar schon zu eigenen Installationen inspirieren lassen, erzählt Corinna Köbele. Die Blume in der Kloschüssel hat mittlerweile Kultstatus. Der Schwund im Land beschäftigt auch Gerhard Fabian im 80 Kilometer entfernten Magdeburg. Als Geschäftsstellenleiter ist der ehemalige Sportlehrer für 105 Allianz Agenturen im nördlichen Sachsen-Anhalt zuständig. »Das ist deutlich weniger geworden, früher waren es mal 120«, sagt er. »Doch die Bestände wurden einfach zu klein.« In der Landeshauptstadt sei der Abrieb relativ gering, doch vor allem für die Altmark sei das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht. Corinna Köbele lässt sich von solchen Hiobsprognosen nicht schrecken. Im Kulturhaus sieht die gebürtige Hessin bereits Konzertpianisten auftreten und Symposien über die Bühne gehen, und im Ort selbst eine Künstlerkolonie den verwaisten Gebäuden auf Dauer neues Leben einhauchen. »Das alles wird auf die Umgebung ausstrahlen und die Stadt- und Regionalentwicklung voranbringen«, ist sie überzeugt. Altmärker sind nicht unbedingt für Gefühlausbrüche bekannt, und so ist Karsten Ruth, was die Perspektiven seiner Gemeinde angeht, denn auch etwas zurückhaltender. Doch dass Kalbe nach über 1000 Jahren Siedlungsgeschichte demnächst von der Landkarte verschwinden könnte, damit rechnet auch er nicht. Allerdings wird es in Zukunft eine andere Stadt sein als die, die er als Kind kannte. In Kalbe hat man schon mal damit begonnen, die Bordsteinkanten für gehbehinderte Menschen abzusenken. W W W. S TA D T- K A L B E - M I L D E . D E W W W. K U E N S T L E R S TA D T- K A L B E . D E Die Anwesenheit der Kunststudenten zeigt sich bereits im Stadtbild und in der neu eröffneten Galerie 29 Allianz Journal 3/2014 Europa Wenn Giorgio auf Patrouille geht, bleiben die Wanderstöcke zuhause. Dafür umklammern seine Hände ein Buschmesser. Aus dem Mastallone-Tal schwappt die schwülfeuchte Mittagshitze die steilen Hänge um das Bergdorf Rimella hinauf. Und Giorgio säbelt das erste Mal ins dichte Grün. Äste fliegen, hüfthohe Farnwedel kippen zu Seite, so etwas wie ein Pfad wird sichtbar. »Hier hat schon lange keine Kehrwoche mehr stattgefunden«, sagt Giorgio mit einem Grinsen. In seiner schwäbischen Heimat bei Tübingen heißt er Jörg Klingenfuß. Unter seinem Alias kennen ihn die Menschen in Rimella, einem entlegenen Bergdorf im äußersten Nordosten des Piemonts. Dorf ohne Menschen In vielen Teilen Italiens ziehen die Menschen vom Land in die Städte. Vor allem die Bergregionen sind von der Entvölkerungswelle betroffen. Eine Initiative in den Bergen des Piemonts versucht zu retten, was zu retten ist. Von den ehemals 16 kleinen Ortsteilen sind die meisten schon von der Vegetation verschluckt. Ruinen erinnern an eine Zeit, als die Alpwirtschaft und das Handwerk der Bergbewohner über die Landesgrenzen hinaus bekannt waren, als die Wohlhabenden aus Turin und Mailand die Sommermonate in ihren prächtigen Residenzen mit den klassischen Steindächern auf rund 1100 Metern Höhe, weit oberhalb der Po-Ebene verbrachten. Heute erobert die Natur die jahrhundertealten Kulturlandschaften zurück. Mit schwäbischer Verbissenheit stemmt sich Giorgio gegen das Aus. Zusammen mit den verbliebenen, meist betagten Bewohnern Rimellas hat er vor einigen Jahren eine Initiative gegründet. Das Konzept »Pro Rimella« basiert auf der Wiederbelebung des Weitwanderwegs M I CH AE L GR IMM 30 Vor 15 Jahren kam Giorgio zum Wandern das erste Mal in diese Region am Fuße des Monte Rosa-Massivs. Seither hat den heute 61-Jährigen die Natur und das Schicksal der hier ansässigen Bergbewohner nicht mehr losgelassen. Der uralten Walser-Siedlung Rimella droht, wie so vielen anderen Gemeinden in den Bergregionen auf der Südseite der Alpen, der Untergang. Die Entvölkerung ist dramatisch. Erst kürzlich hatte sich ein ganzes Dorf im Piemont für 250 000 Euro über Ebay zum Verkauf angeboten. Soweit ist Rimella noch nicht. Aber auch hier ist die Abwanderung eklatant. Vom Höchststand mit knapp 1400 Einwohnern im Jahr 1831 ist die Zahl auf heute 70 gesunken. alle Fotos: Grimm Jörg Klingenfuß, alias Giorgio (rechts), kam zum Wandern nach Rimella – und ist geblieben. Piera Rinoldi versorgt ihn – und erträgt mit italienischer Gelassenheit seine Ausbrüche Grande Traversata delle Alpi (GTA). Der rund 1000 Kilometer lange Pfad durchzieht den gesamten Westalpenbogen vom Piemont bis Ligurien. In den 70er Jahren eröffnet, ist er inzwischen weitgehend in Vergessenheit geraten. Für Rimella könnte er nun zur neuen Lebensader werden. Der Ort ist ein Etappenziel auf dem Weg. Lebendes Denkmal Giorgio hat viele uralte Almpfade wiederentdeckt, sie von Gestrüpp und Schutt befreit, die GTA-Markierungen erneuert und das Wegenetz gar mit GPS vermessen. Außerdem führt er jedes Jahr Wandergruppen aus Deutschland in die wildromantische Alpenregion. Der sanfte Tourismus spült Geld in die Kassen und sichert die wenigen Arbeitsplätze. Die Gäste übernachten im Hotel Albergo Fontana und gönnen sich ein Etappenbier auf der Sonnenterrasse der Bar Monte Capio von Piera Rinoldi. Rinoldi hat viele ihrer Nachbarn in die Ebene ziehen sehen. Die rüstige alte Dame mit den grauen Locken und den buschigen Augenbrauen ist ein lebendes Denkmal für eine fast schon ausgestorbene Kultur. Sie bewahrt das Erbe der Walser, jenes Bergvolks, das im 13. Jahrhundert aus den Nordalpen in den Süden wanderte. Die einzelnen Gruppen lebten lange isoliert voneinander und entwickelten eigene Dialekte, wie zum Beispiel das Tüttschu von Rimella. Rinoldi weiß, dass auch die Initiative Pro Rimella den Verlust der Sprache nicht aufhalten kann, »doch sie haucht unserem Ort wieder ein bisschen Leben ein«. 31 Allianz Journal 3/2014 EU RO PA Seit Jahren beherbergt sie Giorgio in ihrem riesigen Haus, das früher einmal ein Hotel war. Mit einem Lächeln erzählt sie von seinen Ausbrüchen, wenn er mal wieder über die unfähige italienische Verwaltungsstruktur und die EU herzieht, die mit ihren Vorschriften und Verboten noch dem letzten Bergbauern die Lebensgrundlage entreißt. zu erhalten, haben die Bewohner Riaces Flüchtlinge aufgenommen und ihnen leerstehende Häuser zur Verfügung gestellt. Im Gegenzug übernehmen die Einwanderer Aufgaben im Alltag, erhalten Arbeit und helfen somit, einen Ort wieder aufzubauen, der schon fast ausgestorben war. Italienische Gelassenheit und teutonische Entschlossenheit sind in Rimella eine erstaunliche Liaison eingegangen. Die Sorge um die Zukunft eint alle Beteiligten. Zwar gibt es immer wieder Fördergelder für einzelne Ortschaften – San Gottardo, ein Ortsteil von Rimella, wurde vom Fondo per l’Ambiente Italiano, einer gemeinnützigen Stiftung für Umweltschutz und Denkmalpflege, zu einem der schönsten Dörfer Italiens gewählt. Der Auszeichnung folgten EU-Gelder für den Erhalt der alten Bausubstanz. Doch eine flächendeckende Subventionierung, die vor allem in den nördlichen Alpenländern Schweiz, Österreich und Deutschland die Menschen in den Bergregionen hält, gibt es im Piemont nicht. Nur rund 30 Kilometer Luftlinie trennen Rimella von dem Nobel-Dorf Saas Fee im Wallis. Der Unterschied könnte nicht größer sein. Und so helfen auf der Südseite der Alpen meist nur private Initiativen, um das Alte zu bewahren. Von der Außenwelt abgeschnitten Grimm San Felice in der Toskana hat ein ähnliches Schicksal hinter sich. Vor 30 Jahren lebte nur noch eine Handvoll Menschen in dem langsam verfallenden Weiler in der Nähe von Siena. Heute ist das Dorf ein Luxushotel, die mittelalterliche Struktur wurde erhalten. Hotel und Weinberge gehören inzwischen