Weltrekord am Bosporus

Transcrição

Weltrekord am Bosporus
ALLIANZ GROUP
Journal
11
30
Deutsche Ausgabe 3 | 2014
Das richtige Leben im falschen
Epidemie des Vergessens
Dorf ohne Menschen
Demographischer Wandel
in Aktion
Weltrekord
am Bosporus
Shutterstock
Die Allianz in der Türkei
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Allianz Journal 3/2014
Shutterstock | Ibrahim | Allianz | Shutterstock
Inhalt
I MP RE SSUM
Allianz Journal 3/2014
(Oktober)
Zeitschrift für Mitarbeiter
der Allianz Gesellschaften
Herausgeber Allianz SE
Verantwortlich für
den Herausgeber
Emilio Galli-Zugaro
Chefredaktion
Frank Stern
Layout volk:art51
Produktion repromüller
Anschrift der Redaktion
Allianz SE
Redaktion Allianz Journal
Königinstraße 28
80802 München
Tel. 089 3800 3804
[email protected]
Das für die Herstellung
des Allianz Journals
verwendete Papier wird
aus Holz aus nachhaltiger
Waldbewirtschaftung
hergestellt.
2
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15
Fracking – Technologie der Zukunft oder Zerstörer der Umwelt?
Europa diskutiert noch
Vor zwölf Jahren eröffnete Martin Woodtli in Thailand das Haus
der Ermutigung. Ein Experiment
KURZ BERICHTET
4
Neues aus der Allianz Welt
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MEINUNGEN
8
»Fracking wird die Welt verändern«
Eike Wenzel vom Institut für Trend- und
Zukunftsforschung über eine umstrittene
Technologie
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G LO B A L
11 Das richtige Leben im falschen
De Hogeweyk – das Dorf des Vergessens
15 Am anderen Ende des Lebens
Haus der Ermutigung: Martin Woodtli betreut
Demenzkranke in Thailand
DEUTSCHLAND
26 Notizen aus der Provinz
Kalbe: Besuch in einem Krisengebiet
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»Die Wohnformen werden sich ändern«
Allianz Volkswirtin Michaela Grimm über den
Umgang mit einer wachsenden Bedrohung
Bühne frei für die Erinnerung
Reminiscence Pods: Zeitreise in die Vergangenheit
Alphörner und Medaillen
1000 Sportler, 47 Nationen – die Allianz Sports
in Zürich
E U RO PA
30 Dorf ohne Menschen
Italiens Bergdörfer verwaisen – im Piemont
halten einige Bewohner dagegen
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42
80 Kilometer durch den Dschungel – vor 100 Jahren wurde der
Panamakanal eröffnet
Wettstreit vor alpenländischer Bergkulisse – im Juli gingen in Zürich
die VII. Allianz Sports über die Bühne
T Ü R K E I S PE Z I A L
33 Revolution im Krankenhaus
Ein Deutsch-Türke will die Gesundheitsbranche
der Türkei aufmischen
37 Freunde zweiter Klasse
TV-Journalist Hakan Çelik über Demütigungen,
Kulturkampf und Islamismus
39 Weltrekord am Bosporus
Eine dritte Brücke über der Meerenge zwischen
Asien und Europa soll Istanbul vor dem Verkehrskollaps bewahren
AMERIK A
42 Die teuerste Abkürzung der Welt
100 Jahre Panama-Kanal
46 Traditionelle Familie auf dem Rückzug
Vater-Mutter-Kind? In den USA sind neue
Partnerschaftsmodelle im Kommen
AU S T R A L I E N
41 Die richtige Balance
Telearbeit downunder
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ASIEN
48 China am Steuer
Die Allianz bringt sich im größten Pkw-Markt
der Welt in Stellung
Dilbert
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Allianz Journal 3/2014
K U RZ
B ERI C H T E T
10th OPEX
QUALITY
AWARDS
Allianz
Neue Allianz Zentrale in Kairo
Die Allianz Ägypten hat im Mai in Kairo ihr neues Hauptquartier bezogen. Es befindet sich in der »Cairo Festival
City«, einem gesicherten Geschäftsviertel außerhalb der
verstopften Innenstadt. Das neue Bürogebäude, in das
die Allianz Tochter 42,6 Millionen US-Dollar investiert hat,
verfügt über Druckerzentrum, Videokonferenzräume
und modernste Präsentationseinrichtungen. Im obersten
Stockwerk steht ein Trainingszentrum zur Verfügung, groß
genug, um sechs Ausbildungskurse parallel abzuhalten. Im
Erdgeschoss befindet sich das Kunden-Service-Zentrum.
In dem fünfstöckigen Gebäude, das über eine Bürofläche
von 15 400 Quadratmeter verfügt, arbeiten 600 Allianz
Mitarbeiter.
December 4 & 5, 2014
Munich-Schwabing
Quality to the Power of 10
Zehn Jahre OPEX
Die diesjährigen OPEX (Operational Excellence) Quality Awards finden im
Dezember in München statt. Die Veranstaltung bietet Fachleuten Gelegenheit, ihre Projekte und Leistungen einem breiteren Publikum vorzustellen.
Die Preise für die besten Qualitätsmanagementprojekte werden zum zehnten
Mal vergeben. Im Jubiläumsjahr gingen so viele Bewerbungen ein wie nie
zuvor: 25 Projekte aus 20 Ländern wurden der Jury zur Begutachtung vorgelegt. Allianz Mitarbeiter können die Bewerbungen am 5. Dezember auf
einer Projektmesse selbst in Augenschein nehmen.
[email protected]
G LO B A L I N T R A N E T (G I N) → A L L I A NZ C O N S U LT I N G → O PE X G LO B A L C E N T E R
W W W. A L L I A N Z .C O M . E G
Schlaues Haus
Euler Hermes ist vom Branchenmagazin Trade Finance zum besten
Exportkreditversicherer der Welt
(Best Global Export Credit Agency)
gewählt worden. Bewertet wurden
Produktangebot, Deckungsumfang
und Schadenmanagement.
Die Allianz UK ist bei den British
Insurance Awards (BIA) zum Sachversicherer des Jahrzehnts gekürt
worden. Die Allianz UK hatte den
Titel in den Jahren 2004, 2005 und
2010 gewonnen und kam in den
letzten vier Jahren jeweils in die
engere Auswahl.
Allianz
AU S G E ZEI C HN E T
Aktionäre und Analysten, die sich über den Kurs der Allianz Aktie oder ihrer
Anleihen informieren wollen, können dies seit Sommer dieses Jahres auch per
Smartphone und Tablet von Google, HTC, Samsung oder Sony tun. Wurde die
App von Allianz Investor Relations zuvor nur Nutzern von iPhones und iPads im
Apple App Store angeboten, so steht sie nun auch im Google Play Store zur
Verfügung. Mit der Ausdehnung auf die Android-Welt geht auch eine Funktionserweiterung einher. Neben Kursinformationen, Geschäftszahlen und den jüngsten
Meldungen aus der Allianz Gruppe steht Nutzern für Berichte und Präsentationen
nun zusätzlich eine Volltextsuche zur Verfügung. Alle Informationen werden
zeitgleich auf der Allianz Webseite und den Apps veröffentlicht.
Die Allianz und die Deutsche Telekom wollen modernste
Sensor- und Mobilfunktechnik mit Versicherungs- und
Serviceangeboten verknüpfen und Kunden gemeinsam
Sicherheitslösungen für Haus und Betrieb anbieten.
Das gaben beide Unternehmen im Juni bekannt. So
sollen Privatkunden künftig das eigene Heim mit Hilfe
von Sensoren überwachen und diese per Smartphone
steuern können. Bei einem Defekt, wie einer geborstenen Wasserleitung, oder im Falle eines Einbruchs
alarmieren die Sensoren per Smartphone nicht nur den
Kunden, sondern auch die Notfall-Hotline der Allianz.
Die organisiert dann bei Bedarf die nötigen Handwerker
oder einen Sicherheitsdienst.
Das Angebot ist unter dem Namen Smart Home Assist
seit Mitte Juni in Deutschland auf dem Markt. Andere
europäische Länder sollen folgen. Nach ähnlichem Muster
sind in Zukunft auch digitale Programme im Bereich vernetzte Gesundheit, beispielsweise für das selbstbestimmte
Leben im Alter, geplant. Daneben haben Allianz und
Telekom eine Partnerschaft für den Bereich Netzwerksicherheit für Großkunden und Mittelständler vereinbart.
Dabei handelt es sich um einen wachsenden Markt:
87 Prozent der Unternehmen sind nach Erkenntnissen
der Telekom schon einmal Opfer von Cyberattacken geworden. Zwölf Prozent werden sogar täglich angegriffen.
In Europa und im asiatisch-pazifischen Raum versichert
die Allianz Cyber-Risiken bis zu einer Deckungssumme
von 50 Millionen Euro.
W W W. A L L I A N Z .C O M | W W W.T E L E KO M .C O M
Allianz
Investor Relations
goes Android
Telekom Vorstand
Reinhard Clemens
(li.) und Allianz
Vorstand Christof
Mascher stellten
das Kooperationsprojekt vor
W W W. A L L I A N Z .C O M
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Allianz Journal 3/2014
K U RZ
B ERI C H T E T
Leserbriefe
Die Allianz wird Namensgeber des neuen Fußballstadions
von Rapid Wien. »Das Allianz Stadion wird das modernste
Stadion Österreichs mit einem klugen Besucherkonzept
und einer eindrucksvollen Architektur«, erklärte Rapids
General Manager, Werner Kuhn, vor der Presse. Nach
München, London, Nizza, Sydney und São Paulo ist Wien
die sechste Stadt mit einem Allianz Stadion. Es tritt an
die Stelle des Gerhard-Hanappi-Stadions und soll 2016
eröffnet werden. Die Namensrechte gelten zunächst für
zehn Jahre.
W W W. S K R A P I D.C O M
Ogilvy macht
das Rennen
Club Marine-Magazin
mit Rekordauflage
Das Club Marine-Magazin, eine Publikation von Allianz Tochter Club
Marine, ist das führende Lifestyle-Magazin für Yacht- und Bootsfans
in Australien und Neuseeland. Nach einer Aufstellung des Audit
Bureau of Circulation, das Auflagen, Reichweiten und Leserstrukturen
von Zeitungen und Zeitschriften ermittelt, hat das Club MarineMagazin zwischen Januar und Juni dieses Jahres seine Auflage auf die
neue Rekordhöhe von 91 728 Exemplare gesteigert. »In einer Zeit, da
viele Printtitel über sinkende Leserzahlen klagen, ist dieses Ergebnis
ungemein befriedigend«, sagt Club Marine-Chef Simon McLean. Das
Mitglieder-Magazin wird alle zwei Monate von Club Marine herausgegeben, Australiens größtem Boots- und Yachtversicherer.
Aus dem Rennen um den Werbeetat
der Allianz ist Ogilvy & Mather als Sieger
hervorgegangen. Die Agentur wird die
Allianz Gruppe ab Oktober als globale
Markenkommunikationsagentur betreuen
und künftig alle Bereiche der Strategie der
Markenkommunikation bis zur Umsetzung,
einschließlich soziale Netzwerke und mobile
Plattformen, abdecken. Die Zusammenarbeit wurde für drei Jahre abgeschlossen.
Der Etat wird von Düsseldorf aus betreut
und in den Kernmärkten von regionalen
Teams und lokalen Agenturniederlassungen unterstützt. Ogilvy & Mather ist eine
international tätige Werbeagentur, die mit
knapp 500 Büros in über 170 Städten und
125 Ländern vertreten ist. Seit 1989 gehört
sie zum Agenturnetzwerk WPP Group mit
Sitz in London.
W W W.O G I LV Y.C O M
»Grüne Hysterie«
Nichts beschönigt
Paul Klostermann, Generalvertreter aus Herford,
über die Diskussion zum Thema Klimawandel bei
den diesjährigen Benediktbeurer Gesprächen der
Allianz Umweltstiftung: Mit Interesse habe ich den
Artikel »Sysiphus in Gummistiefeln« in der Ausgabe
2/2014 gelesen. Den stattfindenden Katastrophen und
den Berichten kann man nicht widersprechen, wohl
aber der Begründung, die dadurch nicht wahrer wird,
dass Herr Plöger sie ständig wiederholt. Mit »Dem
Einfluß des Menschen auf die Umwelt« sieht Herr Plöger,
und nicht nur er, die Menschen als die Verursacher der
Klimaerwärmung, des schmelzenden Eises etc. Die Erde
ändert ihr Klima seit Ewigkeiten und das ohne jedes
menschliche Zutun. Es gab ca. 70 Eiszeiten, die die Erde
zufrieren ließen. Die CO2-produzierenden Menschen
kamen erst sehr viel später!
Susanne Bertsch von AMOS in Stuttgart zum
Interview mit Prof. Manfred Kets de Vries:
Herzlichen Dank für den sehr gelungenen Artikel »Von
Lügnern umstellt« im letzten Allianz Journal! Ein Artikel,
der negative Entwicklungen einzelner Manager/innen
deutlich herausarbeitet und nichts beschönigt.
Vielleicht/hoffentlich lesen dies auch diejenigen, die
diese Entwicklungsprozesse durchlaufen haben und oft
nicht verstehen, weshalb die Motivation in ihrem Beritt
bzw. die Identifikation der Mitarbeiter mit dem Unternehmen suboptimal ist. Vielleicht hilft’s ja.
Das Klima hat sich in den letzten 15 Jahren nicht mehr
erwärmt, obwohl der CO2-Ausstoß deutlich zugenommen hat. Und sogar beim IPCC wird von nur 0,8 Grad
Erwärmung in 120 Jahren gesprochen. So what? In der
Geschichte der Menschheit haben leichte Erwärmungen
des Klimas den Menschen meist gut getan. Warum also
diese Aufregung? Warum werden Wissenschaftler, die
nicht die Meinung Herrn Plögers und des IPCC vertreten,
einfach als Klimaleugner diffamiert? Meinungen von
Wissenschaftlern, dass die Sonne oder auch Vulkane viel
größeren Einfluss auf unser Klima haben als der Mensch,
werden schlicht und einfach weggewischt.
»Tolle Einblicke«
Richard Hewitt von Allianz Global Corporate &
Specialty (AGCS) in London über die Juniausgabe
des Allianz Journals: Vielen Dank für diese tolle Ausgabe.
Endlich bin ich mal dazu gekommen, das Journal intensiver zu lesen. Besonders hat mir der Meinungsartikel
gefallen. Ich habe mich gefragt, was Manfred Kets de
Vries wohl über unsere Führungskräfte zu sagen hätte
und über die unserer Wettbewerber. Die Dilbertseite hat
dasselbe Thema am Ende dann noch mal auf amüsante
Weise aufgegriffen. Auch das Brasilien-Spezial war hervorragend und hat einige tolle Einblicke in diesen großen
Markt und das dortige Allianz Geschäft geliefert,
von dem wir hier in Europa doch
allzu oft sehr weit entfernt sind.
Dieser Alleinvertretungsanspruch, dem jeglicher
Nachweis für seine Thesen fehlt, ist unerträglich. Und
mit Wissenschaft hat dies nun wirklich sehr wenig zu
tun. Mit grüner Hysterie schon eher. Dass in Folge dieser
Angstmache in Deutschland nun zig Milliarden ausgegeben, nein verbraten werden, um den Klimawandel
aufzuhalten, wird wohl dereinst als Treppenwitz in die
Geschichte eingehen. Den Verbrauch fossiler Brennstoffe weitest möglich zu reduzieren, bleibt dennoch
ein wichtiges Ziel, aber aus völlig anderen Gründen.
Shutterstock
Allianz
Rapid Allianz
W W W.C L U B M A R I N E .C O M . AU
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Shutterstock
Allianz Journal 3/2014
Meinungen
Zweitens: Gerade anhand der Krise in der Ukraine
merken wir, dass Europa Alternativen zum derzeitigen
Energiemix benötigt. Denn was passiert, wenn uns die
Russen den Hahn zudrehen, beziehungsweise wenn wir
uns selbst den Hahn zudrehen? Drittens: Der Energiepoker auf dem Weltmarkt wird in den nächsten Jahren
unter völlig neuen Voraussetzungen stattfinden, sprich,
erstmals seit langer Zeit werden die Amerikaner wieder
zum Erdgas-Exporteur, zum Energie-Exporteur. Wer füllt
das Vakuum, das die USA hinterlassen, wenn sie sich aus
dem Mittleren Osten zurückziehen? China vielleicht?
Viertens: Das Fracking-Thema hat die Debatte über die
erneuerbaren Energien grundsätzlich verändert.
»Fracking hat in Europa keine Chance«, sagt
Eike Wenzel vom Heidelberger Institut für Trend- und
Zukunftsforschung. Trotzdem wird die umstrittene
Technik zur Förderung von Gas und Öl seiner
Meinung nach die Welt verändern. Im Interview
erläutert er, warum.
Inwiefern?
Insofern als wir jetzt merken: Die Energiewende kostet
Geld und Durchhaltevermögen. Das zehrt an der
Maxime des wirtschaftlichen Wachstums. Zweifel an
den selbst gestellten Klimawandelthesen und -zielen
kommen auf. Gleichzeitig zeigen uns die Amerikaner,
dass man mit gefracktem Erdgas richtig reich werden
kann, dass man seine Standortvorteile verbessern kann.
Und plötzlich ist uns das Hemd wieder näher als die
Jacke. Wir fragen uns: Hat die Energiewende, wie wir sie
uns vorstellen, wirklich höchste Priorität oder sollten wir
nicht erstmal schauen, dass der Strompreis im Rahmen
bleibt? Anders ausgedrückt, es sieht so aus, als könnte
Erdgas erst mal den Druck von den erneuerbaren Energien nehmen. In den USA wird gerade diskutiert, ob man
nicht mit Fracking in Kombination mit Solar sogar eine
nachhaltigere Energiewende hinbekommt.
»Fracking
wird die Welt
verändern«
Das klingt nach Energiewende »light«. Kommen wir
auf dem Weg zur Wende um Fracking nicht herum?
Wahrscheinlich ist, dass wir um Erdgas nicht herumkommen. Erdgas ist auf jeden Fall ein Brückenrohstoff, auf
den wir bauen müssen, einfach weil die CO2-Emissionen
niedriger sind als bei Kohle und Öl. Darum können wir es
uns auch nicht leisten, Fracking als eine der Fördertechniken einfach zu ignorieren. Wir müssen die Technologie
verstehen, Studien erstellen und dann abwägen. Viele
Länder wie Frankreich, Rumänien und Bulgarien haben
Fracking grundsätzlich verboten. In Deutschland hat es
die große Koalition [2005-2009, Anmerkung der Redaktion] offen gelassen, weil die es nicht entscheiden wollte
und vielleicht auch nicht konnte, eben weil die Grundlagenforschung noch nicht so weit war. Ein erzwungener
Konsens hilft hier wenig. Wir müssen uns alle Optionen
offen halten. Das gilt auch für die Erneuerbaren. Möglicherweise finden wir demnächst noch intelligentere
Technologien. Im Moment kann ich aber noch keine
I NT ERVIE W : M I C H A E L GR IMM
Herr Wenzel, mal abgesehen von dem Boom in
den USA hat Fracking in Teilen Europas und speziell
in Deutschland vor allem eines zu Tage gefördert:
massiven Protest. Trotzdem, sagen Sie, werde
Fracking die Welt verändern. Warum?