zur Allianz Gruppe. Die verbliebenen Bewohner arbeiten als Angestellte in ihrem alten Dorf. Rund 1000 Kilometer weiter südlich hat ein Fischerdorf an Kalabriens Küste eine noch ungewöhnlichere Geschichte hinter sich. Um ihr Zuhause am Leben Türkei spezial Die Türkei ist innerhalb eines Jahrzehnts vom Krisenland zur Wirtschaftsmacht aufgestiegen. Parallel aber hat sich eine tiefgreifende Spaltung der Gesellschaft vollzogen. Solmaz Altin, seit letztem Jahr Chef der Allianz Türkei, sieht das Land dennoch auf gutem Weg – und plant eine Revolution ganz eigener Art. Auch in Rimella sind Grenzen gefallen, Grenzen, die die Wildnis über Jahrhunderte in Zaum hielten. Einerseits zieht die vorrückende Wildnis immer mehr Touristen an. Andererseits verfallen Almen, Wege und Transportseilbahnen. Im Winter sind viele Dörfer von der Außenwelt abgeschnitten, weil keine Räumfahrzeuge fahren. Die Infrastruktur sei aber wesentlich für die Bewahrung »eines einmaligen Wissensschatzes, der in dieser Landschaft gespeichert ist«, sagt Franz Höchtl, Experte für Landespflege an der Alfred Toepfer Akademie in Niedersachsen. F RA N K ST ERN Vor neun Jahren hat Höchtl an einer Reihe von Fallstudien im Piemont mitgewirkt. Ihre Ergebnisse haben die Forscher in dem Buch »Kulturlandschaft oder Wildnis in den Alpen?« zusammengefasst. Wie Giorgio mahnt auch Höchtl, die über Jahrhunderte erworbenen Fähigkeiten der Menschen im Zusammenleben mit der Natur nicht einfach aufzugeben. Wer kann heute noch eine Mauer ohne Mörtel bauen, Wege und Terrassen in steilem Gelände anlegen, Käse, Butter und andere Nahrungsmittel herstellen? Am wichtigsten aber sind für die Wissenschaftler die Kenntnisse der nachhaltigen Landwirtschaft. Mischkulturen von Gemüse, Weinreben, Obstbäumen und Blumen schützten vor einem Auslaugen der Böden und vor Erosion. Die Bergbauern früherer Zeiten waren Vorreiter der ökologischen Nutzung der Natur. »Wäre es vor diesem Hintergrund nicht interessant, sich auf traditionelle Kulturtechniken zu besinnen, so lange das Wissen darüber noch lebendig ist?« fragen Höchtl und seine Kollegen in ihrem Buch. »Oder hat ihre Kenntnis im Zeitalter von Biotechnologie und Gentechnik ausgedient?« Die Antwort darauf hat nichts mit Romantisierung der Vergangenheit zu tun, sondern vielmehr mit einer der wichtigsten Herausforderungen unserer Zeit: der Entwicklung nachhaltiger Lebensweisen. Auch dafür steht die Initiative Pro Rimella. W W W. K L I N G E N F U S S .O RG/D R I M E L L A . H T M Revolution im Krankenhaus Shutterstock | Stern Allzu viel Überzeugungsarbeit war nicht nötig, um Solmaz Altin den Chefposten der Allianz in der Türkei schmackhaft zu machen. »Passiert ja nicht alle Tage, dass man an die Spitze eines Marktführers berufen wird«, sagt der gebürtige Krefelder, der 2009 als Chefrisikomanager bei der Allianz in Istanbul anfing. »Der Markt hier wächst jedes Jahr zweistellig, wir haben eine junge, motivierte Mannschaft, und obwohl wir mit der Integration der Le- bens- und Sachversicherung von Yapi Kredi im Moment alle Hände voll zu tun haben, herrscht im Unternehmen eine sehr positive Stimmung.« Ein Grund dürfte sein, dass mit der Übernahme des Konkurrenten kein größerer Arbeitsplatzabbau einherging, wie es bei Fusionen sonst oft der Fall ist. »Wir haben das Glück, dass wir uns in einem Wachstumsmarkt bewe- W W W. B O RG O S A N F E L I C E . I T/I N D E X _ D E U. H T M L 32 33 Allianz Journal 3/2014 alle Fotos: Stern T Ü RK E I S P EZI A L Der große Basar in Istanbul schäft, in Mitleidenschaft gezogen«, erläutert Solmaz Altin. Für die zweite Hälfte des Jahres aber rechnet der Allianz Chef mit einer Erholung: »Der Konsum zieht wieder spürbar an.« Bis Ende des Jahres will er die Zahl der Allianz Kunden auf 6,5 Millionen steigern – eine halbe Million mehr als im Januar. »Die Gesellschaft der Türkei hat ein sehr europanahes Verständnis von Demokratie«, sagt Solmaz Altin. »Und das wird sie auch verteidigen« gen«, sagt Altin. Das Agenturnetzwerk von Yapi Kredi sei da eine willkommene Verstärkung, zumal die geringe Versicherungsdurchdringung in der Türkei noch reichlich Spielraum nach oben lasse. Laut Swiss Re machen die Versicherungsbeiträge derzeit lediglich 1,5 Prozent am Bruttoinlandsprodukt aus. Der europäische Durchschnitt liegt bei 6,8 Prozent. Vor allem im Lebens- und Krankenversicherungsgeschäft besteht Nachholbedarf: Da fällt die Diskrepanz mit 0,2 Prozent gegenüber dem europäischen Durchschnitt von 4,0 Prozent besonders deutlich aus. Allerdings hat sich die Konjunktur in der Türkei in der ersten Jahreshälfte deutlich abgekühlt. Nach Einschätzung von Kreditversicherer Euler Hermes waren dafür vor allem die schwache Währung und die steigende Inflation verantwortlich, die sich negativ auf die Binnennachfrage auswirkten. »Das hat natürlich auch die Versicherungswirtschaft, vor allem das Privatkundenge- Für die Zukunft rechnet der Sohn türkischer Eltern vor allem bei der Krankenversicherung mit einem deutlichen Schub. Schon jetzt ist die Allianz Türkei mit knapp 40 Prozent bei der privaten Absicherung von Krankheitsrisiken Marktführer. Die macht allerdings gerade mal fünf Prozent am gesamten Krankenversicherungsgeschäft aus, der Löwenanteil liegt weiterhin in staatlicher Hand. »Das öffentliche Gesundheitswesen ist sehr gut ausgebaut«, erläutert Altin. Doch werde es durch Subventionen und Preisdeckelung für Medikamente künstlich am Leben erhalten. »Der Regierung ist bewusst, dass das nicht mehr sehr lange so weiter gehen kann«, sagt der 40-Jährige. Er gehe davon aus, das der Anteil des privaten Sektors in den nächsten Jahren spürbar steigen werde. Und dafür will Altin die Allianz in Position bringen. »Was wir vorhaben, ist eine Revolution«, sagt er. »Wir werden Wandel am Mittelmeer Işik Üngör (Mitte) betreibt mit ihren Mitarbeitern eine der erfolgreichsten Allianz Agenturen in der Türkei Bei seinem Expansionskurs setzt Allianz Türkei-Chef Solmaz Altin auf Agenturen wie die von Işik Üngör in der Millionenmetropole Antalya. Mit ihrem fünfköpfigen Team gehört sie zu den erfolgreichsten unter den landesweit rund 4000 Vertretern der Allianz in der Türkei. Ihre Spezialität ist die Tourismusbranche, einige der größten Reiseagenturen des Landes zählen zu ihren Kunden. Mit der Übernahme des Agenturnetzes von Yapi Kredi sind zu den 100 Allianz Agenturen rund um Antalya noch 15 weitere hinzugekommen. Işik Üngör kam vor 26 Jahren vom Schwarzen Meer an die Mittelmeerküste. Bereits damals gab es deutliche Unterschiede zwischen Nord und Süd. »Die Schwarzmeerregion war schon immer konservativer als der Süden«, erzählt sie. Heute finde man in ihrer Heimat kaum noch ein Restaurant, das Alkohol anbiete, berichtet sie. Inzwischen aber sei auch entlang des Mittelmeers ein Wandel spürbar. »Früher haben die Leute mehr Alkohol getrunken, und man sah auch weniger Frauen mit Kopftuch«, so Üngör. 34 Die blaue Moschee den privaten Krankenversicherungsbereich in der Türkei völlig umkrempeln.« Dreh- und Angelpunkt der Revolution ist das Smartphone, über das dem Patienten künftig sämtliche Informationen rund um Krankenhäuser, Ärzte, Untersuchungen, Therapien, Apotheken und Medikamente zur Verfügung gestellt werden sollen. »Viele der Informationen sind schon lange in unseren Datenbanken vorhanden«, sagt Altin. »Das Problem war bisher immer, sie sinnvoll zu verknüpfen und zu einer einheitlichen Kundenreise zusammenzuführen.« Künftig erhält der Patient über eine mobile Allianz App Empfehlungen zu Krankenhäusern und Ärzten, wird bei Ankunft im Hospital ohne die heute üblichen Wartezeiten automatisch angemeldet, geht direkt zum Arzt und bekommt anschließend per Google-Map die nächst gelegene Apotheke angezeigt. Zudem hält das System für weiterführende Untersuchungen Empfehlungen zu Spezialisten bereit, die bei gleicher Qualität preiswertere Dienstleistungen bieten. Statt die Röntgenaufnahme im Krankenhaus machen zu lassen, schlägt die App dann vielleicht einen Radiologen ganz in der Nähe vor, verbunden mit einem Rabatt auf die künftige Versicherungsprämie. »Der Patient spart und wir sparen auch«, so Altin. »Die ganze Kundenreise entwickelt sich zu einem ganz neuen Erlebnis.« Dass die politischen Turbulenzen der vergangenen Monate den Aufstieg der Türkei und auch die Zukunftspläne der Allianz gefährden könnten, befürchtet Altin eher nicht. »Ich bin Optimist«, sagt er. Jeder Regierung sei klar, dass sich eine für die Wirtschaft schädliche Entwicklung bei den nächsten Wahlen rächen würde. Islamisierungstendenzen in Teilen der Gesellschaft stellt 35 Stern T Ü RK E I S P EZI A L Altin nicht in Abrede, doch ist er sicher, dass die demokratische Entwicklung des Landes dadurch nicht aufgehalten wird. »Gerade die Proteste um den Gezi-Park im letzten Jahr haben gezeigt, dass nicht jede Entscheidung der Regierung widerspruchslos hingenommen wird«, sagt der Volkswirtschaftler. »Die Gesellschaft der Türkei hat ein sehr lebendiges und europanahes Verständnis von Demokratie, und das wird sie auch verteidigen.« W W W. A L L I A N Z S I G O R TA .C O M .T R Fotos oben: Stern W W W. A L L I A N Z E M E K L I L I K .C O M .T R Die Kinder von Soma Am 13. Mai starben bei einem Brand in einer Braunkohlemine in Soma in der Westtürkei 301 Bergleute. Es war das schwerste Grubenunglück in der Geschichte des Landes. Neben der Auszahlung von Lebensversicherungen an die betroffenen Familien stellte die Allianz 500 000 Türkische Lira (175 000 Euro) für den Aufbau eines psychologischen Beratungszentrums in Soma zur Verfügung. 200 Psychologen stehen den Familien, insbesondere den Kindern, ein Jahr lang bei der Bewältigung des Traumas zur Seite. Die Allianz arbeitet bei dem Projekt eng mit dem Türkischen Psychologenverband, der Psychiatrischen Vereinigung, dem Roten Halbmond und verschiedenen Hilfsorganisationen zusammen. Auch an der Darüşşafaka-Schule in Istanbul engagieren sich Mitarbeiter der Allianz Türkei für Voll- und Halbwaisen. Einer der Helfer ist Oğüz Sağizli. »Wir können nicht alle Kinder dieser Welt retten, aber wir können wenigstens versuchen, einigen eine Zukunft zu geben«, lautet sein Motto. Seit vier Jahren organisiert er regelmäßig Wochenendaktivitäten für Kinder des Internats – vom Pizzabacken bis zum Ausstellungsbesuch, von Kino bis Yoga. »Das ist für uns eine große Hilfe«, sagt Schulleiterin Ayşe Görey. »Es ist nicht ganz einfach, sich für die verschiedenen Altersgruppen jede Woche etwas Neues einfallen zu lassen.« Darüşşafaka ist eine unabhängige Bildungseinrichtung. 1863 gegründet, sollte sie anfangs dafür sorgen, Kindern aus mittellosen Familien, die ihre Väter im Krieg verloren hatten, größere Bildungschancen einzuräumen. Heute bewerben sich jedes Jahr über 2000 Mädchen und Jungen aus dem ganzen Land um Aufnahme, die 120 besten werden schließlich nach einem anspruchsvollen Auswahlverfahren aufgenommen. Gegenwärtig lernen 945 Schüler im Alter zwischen 11 und 18 Jahren – 44 Prozent davon Mädchen – an der Internatsschule, darunter auch Kinder, die bei dem schweren Bergwerksunglück in Soma ihren Vater verloren haben. Finanziert wird die Einrichtung durch Spenden. Zu den Geldgebern zählen unter anderem die Iş Bank, Siemens, Microsoft, HSBC und JPMorgan Chase. Allianz Ayşe Görey W W W. DA R U S S A FA K A .O RG »Wir können wenigstens versuchen, einigen Kindern eine Zukunft zu geben«, sagt Oğüz Sağizli (hintere Reihe, 2.v.r.) 36 Freunde zweiter Klasse Hakan Çelik Die Türkei ist seit 1952 Mitglied der NATO, doch so richtig trauen die Europäer dem Partner nicht über den Weg. Während Länder wie Bulgarien und Rumänien längst Mitglieder der Europäischen Union sind, blieb den Türken der Weg nach Brüssel bislang versperrt. Wir sprachen mit dem türkischen Fernsehjournalisten Hakan Çelik über Demütigungen, Kulturkampf und Islamismus. IN T ERVIEW: F RA N K ST ERN Herr Çelik, in Europa gewinnt man zunehmend den Eindruck, dass Präsident Erdogan die Türkei in einen islamistischen Staat verwandeln will. Welche Strategie verfolgt er? Ich glaube nicht, dass er eine verdeckte Agenda hat. Er ist gläubig, er geht in die Moschee, ja. In Deutschland gehen Politiker auch in die Kirche. Es gibt in der Türkei Platz für alle möglichen Lebensstile. Aber Europa hat fest gefügte Vorurteile. Wenn ich in deutschen Zeitungen Berichte über die Türkei sehe, sind sie meist mit Fotos von verschleierten Frauen und Moscheen bebildert. Das ist kein Journalismus, das verzerrt das Bild. Wir stellen keine Bedrohung für die europäische Zivilisation dar. Türken sind talentiert, gut ausgebildet, offen. Man sollte Länder, Menschen und Kulturen nicht aufgrund von Vorurteilen bewerten. Auch bei vielen Ihrer Landsleute wächst die Sorge über die Vermischung von Politik und Religion. Der Islam ist nach dem Christentum die zweitgrößte Religion in der Welt. Das ist ein Fakt. Ich will gar nicht verkennen, dass mit dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Wertesysteme Probleme verbunden sind. Wir müssen Wege zur Verständigung und zur Zusammenarbeit finden, und da kommt der Türkei eine wichtige Vermittlerfunktion zu. Ich denke, der Westen sollte sein Bild von der Türkei korrigieren. Das Land verändert sich unglaublich schnell. Die Frage ist, in welche Richtung. 1998 sagte Erdogan in einer Rede: »Die Demokratie ist nur der Zug, der uns ans Ziel bringt. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.« Er wurde dafür wegen Volksverhetzung ins Gefängnis geschickt. Kein verdeckter Fahrplan? Bei Ihnen fällt so etwas unter Redefreiheit. Die schützt Sie, selbst wenn Sie fordern würden, dass man Deutschland wieder teilen und den Kommunismus einführen sollte. Es ist etwas anderes, ob das jemand am Stammtisch sagt, oder ein Politiker das als Programm verkündet. Ich stimme Ihnen zu. An Politiker muss man andere Maßstäbe anlegen. Aber das sollte nicht nur für türkische Politiker gelten. Nach dem Angriff auf das World Trade Center 2001 sprach George Bush von einem Kreuzzug, den er führen wolle – und das war nicht nur eine verunglückte Wortwahl. Es wurde die Basis seiner Außenpolitik. Aber was haben die Amerikaner mit ihrem Krieg gegen den Terror erreicht? Schauen Sie sich den Graben zwischen westlichen und östlichen Gesellschaften heute an. Tony Blair und George Bush haben ihre Parlamente belogen. Sie unterstellten dem Irak das Horten von Massenvernichtungswaffen. Die hat es nie gegeben, doch dienten sie als Begründung für den Irakkrieg, der zahllose Opfer gefordert hat. Ich glaube, das wiegt etwas schwerer als Erdogans Rede von Demokratie und Minaretten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wirft der Türkei vor, die Pressefreiheit massiv einzuschränken und ein Klima der Selbstzensur zu schaffen. Wie gehen Sie mit den Behinderungen um? Natürlich kritisieren wir ein solches Vorgehen. Wir können es nicht hinnehmen, wenn Regierung oder Parteien versuchen, Meinungs- und Pressefreiheit zu schneiden 37 Allianz Journal 3/2014 T Ü RK E I S P EZI A L Um den drohenden Verkehrskollaps in Istanbul zu verhindern, hat die türkische Regierung den Bau einer dritten Brücke über den Bosporus in Auftrag gegeben. Die Allianz ist