Ich nenne dafür vier Gründe. Erstens: Durch Fracking
hat die Diskussion über »peak oil« und »peak gas« eine
völlig neue Wendung bekommen. Es sieht so aus, als
bekämen wir noch einen Aufschub. Gerade die Rohstofffunde in Nordamerika lassen vermuten, dass wir noch
einige Jahre relativ entspannt aufs Erdöl bauen können.
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M EI NUN G E N
privat
Global
großen Durchbrüche erkennen. Hinter Fracking steht in
Europa ein großes Fragezeichen. In den USA mag das
funktioniert haben, aber in Europa ist das ein komplett
anderes Thema.
Warum ist Fracking in Europa gescheitert, bevor es
überhaupt richtig angefangen hat?
Wir müssen überlegen, wie viel Risiken und Gefahren
wir eingehen wollen, um neue Rohstoffe zu erschließen.
Um an wertvolle Ressourcen zu kommen, hat der
Mensch schon immer heftig in die Natur eingegriffen.
Das ist bei Fracking auch der Fall. Die Amerikaner haben
ihre Entscheidung getroffen. Sie waren und sind bereit,
die Risiken einzugehen. Anders in Europa. Bei uns hat
Fracking auf politischer Ebene keine Lobby. Hinzu kommt,
dass die Gasfördermengen nicht vielversprechend sind.
Jedenfalls zeigen das erste Ansätze in Polen. Und selbst
wenn die Förderraten rentabel wären, Europa ist ein
dichtbesiedeltes Gebiet. Der Widerstand wäre zu hoch.
Insgesamt kann ich nicht erkennen, dass wir das Thema
Fracking breitflächig angehen werden. Daran werden
auch Unternehmen wie BASF nichts ändern, die gedroht
haben, in die USA zu gehen, sollten die Energiepreise
nicht sinken.
Vor ein paar Monaten machte eine kuriose Meldung
die Runde: Rex Tillerson, Chef von Exxon-Mobil,
einem der größten Ölkonzerne Amerikas, kämpft
verbissen gegen ein Fracking-Projekt vor seiner
Haustür in Texas. Offiziell, so heißt es, fürchte er,
dass sein Anwesen durch die Bauarbeiten an Wert
verliere. Wie gefährlich ist Fracking wirklich?
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Einerseits hat Deutschland als erstes Land überhaupt die Energiewende ausgerufen. Andererseits
wirkt ihre Umsetzung sehr zögerlich. Haben die
Deutschen Angst vor der eigenen Courage?
In Deutschland stehen wir neuen Technologien immer
sehr ambivalent gegenüber. Wir alle nutzen zum Beispiel
das Internet und lassen unsere persönlichen Hüllen auf
Facebook fallen, beklagen uns aber gleichzeitig, wie furchtbar das alles ist. Das ist typisch Deutsch. Aber es hilft
nichts. In den nächsten Jahren müssen wir über unseren
Schatten springen. Wir brauchen einen technologischen
Aufbruch, gerade im Bereich Energiewende. Nur grüne
Technologie ist zukunftsweisend. Ob Fracking dazu gehört, darf bezweifelt werden, obwohl das George Mitchell
wohl ganz anders gesehen hätte. Mitchell, der im vergangenen Jahr gestorben ist, gilt als Erfinder des Verfahrens. Er hat Fracking entwickelt, weil er eine Alternative
zu den konventionellen Rohstoffen Öl und Kohle finden
wollte. Heute fühlen wir uns vom Klimawandel dermaßen
an die Wand gedrückt, dass wir uns keine weiteren Eingriffe in die Natur mehr trauen. Gleichzeitig brauchen
wir aber neue Technologien, um unseren Energiebedarf
zu decken und im Wettbewerb vorne dran zu bleiben.
Um aus diesem Dilemma herauszukommen, hilft nur
eines: Innovation.
Das richtige
Leben im falschen
alle Fotos: Stern
Eike Wenzel
Darüber gehen die Meinungen auseinander. Soweit ich
das im Moment beurteilen kann, wissen wir noch nicht,
was nach dem eigentlichen Fracking-Prozess im Untergrund stattfindet. Was passiert mit den Chemikalien, die
zusammen mit einem Gemisch aus Wasser und Sand in
den Untergrund gepresst werden? Die Vermutung, dass
dadurch das Grundwasser verunreinigt wird, liegt nahe.
Auch Erdbeben sind nicht auszuschließen. Aber es gibt
auch die andere Seite. Im vergangenen Jahr berichtete
die New York Times, dass das Grundwasser gar nicht
gefährdet sei. Mir ist keine seriöse Studie bekannt, die
belegt, dass Fracking zu nachhaltigen Umweltschäden
geführt hat. Und Fracking gibt es nicht erst seit ein paar
Jahren. Früher, in den 50er und 60er Jahren, haben die
Amerikaner Atombomben eingesetzt, um an gasreiche
Gesteinsschichten ranzukommen. Das war eine sehr
robuste Methode. Dagegen nimmt sich das heutige
Verfahren fast sanft aus. Auch in Deutschland wird die
Technologie schon seit den 60er Jahren angewendet.
Zum Beispiel im Bereich der Geothermie. Die befürchteten Umweltschäden sind nie eingetreten. Also da ist
wirklich vieles Mythologie.
Fast wie im richtigen Leben: In De Hogeweyk soll alles Normalität ausstrahlen, von der Wohnungseinrichtung bis zur Kneipe an der Ecke
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Allianz Journal 3/2014
GLOBAL
Demenz – eine globale Epidemie
135 M I L L I O N EN
brunnen, Theater, Restaurant und Kneipe, mit Supermarkt und Friseur. Nur der Eingang mit seinen automatischen Schiebetüren, die sich erst auf Knopfdruck
der Pförtnerin öffnen, macht deutlich, dass es sich um
ein besonderes Dorf handelt. Es gibt keine Außenmauer,
doch sind die Häuser so angeordnet, dass sie eine Art
Grenze bilden.
Es ist eine globale Epidemie, die »Pest des 21. Jahrhunderts«, wie es der britische Premier David Cameron
nennt. Über 44 Millionen Menschen leiden heute bereits
an dem unaufhaltsamen Gedächtnisverlust, alle vier
Sekunden kommt ein neuer Fall hinzu. Die Kosten für
Behandlung und Pflege summierten sich 2010 weltweit
auf über 600 Milliarden US-Dollar. Nach Berechnungen
der Organisation Alzheimer’s Disease International (ADI)
werden sie 2030 fast doppelt so hoch sein. Heilung gibt
es bislang nicht.
»Meine Mutter und auch meine Großmutter hatten
Demenz«, sagt Yvonne van Amerongen. »Es ist recht
wahrscheinlich, dass auch ich es bekomme. Natürlich
macht einem das Angst.« Die Sozialarbeiterin und
Therapeutin hat tagtäglich vor Augen, was eventuell auf
sie zukommen könnte. Vor 30 Jahren begann sie als
Betreuerin in De Hogeweyk, einem Heim für Demenzkranke, 20 Kilometer von Amsterdam entfernt – damals
eine Pflegeeinrichtung wie viele andere: Krankenstationen
und Aufenthaltsräume, in denen die Patienten nur auf
Essen und Medikamente warteten und vor dem Fernseher verdämmerten. Tag für Tag. »Es war kein Leben,
es war eine Art Sterben«, beschreibt es van Amerongen.
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Irgendwann schließlich holte der Direktor seine Leute
zusammen, um zu erfahren, was ihrer Meinung nach
schiefläuft. Bei diesem Treffen gaben einige Pflegerinnen unumwunden zu, sie würden ihre Eltern davor
bewahren wollen, ihre letzten Tage in einer Einrichtung
wie ihrer verbringen zu müssen. Das war für die Leitung
ziemlich niederschmetternd – und der Anfang vom
Demenzdorf De Hogeweyk.
Alles Kulisse, Betrug, Scharade – die Truman Show in
Orange, bekamen die Holländer von Kritikern zu hören.
Die pflegerische Beziehung werde auf einer Lüge aufgebaut, formulierte ein Schweizer Ethikfachmann, und
ein Professor aus Deutschland kanzelte das Pilotprojekt
per Ferndiagnose als »Ghetto« ab. Statt die Betroffenen
abzuschieben, so der Rat von jenseits der Grenze, sollte
man sie teilhaben lassen am gesellschaftlichen Leben
und auf Nachbarschaftshilfe setzen.
Truman Show in Orange
Van Amerongen, heute Innovationsmanagerin in der vor
fünf Jahren übergebenen Modellanlage, hat das Konzept
mit entwickelt: 23 Einheiten, in denen jeweils sechs bis
sieben Patienten wie in einer Wohngemeinschaft leben,
sich frei bewegen können, und doch rund um die Uhr
von Fachkräften betreut werden. Die Pflegerinnen und
Pfleger, die als freundliche Nachbarn durchgehen könnten, tragen normale Kleidung, äußerlich unterscheidet
sie nichts von ihren Patienten. »Wir nennen sie Bewohner«, korrigiert van Amerongen. Bis in die Sprache hinein
soll alles möglichst Normalität ausstrahlen.
De Hogeweyk erscheint auf den ersten Blick wie eine
beschauliche Wohnsiedlung, mit Gärten und Spring-
In De Hogeweyk am Rande der Kleinstadt Weesp werden
152 Demenzkranke von 240 Angestellten versorgt –
Pflegekräfte, Verwaltungspersonal, Restaurantmitarbeiter, Ärzte, Sozialarbeiter. Ein Platz kostet pro Monat rund
5000 Euro, die von der Krankenversicherung getragen
werden. Abhängig von Rente und Vermögen wird ein
Eigenanteil von bis zu 2200 Euro erhoben. Mit 3,5 Prozent
ihres Bruttoinlandsprodukts liegen die Niederlande bei
den Ausgaben für die Altenpflege in Europa an der Spitze.
Das Durchschnittsalter der Patienten in De Hogeweyk –
70 Prozent davon Frauen – liegt bei 84 Jahren. Es sind
die schwersten Fälle, die in dem Demenzdorf untergebracht sind, Menschen die rund um die Uhr Betreuung
benötigen. »Bei ihnen liegt der Ausbruch der Krankheit
604
2030
2050
Bis 2050 wird sich die Zahl der
Demenzkranken deutlich erhöhen
Bis 2030 werden
diese Kosten um
mindestens
85 Prozent
steigen
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Ein Großteil der Kostensteigerung
entfällt auf Länder mit niedrigem und
mittlerem Einkommensniveau. Schon
89%
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»Die Welt versteht Demenzkranke nicht und sie ist auch
nicht freundlich zu ihnen«, hält van Amerongen den
Kritikern entgegen. Sie weiß es aus eigener Anschauung.
In einer Zeit, in der Demenzkranke in Altenheimen oder
daheim am Bett festgeschnallt werden, weil das Pflegepersonal überfordert ist, in der 60 Prozent der Angehörigen, die einen Demenzfall in der Familie betreuen,
depressiv werden und in der Gewalt und Vernachlässigung alter Menschen keine Seltenheit sind, ist De Hogeweyk so etwas wie ein Hoffnungsschimmer. Es ist eine
Möglichkeit, wie sich die Würde von Menschen bewahren lässt, die in einer Parallelwelt leben, aus der sie nur
noch sporadisch und irgendwann überhaupt nicht mehr
zurückfinden. Vielleicht ist das Demenzdorf der Gegenentwurf zu Adornos These, wonach es kein richtiges
Leben im falschen gibt.
2010 lagen die jährlichen
Behandlungskosten
für Demenzkranke
bei geschätzten
Milliarden
US-Dollar
2013
38%
heute leben dort 62 Prozent
aller Demenzkranken. Bis 2050 steigt
der Anteil auf 71
Prozent.
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F RA NK ST E R N
Alle vier Sekunden
tritt in der Welt ein neuer
Demenzfall auf
$
Sie wissen nicht, wer sie sind, erkennen ihre Kinder nicht mehr und verlernen schließlich
auch das Sprechen – über 44 Millionen Menschen leiden heute weltweit an Demenz.
Bis 2050 wird sich die Zahl verdreifachen. In Weesp, einer kleinen Stadt bei Amsterdam,
hat man für die Betroffenen eine eigene Welt erschaffen.
44 MILLIO N EN
$
Stern
»Die Welt versteht Demenzkranke nicht, und sie ist auch
nicht freundlich zu ihnen«,
sagt Yvonne van Amerongen
76 M I L L I O N EN
89 Prozent dieser Kosten
entfallen auf Staaten mit
hohem Einkommensniveau,
wo aber nur 38 Prozent
der Demenzkranken leben
62%
71%
2013
2050
(Quelle: Alzheimer’s Disease International)
im Schnitt bereits sieben Jahre zurück«, erläutert van
Amerongen bei einem Rundgang durch die Anlage.
»Jeder von ihnen wird hier sterben.«
Querschnitt der Gesellschaft
Die Wohnungen sind sieben unterschiedlichen Lebensstilen nachempfunden, eine Art Querschnitt der niederländischen Gesellschaft. Sie reichen vom Arbeitermilieu
mit Hang zu Hausmannskost und legereren Sitten über
die urbane Mittelschicht bis hin zur gehobenen Klasse
mit Sinn für Kunst und Etikette. Selbst für Einwohner
der ehemaligen Kolonie Indonesien gibt es zwei speziell
eingerichtete Wohneinheiten. Wobei für die »besseren«
Kreise nicht etwa mehr Geld aufgewendet wird. Werden
kleine Zusatzleistungen gewünscht, wie Croissants zum
Frühstück oder täglich frische Blumen auf dem Tisch und
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Allianz Journal 3/2014
GLOBAL
Demenz
Eine Demenz, (lat. Demens »ohne Geist« bzw. Mens = Verstand, de = abnehmend) ist ein Defizit in
kognitiven, emotionalen und sozialen Fähigkeiten. Sie ist vom Verlust bereits erworbener Denkfähigkeiten gekennzeichnet und Folge einer meist chronischen oder fortschreitenden Krankheit des Gehirns
mit Störung vieler höherer kortikaler Funktionen, einschließlich Gedächtnis, Denken, Orientierung,
Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache, Sprechen und Urteilsvermögen, im Sinne der Fähigkeit
zur Entscheidung. Das Bewusstsein ist nicht getrübt.
Die häufigste Form der Demenz ist die Alzheimer-Krankheit. Demenz tritt fast ausnahmslos erst
jenseits des 60. Lebensjahres auf. Von den derzeit rund 44 Millionen Betroffenen leben nach Angaben
der Organisation Alzheimer’s Disease International (ADI) 38 Prozent in den entwickelten Industriestaaten,
62 Prozent in Entwicklungs- und Schwellenländern. 2050 wird das Verhältnis bei 21 zu 79 liegen.
Mit steigendem Alter wächst das Risiko, an Demenz zu erkranken. Ab dem 60. Lebensjahr verdoppelt
sich das Risiko alle fünf Jahre. Jenseits der 90 trifft es jeden Dritten. Und diese Schwelle überschreiten
immer mehr. ADI zufolge haben bislang nur 13 Länder eine nationale Strategie entwickelt, wie sie das
Problem auf lange Sicht angehen wollen.
Am anderen Ende
des Lebens
F RA N K ST ERN
(Quelle: Wikipedia/Alzheimer’s Disease International)
zum Abendessen Wein, werden sie mit der Familie des
Bewohners extra abgerechnet.
men, vermeiden wir unnötige Konflikte und Aggressionen.
Die Bewohner sind ausgeglichener und ruhiger.«
Es wurde zu Beginn auch untersucht, welche Wohnmilieus
besser miteinander zurechtkommen, und das Design
der Anlage entsprechend ausgerichtet. Stellt sich heraus,
dass sich ein Bewohner in der Kategorie nicht wohl fühlt,
die mit Hilfe seiner Angehörigen für ihn ausgewählt wurde, wird er in eine Wohneinheit verlegt, die ihm besser
zusagt. In dieser kleinen Welt können sich die Patienten
frei bewegen, und wenn sie nicht zu ihrer Wohnung
zurückfinden, sind immer »Nachbarn« zur Stelle, die sie
an die Hand nehmen. Tagsüber sind die Türen offen,
nachts werden sie verschlossen. Per Kamera überwacht
der Nachtdienst Wohn- und Schlafzimmer. Bemerkt er
etwas Ungewöhnliches, kann er sofort eingreifen.
Die reine Lehre
Auch der Barkeeper im Pub ist auf die besondere Kundschaft eingestellt. »Es kann schon mal passieren, dass
jemand ein Bier bestellt, es im nächsten Moment vergessen hat und rausgeht«, sagt Yvonne van Amerongen. In
De Hogeweyk kein Problem. An dieses neue Konzept der
Betreuung von dementen Menschen, an diese Art von
»Normalität« hatte sich auch das Pflegepersonal erst gewöhnen müssen, setzt die Managerin hinzu. Während die
Betreuer in den Wohngemeinschaften des Arbeitermilieus
eher als Nachbarn und Freunde wahrgenommen werden,
behandeln sie die höheren Schichten zuweilen von oben
herab, so als wären sie Bedienstete. »Nicht jedem von den
Kollegen hat das anfangs gefallen«, sagt van Amerongen.
»Doch indem wir die früheren Lebensumstände nachah-
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Auch wenn die Vertreter der reinen Lehre das als
Schwindel und Festschnallen mit anderen Mitteln
ansehen, können sie kaum bestreiten, dass sich die in
De Hogeweyk praktizierte Behandlungsform positiv auf
das Wohlbefinden der Patienten auswirkt. »Uns geht
es um Lebensqualität«, sagt van Amerongen. »Es geht
darum, dass die Bewohner die Zeit bis zu ihrem Tod –
im Schnitt sind das drei bis dreieinhalb Jahre – mit möglichst wenigen Einschränkungen und bester Pflege
verbringen können.« Damit sie lange mobil bleiben,
bietet das Dorfleben 35 unterschiedliche Aktivitäten an:
von Musikaufführungen im Mozartsaal bis zum Bingo,
von gemeinsamen Kochstunden über Schwimmen bis
zum Treff des königstreuen Oranje-Vereins.
Dabei ist De Hogeweyk keine von der Außenwelt abgekapselte Anstalt. Auch wenn die Bewohner aufgrund
ihrer Erkrankung das Demenzdorf nicht mehr allein
verlassen können, für Gäste von außerhalb ist es jederzeit zugänglich – nicht nur für die Angehörigen der
Patienten. Supermarkt und Restaurant, Pub und Theater
stehen auch Besuchern von außerhalb offen. »Und es
wird angenommen«, sagt van Amerongen. »Wir holen
das Leben in unser Dorf.«
W W W. H O G E W E Y. N L
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Ibrahim
Irgendwann schmierte seine Mutter Kot an die Wände. An die Wände
und auf den Fußboden, an die Vorhänge, ans Bettzeug – sie ließ nichts
aus. Für andere wäre spätestens das der Punkt gewesen, sich nach einer
Pflegeeinrichtung für Alzheimerkranke umzusehen. Martin Woodtli hat
stattdessen eine gegründet. Am anderen Ende der Welt.
Die Anfangsphase, sagt Martin Woodtli, sei die schwierigste. Wenn die Betroffenen quasi live miterleben, wie
sich ihre Erinnerungen auflösen, eine nach der anderen.
Wenn ihnen bewusst wird, dass die Lücken unaufhaltsam
größer werden und die Wut über die zunehmenden Aussetzer in Verzweiflung umschlägt. Wenn sie erkennen,
dass sie verloren sind. »Doch es kommt der Zeitpunkt,
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da überschreiten sie dann eine letzte Grenze«, sagt der
Schweizer. Die Grenze zur erinnerungslosen Zeit. Er hat
seine Mutter durch alle Phasen begleitet. Bis in den Tod.
Am Ende hielt sie ihren Sohn für einen Fremden.
Sagt der Arzt zum Patienten: »Sie haben Krebs und Alzheimer.« Sagt der Patient: »Na zum Glück keinen Krebs.«
15
GLOBAL
Martin Woodtli – hier mit seiner Frau Nid und
Sohn Pepino – kam 2002 mit seiner demenzkranken
Mutter nach Chiang Mai, nachdem sich sein Vater in
der Schweiz das Leben genommen hatte
Es begann schleichend. Es beginnt immer schleichend.
Wo hab ich jetzt den Schlüssel gelassen? Ist die Herdplatte aus? Wie war noch gleich Ihr Name? Nichts
Beunruhigendes, alles im Rahmen. Doch die Ausfälle
häufen sich, werden gravierender, belasten. Auch Margrit
Woodtli driftete zunehmend in eine Parallelwelt ab.
Ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. Eine Tragödie,
die ihren Mann, den sie einst liebte und den sie nun
einfach vergaß, verzweifeln ließ. Am 25. Februar 2002
nahm er sich das Leben.
Und doch, das Experiment gelang. Margrit Woodtli
nahm die neue Umgebung schnell als vertraut an,
Chiang Mai wurde in ihrer Welt zu ihrer Heimatstadt
Münsingen, sie glaubte, ein Haus als ihre frühere Schule
zu erkennen, sprach mit ihren Pflegerinnen, als seien
es alte Bekannte. Auf Schwyzerdütsch. Sprachbarriere?
»Es hat sich in manchen Situationen sogar als Vorteil
erwiesen, dass die Betreuerinnen ihre Patienten nicht
verstehen«, lautet Woodtlis Fazit aus zwölf Jahren Praxis.
»Wo ich noch manchmal versucht bin, auf unsinnige
Bemerkungen zu reagieren und zu argumentieren, nehmen sie sie mit einem Lächeln hin. Argumente haben
hier ihre Bedeutung verloren.« Im Januar 2006 ist seine
Mutter im Alter von 77 Jahren in der fremd-vertrauten
Heimat gestorben. Die Asche brachte der Sohn zurück
in die Schweiz.
Nun war es an Martin Woodtli, die Betreuung zu übernehmen, doch die wurde immer schwieriger, die Mutter
nennt ihren Sohn Sauhund; sie reibt sich Zahnpaste ins
Gesicht; statt der Semmel isst sie die Serviette. Woodtli,
selbst Sozialarbeiter, stößt an seine Grenzen. Wie viele in
seiner Situation sieht auch er sich nach einem geeigneten
Pflegeheim um, doch er findet nur Verwahranstalten mit
hohen Kosten und zu wenig Personal, wo die Patienten
routinemäßig »fixiert« werden. Klingt besser als »gefesselt«. Es sind keine Orte, an denen er seine Mutter guten
Gewissens in Obhut geben könnte.
Heute zählt Baan Kamlangchay zwölf »Gäste« zwischen
59 und 91 Jahren, die in neun, über die Siedlung Faham
Village verstreuten Einfamilienhäusern leben und von
jeweils drei Pflegekräften im Wechsel rund um die Uhr
betreut werden. Deren Bezahlung bewegt sich je nach
Qualifikation zwischen 9000 und 15 000 Baht pro Monat
(200 bis 340 Euro). »Insgesamt liegen die Kosten für
einen Platz in der tropischen Wohngemeinschaft mit
monatlich rund 2900 Euro um ein Drittel bis zur Hälfte
unter dem, was für die Vollpflege in der Schweiz oder
in Deutschland anfallen würde«, sagt Woodtli.
Fremd-vertraute Heimat
Der 53-Jährige schätzt die Sanftheit der Thailänder im
Umgang mit alten Menschen, ihre Geduld und Fürsorge,
ihren Respekt. Ein Wesenszug, der die Integration der
aus ihrer Welt gefallenen Patienten im Faham Village
erst möglich gemacht hat. Die »Großfamilie« ist ins
Dorfgeschehen eingebunden, besucht den Tempel und
geht auf dem Markt einkaufen. Für ihre demenzkranken
Nachbarn hat die Gemeinde dort extra Holzbänke mit
Kissen aufstellen lassen. Und die Dorfgemeinschaft trauert mit den »Farangs«, den Europäern, um jeden ihrer
Toten. Seit Bestehen der Einrichtung sind acht Mitglieder
der Baan Kamlangchay-Kommune gestorben und wurden
nach buddhistischem Ritus verbrannt.
Szenenwechsel. Chiang Mai im Norden von Thailand. Hier,
in einer ruhigen Siedlung am Rande der Stadt, startete
Martin Woodtli vor zwölf Jahren mit seiner Mutter ein Experiment, von dem ihm manche Fachleute dringend abgeraten hatten, und das heute oft als Modell für den humanen
Umgang mit Alzheimerkranken angeführt wird. Baan
Kamlangchay hat er es genannt, Haus der Ermutigung.
Soll man einen alten Baum verpflanzen? Darf man es?
Verwirrt der Ortswechsel die ohnehin Orientierungslosen nicht noch mehr? »Was hatten wir zu verlieren?«
entgegnet Woodtli auf den Einwand. »Wäre das Experiment fehlgeschlagen, hätte ich mit meiner Mutter jederzeit zurück in die Schweiz gehen können. Den Versuch war
es wert.« Er kannte das Land, seit er in den 90er Jahren in
Chiang Mai für »Ärzte ohne Grenzen« ein AIDS-Projekt
aufgebaut hatte. Er kannte die Menschen, er beherrschte
die Sprache. Seine Mutter nicht.
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In der Schweiz könnte sich Woodtli wahrscheinlich vor
Auflagen nicht retten, in Thailand aber kommt er ohne
einen großen Verwaltungsapparat aus, ohne Pflegestufen, ohne die Abrechnung von Leistungen nach
Minutentakt. Ein wenig deplatziert erscheint da vielleicht
die Stempeluhr am Eingang zum Haupthaus, wo sich
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jeder Angestellte zu Arbeitsbeginn an- und nach Dienstschluss wieder abmeldet. »Und doch ist sie hilfreich, um
den Überblick zu behalten«, sagt der Pflegechef. Soviel
Schweiz muss sein.
Mittagszeit. Woodtlis thailändische Frau Nid kehrt gerade
von einer Gemeinderatssitzung zurück. Der gute Draht
zu den Ortsvorstehern ist für den reibungslosen Betrieb
des Pflegeheims immens hilfreich. Nach und nach kommen nun auch die Mitglieder von Woodtlis »Großfamilie«
zum Mittagessen, manche am Arm ihrer Pflegerinnen,
die Schwächeren im Rollstuhl. Zum Beispiel Gustav, den
seine Betreuerin Amporn beim Kartenspiel immer gewinnen lässt, weil er sonst wütend wird; Elisabeth, die
durch einen hindurch sieht und ständig fragt: »Was mache ich hier?«; Bernhard, einst eine Ikone des Schweizer
Journalismus, und nun ein Wrack, das gefüttert werden
muss; oder Geri, der zum Leidwesen seiner Betreuerin
den ganzen Tag herumläuft, weil ihn etwas umtreibt,
von dem niemand je erfahren wird, was es ist.
Ibrahim
Es gab vielleicht mal Zeiten, da hat Martin Woodtli über
so was lachen können. Zeiten, als Alzheimer, der unwiederbringliche Gedächtnisverlust, noch nicht in sein Leben
gedrungen war. Als sein Vater sich noch nicht aufgehängt hatte, und seine Mutter beide noch erkannte.
Keine Wunderwaffe
»Wir schränken den Bewegungsdrang nicht ein«, sagt
Woodtli. »Wenn jemand irgendwohin will, dann begleitet ihn die Betreuerin eben. Durchs ganze Dorf und
darüber hinaus, wenn’s sein muss. Durch die unbeschränkte Mobilität geht es hier einfach entspannter zu.«
Was unter anderem dazu geführt hat, dass die Dosis
an Medikamenten, die den Patienten bis zu ihrer Übersiedlung nach Chiang Mai zur Ruhigstellung verabreicht
wurden, drastisch heruntergefahren werden konnte. »In
allen Fällen«, sagt Woodtli. »Oft können wir sogar ganz
darauf verzichten.«
Trotz der guten Erfahrungen verkauft der Schweizer
sein Modell nicht als Wunderwaffe im Kampf gegen den
Pflegenotstand in der westlichen Welt. »Ich finde nicht,
dass Thailand für alle die Lösung ist«, erläutert er seine
Sicht. »Sie wurde es für mich aus einer sehr persönlichen
Situation heraus. Es ist ein Nischenangebot, vielleicht auch
ein Denkanstoß, dass man ganz verschiedene Dinge ausprobieren sollte.« Einige westliche Investoren haben den
Anstoß auf ihre ganz eigene Weise aufgegriffen und
planen, in Thailand große Pflegeheime für europäische
Alzheimerpatienten zu errichten. Einige hatten ihm
angeboten, mit einzusteigen, aber Woodtli lehnte ab.
Wenn zuallererst von Rendite und der Anzahl der Betten
die Rede ist statt von Menschen, wird er misstrauisch.
Kritiker führen ins Feld, dass Baan Kamlangchay und
ähnliche Projekte in Thailand und anderswo der Versuch
seien, sich auf billige Weise eines lästigen Problems
zu entledigen. Der Leiter eines Schweizer Pflegeheims
sprach gar von Deportation. Abschieben, entgegnet
Martin Woodtli, das könne man auch in ein Heim in
Deutschland oder der Schweiz, wo man die dementen
Anverwandten abliefert und sich dann nie wieder blicken
lässt. »Wenn ich den Eindruck hätte, dass Familien ihre
Angehörigen nur loswerden wollen – ich würde mich
nicht zum Komplizen machen«, sagt er. »Doch die
Menschen, mit denen ich bislang zu tun hatte, suchten
alle einen Platz, an dem ihre Familienmitglieder eine
möglichst liebevolle und gleichzeitig professionelle
Betreuung in familiärer Umgebung erhalten.«
Im Haus der Ermutigung haben sie beides offenbar
gefunden.
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Allianz Journal 3/2014
Roth
GLOBAL
»Die Wohnformen
werden sich ändern«
Michaela Grimm, Volkswirtin im Bereich Group Public Policy
& Economic Research der Allianz, zum Anstieg der Zahlen
von Demenzerkrankungen und den Auswirkungen auf die
Gesellschaft.
Frau Grimm, in Deutschland werden
heute 70 Prozent der pflegebedürftigen
Menschen in der Familie betreut. Doch
während die Zahl der Erkrankungen
kontinuierlich steigt, geht die Zahl der
Kinder, die die Betreuung übernehmen
könnten, zurück. Steuern wir auf einen
Pflegenotstand zu?
Pflegekräfte fehlen ja heute schon. Und die
Situation wird sich weiter verschärfen. Es gibt
Untersuchungen, wonach in zehn Jahren in
Deutschland über 110 000 vollzeitbeschäftigte
Pflegekräfte fehlen werden.
IN TERV I EW: FRANK S TERN
Wäre Thailand eine Alternative?
Pflege im Ausland ist sicher eine Option,
aber nicht für jeden die Lösung. Nicht jeder
kann sich vorstellen, im Ausland zu leben.
Für Demenzkranke sind die gewohnte
Umgebung und der Kontakt mit Familie,
Freunden und Nachbarn wichtig.
Ab einem bestimmten Stadium erkennen die Patienten ihre Freunde und
Familie doch gar nicht mehr.
Man weiß nicht, was die Betroffenen noch
erkennen, oder was sich in ihrer Gefühlswelt abspielt. Darüber hinaus stellt sich die
Frage, ob die Angehörigen wollen, dass
ein demenzkrankes Familienmitglied weit
entfernt irgendwo im Ausland in einer Einrichtung lebt und jeder Besuch mit hohem
Aufwand verbunden ist.
Wie kann man sich als heute noch
gesunder Mensch auf so ein Schicksal
vorbereiten?
Man sollte sich ein finanzielles Polster
zulegen – zum Beispiel über eine Pflegeversicherung, um im Alter die Mittel für
den pflegegerechten Umbau der Wohnung
oder des Hauses zu haben und angemessene Pflege organisieren zu können. Sei es
häusliche Pflege oder formale Pflege durch
RemPods
Michaela Grimm
ambulante Dienste oder auch der Umzug
in ein Pflegeheim.
All das ändert nichts daran, dass Pflegepersonal fehlt.
Wir wissen nicht, wie in Zukunft die Verfügbarkeit von Pflegekräften aussehen wird.
Aber es gibt bereits jetzt verschiedene alternative Konzepte, von denen Sie ja auch einige
auf diesen Seiten beschreiben. Ich finde es
richtig, dass solche Projekte wie in den Niederlanden oder Thailand ausprobiert und
umgesetzt werden. Wir werden in Zukunft
eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Modelle
sehen – Familienbetreuung, ambulante
Pflege, Alten-WGs, Demenzdörfer. Die Wohnformen werden sich mit Sicherheit ändern.
Ein Universalmodell, das für alle Fälle geeignet ist, gibt es nicht.
Norman Neschen holte die RemPods-Idee nach Deutschland
Bühne frei für
die Erinnerung
Erinnerungen mögen schön sein oder traumatisch. In jedem Fall machen sie uns zu
dem, was wir sind. Fehlen sie, versinkt das Leben im Nichts. Der Brite Richard Ernest
hat einen Weg gefunden, wie er in Demenzkranken wieder ein Gefühl für das Leben
entfacht. Reminiscence Pods, eine Art Bühnenbild mit musikalischer Untermalung,
befreien die Menschen aus ihrem Dämmerzustand und sorgen für längst verloren
geglaubte Emotionen. Nach erfolgreicher Anwendung in England, hat Ernest seine
Idee im Sommer erstmals in Deutschland vorgestellt.
M ICHA EL G RIM M
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Allianz Journal 3/2014
GLOBAL
Ernests Erfindung besteht aus mobilen Stellwänden
mit unterschiedlichen Tapetendrucken und Requisiten.
Sein erstes Set gestaltete er in Form eines Wohnzimmers
im Stil der 60er Jahre, mit dazu passenden Möbeln, einem
Retro-Plattenspieler, auf dem Platten von den Beatles oder
Edith Piaf knistern, einem holzverkleideten Fernseher,
über den Originalaufnahmen flimmern, sowie Zeitschriften und Gesellschaftsspielen von früher. Was aussieht
wie ein Bühnenbild aus einem Kammertheater, ist für
Demenzkranke eine Brücke in eine verloren gegangene
Gefühlswelt.
Dass sich der heute 36-jährige Brite und Familienvater damit selbst eine Brücke in ein neues Leben bauen würde,
hätte er sich nicht träumen lassen. »Und doch begann
alles mit einem Traum«, erzählt Ernest bei der Vorstellung
der RemPods im Seniorenzentrum Theo-Burauen-Haus
in Köln. Vor sechs Jahren, er war infolge der Finanzkrise
gerade seinen Job in der Verlagsbranche losgeworden,
klingelte es an der Tür seines Reihenhauses in Stroud,
einer kleinen Stadt in der Grafschaft Gloucestershire.
Sein 92 Jahre alter Nachbar fragte, ob er ihn zu seiner
an Alzheimer erkrankten Frau ins Pflegeheim fahren
könnte. Ernest willigte ein.
»Komplett übergeschnappt«
Nie zuvor hatte er ein solches Heim betreten. Und was
er sah, schockierte ihn zutiefst. Wenige Tage nach dieser
Erfahrung brachen sich seine Eindrücke Bahn. Ernest
träumte davon, wie er ein Loch in die kalte, graue Krankenhausatmosphäre reißt, wie er mithilfe von Stellwänden
Licht ins Dunkel bringt und damit Wohlgefühl erzeugt.
»Dieser Traum hat sich so real angefühlt. Ich musste die
Idee nur noch in die Realität umsetzen.«
Daran, dass darüber beinah seine Beziehung zerbrach
und ihn Freunde und Verwandte für komplett übergeschnappt hielten, kann sich Ernest heute mit einem
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dabei je nach Motiv zwischen 1700 und 2000 Euro pro
Set. Allein in England sind schon mehr als 700 RemPods
fester Bestandteil von Seniorenzentren und Pflegeheimen.
Für den US-amerikanischen Markt hat Ernests Team
eigene Modelle entwickelt. Die mobilen Stellwände
zeigen Szenen aus einem klassischen Diner und einem
Barbershop aus den 60er Jahren. Um den Vertrieb in
Deutschland will sich Neschen kümmern. Als erste
Erinnerungs-Wand sollen die 60er-Jahre-WohnzimmerPods erhältlich sein.
Lächeln zurückerinnern, denn sein Plan ging auf.
Nachdem er die erste Erinnerungsstellwand für seine
Nachbarin gebaut hatte, verlangten immer mehr Heime
nach seinen RemPods. Von ihnen profitieren nicht nur
die Betroffenen selbst, sondern auch die Angehörigen,
die anderen Heimbewohner und letztlich auch das
Pflegepersonal.
Als Norman Neschen im Herbst 2013 über das Fernsehen
von dieser Idee erfuhr, war für ihn klar: die RemPods
müssen auch in deutschen Heimen zum Einsatz kommen.
Der 38-Jährige kümmert sich seit Jahren um Menschen
mit Demenzerscheinungen im Kölner Theo-BurauenHaus. Dass es über die Wirkung der RemPods noch keine
wissenschaftlichen Studien gibt, hielt ihn nicht davon ab,
Ernest sofort nach der Reportage zu kontaktieren. Ein
halbes Jahr später präsentierte das deutsch-britische Duo
die Nostalgiewände, wie Neschen die RemPods nennt,
in Köln.
In einem Meer voller Rätsel
Um den richtigen Nerv der Patienten zu treffen, beschäftigt Ernest Mitarbeiter, die ständig neue Motive suchen,
sich mit den Angehörigen von Patienten unterhalten und
Erinnerungen freigraben. Ein Schreiner formt die Ergebnisse der Recherche schließlich in Erlebbares für die Sinne.
Eine kleine Redaktion kümmert sich um die Zusammenstellung der Inhalte für die Magazine und Fernsehsendungen. Für den individuellen Touch sorgen die Angehörigen,
die den RemPods persönliche Erinnerungsstücke hinzufügen, wie etwa kleine Möbel oder Bilder.