als Versicherer dabei. Die Organisation Reporter ohne Grenzen bezeichnet die Türkei als eines der größten Journalistengefängnisse der Welt. Haben Sie Kollegen, die derzeit in Haft sind? Einige hatten in der Vergangenheit Probleme mit der Justiz. Das wirft kein gutes Licht auf unser Land. Die Türkei ist eine der größten Volkswirtschaften, wir stehen in der Welt an 17. Stelle, sind Mitglied im Club der G20. Und Erdogan will die Türkei bis zum Jahr 2023 auf Rang 10 voranbringen. Dafür hat er meine volle Unterstützung. Doch wir müssen auch die Rechte der Arbeiter stärken, die Gewerkschaften, die demokratischen Werte. Wir sind schließlich kein Dritte-Welt-Land. Die Türkei bemüht sich seit Jahren um Aufnahme in die EU. Doch während Länder wie Bulgarien und Rumänien längst Mitglied sind, steht die Türkei immer noch vor der Tür. Fühlen sich die Türken gedemütigt? Absolut. Die Türkei hat sich schon vor 55 Jahren um Aufnahme in die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft beworben. Und wir sind immer noch draußen. Wenn türkische Bürger in die EU einreisen wollen, müssen sie weiterhin in einem langwierigen Prozess Visa beantragen. Diese Behandlung ist völlig inakzeptabel. Ist Erdogan überhaupt noch an einem Beitritt interessiert? Ich denke schon. Allerdings haben die Türken langsam die Nase voll. Zumal wir in den letzten 20 Jahren unsere Hausaufgaben gemacht haben. Die türkische Wirtschaft entwickelt sich dynamisch – anders als die mancher EU-Mitglieder. Wir sind auf dem richtigen Weg. Doch zu einer Heirat gehören immer zwei. Man fragt sich manchmal schon, was Berlin, Paris, London und Brüssel eigent- 38 lich wollen. Wollen sie einen alten, isolierten Kontinent, der von seinen früheren Glanzzeiten zehrt? Wollen sie nur große, blonde Europäer in ihrer Mitte? Europa hat zahllose Facetten. Bulgarien und Schweden. Finnland und Portugal. Hamburg und das Mezzogiorno. Und da passt die Türkei nicht rein? Wir könnten eine Menge positive Impulse geben. Wir sind ein dynamisches Land mit pragmatischen Menschen. Natürlich können wir noch einiges lernen. Aber da sind wir sicher nicht die einzigen. Ist es nicht verständlich, dass die EU ihre Außengrenzen nicht an Länder wir Syrien oder den Irak heranrücken möchte? Vielleicht würde aber gerade das helfen, der Region Wohlstand und Stabilität zu bringen. Schon jetzt sind im Kurdengebiet im Nordirak Hunderte französische, deutsche und türkische Firmen tätig. Europa würde von der Erweiterung eher profitieren. Im Moment destabilisiert der Bürgerkrieg in Syrien und Irak die Lage auch in der Türkei. Das ist leider richtig. Die Türkei hat bislang mehr als 1,6 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen. Es gab wegen der angespannten Lage in einigen Städten bereits Zusammenstöße. Ich bin sicher, dass die Hälfte dieser Menschen in der Türkei bleiben wird. Das ist ein ziemlicher Alptraum. Kein Land verkraftet so einen Ansturm. Fühlt sich die Türkei mit dem Flüchtlingsproblem von der EU allein gelassen? Natürlich. Von der EU, den Vereinigten Staaten, von der UNO. Schauen Sie sich an, wie viele Flüchtlinge die Türkei aufgenommen hat und wie viele die EU. Jeden Tag strömen Tausende hilfesuchende Menschen über unsere Grenzen, und keiner hilft. Wir sind nicht reich genug, um all diese Menschen zu versorgen. Irgendwie werden sie einen Weg nach Europa finden – über Bulgarien und Rumänien, über Griechenland oder Italien. Und dann stehen sie an der österreichischen und deutschen Grenze. Bereitet Euch schon mal drauf vor. F RA N K ST ERN ICA oder das Internet zu blockieren. Die Türkei sollte diesen Weg nicht einschlagen. Letztes Jahr reihten Analysten die Türkei unter die »Fragilen Fünf« ein, zusammen mit Brasilien, Indien, Indonesien und Südafrika. Wie stark ist die türkische Wirtschaft wirklich? Erdogans Erfolg und der seiner Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) basiert auf der Leistungskraft der Wirtschaft. Natürlich gibt es Schwächen, aber die Türkei verfügt über enormes Potenzial, das sich nicht zuletzt aus seiner geostrategischen Lage erklärt. Die Infrastruktur ist gut, die Telekommunikation ausgebaut, und es gibt ein modernes Bankensystem. Ich bin, was die Entwicklung der türkischen Wirtschaft angeht, sehr optimistisch. Sollte Präsident Erdogan die Demokratie jedoch tatsächlich nur als Vehikel betrachten, würden Investoren wohl bald einen Bogen um die Türkei machen. Erdogan ist Moslem, aber er ist auch Pragmatiker. Die Wähler stimmen nicht etwa deshalb für die Regierungspartei, weil sie ein islamistisches Programm verfolgt. Kein Mensch interessiert sich für so was. Die Leute wollen ihren Lebensstandard verbessern, ein besseres Auto, ein schöneres Haus. Und sie glauben, nur die AKP kann ihnen das verschaffen. Ganz einfach. Ja, die Türkei ist ein islamisch geprägtes Land. Aber die Türkei ist nicht Iran oder Syrien oder der Libanon. Bei uns leben die verschiedenen Glaubensrichtungen friedlich miteinander – Sunniten, Schiiten, Aleviten. Wir schlagen uns nicht die Schädel ein. Ginge es mit der Wirtschaft abwärts, wäre die AKP nach einem Jahr Geschichte. Weltrekord am Bosporus Build Operate Transfer Istanbul ist ein Labyrinth. Die Stadt, durchzogen von kleinen Straßen und Gassen, ist ein pittoresker Ort voller Geschichten und Geschichte, doch für Autofahrer ein Alptraum. Auf dem Stau-Index von Navigationsgerätehersteller Tom-Tom rangiert die 15-Millionenmetropole unter Europas Großstädten auf Rang 2. Nur in Moskau brauchen Autofahrer bessere Nerven. Entspannung an der Verkehrsfront erhoffen sich Istanbuls Stadtväter von der dritten Bosporusbrücke, für die im Mai letzten Jahres der Startschuss gefallen ist. Die Leitung für die Nord-Marmara-Autobahn, inklusive der dritten Bosporusbrücke, hat das Transportministerium in Ankara an das türkische Unternehmen IC Içtaş und an Astaldi aus Italien vergeben. Die Finanzierung sichert ein Konsortium aus sieben Banken, darunter Allianz Partner Yapi Kredi. Nach Fertigstellung betreiben IC Içtaş und Astaldi die Mautautobahn und die Brücke noch acht Jahre, danach wird beides an den Staat übergeben. Über dieses so genannte BuildOperate-Transfer-Modell (BOT) finanziert die Türkei mit Hilfe privater Unternehmen den Bau einer ganzen Reihe von Projekten, mit denen sie ihr Autobahnnetz bis 2023 von aktuell 2250 Kilometern auf 7500 Kilometer mehr als verdreifachen will. Mit 59 Metern wird die Sultan-Selim-Brücke die breiteste Hängebrücke der Welt. Mit ihrer zweispurigen Eisenbahntrasse, auf jeder Seite von je vier Fahrbahnen W W W. 3KO PRU.C O M/E N G 39 Allianz Journal 3/2014 Australien Die richtige Balance bei AGCS. Doch allzu nervös macht ihn das offenbar nicht, schließlich soll die dritte Bosporusbrücke Beben bis zur Stärke 9 standhalten. Das hat es in Istanbul seit Menschengedenken nicht gegeben. Stern Öztürk Taşdelen flankiert, soll sie den Bosporus nahe der Mündung ins Schwarze Meer auf einer Länge von knapp zwei Kilometern überspannen. Damit nimmt die Kombibrücke unter den längsten Eisenbahnbrücken der Welt den Spitzenplatz ein. Auch die A-förmigen Stützpfeiler sind mit 320 Metern Höhe in der Welt bislang unerreicht. Die Rekord-Brücke ist Teil der geplanten Nord-MarmaraAutobahn, die ab Mai 2016 insbesondere den Schwerlastverkehr im Norden um Istanbul herumleiten soll. Derzeit müssen Laster während des Berufsverkehrs vor der Stadt haltmachen. An dem von Munich Re geführten Versicherungsprogramm für das 2,5 Milliarden US-Dollar teure Marmara-Projekt, zu dem 19 Autobahnkreuze, 67 Brücken und sieben Tunnel gehören, ist auch die Allianz beteiligt. Führender Versicherer ist Munich Re. Die Überführung über die Meerenge ist für erfahrene Bauingenieure eigentlich kein technisches Neuland. »Es ist nicht das erste Mal, dass Fahrbahnen und Schienentrassen auf einer Brücke nebeneinander liegen, auch wenn die Spannweite zwischen den Stützpfeilern mit über 1400 Metern für diese Art von Brücke ein neuer Rekord ist«, sagt Olivier Daussin, der bei Allianz Global Corporate & Specialty (AGCS) für das weltweite Bauleistungsgeschäft zuständig ist. »Aber keine Brücke ist wie die andere. Man muss immer auf Überraschungen gefasst sein.