»Das Wichtigste für mich ist, dass wir mit den Nostalgiewänden einen völlig neuen Zugang zu dementen Menschen finden können«, sagt Neschen. Die RemPods sind
ein beliebter Treff, es wird geplauscht, die Heimbewohner öffnen sich, zeigen Gefühle. Neschen weiß, dass ein
Lächeln in einem scheinbar schon erloschenen Gesicht
manchmal mehr zählt als Empirie.
Doch genau diese Hürde hätte die Erfolgsgeschichte
beinah im Keim erstickt. Nachdem Ernest seine gesamten Ersparnisse in die Entwicklung der ersten RemPods
gesteckt hatte, bewarb er sich als Kandidat für die BBCFernsehserie »Dragons‘ Den«. In der Reality TV-Show
werben findige Köpfe für eine Anschubfinanzierung ihrer
Geschäftsideen. Wenn Ernest einen entscheidenden
Moment in seinem Leben auf Tapete drucken müsste,
sein Auftritt in der Höhle der Drachen wäre sicher ein
Motiv. Dunkle Holzdielen, rußige Backsteine, dämmriges
Licht, vor ihm eine Jury aus fünf düster dreinblickenden
Investoren. Dreien war der wissenschaftliche Unterbau
der RemPods zu dünn. Die übrigen zwei schlugen nach
einigem Zaudern schließlich ein und gaben Ernest ein
Startkapital von 100 000 Pfund.
auf einmal wieder Lust haben, zu essen und zu trinken.
Am Anfang musste sich Ernest gegen Skeptiker wehren,
die seine Erfindung als gewinnbringenden Hokuspokus
abtaten. Doch der breitschultrige Brite mit den sanften
Gesichtszügen und der sonoren Stimme hat dazugelernt.
Er wehrt sich gegen das Urteil der Illusion.
Wenn es sein muss, beantwortet er Fragen nach wissenschaftlichem Nutzen und Wirtschaftlichkeit mit dem
Hinweis, dass seine Erfindung unter anderem den Einsatz von Medikamenten reduziert. Vor allem aber zählen
für Ernest die zwischenmenschlichen Momente, die
entstehen, wenn ein Patient zum ersten Mal mit seinen
Stellwänden in Kontakt kommt – so wie zum Beispiel
ganz zum Schluss der Vorstellung des Tanzsaal-RemPods
im Seniorenzentrum in Köln, als eine ältere Demenzpatientin den Ring von Journalisten und Heimmitarbeitern
durchbricht, ihren Betreuer Norman Neschen sanft
anlächelt und ihn schließlich zum Tanz auffordert.
W W W. R E M P O D S .C O.U K
RemPods erzeugen Emotionen in Menschen, holen sie
heraus aus einem Meer voller Rätsel, geben ihnen Halt
und Lebensfreude. Immer wieder berichten Pfleger, wie
sich ihre Patienten verändern, zum Beispiel indem sie
beide Fotos: RemPods
Es gibt Augenblicke im Leben, die man nicht vergisst.
Sie graben sich ins Unterbewusstsein wie Gebirgsbäche
ins Gestein. Bei Menschen mit Demenz werden diese
Erinnerungstäler zugeschüttet. Richard Ernest hilft das
Relief der Erinnerung zu erhalten, indem er vertraute
Momente wieder freilegt, sie erlebbar macht. Mit so
genannten Reminiscence Pods, kurz RemPods, gibt der
Brite Demenzkranken und ihren Angehörigen wieder
ein Stück Lebensqualität zurück.
Am Anfang musste Richard Ernest für
seine Idee kämpfen, doch der Erfolg gab
ihm Recht
Inzwischen ist das Sortiment der Rempods auf zwölf
Modelle angewachsen. Dem ursprünglichen 60er JahreWohnzimmermotiv folgten Arrangements, die die
Patienten unter anderem in einen prunkvollen Tanzsaal
oder ihren Lieblingspub entführen. Die Kosten schwanken
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GLOBAL
Alphörner und
Medaillen
Schweizerfahne, Alphörner, Kuhglocken – bei der
Eröffnungsfeier der Allianz Sports auf der Radrennbahn
im Züricher Stadtteil Örlikon zauberten die Organisatoren
typisches Schweizer Ambiente auf die Bühne. Pünktlich
zum Auftakt waren zuvor bereits die 45 Teilnehmer der
1000 Kilometer langen Fahrradtour von Allianz Global
Assistance, die eine Woche zuvor in Venedig gestartet
war, in Zürich eingetroffen. Unter lautstarken Rufen der
Teams zogen dann die Fahnen der 47 vertretenen Länder
ein, wobei die deutschen Zuschauer in den Trikots des
Fußballweltmeisters schon mal deutlich machten, wer
bei den Sports ihrer Meinung nach am Ball den Ton
angeben würde. Und sie sollten Recht behalten.
Am Freitagmorgen in einem der Shuttle-Busse, die
zwischen den Veranstaltungsstätten pendelten, schlug die
Stimmung bereits hohe Wellen. Zu dieser frühen Stunde
schätzten die US-Beachvolleyballer ihre Gewinnchancen
noch außerordentlich gut ein, nur um wenig später von
ihren Gegnern recht unsanft auf den sandigen Boden
der Tatsachen zurückgeholt zu werden. Doch auch wenn
manche Blütenträume nicht in Erfüllung gingen, tat das
der guten Stimmung unter den Teams keinen Abbruch.
alle Fotos: Allianz
1000 Sportler aus 47 Ländern
vor alpenländischer Bergkulisse – im Juli gingen in der
Schweiz die VII. Allianz Sports
über die Bühne. Am Ende
stand auch in Zürich fest:
Im Fußball ist Deutschland
derzeit nicht zu schlagen.
Als gute Verliererin erwies sich auch Caitlin Lloyd aus
Großbritannien. Die 23-Jährige erkannte die Leistung
ihrer Gegnerin Jessica Lewerenz vom Team Deutschland
Süd neidlos an, die im 1500-Meter-Lauf die Goldmedaille
gewann. Für Jessica Lewerenz hätte es kaum besser laufen
Höher – schneller – weiter: Teams aus aller Welt kamen im Sommer
zu den VII. Allianz Sports nach Zürich
KA RI N N E A L
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Allianz Journal 3/2014
alle Fotos: Allianz
GLOBAL
Der Pionier vom Sprachendienst
Bei den Allianz Sports in Zürich wurde erstmals ein
Rollstuhlturnier veranstaltet, an dem auch zehn Allianz
Mitarbeiter teilnahmen. Zusammen mit Behindertensportlern bildeten sie fünf Teams, die auf dem speziell
angelegten Rollstuhlparcour gegeneinander antraten
Erich Hubel trat vor 20 Jahren als Übersetzer in den Dienst der Allianz – im
Anschluss an eine große Sportlerkarriere. Geboren 1951 in München wuchs Hubel
in Australien auf. Im Alter von sieben Jahren erkrankte er an Kinderlähmung – zwei
Wochen bevor die Impfung gegen Kinderlähmung an seiner Schule eingeführt
wurde. »Den Letzten beißen die Hunde«, sagt Hubel dazu heute ohne Groll. Er lernte
mit der Behinderung zu leben. Sportbegeistert probierte er trotz des Handicaps
zahlreiche Sportarten aus, bis er im Alter von 22 Jahren seine sportliche Bestimmung fand: Rollstuhlbasketball.
Er bedauere diesen späten Einstieg, erklärt Hubel, aber »ich wusste schlichtweg
nicht, dass es existiert«. Schnell lernte er das Spiel lieben, schloss sich 1974 dem
Rollstuhl-Basketballverein in Melbourne an, wurde 1979 zum Sportler des Jahres
gewählt und später zum Kapitän der australischen Rollstuhlbasketball-Nationalmannschaft. Als Chef des Organisationskomitees betreute er die RollstuhlbasketballWM 1986 in Melbourne. Hubel wurde damit zu einem der Pioniere des australischen Behindertensports. Einer seiner Gegner war damals der heutige Präsident
des Internationalen Paralympischen Komitees, Sir Philip Craven.
Neben dem Rollstuhlbasketball war Hubel auch in anderen Sportarten erfolgreich.
So gewann er bei den Paralympics 1980 in Holland zwei Silbermedaillen über 800
und 1500 Meter und Bronze über 100 Meter im Rollstuhlrennfahren. 1981 gewann
er den Melbourne Marathon. Obwohl er so lange Zeit in Australien lebte und »zwei
Herzen in seiner Brust schlagen«, wie er sagt, war die Rückkehr nach Deutschland
immer ein großer Wunsch: »Ich wollte zurück zu meinen Wurzeln«, sagt er. 1989
ging er dann zurück nach München, wo er weiterhin erfolgreich Rollstuhlbasketball spielte und mit dem USC München Deutscher Meister wurde. Später zwangen
ihn Verletzungen zum Rücktritt.
Erich Hubel (li.) bei den Allianz Sports in Zürich
Im Jahr 1994 startete Hubel dann als Übersetzer beim Sprachendienst der
Allianz. Neben dem Sport gehört sein Herz der Musik. Seit 2000 ist er Mitglied
der »Blue Eagles«, einer von Allianz Mitarbeitern gegründeten Band. Mit ihr
trat Hubel auch bei den diesjährigen Allianz Sports in Zürich auf, was für ihn
bedeutete, dass er seine beiden Leidenschaften vereinen konnte: Musik
und Rollstuhlbasketball._Daniel Noe
können. Bei ihrer ersten Sports-Teilnahme sicherte sie sich
nicht nur den Sieg im 1500-Meter-Rennen, sondern gewann auch noch Silber über die 3000 Meter. Keine Frage,
wo sie das her hat: Im Halbmarathon holte ihre Mutter,
Elke Lewerenz, für das Team Deutschland Süd ebenfalls
Silber. Caitlin Lloyd aber schaute nach vorn: »Es gibt immer
ein nächstes Mal«, machte sie sich Mut.
Monika Fischer vom Team Deutschland Süd wollte nicht
so lange warten. Wie schon in Budapest sicherte sie sich
in ihrer Altersgruppe auch in Zürich Gold über 1500 und
3000 Meter. Alain Decorde aus Frankreich – mit seiner
siebten Teilnahme hält er unangefochten den Rekord –
verabschiedete sich mit einem überzeugenden Auftritt
von den Allianz Sports und lief über 100 Meter bei den
über 55-Jährigen der Konkurrenz ein letztes Mal davon.
Während es die Bocciaspieler ruhig angehen ließen, ging
es auf dem benachbarten Fußballfeld umso lauter zu.
Die geplante Revanche für die WM-Schmach von Belo
Horizonte gelang den Brasilianern allerdings nicht, sie
mussten sich im Halbfinale gegen Deutschland Nord mit
4:1 geschlagen geben. Beim Spiel um Platz 3 unterlagen
sie auch noch Italien mit 5:1 – es ist nicht das Jahr des
brasilianischen Fußballs. Dafür waren die Deutschen auch
bei den Allianz Sports nicht zu stoppen. Im Finale standen
sich schließlich Deutschland Nord und Deutschland Süd
gegenüber – mit dem glücklicheren Ende für die Norddeutschen, die knapp mit 4:3 gewannen.
Im Basketball trafen im Finale, wie schon in Budapest,
wieder Russland und Italien aufeinander. Auch wenn die
italienischen Fans ihr Team enthusiastischer anfeuerten,
auf dem Platz behielten die Russen mit 99:82 Punkten
recht deutlich die Oberhand. So wie Phil Wicks aus Großbritannien im Halbmarathon, der nach einer Stunde, sechs
Minuten und 15 Sekunden über die Ziellinie lief. Danach
passierte eine Viertelstunde lang nichts, bevor schließlich
knapp hintereinander Mateusz Dabrowski aus Polen und
als Dritter der Kolumbianer Castillo Sergio Veloza eintrafen.
In vier Jahren finden die Allianz Sports dann in der bayerischen Landeshauptstadt statt – Servus München.
Großer Sport
Wenn man sich mit Evan O’Hanlon unterhält, hat man das Gefühl, dass man es mit einem kerngesunden 100-MeterSprinter zu tun hat. Dabei ist der 26jährige Australier körperlich stark eingeschränkt. Er kann die linke Körperseite
kaum benutzen, die Koordination seines linken Armes bereitet ihm Probleme, ein Greifen mit der linken Hand ist kaum
möglich. Grund ist ein angeborener Hirnschaden. Ärzte sind immer wieder überrascht, wie er es überhaupt schafft,
sich auf den Beinen zu halten. Doch trotz der Einschränkung ist Evan O’Hanlon einer der schnellsten Paralympioniken
der Welt. Bei den Allianz Sports in Zürich lief er als einer von zehn Behindertensportlern im Vorlauf über die 100 Meter
Weltjahresbestzeit.
Aufgewachsen in Sydney zog O‘Hanlon nach dem Schulabschluss nach Canberra, wo er im »Australian Institute of
Sports« seit über acht Jahren trainiert. Nebenbei absolviert er gerade ein Studium in Landschaftsarchitektur. »Meine
Mutter ist Landschaftsarchitektin, mein Vater und meine Schwester sind Architekten – da lag dieses Studium nahe«,
sagt er. Daneben hat er mit seiner Verlobten vor kurzem ein eigenes Café eröffnet.
Aktuell aber gilt seine volle Konzentration seiner Sportlerkarriere: Bereits fünfmal gewann er in der Kategorie T38 Gold
bei den Paralympischen Spielen über 100 und 200 Meter. Vor allem die Paralympics in London seien ein Wendepunkt
in der Wahrnehmung von Paralympioniken gewesen, sagt er. In Australien sieht er dennoch Nachholbedarf.
Evan O’Hanlon
Die Einbindung von Paralympioniken bei Veranstaltungen wie den Allianz Sports sieht O‘Hanlon als einen Weg, in der
Öffentlichkeit das Bewusstsein zu schaffen, dass auch behinderte Sportler in der Lage sind, großen Sport zu bieten:
»Man sollte Menschen nicht abschreiben, nur weil sie in einem Rollstuhl sitzen.«_Daniel Noe
HT T P S://E V ENT S. A LLI A NZ .CO M. AW IN/A LLI A NZ _ SPO RT S
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Allianz Journal 3/2014
Deutschland
Auch Frank Tepper, einziger Allianz Vertreter am Ort,
hat den Schwund zu spüren bekommen. Um rund 20
Prozent sei sein Bestand in den letzten Jahren zurückgegangen, sagt er. Im August hat Tepper die Agentur an
seinen Nachfolger Stefan Wolf übergeben. Der ist gerade
30 Jahre, gut ausgebildet, ledig. Allzu viele findet man in
der Gegend nicht mehr von seiner Sorte. Während etliche
seiner Altersgenossen – Frauen noch mehr als Männer –
längst das Weite gesucht haben, ist Wolf geblieben.
»Weggehen kam für mich nie in Frage«, sagt er. Auch
wenn die Statistiken ziemlich düster scheinen – Wolf
glaubt an eine Zukunft für Kalbe.
Stern
Notorisch klamm
Notizen aus der Provinz
Sachsen-Anhalts Bevölkerung schrumpft wie in keinem
anderen Bundesland. Seit der Wende hat jeder fünfte
Einwohner seiner Heimat den Rücken gekehrt, und
die Zurückgebliebenen sind in die Jahre gekommen –
nirgendwo sind die Deutschen älter. Besuch in einem
Krisengebiet.
FR AN K ST E R N
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Sachsen-Anhalt gilt als das vom demographischen Wandel
am stärksten betroffene Bundesland. Von den 20 Gemeinden mit den schlechtesten Demographiewerten
in Deutschland liegen sechs zwischen Altmark und Burgenlandkreis. Nirgendwo sind die Deutschen älter, 2030
werden die Sachsen-Anhaltiner die ältesten Menschen in
ganz Europa sein. Prognosen des Landesentwicklungsministeriums in Magdeburg zufolge steigt der Anteil der
über 65-Jährigen bis dahin von heute 25 auf 36 Prozent.
Und es gibt ja durchaus einige Lichtblicke. Zum ersten
Mal seit der Wende hat das notorisch klamme Städtchen in diesem Jahr einen ausgeglichenen Haushalt
verabschiedet. Und das trotz Straßenausbaus und der
Sanierung von Schule, Kindergarten und Sporthalle.
Auch ein paar Auswanderer haben inzwischen wieder
den Rückweg aus dem Westen angetreten. »Was uns zur
Zeit fehlt, sind vorzeigbare Bauplätze für Eigenheime«,
sagt Bürgermeister Ruth. »Aber wir arbeiten gerade an
einem Flächennutzungsplan, in dem auch ein neues
Eigenheimbaugebiet vorgesehen ist.« Einer der wenigen
Vorteile, die ein Gebiet wie Kalbe bietet, sind günstige
Baulandpreise.
Eines der demographischen Krisengebiete ist Kalbe in
der Altmark, ein Städtchen mit 2600 Einwohnern, zu
dessen größten Arbeitgebern das Seniorenpflegeheim
»Klein Sanssouci« zählt. Umgeben von Wäldern und
Feldern, fernab der Autobahn und ohne direkte Bahnverbindung hat Kalbe an der Milde alles, was einen
Ort ohne Zukunft auszeichnet. Außer einem Solarpark
mochte sich bislang kein Betrieb in seinem Gewerbegebiet ansiedeln.
In den 90er Jahren hatte Kalbe versucht, sich als pittoreske Adresse für sanften Tourismus zu empfehlen.
Inzwischen ist die »Stadt der 100 Brücken« staatlich
anerkannter Erholungsort, aber so richtig gezündet hat
die Idee nicht. »Wir haben keine Berge wie der Harz,
wir haben keinen See, wir haben kein Meer«, sagt Ruth.
Dafür könne die Region mit der größten Saatkrähenkolonie
in Europa aufwarten. Ruth überlegt eine Weile, aber
viel Aufregenderes fällt ihm im Moment nicht ein. »Das
Potenzial von Leuten, die sich für Krähen begeistern, ist
natürlich begrenzt«, setzt er hinzu. Der Mann hat Humor.
Den braucht er auch.
Schon bald nach der Wende hatten hier die Großbäckerei
und der Kreisbetrieb für Landtechnik dichtgemacht,
die großen Baubetriebe wanderten ab, und das Grenzregiment wurde mangels Feind abgewickelt. »Alles ist
damals schlagartig weggebrochen, und das hatte eine
massive Abwanderungswelle zur Folge«, sagt Bürgermeister Karsten Ruth. »Mit den Folgen haben wir bis
heute zu kämpfen.«
Karsten Ruth ist parteilos und steht seit fast fünf Jahren
einer Gemeinde vor, zu der durch mehrere Gebietszusammenlegungen neben der Stadt Kalbe heute auch
viele umliegende Dörfer gehören. Die Gesamtfläche ist
von einst 30 auf über 270 Quadratkilometer angewachsen, auf denen sich knapp 8000 Einwohner verteilen,
viele Pendler darunter. Die 60 Kilometer bis zu VW in
Wolfsburg schafft man in gut einer Stunde.
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Allianz Journal 3/2014
alle Fotos: Stern
D EU T S C H L A ND
Kalbes
Bürgermeister
Karsten Ruth
Angaben des Statistischen Landesamtes zufolge
schrumpft die Bevölkerung Sachsen-Anhalts bis 2025
gegenüber 2008 durch Sterbeüberschuss und weitere
Abwanderung um 16 Prozent. Im Altmarkkreis Salzwedel,
zu dem auch Kalbe gehört, rechnet man sogar mit einem
Minus von über 21 Prozent. Und es sind vor allem die
jungen Frauen, die sich in Scharen davonmachen: 2025
werden sich im Altmarkkreis 100 Frauen im Alter zwischen
15 und 45 Jahren unter 124 Männern umsehen können.
Frank Tepper zusammen mit der Leiterin des Projekts Kunststadt Kalbe, Corinna Köbele, und seinem
Nachfolger Stefan Wolf
Nach dem Krieg hatten die Sowjets Ruths Großvater als
Bürgermeister in Kalbe eingesetzt. Damals schrieb sich
der Ort noch mit C, was gelegentlich zu Verwechslungen
mit Calbe an der Saale führte. So hätte das überdimensionierte Kulturhaus von Kalbe, das dort in den 50er Jahren
gebaut wurde, eigentlich an der Saale stehen sollen. Als
man den Fehler bemerkte, waren die Arbeiten bereits zu
weit fortgeschritten. So jedenfalls besagt die Legende.
Um ähnliche Fehler für die Zukunft auszuschließen, habe
man Calbe an der Milde schließlich in Kalbe umgetauft.
»Ein böses Gerücht«, sagt Ruth. Schon der Familienehre
wegen will er nicht an den Schildbürgerstreich glauben.
Ein Hauch von Zukunft
Ob geplant oder nicht, Corinna Köbele hätte schon
ein paar Ideen, wie man das Kulturhaus samt dem seit
Jahren unbespielten Theatersaal wieder beleben könnte.
Die Frau wirkt zerbrechlich, doch der erste Eindruck
täuscht. Köbele ist ein Energiebündel. Nicht zuletzt ihr ist
es zu verdanken, dass durch Kalbe gerade ein Hauch von
Zukunft weht. Fast im Alleingang hat die Psychotherapeutin und Malerin das Projekt »Künstlerstadt Kalbe« auf
die Beine gestellt, das mit mietfreien Wohnungen und
kostenlosen Ateliers Kunststudenten aus Deutschland
und der Welt an die Milde locken soll.
Wenn Kalbe etwas im Überfluss hat, sind es leere Gebäude,
doch anfangs wollte kaum einer der Eigentümer Köbele
und ihre Truppe von Malern, Grafikern, Designern, Musikern
und Autoren über die seit Jahren unbenutzten Schwellen
lassen. Kennt man doch, diese Künstler – nichts als Partys,
Sex und Drogen. Doch Köbele ließ nicht locker. Sie gründete den Verein »Künstlerstadt Kalbe«, stellte ihre Idee im
Stadtrat vor und schlug beim Gewerbestammtisch die Werbetrommel. An dem finden sich regelmäßig auch Frank
Tepper und Stefan Wolf ein. Und die sprangen sofort an.
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Mittlerweile hat sich ihnen ein Großteil der Kalbenser angeschlossen. »Die Resonanz ist unglaublich«, staunt Frank
Tepper. »Die jungen Künstler bringen Leben in unsere
kleine, verschlafene Stadt.« Geht es nach Corinna Köbele,
wird es dabei nicht bleiben. Im österreichischen Gmünd
wie im norddeutschen Worpswede sei das Konzept
Künstlerstadt durch den dadurch angestoßenen »Kulturtourismus« längst zu einem Wirtschaftsfaktor geworden.
Ähnliches möchte die 51-Jährige auch in Kalbe bewirken.
Auch Bürgermeister Ruth hofft darauf, dass die »Künstlerstadt« die Abwärtsspirale aus Abwanderung und
Überalterung bremsen kann. »Wir müssen aus dem,
was wir haben, das Beste machen«, sagt er. Aus der Natur,
aus den Krähen, aus den leerstehenden Wohnungen.
Aus allem. Gleichzeitig bereitet Ruth seine Stadt auf das
Unvermeidliche vor. Einige seit langem ungenutzte
Gebäude wurden bereits abgerissen.
Rapide Abnahme
Und nicht nur sie. Inzwischen schleppen die Einwohner
alte Möbel an, um die Häuser, die zum Teil 20 Jahre leer
standen, für die Gäste wieder bewohnbar zu machen.
Sie versorgen sie mit Obst und Gemüse oder mit selbstgemachtem Kuchen, spendieren Arbeitsmaterial für
Kunstprojekte und stehen Schlange, wenn Rundgänge
durch die Ateliers der jungen Künstler angeboten werden. »Eigentlich unglaublich«, wundert sich Frank Tepper
über seine Mitbürger. Manch Einheimischer habe sich
sogar schon zu eigenen Installationen inspirieren lassen,
erzählt Corinna Köbele. Die Blume in der Kloschüssel hat
mittlerweile Kultstatus.
Der Schwund im Land beschäftigt auch Gerhard Fabian
im 80 Kilometer entfernten Magdeburg. Als Geschäftsstellenleiter ist der ehemalige Sportlehrer für 105 Allianz
Agenturen im nördlichen Sachsen-Anhalt zuständig.
»Das ist deutlich weniger geworden, früher waren es
mal 120«, sagt er. »Doch die Bestände wurden einfach
zu klein.« In der Landeshauptstadt sei der Abrieb relativ
gering, doch vor allem für die Altmark sei das Ende der
Fahnenstange noch nicht erreicht.
Corinna Köbele lässt sich von solchen Hiobsprognosen
nicht schrecken. Im Kulturhaus sieht die gebürtige Hessin
bereits Konzertpianisten auftreten und Symposien über
die Bühne gehen, und im Ort selbst eine Künstlerkolonie
den verwaisten Gebäuden auf Dauer neues Leben einhauchen. »Das alles wird auf die Umgebung ausstrahlen
und die Stadt- und Regionalentwicklung voranbringen«,
ist sie überzeugt.
Altmärker sind nicht unbedingt für Gefühlausbrüche
bekannt, und so ist Karsten Ruth, was die Perspektiven
seiner Gemeinde angeht, denn auch etwas zurückhaltender. Doch dass Kalbe nach über 1000 Jahren
Siedlungsgeschichte demnächst von der Landkarte
verschwinden könnte, damit rechnet auch er nicht.
Allerdings wird es in Zukunft eine andere Stadt sein
als die, die er als Kind kannte. In Kalbe hat man schon
mal damit begonnen, die Bordsteinkanten für gehbehinderte Menschen abzusenken.
W W W. S TA D T- K A L B E - M I L D E . D E
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Die Anwesenheit der Kunststudenten zeigt sich bereits im Stadtbild
und in der neu eröffneten Galerie
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Allianz Journal 3/2014
Europa
Wenn Giorgio auf Patrouille geht, bleiben die Wanderstöcke
zuhause. Dafür umklammern seine Hände ein Buschmesser. Aus dem Mastallone-Tal schwappt die schwülfeuchte
Mittagshitze die steilen Hänge um das Bergdorf Rimella
hinauf. Und Giorgio säbelt das erste Mal ins dichte Grün.
Äste fliegen, hüfthohe Farnwedel kippen zu Seite, so etwas
wie ein Pfad wird sichtbar. »Hier hat schon lange keine
Kehrwoche mehr stattgefunden«, sagt Giorgio mit einem
Grinsen. In seiner schwäbischen Heimat bei Tübingen
heißt er Jörg Klingenfuß. Unter seinem Alias kennen ihn
die Menschen in Rimella, einem entlegenen Bergdorf im
äußersten Nordosten des Piemonts.
Dorf ohne Menschen
In vielen Teilen Italiens ziehen die Menschen vom Land
in die Städte. Vor allem die Bergregionen sind von der
Entvölkerungswelle betroffen. Eine Initiative in den Bergen
des Piemonts versucht zu retten, was zu retten ist.
Von den ehemals 16 kleinen Ortsteilen sind die meisten
schon von der Vegetation verschluckt. Ruinen erinnern
an eine Zeit, als die Alpwirtschaft und das Handwerk der
Bergbewohner über die Landesgrenzen hinaus bekannt
waren, als die Wohlhabenden aus Turin und Mailand die
Sommermonate in ihren prächtigen Residenzen mit den
klassischen Steindächern auf rund 1100 Metern Höhe, weit
oberhalb der Po-Ebene verbrachten. Heute erobert die
Natur die jahrhundertealten Kulturlandschaften zurück.
Mit schwäbischer Verbissenheit stemmt sich Giorgio
gegen das Aus. Zusammen mit den verbliebenen, meist
betagten Bewohnern Rimellas hat er vor einigen Jahren
eine Initiative gegründet. Das Konzept »Pro Rimella«
basiert auf der Wiederbelebung des Weitwanderwegs
M I CH AE L GR IMM
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Vor 15 Jahren kam Giorgio zum Wandern das erste Mal in
diese Region am Fuße des Monte Rosa-Massivs. Seither
hat den heute 61-Jährigen die Natur und das Schicksal der
hier ansässigen Bergbewohner nicht mehr losgelassen.
Der uralten Walser-Siedlung Rimella droht, wie so vielen
anderen Gemeinden in den Bergregionen auf der Südseite
der Alpen, der Untergang. Die Entvölkerung ist dramatisch.
Erst kürzlich hatte sich ein ganzes Dorf im Piemont für
250 000 Euro über Ebay zum Verkauf angeboten. Soweit
ist Rimella noch nicht. Aber auch hier ist die Abwanderung
eklatant. Vom Höchststand mit knapp 1400 Einwohnern
im Jahr 1831 ist die Zahl auf heute 70 gesunken.
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alle Fotos: Grimm
Jörg Klingenfuß, alias Giorgio (rechts), kam zum
Wandern nach Rimella – und ist geblieben. Piera Rinoldi
versorgt ihn – und erträgt mit italienischer Gelassenheit
seine Ausbrüche
Grande Traversata delle Alpi (GTA). Der rund 1000 Kilometer lange Pfad durchzieht den gesamten Westalpenbogen vom Piemont bis Ligurien. In den 70er Jahren
eröffnet, ist er inzwischen weitgehend in Vergessenheit
geraten. Für Rimella könnte er nun zur neuen Lebensader werden. Der Ort ist ein Etappenziel auf dem Weg.
Lebendes Denkmal
Giorgio hat viele uralte Almpfade wiederentdeckt, sie
von Gestrüpp und Schutt befreit, die GTA-Markierungen
erneuert und das Wegenetz gar mit GPS vermessen.
Außerdem führt er jedes Jahr Wandergruppen aus
Deutschland in die wildromantische Alpenregion. Der
sanfte Tourismus spült Geld in die Kassen und sichert die
wenigen Arbeitsplätze. Die Gäste übernachten im Hotel
Albergo Fontana und gönnen sich ein Etappenbier auf der
Sonnenterrasse der Bar Monte Capio von Piera Rinoldi.
Rinoldi hat viele ihrer Nachbarn in die Ebene ziehen
sehen. Die rüstige alte Dame mit den grauen Locken und
den buschigen Augenbrauen ist ein lebendes Denkmal
für eine fast schon ausgestorbene Kultur. Sie bewahrt das
Erbe der Walser, jenes Bergvolks, das im 13. Jahrhundert
aus den Nordalpen in den Süden wanderte. Die einzelnen
Gruppen lebten lange isoliert voneinander und entwickelten eigene Dialekte, wie zum Beispiel das Tüttschu von
Rimella. Rinoldi weiß, dass auch die Initiative Pro Rimella
den Verlust der Sprache nicht aufhalten kann, »doch sie
haucht unserem Ort wieder ein bisschen Leben ein«.
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Allianz Journal 3/2014
EU RO PA
Seit Jahren beherbergt sie Giorgio in ihrem riesigen Haus,
das früher einmal ein Hotel war. Mit einem Lächeln erzählt
sie von seinen Ausbrüchen, wenn er mal wieder über die
unfähige italienische Verwaltungsstruktur und die EU herzieht, die mit ihren Vorschriften und Verboten noch dem
letzten Bergbauern die Lebensgrundlage entreißt.
zu erhalten, haben die Bewohner Riaces Flüchtlinge
aufgenommen und ihnen leerstehende Häuser zur
Verfügung gestellt. Im Gegenzug übernehmen die
Einwanderer Aufgaben im Alltag, erhalten Arbeit und
helfen somit, einen Ort wieder aufzubauen, der schon
fast ausgestorben war.
Italienische Gelassenheit und teutonische Entschlossenheit sind in Rimella eine erstaunliche Liaison eingegangen.
Die Sorge um die Zukunft eint alle Beteiligten. Zwar gibt
es immer wieder Fördergelder für einzelne Ortschaften –
San Gottardo, ein Ortsteil von Rimella, wurde vom Fondo
per l’Ambiente Italiano, einer gemeinnützigen Stiftung
für Umweltschutz und Denkmalpflege, zu einem der
schönsten Dörfer Italiens gewählt. Der Auszeichnung
folgten EU-Gelder für den Erhalt der alten Bausubstanz.
Doch eine flächendeckende Subventionierung, die vor
allem in den nördlichen Alpenländern Schweiz, Österreich und Deutschland die Menschen in den Bergregionen
hält, gibt es im Piemont nicht. Nur rund 30 Kilometer
Luftlinie trennen Rimella von dem Nobel-Dorf Saas Fee
im Wallis. Der Unterschied könnte nicht größer sein. Und
so helfen auf der Südseite der Alpen meist nur private
Initiativen, um das Alte zu bewahren.
Von der Außenwelt abgeschnitten
Grimm
San Felice in der Toskana hat ein ähnliches Schicksal
hinter sich. Vor 30 Jahren lebte nur noch eine Handvoll
Menschen in dem langsam verfallenden Weiler in der
Nähe von Siena. Heute ist das Dorf ein Luxushotel, die
mittelalterliche Struktur wurde erhalten. Hotel und Weinberge gehören inzwischen zur Allianz Gruppe. Die verbliebenen Bewohner arbeiten als Angestellte in ihrem
alten Dorf. Rund 1000 Kilometer weiter südlich hat ein
Fischerdorf an Kalabriens Küste eine noch ungewöhnlichere Geschichte hinter sich. Um ihr Zuhause am Leben
Türkei
spezial
Die Türkei ist innerhalb eines Jahrzehnts vom Krisenland zur Wirtschaftsmacht aufgestiegen. Parallel aber hat sich eine tiefgreifende
Spaltung der Gesellschaft vollzogen. Solmaz Altin, seit letztem Jahr Chef
der Allianz Türkei, sieht das Land dennoch auf gutem Weg – und plant
eine Revolution ganz eigener Art.
Auch in Rimella sind Grenzen gefallen, Grenzen,
die die Wildnis über Jahrhunderte in Zaum hielten.
Einerseits zieht die vorrückende Wildnis immer mehr
Touristen an. Andererseits verfallen Almen, Wege und
Transportseilbahnen. Im Winter sind viele Dörfer von
der Außenwelt abgeschnitten, weil keine Räumfahrzeuge fahren. Die Infrastruktur sei aber wesentlich für
die Bewahrung »eines einmaligen Wissensschatzes,
der in dieser Landschaft gespeichert ist«, sagt Franz
Höchtl, Experte für Landespflege an der Alfred Toepfer
Akademie in Niedersachsen.
F RA N K ST ERN
Vor neun Jahren hat Höchtl an einer Reihe von Fallstudien
im Piemont mitgewirkt. Ihre Ergebnisse haben die Forscher in dem Buch »Kulturlandschaft oder Wildnis in den
Alpen?« zusammengefasst. Wie Giorgio mahnt auch
Höchtl, die über Jahrhunderte erworbenen Fähigkeiten
der Menschen im Zusammenleben mit der Natur nicht
einfach aufzugeben. Wer kann heute noch eine Mauer
ohne Mörtel bauen, Wege und Terrassen in steilem
Gelände anlegen, Käse, Butter und andere Nahrungsmittel herstellen?
Am wichtigsten aber sind für die Wissenschaftler die
Kenntnisse der nachhaltigen Landwirtschaft. Mischkulturen von Gemüse, Weinreben, Obstbäumen und
Blumen schützten vor einem Auslaugen der Böden
und vor Erosion. Die Bergbauern früherer Zeiten waren
Vorreiter der ökologischen Nutzung der Natur. »Wäre
es vor diesem Hintergrund nicht interessant, sich auf traditionelle Kulturtechniken zu besinnen, so lange das Wissen
darüber noch lebendig ist?« fragen Höchtl und seine Kollegen in ihrem Buch. »Oder hat ihre Kenntnis im Zeitalter
von Biotechnologie und Gentechnik ausgedient?«
Die Antwort darauf hat nichts mit Romantisierung der
Vergangenheit zu tun, sondern vielmehr mit einer der
wichtigsten Herausforderungen unserer Zeit: der Entwicklung nachhaltiger Lebensweisen. Auch dafür steht
die Initiative Pro Rimella.
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Revolution im Krankenhaus
Shutterstock | Stern
Allzu viel Überzeugungsarbeit war nicht nötig, um
Solmaz Altin den Chefposten der Allianz in der Türkei
schmackhaft zu machen. »Passiert ja nicht alle Tage, dass
man an die Spitze eines Marktführers berufen wird«, sagt
der gebürtige Krefelder, der 2009 als Chefrisikomanager
bei der Allianz in Istanbul anfing. »Der Markt hier wächst
jedes Jahr zweistellig, wir haben eine junge, motivierte
Mannschaft, und obwohl wir mit der Integration der Le-
bens- und Sachversicherung von Yapi Kredi im Moment
alle Hände voll zu tun haben, herrscht im Unternehmen
eine sehr positive Stimmung.«
Ein Grund dürfte sein, dass mit der Übernahme des Konkurrenten kein größerer Arbeitsplatzabbau einherging,
wie es bei Fusionen sonst oft der Fall ist. »Wir haben das
Glück, dass wir uns in einem Wachstumsmarkt bewe-
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Allianz Journal 3/2014
alle Fotos: Stern
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Der große Basar in Istanbul
schäft, in Mitleidenschaft gezogen«, erläutert Solmaz
Altin. Für die zweite Hälfte des Jahres aber rechnet der
Allianz Chef mit einer Erholung: »Der Konsum zieht
wieder spürbar an.« Bis Ende des Jahres will er die Zahl
der Allianz Kunden auf 6,5 Millionen steigern – eine
halbe Million mehr als im Januar.
»Die Gesellschaft der Türkei hat ein sehr europanahes Verständnis
von Demokratie«, sagt Solmaz Altin. »Und das wird sie auch verteidigen«
gen«, sagt Altin. Das Agenturnetzwerk von Yapi Kredi sei
da eine willkommene Verstärkung, zumal die geringe
Versicherungsdurchdringung in der Türkei noch reichlich Spielraum nach oben lasse. Laut Swiss Re machen
die Versicherungsbeiträge derzeit lediglich 1,5 Prozent
am Bruttoinlandsprodukt aus. Der europäische Durchschnitt liegt bei 6,8 Prozent. Vor allem im Lebens- und
Krankenversicherungsgeschäft besteht Nachholbedarf:
Da fällt die Diskrepanz mit 0,2 Prozent gegenüber dem
europäischen Durchschnitt von 4,0 Prozent besonders
deutlich aus.