« Auf Erdbeben zum Beispiel. Die Türkei ist Hochrisikozone, seit den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts bewegen sich die Starkbeben entlang der Nordanatolischen Verwerfung von Osten her auf Istanbul zu. 1999 erschütterten heftige Erdstöße der Stärke 7,6 bereits die Region um Izmit, 80 Kilometer weiter östlich. Über 17 000 Menschen kamen damals ums Leben. »Wer in der Türkei ein Projekt versichert, hat immer mit Erdbebenrisiken zu tun«, sagt Joachim Eichhorn, einer der erfahrensten Underwriter 40 Ingenieure von Allianz Risk Consultants (ARC) hatten die technischen Details der Brücke, die von Hyundai Engineering errichtet wird, genau unter die Lupe genommen, bevor sich AGCS an die Sache heranwagte. »Das heißt nicht, dass nun alle Gefahren gebannt wären«, betont Eichhorn. »Aber sie sind für uns kalkulierbar.« Zusammen mit Experten von Munich Re machen sich ARC-Ingenieure regelmäßig auf der Baustelle ein Bild vom Fortschritt der Arbeiten – und von der Einhaltung der Sicherheitsauflagen. »Bisher läuft alles ohne größere Störungen, Schadenmeldungen gab es noch keine«, sagt Eichhorn und klopft auf Holz. »Allerdings ist auch erst knapp die Hälfte der Bauphase vorbei«, bremst Olivier Daussin. Nach derzeitigen Schätzungen werden die neue Brücke nach Fertigstellung pro Tag 135 000 Fahrzeuge passieren. Auto- und Schienenverkehr sollen auch zum neuen Istanbuler Flughafen führen, der gerade 50 Kilometer nordwestlich vom Stadtzentrum entsteht und zum größten der Welt werden soll. Weil das als Entlastung womöglich nicht reicht, treibt ein türkisch-koreanisches Baukonsortium bereits seit 2011 einen zweistöckigen Autobahntunnel unter dem Bosporus voran, der 2017 eröffnet werden soll. Yapi Kredi Sigorta gehörte bei Projektstart zum Kreis der Versicherer. Mit der Übernahme im vergangenen Jahr ist die Allianz Türkei, größter Industrieversicherer des Landes, an ihre Stelle getreten. »Der Tunnel unter der Wasserstraße wird gut fünf Kilometer lang sein«, erklärt Öztürk Taşdelen von der Allianz Türkei. »Das wird den Verkehr auf Istanbuls Straßen entlasten und die Fahrtzeit zwischen der asiatischen und der europäischen Seite erheblich verkürzen.« Und die Türken haben noch weiter reichende Pläne: Bis 2023, dem 100. Gründungsjahr der Republik, wollen sie an die zehnte Stelle unter den Volkswirtschaften der Welt vorrücken. Der Ausbau des Straßennetzes ist dafür eine wichtige Voraussetzung. Aktuell steht das Land auf Rang 17. IN T ERVIEW: BEN W H I TF I E L D privat Vor gut einem Jahr stellte die Allianz Australien das erste Call Center-Team zusammen, das ausschließlich von zu Hause arbeitet. Von anfänglich zehn Frauen ist es mittlerweile auf 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angewachsen. Delia Schiller ist von Beginn an dabei. Im Gespräch erzählt die Mutter dreier Kinder über ihren Weg zurück in den Beruf und welche Flexibilität Telearbeit bietet. Frau Schiller, was hat Sie an dem Job bei der Allianz Australia besonders interessiert? Es ist für mich und viele andere mit Familie immer schwierig gewesen, eine Arbeit zu finden, die genügend Flexibilität bietet. Lange habe ich vergeblich nach einem Job gesucht, der die richtige Balance zwischen Familie und Beruf ermöglicht. Bis ich eines Tages im Internet auf die Stellenanzeige für meine heutige Position stieß. Ich habe sie ein paar Mal gelesen, weil ich erst dachte, da muss irgendwo ein Haken dran sein. Aber dann habe ich gemerkt, dass die Allianz da genau den Job anbot, von dem ich immer geträumt hatte. Was war so besonders an Ihrem neuen Arbeitsplatz? Alles passte perfekt zusammen. Das Ausbildungsprogramm, das ich daheim absolvieren konnte, war das umfassendste, das ich je mitgemacht habe. Das war überraschend, denn diese Arbeitsplätze waren die ersten ihrer Art bei der Allianz. Ich wusste also nicht, was mich genau erwartet. Aber ich hätte es nicht besser treffen können, sowohl mit dem Ausbildungsprogramm als auch mit dem Job. Ich fand es großartig, dass Frauen von der Allianz die Möglichkeit geboten wurde, in den Beruf zurückzukehren. Die Flexibilität, die diese Stelle bietet, ist in der Arbeitswelt sehr selten. Mir war klar, dass so eine Möglichkeit vielleicht nie wieder kommt. Sie haben drei Kinder und sind vor einem Jahr in den Beruf zurückgekehrt. Wie hat Ihnen das flexible Arbeitsumfeld dabei geholfen? Früher war es immer schwierig für mich, den Ausgleich zwischen Beruf und Familie hinzukriegen. Die meisten meiner vorherigen Arbeitgeber sahen Mutterschaft eher als negativ an. Bei der Allianz war das anders. Ich will etwas im Beruf erreichen, auch mit Familie. Jetzt kann ich nicht nur Mutter und Ehefrau sein, sondern habe Karriereoptionen. Durch die »Heimarbeit« entfällt nicht nur der Weg zur Arbeit, der für mich 100 Kilometer zum nächsten Allianz Büro betragen würde. Ich kann mich auch um meine Kinder kümmern. Meine Arbeitszeiten bieten mir das Beste beider Welten. Ich muss mir keine Sorgen darüber machen, wo ich meine Kinder in den Schulferien unterbringe, wieviel ich für die Betreuung zahlen muss, oder ob ich rechtzeitig zur Schule komme, um sie abzuholen. Ohne diesen Job bekäme ich beides nicht unter einen Hut. Ich bin der lebende Beweis, dass Telearbeit ein Erfolg ist, mit der sich die Arbeitswelt flexibler gestalten lässt. W W W. A L L I A N Z .C O M . AU 41 Shutterstock Allianz Journal 3/2014 Amerika Vor 100 Jahren wurde der Panamakanal eröffnet. Sein Bau ist eine Geschichte von Zwischenfällen und Intrigen, von Triumph und Tragödie. Jetzt wird er ausgebaut. J A M ES T UL L O CH Die teuerste Abkürzung der Welt Am 15. August 1914, nach 34 Jahren Bauzeit, in denen sich Tausende Arbeiter durch 80 Kilometer regendurchtränkten, krankmachenden Dschungels gesprengt und gegraben hatten, wurde der Panamakanal eröffnet. Es war nicht nur eine der gewaltigsten Ingenieurleistungen, die die Welt je gesehen hatte. Der Kanal wurde auch zum Geburtshelfer einer neuen Nation und kündete den Aufstieg der USA als kommende Weltmacht an. Die Eröffnung selbst war überraschend unspektakulär. Keine hochgestellten Persönlichkeiten, keine Bootsflottille und keine fahnenschwingenden Zuschauer begrüßten die S.S. Ancon, die mit einer Ladung Zement als erstes Schiff das silberne Band zwischen Atlantik und Pazifik befuhr. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs warf bereits seine Schatten voraus. Wenn man in Betracht zieht, dass mit dem Kanal ein 400 Jahre alter Traum in Erfüllung ging, den schon die spanischen Konquistadoren geträumt hatten, kommt man nicht umhin festzustellen, dass die Arbeiter, nicht zuletzt die Tausende, die bei dem Bau ihr Leben ließen, etwas Besseres verdient gehabt hätten. Sie hatten die Landschaft völlig umgestaltet und dabei zahllose Rekorde aufgestellt. Die Ancon fuhr durch die größten Schleusenkammern der Welt in den größten künstlichen See der Welt, der 42 vom damals größten Damm der Welt aufgestaut wurde. Anschließend dampfte sie durch den Culebra Cut, einen schmalen Durchbruch, der durch die bewaldeten Berge gesprengt worden war, um schließlich durch eine Reihe von Schleusen zum Pazifik herabgesenkt zu werden. »Abgesehen von Kriegen stellte dies das kostspieligste Projekt dar, das es bis dahin auf der Erde gegeben hatte«, schreibt David McCullough in dem Buch »The Path Between the Seas« (Der Pfad zwischen den Meeren). Und das im vorgegebenen Zeitrahmen und für weniger Geld als veranschlagt. In der Klemme Für die aktuelle Erweiterung des Kanals, die laut Planung im nächsten Jahr abgeschlossen sein sollte, sind 5,2 Milliarden US-Dollar veranschlagt. Allerdings hat ein Streik für einen Baustopp von mehreren Wochen gesorgt, so dass sich nach Berechnungen von Euler Hermes die Übergabe um ein Jahr verzögern könnte. Jedes Jahr passieren mehr als 12 000 Schiffe den Kanal, was etwa drei Prozent (270 Milliarden US-Dollar) des weltweiten Seehandels entspricht. Das bringt dem Land 1,8 Milliarden Dollar allein an Durchfahrtsgebühren, berichtet Allianz Global Corporate & Specialty (AGCS) in seinem Report »Panama Canal 100: Shipping Safety and 43 Reuters AM ERI KA Miraflores Schleusen Die Erweiterung des Panamakanals Miraflores See Pazifik Pedro Miguel Schleusen Panama Gatun See 2015 sollen die neuen Schleusen übergeben werden und pro Tag die Durchfahrt von zusätzlich zwölf bis 14 größeren Schiffen erlauben Sicherheitsstatistik Seit 2002 ereigneten sich 38 Schiffsunfälle, einer pro 4000 Durchfahrten Gatun Schleusen Atlantik 1914 offizielle Eröffnung am 15. August. Die SS Ancon durchfährt als erstes Schiff den Kanal Rund drei Prozent des weltweiten Seehandels im Wert von insgesamt neun Billionen Dollar werden jedes Jahr über den Panamakanal abgewickelt Pro Jahr werden über 12 000 Durchfahrten registriert, die Fracht beträgt rund 320 Millionen Tonnen, die Zollgebühren belaufen sich auf 1,8 Milliarden Dollar Erdrutschen kommt, ist eine Sisyphusaufgabe. So wie der König aus der griechischen Mythologie schienen die Arbeiter dazu für alle Ewigkeit dazu verdammt, Fels und Schlamm bergauf zu wälzen, nur um sie wieder herabrutschen zu sehen. Der Kanal ist rund 80 Kilometer lang, die Durchfahrtszeit bewegt sich zwischen acht und zehn Stunden Quelle: Allianz Global Corporate & Specialty Future Risks« (Panamakanal 100: Schifffahrtssicherheit und zukünftige Risiken). Der Kanal befindet sich seit langem in der Klemme – und das im Wortsinn. Seeleute reißen schon Witze darüber, dass sie die Flanken ihrer immer größer werdenden Schiffe einfetten müssen, damit sie noch durch die engen Schleusen kommen. Bereits jetzt ist der Kanal für ungefähr die Hälfte aller Handelsschiffe unpassierbar. Deshalb baut die Panama Canal Authority (PCA) derzeit eine Reihe größerer Schleusen, die in der Lage sind, Schiffe aufzunehmen, die dreimal so groß sind wie die Panamax-Schiffe, die den Kanal noch durchfahren können. Ein Containerschiff der neuen Panamax-Klasse hat die Länge von vier Fußballfeldern. Mit den größeren Schleusen können pro Tag zwölf bis 14 große Schiffe zusätzlich abgefertigt werden – eine Verdopplung der gegenwärtigen Kapazität. Nach Schätzung von AGCS ließe sich der Wert der versicherten Seefracht dadurch um eine Milliarde Dollar pro Tag steigern. Doch der erhöhte Verkehr und die größeren Schiffe brächten auch mehr Risiken mit sich, warnt AGCS in ihrer Studie. Die Sicherheitsstatistik des Kanals, die für die letzten zehn Jahre 27 Unfälle ausweist, könnte sich verschlechtern. Auf der anderen Seite bedeuten größere Schiffe geringere Frachtkosten. Umwege über Seehäfen an der Pazifikküste, über Straße und Schiene würden vermieden. Häfen an der Ostküste und in der Golfregion 44 Mit dem Ausbau des Panamakanals wird sich die Kapazität der Wasserstraße verdoppeln haben schon damit begonnen, größere Containerkräne aufzustellen. Dadurch, dass der direkte Wasserweg zwischen Asien und der US-Ostküste oftmaliges Umladen auf Züge und Lkw vermeiden hilft, ließen sich manche Transportrisiken minimieren, heißt es bei AGCS. Sie kamen voran, doch quälend langsam und mit einer bestürzend hohen Todesrate, vor allem verursacht durch Gelbfieber und Malaria. Zu jener Zeit dachte niemand, dass ein Insektenbiss Krankheiten auslösen konnte. Die Mannschaften waren dem völlig schutzlos ausgeliefert. 1889 ging Lesseps’ Unternehmen schließlich bankrott und er kehrte in Schimpf und Schande zurück nach Frankreich. Kanonenbootdiplomatie Vom Helden zum Bösewicht Von dem Traum, einen Kanal zwischen Nord- und Südamerika hindurch zu bauen, war auch der Mann beseelt, der den Suezkanal verwirklicht hatte. Dieser Erfolg hatte Ferdinand de Lesseps in Frankreich zu einem Nationalhelden gemacht. Er war überzeugt, dass er den Dschungel von Panama ebenso bezwingen könnte, wie die Wüsten Ägyptens – mit einem riesigen Graben von Küste zu Küste. Obwohl er nie einen Fuß auf panamaischen Boden gesetzt hatte, und ohne ein ausgebildeter Ingenieur zu sein, reichten de Lesseps’ Ruf und Charisma aus, um den Alternativplan von Baron de Lépinay, der Schleusen und einen künstlichen See vorsah, vom Tisch zu wischen. Wie anders hätte die Geschichte verlaufen können, wenn man de Lépinay gefolgt wäre. So aber mühten sich französische Ingenieure neun Jahre lang, de Lesseps‘ Vision umzusetzen. In dieser Zeit verloren 22 000 Arbeiter, zumeist aus der Karibik, beim Bau ihr Leben. Doch Panama war nicht Suez. Einen Kanal auf Meereshöhe durch die Berge zu graben, in denen es acht Monate im Jahr regnet und in denen es ständig zu Nun trat eine überragende Persönlichkeit auf den Plan – Theodore Roosevelt. Der US-Präsident war überzeugt davon, dass die Anforderungen von Marine und Wirtschaft den Panamakanal erforderlich machten. 1902 hatte seine Lobbyarbeit Erfolg und es kam zu Verhandlungen mit der kolumbianischen Regierung – Panama war zu dieser Zeit noch Teil Kolumbiens. Doch die Kolumbianer sperrten sich gegen die von Washington vorgegebenen finanziellen Konditionen. Daraufhin erklärte Roosevelt seine Unterstützung für die bis dahin kaum in Erscheinung getretene panamaische Unabhängigkeitsbewegung und schickte Kriegsschiffe an beide Küsten der Meerenge, durch die der Kanal verlaufen sollte. Damit vereitelte er die Landung kolumbianischer Truppen. In einer unblutigen »Revolution« erreichte Panama 1903 schließlich seine Unabhängigkeit. Als Preis wurden den USA auf Dauer die Nutzungsrechte an einer zehn Meilen breiten Zone eingeräumt. Eisenbahn Panamas zum Abtransport des bei den Grabungen anfallenden Abraums. Und sie wussten, dass Moskitos Krankheiten übertrugen. Sie starteten ein umfangreiches Schädlingsbekämpfungsprogramm und binnen kurzer Zeit war das Gelbfieber verschwunden. Die Zahl der Malariatoten fiel rapide. Dennoch starben bis zur Fertigstellung des Kanals noch einmal 5000 Arbeiter. Welche Härten die Menschen zu ertragen hatten, hat Rose van Hardeveld, Frau eines amerikanischen Bauingenieurs, in ihren Memoiren »Make the Dirt Fly« festgehalten: »Sie sprach wie eine Amerikanerin, und ich wusste, dass sie Amerikanerin war, aber ihre Haut war gelb und wie gespannt. Die Zähne der Jungs standen über ihre schmalen Lippen hinaus, ihre Bäuche waren schmerzvoll aufgebläht, ihre Knie knorrig. Oh Gott, dachte ich und schaute auf meine Babys mit ihren runden, rosigen Wangen. Wie lange wird es dauern, bis auch wir so aussehen?