Allerdings hat sich die Konjunktur in der Türkei in der
ersten Jahreshälfte deutlich abgekühlt. Nach Einschätzung von Kreditversicherer Euler Hermes waren dafür
vor allem die schwache Währung und die steigende
Inflation verantwortlich, die sich negativ auf die Binnennachfrage auswirkten. »Das hat natürlich auch die Versicherungswirtschaft, vor allem das Privatkundenge-
Für die Zukunft rechnet der Sohn türkischer Eltern vor
allem bei der Krankenversicherung mit einem deutlichen
Schub. Schon jetzt ist die Allianz Türkei mit knapp 40 Prozent bei der privaten Absicherung von Krankheitsrisiken
Marktführer. Die macht allerdings gerade mal fünf Prozent
am gesamten Krankenversicherungsgeschäft aus, der
Löwenanteil liegt weiterhin in staatlicher Hand. »Das
öffentliche Gesundheitswesen ist sehr gut ausgebaut«,
erläutert Altin. Doch werde es durch Subventionen und
Preisdeckelung für Medikamente künstlich am Leben erhalten. »Der Regierung ist bewusst, dass das nicht mehr
sehr lange so weiter gehen kann«, sagt der 40-Jährige.
Er gehe davon aus, das der Anteil des privaten Sektors
in den nächsten Jahren spürbar steigen werde.
Und dafür will Altin die Allianz in Position bringen. »Was
wir vorhaben, ist eine Revolution«, sagt er. »Wir werden
Wandel am Mittelmeer
Işik Üngör (Mitte) betreibt mit ihren Mitarbeitern eine der erfolgreichsten
Allianz Agenturen in der Türkei
Bei seinem Expansionskurs setzt Allianz Türkei-Chef
Solmaz Altin auf Agenturen wie die von Işik Üngör in der
Millionenmetropole Antalya. Mit ihrem fünfköpfigen
Team gehört sie zu den erfolgreichsten unter den landesweit rund 4000 Vertretern der Allianz in der Türkei. Ihre
Spezialität ist die Tourismusbranche, einige der größten
Reiseagenturen des Landes zählen zu ihren Kunden.
Mit der Übernahme des Agenturnetzes von Yapi Kredi
sind zu den 100 Allianz Agenturen rund um Antalya
noch 15 weitere hinzugekommen.
Işik Üngör kam vor 26 Jahren vom Schwarzen Meer an
die Mittelmeerküste. Bereits damals gab es deutliche
Unterschiede zwischen Nord und Süd. »Die Schwarzmeerregion war schon immer konservativer als der
Süden«, erzählt sie. Heute finde man in ihrer Heimat
kaum noch ein Restaurant, das Alkohol anbiete, berichtet
sie. Inzwischen aber sei auch entlang des Mittelmeers ein
Wandel spürbar. »Früher haben die Leute mehr Alkohol
getrunken, und man sah auch weniger Frauen mit
Kopftuch«, so Üngör.
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Die blaue Moschee
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den privaten Krankenversicherungsbereich in der Türkei
völlig umkrempeln.« Dreh- und Angelpunkt der Revolution ist das Smartphone, über das dem Patienten künftig
sämtliche Informationen rund um Krankenhäuser, Ärzte,
Untersuchungen, Therapien, Apotheken und Medikamente zur Verfügung gestellt werden sollen. »Viele der
Informationen sind schon lange in unseren Datenbanken
vorhanden«, sagt Altin. »Das Problem war bisher immer,
sie sinnvoll zu verknüpfen und zu einer einheitlichen
Kundenreise zusammenzuführen.«
Künftig erhält der Patient über eine mobile Allianz App
Empfehlungen zu Krankenhäusern und Ärzten, wird bei
Ankunft im Hospital ohne die heute üblichen Wartezeiten automatisch angemeldet, geht direkt zum Arzt
und bekommt anschließend per Google-Map die
nächst gelegene Apotheke angezeigt.
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Zudem hält das System für weiterführende Untersuchungen Empfehlungen zu Spezialisten bereit, die bei
gleicher Qualität preiswertere Dienstleistungen bieten.
Statt die Röntgenaufnahme im Krankenhaus machen zu
lassen, schlägt die App dann vielleicht einen Radiologen
ganz in der Nähe vor, verbunden mit einem Rabatt auf
die künftige Versicherungsprämie. »Der Patient spart
und wir sparen auch«, so Altin. »Die ganze Kundenreise
entwickelt sich zu einem ganz neuen Erlebnis.«
Dass die politischen Turbulenzen der vergangenen
Monate den Aufstieg der Türkei und auch die Zukunftspläne der Allianz gefährden könnten, befürchtet Altin
eher nicht. »Ich bin Optimist«, sagt er. Jeder Regierung
sei klar, dass sich eine für die Wirtschaft schädliche
Entwicklung bei den nächsten Wahlen rächen würde.
Islamisierungstendenzen in Teilen der Gesellschaft stellt
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Altin nicht in Abrede, doch ist er sicher, dass die demokratische Entwicklung des Landes dadurch nicht aufgehalten wird. »Gerade die Proteste um den Gezi-Park im
letzten Jahr haben gezeigt, dass nicht jede Entscheidung
der Regierung widerspruchslos hingenommen wird«,
sagt der Volkswirtschaftler. »Die Gesellschaft der Türkei
hat ein sehr lebendiges und europanahes Verständnis
von Demokratie, und das wird sie auch verteidigen.«
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Fotos oben: Stern
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Die Kinder von Soma
Am 13. Mai starben bei einem Brand in einer Braunkohlemine in Soma in der Westtürkei 301 Bergleute. Es war das
schwerste Grubenunglück in der Geschichte des Landes.
Neben der Auszahlung von Lebensversicherungen an die
betroffenen Familien stellte die Allianz 500 000 Türkische
Lira (175 000 Euro) für den Aufbau eines psychologischen
Beratungszentrums in Soma zur Verfügung. 200 Psychologen stehen den Familien, insbesondere den Kindern, ein
Jahr lang bei der Bewältigung des Traumas zur Seite. Die
Allianz arbeitet bei dem Projekt eng mit dem Türkischen
Psychologenverband, der Psychiatrischen Vereinigung, dem
Roten Halbmond und verschiedenen Hilfsorganisationen
zusammen.
Auch an der Darüşşafaka-Schule in Istanbul engagieren sich
Mitarbeiter der Allianz Türkei für Voll- und Halbwaisen. Einer
der Helfer ist Oğüz Sağizli. »Wir können nicht alle Kinder
dieser Welt retten, aber wir können wenigstens versuchen,
einigen eine Zukunft zu geben«, lautet sein Motto. Seit vier
Jahren organisiert er regelmäßig Wochenendaktivitäten für
Kinder des Internats – vom Pizzabacken bis zum Ausstellungsbesuch, von Kino bis Yoga. »Das ist für uns eine große
Hilfe«, sagt Schulleiterin Ayşe Görey. »Es ist nicht ganz einfach, sich für die verschiedenen Altersgruppen jede Woche
etwas Neues einfallen zu lassen.«
Darüşşafaka ist eine unabhängige Bildungseinrichtung.
1863 gegründet, sollte sie anfangs dafür sorgen, Kindern
aus mittellosen Familien, die ihre Väter im Krieg verloren
hatten, größere Bildungschancen einzuräumen. Heute
bewerben sich jedes Jahr über 2000 Mädchen und Jungen
aus dem ganzen Land um Aufnahme, die 120 besten werden
schließlich nach einem anspruchsvollen Auswahlverfahren
aufgenommen. Gegenwärtig lernen 945 Schüler im Alter
zwischen 11 und 18 Jahren – 44 Prozent davon Mädchen –
an der Internatsschule, darunter auch Kinder, die bei dem
schweren Bergwerksunglück in Soma ihren Vater verloren
haben. Finanziert wird die Einrichtung durch Spenden. Zu
den Geldgebern zählen unter anderem die Iş Bank, Siemens,
Microsoft, HSBC und JPMorgan Chase.
Allianz
Ayşe Görey
W W W. DA R U S S A FA K A .O RG
»Wir können wenigstens versuchen,
einigen Kindern eine Zukunft zu geben«,
sagt Oğüz Sağizli (hintere Reihe, 2.v.r.)
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Freunde
zweiter Klasse
Hakan Çelik
Die Türkei ist seit 1952 Mitglied der NATO, doch so richtig trauen die Europäer dem Partner nicht
über den Weg. Während Länder wie Bulgarien und Rumänien längst Mitglieder der Europäischen
Union sind, blieb den Türken der Weg nach Brüssel bislang versperrt. Wir sprachen mit dem
türkischen Fernsehjournalisten Hakan Çelik über Demütigungen, Kulturkampf und Islamismus.
IN T ERVIEW: F RA N K ST ERN
Herr Çelik, in Europa gewinnt man
zunehmend den Eindruck, dass
Präsident Erdogan die Türkei in einen
islamistischen Staat verwandeln will.
Welche Strategie verfolgt er?
Ich glaube nicht, dass er eine verdeckte
Agenda hat. Er ist gläubig, er geht in die
Moschee, ja. In Deutschland gehen Politiker
auch in die Kirche. Es gibt in der Türkei
Platz für alle möglichen Lebensstile. Aber
Europa hat fest gefügte Vorurteile. Wenn
ich in deutschen Zeitungen Berichte über
die Türkei sehe, sind sie meist mit Fotos
von verschleierten Frauen und Moscheen
bebildert. Das ist kein Journalismus, das verzerrt das Bild. Wir stellen keine Bedrohung
für die europäische Zivilisation dar. Türken
sind talentiert, gut ausgebildet, offen. Man
sollte Länder, Menschen und Kulturen nicht
aufgrund von Vorurteilen bewerten.
Auch bei vielen Ihrer Landsleute wächst
die Sorge über die Vermischung von
Politik und Religion.
Der Islam ist nach dem Christentum die
zweitgrößte Religion in der Welt. Das ist ein
Fakt. Ich will gar nicht verkennen, dass mit
dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher
Wertesysteme Probleme verbunden sind.
Wir müssen Wege zur Verständigung und
zur Zusammenarbeit finden, und da kommt
der Türkei eine wichtige Vermittlerfunktion
zu. Ich denke, der Westen sollte sein Bild von
der Türkei korrigieren. Das Land verändert
sich unglaublich schnell.
Die Frage ist, in welche Richtung. 1998
sagte Erdogan in einer Rede: »Die Demokratie ist nur der Zug, der uns ans Ziel
bringt. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die
Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.« Er wurde dafür
wegen Volksverhetzung ins Gefängnis
geschickt. Kein verdeckter Fahrplan?
Bei Ihnen fällt so etwas unter Redefreiheit.
Die schützt Sie, selbst wenn Sie fordern würden, dass man Deutschland wieder teilen
und den Kommunismus einführen sollte.
Es ist etwas anderes, ob das jemand am
Stammtisch sagt, oder ein Politiker das
als Programm verkündet.
Ich stimme Ihnen zu. An Politiker muss man
andere Maßstäbe anlegen. Aber das sollte
nicht nur für türkische Politiker gelten.
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Nach dem Angriff auf das World Trade
Center 2001 sprach George Bush von einem
Kreuzzug, den er führen wolle – und das war
nicht nur eine verunglückte Wortwahl. Es
wurde die Basis seiner Außenpolitik. Aber
was haben die Amerikaner mit ihrem Krieg
gegen den Terror erreicht? Schauen Sie sich
den Graben zwischen westlichen und östlichen Gesellschaften heute an. Tony Blair
und George Bush haben ihre Parlamente belogen. Sie unterstellten dem Irak das Horten
von Massenvernichtungswaffen. Die hat es
nie gegeben, doch dienten sie als Begründung für den Irakkrieg, der zahllose Opfer
gefordert hat. Ich glaube, das wiegt etwas
schwerer als Erdogans Rede von Demokratie
und Minaretten.
Der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte wirft der Türkei vor,
die Pressefreiheit massiv einzuschränken und ein Klima der Selbstzensur
zu schaffen. Wie gehen Sie mit den
Behinderungen um?
Natürlich kritisieren wir ein solches Vorgehen. Wir können es nicht hinnehmen,
wenn Regierung oder Parteien versuchen,
Meinungs- und Pressefreiheit zu schneiden
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Allianz Journal 3/2014
T Ü RK E I
S P EZI A L
Um den drohenden Verkehrskollaps in Istanbul zu verhindern,
hat die türkische Regierung den Bau einer dritten Brücke über den
Bosporus in Auftrag gegeben. Die Allianz ist als Versicherer dabei.
Die Organisation Reporter ohne Grenzen bezeichnet die Türkei als eines der
größten Journalistengefängnisse der
Welt. Haben Sie Kollegen, die derzeit
in Haft sind?
Einige hatten in der Vergangenheit Probleme
mit der Justiz. Das wirft kein gutes Licht auf
unser Land. Die Türkei ist eine der größten
Volkswirtschaften, wir stehen in der Welt
an 17. Stelle, sind Mitglied im Club der G20.
Und Erdogan will die Türkei bis zum Jahr 2023
auf Rang 10 voranbringen. Dafür hat er meine
volle Unterstützung. Doch wir müssen auch
die Rechte der Arbeiter stärken, die Gewerkschaften, die demokratischen Werte. Wir sind
schließlich kein Dritte-Welt-Land.
Die Türkei bemüht sich seit Jahren um
Aufnahme in die EU. Doch während Länder wie Bulgarien und Rumänien längst
Mitglied sind, steht die Türkei immer
noch vor der Tür. Fühlen sich die Türken
gedemütigt?
Absolut. Die Türkei hat sich schon vor 55 Jahren um Aufnahme in die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft beworben.
Und wir sind immer noch draußen. Wenn
türkische Bürger in die EU einreisen wollen,
müssen sie weiterhin in einem langwierigen
Prozess Visa beantragen. Diese Behandlung
ist völlig inakzeptabel.
Ist Erdogan überhaupt noch an einem
Beitritt interessiert?
Ich denke schon. Allerdings haben die Türken langsam die Nase voll. Zumal wir in den
letzten 20 Jahren unsere Hausaufgaben
gemacht haben. Die türkische Wirtschaft
entwickelt sich dynamisch – anders als die
mancher EU-Mitglieder. Wir sind auf dem
richtigen Weg. Doch zu einer Heirat gehören
immer zwei. Man fragt sich manchmal schon,
was Berlin, Paris, London und Brüssel eigent-
38
lich wollen. Wollen sie einen alten, isolierten
Kontinent, der von seinen früheren Glanzzeiten zehrt? Wollen sie nur große, blonde
Europäer in ihrer Mitte? Europa hat zahllose
Facetten. Bulgarien und Schweden. Finnland
und Portugal. Hamburg und das Mezzogiorno. Und da passt die Türkei nicht rein?
Wir könnten eine Menge positive Impulse
geben. Wir sind ein dynamisches Land mit
pragmatischen Menschen. Natürlich können
wir noch einiges lernen. Aber da sind wir
sicher nicht die einzigen.
Ist es nicht verständlich, dass die EU ihre
Außengrenzen nicht an Länder wir Syrien
oder den Irak heranrücken möchte?
Vielleicht würde aber gerade das helfen, der
Region Wohlstand und Stabilität zu bringen.
Schon jetzt sind im Kurdengebiet im Nordirak Hunderte französische, deutsche und
türkische Firmen tätig. Europa würde von
der Erweiterung eher profitieren.
Im Moment destabilisiert der Bürgerkrieg in Syrien und Irak die Lage auch
in der Türkei.
Das ist leider richtig. Die Türkei hat bislang
mehr als 1,6 Millionen syrische Flüchtlinge
aufgenommen. Es gab wegen der angespannten Lage in einigen Städten bereits
Zusammenstöße. Ich bin sicher, dass die
Hälfte dieser Menschen in der Türkei bleiben
wird. Das ist ein ziemlicher Alptraum. Kein
Land verkraftet so einen Ansturm.
Fühlt sich die Türkei mit dem Flüchtlingsproblem von der EU allein gelassen?
Natürlich. Von der EU, den Vereinigten Staaten, von der UNO. Schauen Sie sich an, wie
viele Flüchtlinge die Türkei aufgenommen
hat und wie viele die EU. Jeden Tag strömen
Tausende hilfesuchende Menschen über
unsere Grenzen, und keiner hilft. Wir sind
nicht reich genug, um all diese Menschen zu
versorgen. Irgendwie werden sie einen Weg
nach Europa finden – über Bulgarien und


Rumänien, über Griechenland oder Italien.
Und dann stehen sie an der österreichischen
und deutschen Grenze. Bereitet Euch schon
mal drauf vor.
F RA N K ST ERN
ICA
oder das Internet zu blockieren. Die Türkei
sollte diesen Weg nicht einschlagen.
Letztes Jahr reihten Analysten die Türkei
unter die »Fragilen Fünf« ein, zusammen
mit Brasilien, Indien, Indonesien und
Südafrika. Wie stark ist die türkische
Wirtschaft wirklich?
Erdogans Erfolg und der seiner Partei für
Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) basiert
auf der Leistungskraft der Wirtschaft. Natürlich gibt es Schwächen, aber die Türkei verfügt über enormes Potenzial, das sich nicht
zuletzt aus seiner geostrategischen Lage
erklärt. Die Infrastruktur ist gut, die Telekommunikation ausgebaut, und es gibt ein
modernes Bankensystem. Ich bin, was die
Entwicklung der türkischen Wirtschaft
angeht, sehr optimistisch.
Sollte Präsident Erdogan die Demokratie
jedoch tatsächlich nur als Vehikel betrachten, würden Investoren wohl bald
einen Bogen um die Türkei machen.
Erdogan ist Moslem, aber er ist auch Pragmatiker. Die Wähler stimmen nicht etwa
deshalb für die Regierungspartei, weil sie
ein islamistisches Programm verfolgt. Kein
Mensch interessiert sich für so was. Die Leute
wollen ihren Lebensstandard verbessern,
ein besseres Auto, ein schöneres Haus. Und
sie glauben, nur die AKP kann ihnen das verschaffen. Ganz einfach. Ja, die Türkei ist ein
islamisch geprägtes Land. Aber die Türkei
ist nicht Iran oder Syrien oder der Libanon.
Bei uns leben die verschiedenen Glaubensrichtungen friedlich miteinander – Sunniten,
Schiiten, Aleviten. Wir schlagen uns nicht
die Schädel ein. Ginge es mit der Wirtschaft
abwärts, wäre die AKP nach einem Jahr
Geschichte.