« Doch die Bedingungen verbesserten sich, je weiter der Bau voranschritt, und neue Siedlungen wurden gebaut. In Spitzenzeiten waren über 40 000 Arbeiter am Bau des Kanals beteiligt. Im Oktober 1913 löste US-Präsident Woodrow Wilson per Telegrafensignal aus Washington die Sprengung des letzten Damms aus, wodurch der Culebra Cut geflutet wurde. Die Mission, die so viele Menschenleben gefordert hatte, war vollendet. »Alle anderen Dinge waren nebensächlich«, schrieb Rose van Hardeveld. »Die Wassermassen durch das Tal fluten zu sehen, bereit, in seinen mächtigen Schleusen Schiffe hinauf- und hinabzutragen, war die Bestimmung, die all unsere Tage und Nächte geprägt hatte.« W W W. PA N C A N A L .C O M/E N G Ein Jahr später wurden die Arbeiten dort wieder aufgenommen, wo die Franzosen aufgehört hatten. Doch anders als ihre Vorgänger nutzten die Amerikaner die W W W. AG C S . A L L I A N Z .C O M/I N S I G H T S/ W H I T E - PA P E R S A N D - C A S E - S T U D I E S/PA N A M A - C A N A L- R I S K- B U L L E T I N 45 Allianz Journal 3/2014 Shutterstock AM ERI KA Traditionelle Familie auf dem Rückzug Lebten 1970 noch 40 Prozent der Amerikaner in einer traditionellen Vater-MutterKind-Familie, sind es nach einer aktuellen Studie von Allianz Life inzwischen nur noch 20 Prozent. Daneben hat sich in den letzten Jahrzehnten in den USA eine Reihe anderer Modelle etabliert, die finanziell allerdings nicht mit der traditionellen Familie mithalten können – bis auf gleichgeschlechtliche Partnerschaften. F RAN K ST E R N LOVE, FAMILY, MONEY – DIE KATEGORIEN • Traditionelle Familien: Vater, Mutter, mindestens ein Kind unter 21 in einem Haushalt Insgesamt unterscheidet die von Allianz Life in Auftrag gegebene Studie »Love, Family, Money« neben der traditionellen Familie sechs weitere Kategorien, die unter dem Label »moderne Familien« zusammengefasst werden (siehe S. 47). Interessanterweise sind es ausgerechnet schwule und lesbische Partnerschaften, die von allen Alternativmodellen finanziell der traditionellen Familie am nächsten kommen. Mit einem durchschnittlichen Haushaltseinkommen von 113 700 US-Dollar pro Jahr stehen sie etwas besser da als die traditionelle Heterofamilie, die es auf 112 700 Dollar bringt. Beim Vermögen sind sie mit über 281 000 Dollar sogar unangefochtener Spitzenreiter. Alle anderen liegen in beiden Kategorien zum Teil erheblich darunter. Kein Wunder also, dass sich die »modernen« Familien insgesamt finanziell weniger abgesichert fühlen als die traditionellen. Sie sind öfter von Arbeitslosigkeit betroffen, können weniger für die Altersvorsorge zur Seite legen und müssen doppelt so oft den Offenbarungseid leisten. Da passt es ins Bild, dass laut einer Untersuchung von Merrill Lynch inzwischen sechs von zehn Amerikanern im Alter von über 50 Jahren erwachsenen Familienmit- 46 gliedern teilweise über längere Zeiträume finanziell unter die Arme greifen. Für die Allianz Life-Studie wurden insgesamt 4500 Personen im Alter zwischen 35 und 65 Jahren und einem Haushaltseinkommen von mindestens 50 000 US-Dollar befragt. Obwohl sich immerhin 85 Prozent davon der Mittelschicht zugehörig fühlen – was gemeinhin mit finanzieller Sicherheit assoziiert wird –, gaben 57 Prozent der »modernen« Familien an, mit ihrem Geld gerade so über die Runden zu kommen, oder bezeichneten sich sogar als arm. Bei den »traditionellen« ordneten sich zehn Prozent weniger in die prekäre Kohorte ein. Nur 30 Prozent der »modernen« Familien verfügen nach eigenen Angaben über eine stabile Finanzgrundlage. Beim konventionellen Gegenstück sind es dagegen 41 Prozent. Deshalb nimmt bei Ersteren auch die Altersvorsorge weniger Raum in der Finanzplanung ein als in der üblichen Vater-Mutter-Kind-Konstellation. Emotional stehen sie sich ähnlich nahe wie traditionelle Familien, doch reden die »Modernen« mir ihren Kindern offener über Geldfragen, und sie drängen ihren Nachwuchs auch stärker, sich beizeiten um die Altersvorsorge zu kümmern. Immerhin. Weitaus besser als die »moderne« Durchschnittsfamilie schneiden gleichgeschlechtliche Paare mit Kindern ab. Allianz Life hält sie in Finanzdingen gar für die neuen Vorbilder. Ihr Finanzprofil ähnelt dem der traditionellen Heterofamilie: 50 Prozent der schwulen oder lesbischen Paare und 52 Prozent der Traditionalisten bezeichnen sich als wohlhabend oder sehen sich finanziell in einer komfortablen Lage. Beide haben auch weniger Schulden als die anderen Gemeinschaften. »Was die Finanzen angeht, haben gleichgeschlechtliche Partnerschaften mehr mit traditionellen Familien gemein als mit den anderen ›modernen‹ Kategorien«, fasst es Katie Libbe von Allianz Life zusammen. »Von allen ›modernen‹ Familientypen, sind sie in Gelddingen am versiertesten. Die Finanzindustrie sollte das zur Kenntnis nehmen.« Wie überall bringen Kinder das Gefüge allerdings auch bei ihnen ganz erheblich durcheinander. Legen schwule und lesbische Paare insgesamt im Schnitt mehr als 276 000 Dollar für die Altersvorsorge zurück, sind es bei denen mit Kindern nur 210 000 Dollar. Verglichen mit den anderen nichttraditionellen Familien stehen sie damit aber immer noch am besten da – die kommen im Schnitt auf gerade mal 186 000 Dollar. • Mehrgenerationenfamilien • Single-Eltern: ein alleinerziehender Erwachsener mit einem Kind unter 18 Jahren • Gleichgeschlechtliche Partnerschaften mit oder ohne Kinder • Patchwork-Familien: Verheiratete oder unverheiratete Eltern mit einem Stiefkind oder einem Kind aus einer früheren Beziehung • Eltern über 40 mit wenigstens einem Kind unter fünf Jahren • Boomerang-Familien: Eltern mit Kindern zwischen 21 und 35 Jahren, die ausgezogen und später wieder unter das elterliche Dach zurückgekehrt sind (Quelle: Allianz Life-Studie »Love, Family, Money«, 2014) Während die traditionelle Heterofamilie in Amerika auf dem Rückzug ist, zeigt sich neben der Zunahme unkonventioneller Lebensgemeinschaften noch ein weiterer Trend – der zum Single-Dasein. Lebten nach einer Untersuchung des US Census Bureau 1970 noch 11,5 Prozent der US-Frauen ohne Anhang, waren es 2012 bereits 15,2 Prozent. Die Zahl der allein lebenden Männer hat sich im selben Zeitraum von 5,6 Prozent auf 12,3 Prozent sogar mehr als verdoppelt. W W W. A L L I A N Z L I F E .C O M 47 Reuters Allianz Journal 3/2014 Asien China hat in den vergangenen drei Jahrzehnten die Entwicklung des Westens im Zeitraffer nachgeholt und inzwischen in vielen Bereichen aufgeschlossen. Nun schickt sich das Reich der Mitte mit dem Aufbau einer wettbewerbsfähigen Automobilindustrie an, eine der letzten Bastionen westlicher Vorherrschaft zu schleifen. Größter Absatzmarkt für Pkw ist China bereits. Der Qoros 3 hat letztes Jahr als erstes Auto aus chinesischer Produktion beim Crashtest von Euro NCAP* die volle Punktzahl von fünf Sternen erreicht – als sicherstes Fahrzeug unter 33 getesteten Modellen. Ein wichtiger Meilenstein. In der Slowakei sind erste Qoros-Autos bereits auf den Straßen, und Geelys fahren in Australien. Eine Entwicklung, die auch in den strategischen Überlegungen von Global Automotive eine Rolle spielt. »Unser Ziel ist es nicht nur, europäische und amerikanische Hersteller nach China zu begleiten, sondern im nächsten Schritt auch chinesische Unternehmen ins Ausland«, erläutert Global Automotive-Chef Karsten Crede die Strategie. F RA N K S T ERN Noch ist das Zukunftsmusik. Und auch in China selbst ist der Weg zum Erfolg steinig. »China ist einer unserer wichtigsten Wachstumsmärkte«, sagt Crede. »Allerdings ist er auch einer der schwierigsten.