Weltrekord am Bosporus
Build Operate Transfer
Istanbul ist ein Labyrinth. Die Stadt, durchzogen von
kleinen Straßen und Gassen, ist ein pittoresker Ort voller
Geschichten und Geschichte, doch für Autofahrer ein
Alptraum. Auf dem Stau-Index von Navigationsgerätehersteller Tom-Tom rangiert die 15-Millionenmetropole
unter Europas Großstädten auf Rang 2. Nur in Moskau
brauchen Autofahrer bessere Nerven. Entspannung an
der Verkehrsfront erhoffen sich Istanbuls Stadtväter von
der dritten Bosporusbrücke, für die im Mai letzten Jahres
der Startschuss gefallen ist.
Die Leitung für die Nord-Marmara-Autobahn, inklusive der dritten
Bosporusbrücke, hat das Transportministerium in Ankara an das
türkische Unternehmen IC Içtaş und an Astaldi aus Italien vergeben.
Die Finanzierung sichert ein Konsortium aus sieben Banken, darunter
Allianz Partner Yapi Kredi. Nach Fertigstellung betreiben IC Içtaş und
Astaldi die Mautautobahn und die Brücke noch acht Jahre, danach
wird beides an den Staat übergeben. Über dieses so genannte BuildOperate-Transfer-Modell (BOT) finanziert die Türkei mit Hilfe privater
Unternehmen den Bau einer ganzen Reihe von Projekten, mit denen
sie ihr Autobahnnetz bis 2023 von aktuell 2250 Kilometern auf
7500 Kilometer mehr als verdreifachen will.
Mit 59 Metern wird die Sultan-Selim-Brücke die breiteste Hängebrücke der Welt. Mit ihrer zweispurigen
Eisenbahntrasse, auf jeder Seite von je vier Fahrbahnen
W W W. 3KO PRU.C O M/E N G
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39
Allianz Journal 3/2014
Australien
Die richtige
Balance
bei AGCS. Doch allzu nervös macht ihn das offenbar
nicht, schließlich soll die dritte Bosporusbrücke Beben
bis zur Stärke 9 standhalten. Das hat es in Istanbul seit
Menschengedenken nicht gegeben.
Stern
Öztürk Taşdelen
flankiert, soll sie den Bosporus nahe der Mündung ins
Schwarze Meer auf einer Länge von knapp zwei Kilometern überspannen. Damit nimmt die Kombibrücke
unter den längsten Eisenbahnbrücken der Welt den
Spitzenplatz ein. Auch die A-förmigen Stützpfeiler sind
mit 320 Metern Höhe in der Welt bislang unerreicht.
Die Rekord-Brücke ist Teil der geplanten Nord-MarmaraAutobahn, die ab Mai 2016 insbesondere den Schwerlastverkehr im Norden um Istanbul herumleiten soll.
Derzeit müssen Laster während des Berufsverkehrs vor
der Stadt haltmachen. An dem von Munich Re geführten
Versicherungsprogramm für das 2,5 Milliarden US-Dollar
teure Marmara-Projekt, zu dem 19 Autobahnkreuze,
67 Brücken und sieben Tunnel gehören, ist auch die
Allianz beteiligt. Führender Versicherer ist Munich Re.
Die Überführung über die Meerenge ist für erfahrene
Bauingenieure eigentlich kein technisches Neuland.
»Es ist nicht das erste Mal, dass Fahrbahnen und Schienentrassen auf einer Brücke nebeneinander liegen, auch
wenn die Spannweite zwischen den Stützpfeilern mit
über 1400 Metern für diese Art von Brücke ein neuer
Rekord ist«, sagt Olivier Daussin, der bei Allianz Global
Corporate & Specialty (AGCS) für das weltweite Bauleistungsgeschäft zuständig ist. »Aber keine Brücke ist
wie die andere. Man muss immer auf Überraschungen
gefasst sein.«
Auf Erdbeben zum Beispiel. Die Türkei ist Hochrisikozone,
seit den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts bewegen
sich die Starkbeben entlang der Nordanatolischen Verwerfung von Osten her auf Istanbul zu. 1999 erschütterten
heftige Erdstöße der Stärke 7,6 bereits die Region um
Izmit, 80 Kilometer weiter östlich. Über 17 000 Menschen
kamen damals ums Leben. »Wer in der Türkei ein Projekt
versichert, hat immer mit Erdbebenrisiken zu tun«, sagt
Joachim Eichhorn, einer der erfahrensten Underwriter
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Ingenieure von Allianz Risk Consultants (ARC) hatten
die technischen Details der Brücke, die von Hyundai
Engineering errichtet wird, genau unter die Lupe genommen, bevor sich AGCS an die Sache heranwagte.
»Das heißt nicht, dass nun alle Gefahren gebannt wären«,
betont Eichhorn. »Aber sie sind für uns kalkulierbar.«
Zusammen mit Experten von Munich Re machen sich
ARC-Ingenieure regelmäßig auf der Baustelle ein Bild
vom Fortschritt der Arbeiten – und von der Einhaltung
der Sicherheitsauflagen. »Bisher läuft alles ohne größere
Störungen, Schadenmeldungen gab es noch keine«,
sagt Eichhorn und klopft auf Holz. »Allerdings ist auch
erst knapp die Hälfte der Bauphase vorbei«, bremst
Olivier Daussin.
Nach derzeitigen Schätzungen werden die neue Brücke
nach Fertigstellung pro Tag 135 000 Fahrzeuge passieren. Auto- und Schienenverkehr sollen auch zum neuen
Istanbuler Flughafen führen, der gerade 50 Kilometer
nordwestlich vom Stadtzentrum entsteht und zum
größten der Welt werden soll. Weil das als Entlastung
womöglich nicht reicht, treibt ein türkisch-koreanisches
Baukonsortium bereits seit 2011 einen zweistöckigen
Autobahntunnel unter dem Bosporus voran, der 2017
eröffnet werden soll. Yapi Kredi Sigorta gehörte bei Projektstart zum Kreis der Versicherer. Mit der Übernahme
im vergangenen Jahr ist die Allianz Türkei, größter Industrieversicherer des Landes, an ihre Stelle getreten. »Der
Tunnel unter der Wasserstraße wird gut fünf Kilometer
lang sein«, erklärt Öztürk Taşdelen von der Allianz Türkei.
»Das wird den Verkehr auf Istanbuls Straßen entlasten
und die Fahrtzeit zwischen der asiatischen und der europäischen Seite erheblich verkürzen.«
Und die Türken haben noch weiter reichende Pläne:
Bis 2023, dem 100. Gründungsjahr der Republik, wollen
sie an die zehnte Stelle unter den Volkswirtschaften
der Welt vorrücken. Der Ausbau des Straßennetzes ist
dafür eine wichtige Voraussetzung. Aktuell steht das
Land auf Rang 17.
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IN T ERVIEW: BEN W H I TF I E L D
privat
Vor gut einem Jahr stellte die Allianz Australien das erste Call Center-Team zusammen,
das ausschließlich von zu Hause arbeitet. Von anfänglich zehn Frauen ist es mittlerweile auf 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angewachsen. Delia Schiller ist von
Beginn an dabei. Im Gespräch erzählt die Mutter dreier Kinder über ihren Weg zurück
in den Beruf und welche Flexibilität Telearbeit bietet.
Frau Schiller, was hat Sie an dem Job
bei der Allianz Australia besonders
interessiert?
Es ist für mich und viele andere mit Familie
immer schwierig gewesen, eine Arbeit zu
finden, die genügend Flexibilität bietet.
Lange habe ich vergeblich nach einem Job
gesucht, der die richtige Balance zwischen
Familie und Beruf ermöglicht. Bis ich eines
Tages im Internet auf die Stellenanzeige für
meine heutige Position stieß. Ich habe sie
ein paar Mal gelesen, weil ich erst dachte, da
muss irgendwo ein Haken dran sein. Aber
dann habe ich gemerkt, dass die Allianz da
genau den Job anbot, von dem ich immer
geträumt hatte.
Was war so besonders an Ihrem neuen
Arbeitsplatz?
Alles passte perfekt zusammen. Das Ausbildungsprogramm, das ich daheim absolvieren
konnte, war das umfassendste, das ich je
mitgemacht habe. Das war überraschend,
denn diese Arbeitsplätze waren die ersten
ihrer Art bei der Allianz. Ich wusste also nicht,
was mich genau erwartet. Aber ich hätte es
nicht besser treffen können, sowohl mit dem
Ausbildungsprogramm als auch mit dem Job.
Ich fand es großartig, dass Frauen von der
Allianz die Möglichkeit geboten wurde, in
den Beruf zurückzukehren. Die Flexibilität,
die diese Stelle bietet, ist in der Arbeitswelt
sehr selten. Mir war klar, dass so eine Möglichkeit vielleicht nie wieder kommt.
Sie haben drei Kinder und sind vor einem
Jahr in den Beruf zurückgekehrt. Wie hat
Ihnen das flexible Arbeitsumfeld dabei
geholfen?
Früher war es immer schwierig für mich, den
Ausgleich zwischen Beruf und Familie hinzukriegen. Die meisten meiner vorherigen
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Arbeitgeber sahen Mutterschaft eher als
negativ an. Bei der Allianz war das anders.
Ich will etwas im Beruf erreichen, auch mit
Familie. Jetzt kann ich nicht nur Mutter und
Ehefrau sein, sondern habe Karriereoptionen.
Durch die »Heimarbeit« entfällt nicht nur der
Weg zur Arbeit, der für mich 100 Kilometer
zum nächsten Allianz Büro betragen würde.
Ich kann mich auch um meine Kinder kümmern. Meine Arbeitszeiten bieten mir das
Beste beider Welten. Ich muss mir keine Sorgen
darüber machen, wo ich meine Kinder in
den Schulferien unterbringe, wieviel ich für
die Betreuung zahlen muss, oder ob ich
rechtzeitig zur Schule komme, um sie abzuholen. Ohne diesen Job bekäme ich beides
nicht unter einen Hut. Ich bin der lebende
Beweis, dass Telearbeit ein Erfolg ist, mit der
sich die Arbeitswelt flexibler gestalten lässt.
W W W. A L L I A N Z .C O M . AU
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Shutterstock
Allianz Journal 3/2014
Amerika
Vor 100 Jahren wurde der Panamakanal eröffnet.
Sein Bau ist eine Geschichte von Zwischenfällen
und Intrigen, von Triumph und Tragödie. Jetzt wird
er ausgebaut.
J A M ES T UL L O CH
Die teuerste Abkürzung der Welt
Am 15. August 1914, nach 34 Jahren Bauzeit, in denen
sich Tausende Arbeiter durch 80 Kilometer regendurchtränkten, krankmachenden Dschungels gesprengt und
gegraben hatten, wurde der Panamakanal eröffnet. Es
war nicht nur eine der gewaltigsten Ingenieurleistungen,
die die Welt je gesehen hatte. Der Kanal wurde auch
zum Geburtshelfer einer neuen Nation und kündete den
Aufstieg der USA als kommende Weltmacht an.
Die Eröffnung selbst war überraschend unspektakulär.
Keine hochgestellten Persönlichkeiten, keine Bootsflottille
und keine fahnenschwingenden Zuschauer begrüßten
die S.S. Ancon, die mit einer Ladung Zement als erstes
Schiff das silberne Band zwischen Atlantik und Pazifik
befuhr. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs warf bereits
seine Schatten voraus.
Wenn man in Betracht zieht, dass mit dem Kanal ein
400 Jahre alter Traum in Erfüllung ging, den schon die
spanischen Konquistadoren geträumt hatten, kommt man
nicht umhin festzustellen, dass die Arbeiter, nicht zuletzt
die Tausende, die bei dem Bau ihr Leben ließen, etwas
Besseres verdient gehabt hätten. Sie hatten die Landschaft
völlig umgestaltet und dabei zahllose Rekorde aufgestellt.
Die Ancon fuhr durch die größten Schleusenkammern
der Welt in den größten künstlichen See der Welt, der
42
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vom damals größten Damm der Welt aufgestaut wurde.
Anschließend dampfte sie durch den Culebra Cut, einen
schmalen Durchbruch, der durch die bewaldeten Berge
gesprengt worden war, um schließlich durch eine Reihe
von Schleusen zum Pazifik herabgesenkt zu werden.
»Abgesehen von Kriegen stellte dies das kostspieligste
Projekt dar, das es bis dahin auf der Erde gegeben hatte«,
schreibt David McCullough in dem Buch »The Path
Between the Seas« (Der Pfad zwischen den Meeren).
Und das im vorgegebenen Zeitrahmen und für weniger
Geld als veranschlagt.
In der Klemme
Für die aktuelle Erweiterung des Kanals, die laut Planung
im nächsten Jahr abgeschlossen sein sollte, sind 5,2 Milliarden US-Dollar veranschlagt. Allerdings hat ein Streik
für einen Baustopp von mehreren Wochen gesorgt,
so dass sich nach Berechnungen von Euler Hermes die
Übergabe um ein Jahr verzögern könnte.
Jedes Jahr passieren mehr als 12 000 Schiffe den Kanal,
was etwa drei Prozent (270 Milliarden US-Dollar) des
weltweiten Seehandels entspricht. Das bringt dem Land
1,8 Milliarden Dollar allein an Durchfahrtsgebühren, berichtet Allianz Global Corporate & Specialty (AGCS) in
seinem Report »Panama Canal 100: Shipping Safety and
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Reuters
AM ERI KA
Miraflores Schleusen
Die Erweiterung des Panamakanals
Miraflores See
Pazifik
Pedro Miguel Schleusen
Panama
Gatun See
2015 sollen die neuen
Schleusen übergeben werden
und pro Tag die Durchfahrt
von zusätzlich zwölf bis 14
größeren Schiffen erlauben
Sicherheitsstatistik
Seit 2002 ereigneten sich
38 Schiffsunfälle, einer
pro 4000 Durchfahrten
Gatun Schleusen
Atlantik
1914
offizielle Eröffnung am 15. August. Die SS Ancon
durchfährt als erstes Schiff den Kanal
Rund drei Prozent des
weltweiten Seehandels im
Wert von insgesamt neun
Billionen Dollar werden
jedes Jahr über den Panamakanal abgewickelt
Pro Jahr werden über
12 000 Durchfahrten
registriert, die Fracht
beträgt rund 320
Millionen Tonnen, die
Zollgebühren belaufen
sich auf 1,8 Milliarden
Dollar
Erdrutschen kommt, ist eine Sisyphusaufgabe. So wie
der König aus der griechischen Mythologie schienen die
Arbeiter dazu für alle Ewigkeit dazu verdammt, Fels und
Schlamm bergauf zu wälzen, nur um sie wieder herabrutschen zu sehen.
Der Kanal ist rund 80 Kilometer
lang, die Durchfahrtszeit
bewegt sich zwischen acht und
zehn Stunden
Quelle: Allianz Global Corporate & Specialty
Future Risks« (Panamakanal 100: Schifffahrtssicherheit
und zukünftige Risiken).
Der Kanal befindet sich seit langem in der Klemme – und
das im Wortsinn. Seeleute reißen schon Witze darüber,
dass sie die Flanken ihrer immer größer werdenden
Schiffe einfetten müssen, damit sie noch durch die engen
Schleusen kommen. Bereits jetzt ist der Kanal für ungefähr die Hälfte aller Handelsschiffe unpassierbar. Deshalb
baut die Panama Canal Authority (PCA) derzeit eine Reihe
größerer Schleusen, die in der Lage sind, Schiffe aufzunehmen, die dreimal so groß sind wie die Panamax-Schiffe,
die den Kanal noch durchfahren können. Ein Containerschiff der neuen Panamax-Klasse hat die Länge von vier
Fußballfeldern.
Mit den größeren Schleusen können pro Tag zwölf bis
14 große Schiffe zusätzlich abgefertigt werden – eine
Verdopplung der gegenwärtigen Kapazität. Nach Schätzung von AGCS ließe sich der Wert der versicherten Seefracht dadurch um eine Milliarde Dollar pro Tag steigern.
Doch der erhöhte Verkehr und die größeren Schiffe brächten auch mehr Risiken mit sich, warnt AGCS in ihrer Studie.
Die Sicherheitsstatistik des Kanals, die für die letzten zehn
Jahre 27 Unfälle ausweist, könnte sich verschlechtern.
Auf der anderen Seite bedeuten größere Schiffe geringere Frachtkosten. Umwege über Seehäfen an der
Pazifikküste, über Straße und Schiene würden vermieden. Häfen an der Ostküste und in der Golfregion
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Mit dem Ausbau des
Panamakanals wird sich die
Kapazität der Wasserstraße
verdoppeln
haben schon damit begonnen, größere Containerkräne
aufzustellen. Dadurch, dass der direkte Wasserweg zwischen Asien und der US-Ostküste oftmaliges Umladen
auf Züge und Lkw vermeiden hilft, ließen sich manche
Transportrisiken minimieren, heißt es bei AGCS.
Sie kamen voran, doch quälend langsam und mit einer
bestürzend hohen Todesrate, vor allem verursacht durch
Gelbfieber und Malaria. Zu jener Zeit dachte niemand,
dass ein Insektenbiss Krankheiten auslösen konnte. Die
Mannschaften waren dem völlig schutzlos ausgeliefert.
1889 ging Lesseps’ Unternehmen schließlich bankrott und
er kehrte in Schimpf und Schande zurück nach Frankreich.
Kanonenbootdiplomatie
Vom Helden zum Bösewicht
Von dem Traum, einen Kanal zwischen Nord- und Südamerika hindurch zu bauen, war auch der Mann beseelt,
der den Suezkanal verwirklicht hatte. Dieser Erfolg hatte
Ferdinand de Lesseps in Frankreich zu einem Nationalhelden gemacht. Er war überzeugt, dass er den Dschungel
von Panama ebenso bezwingen könnte, wie die Wüsten
Ägyptens – mit einem riesigen Graben von Küste zu Küste.
Obwohl er nie einen Fuß auf panamaischen Boden gesetzt hatte, und ohne ein ausgebildeter Ingenieur zu
sein, reichten de Lesseps’ Ruf und Charisma aus, um den
Alternativplan von Baron de Lépinay, der Schleusen und
einen künstlichen See vorsah, vom Tisch zu wischen. Wie
anders hätte die Geschichte verlaufen können, wenn
man de Lépinay gefolgt wäre.
So aber mühten sich französische Ingenieure neun
Jahre lang, de Lesseps‘ Vision umzusetzen. In dieser Zeit
verloren 22 000 Arbeiter, zumeist aus der Karibik, beim
Bau ihr Leben. Doch Panama war nicht Suez. Einen Kanal
auf Meereshöhe durch die Berge zu graben, in denen es
acht Monate im Jahr regnet und in denen es ständig zu
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Nun trat eine überragende Persönlichkeit auf den Plan –
Theodore Roosevelt. Der US-Präsident war überzeugt davon, dass die Anforderungen von Marine und Wirtschaft
den Panamakanal erforderlich machten. 1902 hatte
seine Lobbyarbeit Erfolg und es kam zu Verhandlungen
mit der kolumbianischen Regierung – Panama war zu
dieser Zeit noch Teil Kolumbiens. Doch die Kolumbianer
sperrten sich gegen die von Washington vorgegebenen
finanziellen Konditionen.
Daraufhin erklärte Roosevelt seine Unterstützung für die
bis dahin kaum in Erscheinung getretene panamaische
Unabhängigkeitsbewegung und schickte Kriegsschiffe an
beide Küsten der Meerenge, durch die der Kanal verlaufen
sollte. Damit vereitelte er die Landung kolumbianischer
Truppen. In einer unblutigen »Revolution« erreichte
Panama 1903 schließlich seine Unabhängigkeit. Als Preis
wurden den USA auf Dauer die Nutzungsrechte an einer
zehn Meilen breiten Zone eingeräumt.
Eisenbahn Panamas zum Abtransport des bei den Grabungen anfallenden Abraums. Und sie wussten, dass
Moskitos Krankheiten übertrugen. Sie starteten ein
umfangreiches Schädlingsbekämpfungsprogramm und
binnen kurzer Zeit war das Gelbfieber verschwunden. Die
Zahl der Malariatoten fiel rapide. Dennoch starben bis zur
Fertigstellung des Kanals noch einmal 5000 Arbeiter.
Welche Härten die Menschen zu ertragen hatten, hat
Rose van Hardeveld, Frau eines amerikanischen Bauingenieurs, in ihren Memoiren »Make the Dirt Fly«
festgehalten: »Sie sprach wie eine Amerikanerin, und ich
wusste, dass sie Amerikanerin war, aber ihre Haut war
gelb und wie gespannt. Die Zähne der Jungs standen
über ihre schmalen Lippen hinaus, ihre Bäuche waren
schmerzvoll aufgebläht, ihre Knie knorrig. Oh Gott, dachte ich und schaute auf meine Babys mit ihren runden,
rosigen Wangen. Wie lange wird es dauern, bis auch wir
so aussehen?«
Doch die Bedingungen verbesserten sich, je weiter der
Bau voranschritt, und neue Siedlungen wurden gebaut.
In Spitzenzeiten waren über 40 000 Arbeiter am Bau
des Kanals beteiligt. Im Oktober 1913 löste US-Präsident
Woodrow Wilson per Telegrafensignal aus Washington
die Sprengung des letzten Damms aus, wodurch der
Culebra Cut geflutet wurde. Die Mission, die so viele
Menschenleben gefordert hatte, war vollendet. »Alle
anderen Dinge waren nebensächlich«, schrieb Rose
van Hardeveld. »Die Wassermassen durch das Tal fluten
zu sehen, bereit, in seinen mächtigen Schleusen Schiffe
hinauf- und hinabzutragen, war die Bestimmung, die
all unsere Tage und Nächte geprägt hatte.«
W W W. PA N C A N A L .C O M/E N G
Ein Jahr später wurden die Arbeiten dort wieder aufgenommen, wo die Franzosen aufgehört hatten. Doch
anders als ihre Vorgänger nutzten die Amerikaner die
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W W W. AG C S . A L L I A N Z .C O M/I N S I G H T S/ W H I T E - PA P E R S A N D - C A S E - S T U D I E S/PA N A M A - C A N A L- R I S K- B U L L E T I N
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Allianz Journal 3/2014
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AM ERI KA
Traditionelle Familie
auf dem Rückzug
Lebten 1970 noch 40 Prozent der Amerikaner in einer traditionellen Vater-MutterKind-Familie, sind es nach einer aktuellen Studie von Allianz Life inzwischen nur
noch 20 Prozent. Daneben hat sich in den letzten Jahrzehnten in den USA eine Reihe
anderer Modelle etabliert, die finanziell allerdings nicht mit der traditionellen Familie
mithalten können – bis auf gleichgeschlechtliche Partnerschaften.
F RAN K ST E R N
LOVE, FAMILY, MONEY – DIE KATEGORIEN
• Traditionelle Familien: Vater, Mutter, mindestens ein Kind unter 21 in einem Haushalt
Insgesamt unterscheidet die von Allianz Life in Auftrag
gegebene Studie »Love, Family, Money« neben der traditionellen Familie sechs weitere Kategorien, die unter dem
Label »moderne Familien« zusammengefasst werden
(siehe S. 47). Interessanterweise sind es ausgerechnet
schwule und lesbische Partnerschaften, die von allen
Alternativmodellen finanziell der traditionellen Familie
am nächsten kommen.
Mit einem durchschnittlichen Haushaltseinkommen von
113 700 US-Dollar pro Jahr stehen sie etwas besser da als
die traditionelle Heterofamilie, die es auf 112 700 Dollar
bringt. Beim Vermögen sind sie mit über 281 000 Dollar
sogar unangefochtener Spitzenreiter. Alle anderen liegen
in beiden Kategorien zum Teil erheblich darunter.
Kein Wunder also, dass sich die »modernen« Familien
insgesamt finanziell weniger abgesichert fühlen als die
traditionellen. Sie sind öfter von Arbeitslosigkeit betroffen,
können weniger für die Altersvorsorge zur Seite legen
und müssen doppelt so oft den Offenbarungseid leisten.
Da passt es ins Bild, dass laut einer Untersuchung von
Merrill Lynch inzwischen sechs von zehn Amerikanern
im Alter von über 50 Jahren erwachsenen Familienmit-
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gliedern teilweise über längere Zeiträume finanziell
unter die Arme greifen.
Für die Allianz Life-Studie wurden insgesamt 4500 Personen im Alter zwischen 35 und 65 Jahren und einem
Haushaltseinkommen von mindestens 50 000 US-Dollar
befragt. Obwohl sich immerhin 85 Prozent davon der
Mittelschicht zugehörig fühlen – was gemeinhin mit
finanzieller Sicherheit assoziiert wird –, gaben 57 Prozent
der »modernen« Familien an, mit ihrem Geld gerade so
über die Runden zu kommen, oder bezeichneten sich
sogar als arm. Bei den »traditionellen« ordneten sich
zehn Prozent weniger in die prekäre Kohorte ein.
Nur 30 Prozent der »modernen« Familien verfügen nach
eigenen Angaben über eine stabile Finanzgrundlage. Beim
konventionellen Gegenstück sind es dagegen 41 Prozent.
Deshalb nimmt bei Ersteren auch die Altersvorsorge
weniger Raum in der Finanzplanung ein als in der üblichen
Vater-Mutter-Kind-Konstellation. Emotional stehen sie sich
ähnlich nahe wie traditionelle Familien, doch reden die
»Modernen« mir ihren Kindern offener über Geldfragen,
und sie drängen ihren Nachwuchs auch stärker, sich beizeiten um die Altersvorsorge zu kümmern. Immerhin.
Weitaus besser als die »moderne« Durchschnittsfamilie
schneiden gleichgeschlechtliche Paare mit Kindern ab.
Allianz Life hält sie in Finanzdingen gar für die neuen
Vorbilder. Ihr Finanzprofil ähnelt dem der traditionellen
Heterofamilie: 50 Prozent der schwulen oder lesbischen
Paare und 52 Prozent der Traditionalisten bezeichnen
sich als wohlhabend oder sehen sich finanziell in einer
komfortablen Lage. Beide haben auch weniger Schulden
als die anderen Gemeinschaften. »Was die Finanzen angeht, haben gleichgeschlechtliche Partnerschaften mehr
mit traditionellen Familien gemein als mit den anderen
›modernen‹ Kategorien«, fasst es Katie Libbe von Allianz
Life zusammen. »Von allen ›modernen‹ Familientypen,
sind sie in Gelddingen am versiertesten. Die Finanzindustrie sollte das zur Kenntnis nehmen.«
Wie überall bringen Kinder das Gefüge allerdings auch
bei ihnen ganz erheblich durcheinander. Legen schwule
und lesbische Paare insgesamt im Schnitt mehr als
276 000 Dollar für die Altersvorsorge zurück, sind es
bei denen mit Kindern nur 210 000 Dollar. Verglichen
mit den anderen nichttraditionellen Familien stehen
sie damit aber immer noch am besten da – die kommen
im Schnitt auf gerade mal 186 000 Dollar.
• Mehrgenerationenfamilien
• Single-Eltern: ein alleinerziehender Erwachsener mit einem Kind unter 18 Jahren
• Gleichgeschlechtliche Partnerschaften mit oder ohne Kinder
• Patchwork-Familien: Verheiratete oder unverheiratete Eltern mit einem Stiefkind oder
einem Kind aus einer früheren Beziehung
• Eltern über 40 mit wenigstens einem Kind unter fünf Jahren
• Boomerang-Familien: Eltern mit Kindern zwischen 21 und 35 Jahren, die ausgezogen
und später wieder unter das elterliche Dach zurückgekehrt sind
(Quelle: Allianz Life-Studie »Love, Family, Money«, 2014)
Während die traditionelle Heterofamilie in Amerika auf
dem Rückzug ist, zeigt sich neben der Zunahme unkonventioneller Lebensgemeinschaften noch ein weiterer
Trend – der zum Single-Dasein. Lebten nach einer Untersuchung des US Census Bureau 1970 noch 11,5 Prozent
der US-Frauen ohne Anhang, waren es 2012 bereits 15,2
Prozent. Die Zahl der allein lebenden Männer hat sich im
selben Zeitraum von 5,6 Prozent auf 12,3 Prozent sogar
mehr als verdoppelt.
W W W. A L L I A N Z L I F E .C O M
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Reuters
Allianz Journal 3/2014
Asien
China hat in den vergangenen drei Jahrzehnten die Entwicklung des Westens im Zeitraffer
nachgeholt und inzwischen in vielen Bereichen
aufgeschlossen. Nun schickt sich das Reich der
Mitte mit dem Aufbau einer wettbewerbsfähigen
Automobilindustrie an, eine der letzten Bastionen
westlicher Vorherrschaft zu schleifen. Größter
Absatzmarkt für Pkw ist China bereits.
Der Qoros 3 hat letztes Jahr als erstes Auto aus chinesischer
Produktion beim Crashtest von Euro NCAP* die volle Punktzahl von fünf Sternen erreicht – als sicherstes Fahrzeug
unter 33 getesteten Modellen. Ein wichtiger Meilenstein.
In der Slowakei sind erste Qoros-Autos bereits auf den
Straßen, und Geelys fahren in Australien. Eine Entwicklung, die auch in den strategischen Überlegungen von
Global Automotive eine Rolle spielt. »Unser Ziel ist es
nicht nur, europäische und amerikanische Hersteller nach
China zu begleiten, sondern im nächsten Schritt auch
chinesische Unternehmen ins Ausland«, erläutert Global
Automotive-Chef Karsten Crede die Strategie.
F RA N K S T ERN
Noch ist das Zukunftsmusik. Und auch in China selbst
ist der Weg zum Erfolg steinig. »China ist einer unserer
wichtigsten Wachstumsmärkte«, sagt Crede. »Allerdings
ist er auch einer der schwierigsten.« Derzeit verfügt die
Allianz lediglich für die Provinzen Guangzhou und Shanghai über eine Lizenz für den Vertrieb von Kfz-Versicherungen, was den Aktionsradius erheblich einschränkt.
»Selbst wenn wir in ein paar Jahren in fünf Provinzen
aktiv wären, reichte das kaum, um für Hersteller und
Händler als Partner attraktiv zu sein« so Crede.
China am Steuer
Von China lernen
Das Szenario klingt ein wenig beunruhigend: Sollte
China irgendwann die Pkw-Dichte der USA erreichen,
wo heute auf 1000 Einwohner knapp 750 Autos kommen, dann würde das Land von mehr als einer Milliarde
Personenkraftwagen paralysiert. Da sind die Laster noch
nicht einmal mit eingerechnet. Im Moment beträgt die
Pkw-Dichte in China noch bescheidene 47 Autos auf
1000 Einwohner.
Doch auch die chinesische Mittelschicht strebt nach den
Wohlstandsgütern, die im Westen als selbstverständlich
gelten. 2013 hat China mit knapp 16 Millionen verkauften
Pkw die USA als größten Absatzmarkt bereits abgelöst.
Für deutsche Premium-Karossen von Audi, BMW, Porsche
und Mercedes ist die Volksrepublik inzwischen der wichtigste Abnehmer.
Ȇber 20 Prozent aller Pkw weltweit werden heute in
China abgesetzt«, sagt Thorsten Liebert. »Es ist der wichtigste Wachstumsmarkt für alle unsere Geschäftspartner.« Und damit auch für den gelernten Betriebswirt, der
Deshalb hat ein GA-Team in Shanghai ein Geschäftsmodell entwickelt, das es der Allianz Tochter in Zukunft
erlauben könnte, die chinesische Mauer zu umgehen
und ihre Dienste Autohäusern im ganzen Land anzubieten. Schon heute schließen mehr als 80 Prozent der
Käufer von Neufahrzeugen in China die Versicherung
direkt beim Händler vor Ort ab. Genau darauf ist Allianz
Global Automotive spezialisiert.
für Allianz Global Automotive (GA) in der Region AsienPazifik die Kooperation mit Autoherstellern und -händlern ankurbeln soll. Dabei richtet sich der Fokus nicht
mehr allein auf die Begleitung westlicher Firmen nach
China. Inzwischen expandieren chinesische Automobilhersteller auch in die andere Richtung. »Die Autowelt,
die heute noch von Europäern, Amerikanern, Japanern
und Koreanern dominiert wird«, so Liebert, »wird man
in Zukunft um China ergänzen müssen.«
Das neue Allianz Automotive Collaboration Model sieht die
Zusammenarbeit mit chinesischen Versicherern und Autohändlern im ganzen Land vor. »Das würde uns erlauben,
nicht nur bei Spezialthemen wie Garantie- oder Restschuldversicherung mit den BMWs dieser Welt zusammenzuarbeiten, sondern über alle Automotive-Angebote, inklusive
unserem Kernprodukt Kfz-Versicherung, hinweg«, erklärt
Thorsten Liebert die Idee. »Im ersten Schritt begleiten wir
Der steinige Weg zum Erfolg
Noch kennt kaum jemand solche Marken wie Qoros
oder Dongfeng, Chery, Changan, Geely oder Build Your
Dreams. Und bislang mussten sich westliche Hersteller
vor der Konkurrenz aus dem Osten auch nicht sonderlich fürchten, denn lange Zeit erfüllten die chinesischen
Autos nicht die im Westen üblichen Qualitätsstandards.
Doch die Chinesen holen auf – und zwar ziemlich schnell.
Irgendwann, daran hat kaum jemand Zweifel, werden sie
auch Luxuskarossen bauen.
* European New Car Assessment Programme (Europäisches NeuwagenBewertungs-Programm) ist ein Zusammenschluss europäischer
Verkehrsministerien, Automobilclubs und Versicherungsverbände mit
Sitz in Brüssel. Die Organisation bewertet anhand von Crashtests die
Sicherheit neuer Automobiltypen
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Allianz Journal 3/2014
Allianz Global Automotive
Allianz Global Automotive wurde Ende 2009 ins Leben gerufen, um die Kooperationen mit der Automobilindustrie und den Absatz von Kfz-Versicherungen über Autohäuser auszubauen. 2013 erzielte die Allianz
Tochter ein Prämienvolumen von 2,6 Milliarden Euro. Damit ist sie Weltmarktführer in diesem Segment.
© 2013, Scott Adams, Inc./Distr. Universal Uclick/Distr. Bulls
AS I EN
1,1 Milliarden Euro stammen aus der Region Asien-Pazifik.
Bis 2016 sollen die weltweiten Prämieneinnahmen auf rund vier Milliarden Euro gesteigert werden. Eine
wichtige Voraussetzung dafür ist eine starke Präsenz in China, das im letzten Jahr die USA als größten PkwMarkt ablöste. Von weltweit über 72 Millionen verkauften Personenkraftwagen rollten knapp 16 Millionen
aus chinesischen Autohäusern.
Von der engeren Zusammenarbeit mit Allianz Global Assistance unter dem Dach der neu geschaffenen
Einheit Allianz Worldwide Partners (AWP) erhofft sich Global Automotive eine deutliche Stärkung seiner
Marktpräsenz in China. Mit 130 Millionen Euro an Prämieneinnahmen im Jahr 2013 ist die Allianz beim
Geschäft mit Autohäusern unter den internationalen Versicherern in China bereits Marktführer.
ausländische Hersteller nach China, im zweiten bekommen wir Zugang zu deren lokalen Kooperationspartnern
und können dann auch für sie tätig werden.«
Durch die Kooperation mit Herstellern und Händlern
und die enge Anbindung an deren IT-Systeme hofft
man bei Global Automotive, zu einem unverzichtbaren
Partner der Chinesen zu werden. »Wir müssen erreichen,
dass wir, wie in anderen Märkten auch, fest in das Gesamtsystem vom Hersteller über den Händler bis hin
zum Kunden eingebunden sind«, sagt Automotive-Chef
Crede.
Unterstützt wird dieser Ansatz durch die Kooperation
mit zwei Schwergewichten der chinesischen Versicherungsindustrie – Ping An und China Pacific Insurance
(CPIC). »Wir stellen ihnen spezifisches Know-how, zum
Beispiel im Bereich Garantie- und Kreditversicherung
sowie Telematics und Elektrofahrzeuge, zur Verfügung
und partizipieren im Gegenzug am Rückversicherungsgeschäft«, sagt Liebert. »Die Zusammenarbeit läuft sehr
kollegial, was allerdings nicht heißt, dass sie uns ewig
brauchen werden. Sobald die Wissenslücken geschlossen sind, besteht die Gefahr, dass sie es alleine machen.
Da darf man nicht blauäugig sein.« Gerade deshalb aber
sei das Allianz Automotive Collaboration Model für die
Zukunft von Global Automotive in China so wichtig.
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Dass Europa den Chinesen noch viel beibringen könnte,
von dem Gedanken hat sich Liebert mittlerweile verabschiedet. »Bei einigen technischen Raffinessen und
Feinheiten vielleicht«, sagt er, »doch künftig werden
wir auch einiges von ihnen lernen können. Gerade was
neueste Trends angeht – oder wie man Flughäfen baut.«
Er war einer der ersten Passagiere, die auf dem neuen
Airport in Shenzhen gelandet sind. »Perfekt geplant,
innerhalb von zwei, drei Jahren hochgezogen und im
Zeitplan und bei Einhaltung des vorgegebenen Budgets
übergeben.« Liebert ist beeindruckt.
Er hat auch keinen Zweifel daran, dass die chinesische
Autoindustrie den Rückstand zu Amerikanern, Europäern,
Japanern und Koreanern relativ schnell aufholen wird.
»Noch sind sie vielleicht ein wenig hintendran, gerade
was die Qualität angeht, aber sie lernen schnell. Irgendwann haben sie auch den letzten Abstand wettgemacht –
und das wahrscheinlich zu einem Bruchteil der bei uns
üblichen Kosten.«
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World record on the Bosporus
ALLI ANZ GROUP
Build Your Dreams, einer der bedeutendsten chinesischen Automobilproduzenten mit Sitz in Shenzhen hat
angekündigt, innerhalb der nächsten zehn Jahre zum
größten Automobilhersteller der Welt aufsteigen zu wollen. Nicht nur für Crede und Liebert klingt das durchaus
realistisch.
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Journal
http://knowledge.allianz.com/
allianz_publications/
International Edition 3 | 2014
Redaktionsschluss für das Allianz Journal
1/2015 ist der 20. Dezember 2014.
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