« Derzeit verfügt die Allianz lediglich für die Provinzen Guangzhou und Shanghai über eine Lizenz für den Vertrieb von Kfz-Versicherungen, was den Aktionsradius erheblich einschränkt. »Selbst wenn wir in ein paar Jahren in fünf Provinzen aktiv wären, reichte das kaum, um für Hersteller und Händler als Partner attraktiv zu sein« so Crede. China am Steuer Von China lernen Das Szenario klingt ein wenig beunruhigend: Sollte China irgendwann die Pkw-Dichte der USA erreichen, wo heute auf 1000 Einwohner knapp 750 Autos kommen, dann würde das Land von mehr als einer Milliarde Personenkraftwagen paralysiert. Da sind die Laster noch nicht einmal mit eingerechnet. Im Moment beträgt die Pkw-Dichte in China noch bescheidene 47 Autos auf 1000 Einwohner. Doch auch die chinesische Mittelschicht strebt nach den Wohlstandsgütern, die im Westen als selbstverständlich gelten. 2013 hat China mit knapp 16 Millionen verkauften Pkw die USA als größten Absatzmarkt bereits abgelöst. Für deutsche Premium-Karossen von Audi, BMW, Porsche und Mercedes ist die Volksrepublik inzwischen der wichtigste Abnehmer. »Über 20 Prozent aller Pkw weltweit werden heute in China abgesetzt«, sagt Thorsten Liebert. »Es ist der wichtigste Wachstumsmarkt für alle unsere Geschäftspartner.« Und damit auch für den gelernten Betriebswirt, der Deshalb hat ein GA-Team in Shanghai ein Geschäftsmodell entwickelt, das es der Allianz Tochter in Zukunft erlauben könnte, die chinesische Mauer zu umgehen und ihre Dienste Autohäusern im ganzen Land anzubieten. Schon heute schließen mehr als 80 Prozent der Käufer von Neufahrzeugen in China die Versicherung direkt beim Händler vor Ort ab. Genau darauf ist Allianz Global Automotive spezialisiert. für Allianz Global Automotive (GA) in der Region AsienPazifik die Kooperation mit Autoherstellern und -händlern ankurbeln soll. Dabei richtet sich der Fokus nicht mehr allein auf die Begleitung westlicher Firmen nach China. Inzwischen expandieren chinesische Automobilhersteller auch in die andere Richtung. »Die Autowelt, die heute noch von Europäern, Amerikanern, Japanern und Koreanern dominiert wird«, so Liebert, »wird man in Zukunft um China ergänzen müssen.« Das neue Allianz Automotive Collaboration Model sieht die Zusammenarbeit mit chinesischen Versicherern und Autohändlern im ganzen Land vor. »Das würde uns erlauben, nicht nur bei Spezialthemen wie Garantie- oder Restschuldversicherung mit den BMWs dieser Welt zusammenzuarbeiten, sondern über alle Automotive-Angebote, inklusive unserem Kernprodukt Kfz-Versicherung, hinweg«, erklärt Thorsten Liebert die Idee. »Im ersten Schritt begleiten wir Der steinige Weg zum Erfolg Noch kennt kaum jemand solche Marken wie Qoros oder Dongfeng, Chery, Changan, Geely oder Build Your Dreams. Und bislang mussten sich westliche Hersteller vor der Konkurrenz aus dem Osten auch nicht sonderlich fürchten, denn lange Zeit erfüllten die chinesischen Autos nicht die im Westen üblichen Qualitätsstandards. Doch die Chinesen holen auf – und zwar ziemlich schnell. Irgendwann, daran hat kaum jemand Zweifel, werden sie auch Luxuskarossen bauen. * European New Car Assessment Programme (Europäisches NeuwagenBewertungs-Programm) ist ein Zusammenschluss europäischer Verkehrsministerien, Automobilclubs und Versicherungsverbände mit Sitz in Brüssel. Die Organisation bewertet anhand von Crashtests die Sicherheit neuer Automobiltypen 48 49 Allianz Journal 3/2014 Allianz Global Automotive Allianz Global Automotive wurde Ende 2009 ins Leben gerufen, um die Kooperationen mit der Automobilindustrie und den Absatz von Kfz-Versicherungen über Autohäuser auszubauen. 2013 erzielte die Allianz Tochter ein Prämienvolumen von 2,6 Milliarden Euro. Damit ist sie Weltmarktführer in diesem Segment. © 2013, Scott Adams, Inc./Distr. Universal Uclick/Distr. Bulls AS I EN 1,1 Milliarden Euro stammen aus der Region Asien-Pazifik. Bis 2016 sollen die weltweiten Prämieneinnahmen auf rund vier Milliarden Euro gesteigert werden. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist eine starke Präsenz in China, das im letzten Jahr die USA als größten PkwMarkt ablöste. Von weltweit über 72 Millionen verkauften Personenkraftwagen rollten knapp 16 Millionen aus chinesischen Autohäusern. Von der engeren Zusammenarbeit mit Allianz Global Assistance unter dem Dach der neu geschaffenen Einheit Allianz Worldwide Partners (AWP) erhofft sich Global Automotive eine deutliche Stärkung seiner Marktpräsenz in China. Mit 130 Millionen Euro an Prämieneinnahmen im Jahr 2013 ist die Allianz beim Geschäft mit Autohäusern unter den internationalen Versicherern in China bereits Marktführer. ausländische Hersteller nach China, im zweiten bekommen wir Zugang zu deren lokalen Kooperationspartnern und können dann auch für sie tätig werden.« Durch die Kooperation mit Herstellern und Händlern und die enge Anbindung an deren IT-Systeme hofft man bei Global Automotive, zu einem unverzichtbaren Partner der Chinesen zu werden. »Wir müssen erreichen, dass wir, wie in anderen Märkten auch, fest in das Gesamtsystem vom Hersteller über den Händler bis hin zum Kunden eingebunden sind«, sagt Automotive-Chef Crede. Unterstützt wird dieser Ansatz durch die Kooperation mit zwei Schwergewichten der chinesischen Versicherungsindustrie – Ping An und China Pacific Insurance (CPIC). »Wir stellen ihnen spezifisches Know-how, zum Beispiel im Bereich Garantie- und Kreditversicherung sowie Telematics und Elektrofahrzeuge, zur Verfügung und partizipieren im Gegenzug am Rückversicherungsgeschäft«, sagt Liebert. »Die Zusammenarbeit läuft sehr kollegial, was allerdings nicht heißt, dass sie uns ewig brauchen werden. Sobald die Wissenslücken geschlossen sind, besteht die Gefahr, dass sie es alleine machen. Da darf man nicht blauäugig sein.« Gerade deshalb aber sei das Allianz Automotive Collaboration Model für die Zukunft von Global Automotive in China so wichtig. 50 Dass Europa den Chinesen noch viel beibringen könnte, von dem Gedanken hat sich Liebert mittlerweile verabschiedet. »Bei einigen technischen Raffinessen und Feinheiten vielleicht«, sagt er, »doch künftig werden wir auch einiges von ihnen lernen können. Gerade was neueste Trends angeht – oder wie man Flughäfen baut.« Er war einer der ersten Passagiere, die auf dem neuen Airport in Shenzhen gelandet sind. »Perfekt geplant, innerhalb von zwei, drei Jahren hochgezogen und im Zeitplan und bei Einhaltung des vorgegebenen Budgets übergeben.« Liebert ist beeindruckt. Er hat auch keinen Zweifel daran, dass die chinesische Autoindustrie den Rückstand zu Amerikanern, Europäern, Japanern und Koreanern relativ schnell aufholen wird. »Noch sind sie vielleicht ein wenig hintendran, gerade was die Qualität angeht, aber sie lernen schnell. Irgendwann haben sie auch den letzten Abstand wettgemacht – und das wahrscheinlich zu einem Bruchteil der bei uns üblichen Kosten.« Leser-Forum Allianz Journal im Internet Hat Ihnen das Journal gefallen? Oder ging Ihnen etwas gegen den Strich? Wenn Sie Anregungen, Hinweise oder Kritik haben – hier können Sie sie loswerden: H T T P ://K N O W L E D G E . A L L I A N Z .C O M/A L L I A N Z _ P U B L I C AT I O N S/ [email protected] Redaktion Allianz Journal Königinstr. 28, 80802 München Group Intranet (GIN) → Allianz key information → Journal World record on the Bosporus ALLI ANZ GROUP Build Your Dreams, einer der bedeutendsten chinesischen Automobilproduzenten mit Sitz in Shenzhen hat angekündigt, innerhalb der nächsten zehn Jahre zum größten Automobilhersteller der Welt aufsteigen zu wollen. Nicht nur für Crede und Liebert klingt das durchaus realistisch. Journal http://knowledge.allianz.com/ allianz_publications/ International Edition 3 | 2014 Redaktionsschluss für das Allianz Journal 1/2015 ist der 20. Dezember 2014. 51