München/Gradowka – Eine Reise in die eigene Geschichte Meine

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München/Gradowka – Eine Reise in die eigene Geschichte Meine
München/Gradowka – Eine Reise in die eigene Geschichte
Meine Oma – Ludwina Rühmann, geb. Hübner – wurde 1924 in der deutschen
Kolonie München geboren, die etwa 120 Km nördlich von Odessa gelegen war. Ihre
Vorfahren waren Mitte des 18. Jahrhunderts in Richtung Russland ausgewandert und
hatten dort über mehrere Generationen gelebt. Deutsche Traditionen, Sprache und
Schulwesen blieben jedoch erhalten. Während des 2. Weltkrieges, im März 1944,
mussten die deutschen Siedler auf Befehl Hitlers ihre Dörfer in Richtung „Heimat“
verlassen – eine Heimat die sie bis dahin noch nie gesehen hatten.
Als ich ein Kind war, habe ich ihre Geschichte über die Flucht aus Russland oftmals
gehört. Mir kam dieser Ort München, der zwar einen vertrauten Namen hatte, immer
unendlich weit weg vor. Doch zum Zeitpunkt meiner Reise lebte ich seit nunmehr
etwa anderthalb Jahren in Rumänien, was natürlich auch meine geographische
Wahrnehmung verschoben hatte. Der Weg nach Odessa war jetzt kürzer als in
meine Heimatstadt Bonn. Ich hatte schon lange davon geträumt, dass Dorf meiner
Oma zu besuchen. Im jugendlichen Alter schreckten mich noch die Mahnungen
meiner Mutter über vermeintliche radioaktive Strahlung aus Tschernobyl – obgleich
Odessa etwa 700 km von dort entfernt liegt – und die Erzählungen über die
osteuropäische Organmafia, die mich umgehend ausweiden würde. Doch nachdem
ich im Jahr zuvor gemeinsam mit meiner Freundin Andrea den gesamten Balkan
bereist hatte und mir nicht das geringste passiert war, verloren die Warnungen
schlagartig an Gewicht. Konnte es in der Ukraine wirklich schlimmer zugehen als in
Albanien, Bosnien oder dem Kosovo?
Ich plante meine Reise dennoch sehr sorgfältig. Zunächst hatte ich vor, selbst mit
dem Auto in die Ukraine zu fahren – und zwar gemeinsam mit Freunden im Rahmen
einer größeren Tour. Nachdem meine Reisepartner sich aber nur eine Woche frei
nehmen konnten, erschien dieser Plan illusorisch. Da Andrea dank ihres Stipendiums
bei der Robert-Bosch-Stiftung über sehr viele Kollegen in diversen osteuropäischen
Städten verfügte, war mir Hilfe sicher. Christine – Boschlektorin aus Odessa – gab
mir den Tipp, dass das dortige GTZ-Büro viele Projekte mit der deutschen Minderheit
durchführen würde und die Mitarbeiter vielleicht eine kleine Reise für mich
organisieren könnten. Das ging erstaunlicher Weise ziemlich einfach. Ich stand per
email in Kontakt mit Vera, die wiederum alle Details mit Julia, der Ansprechpartnerin
in Kudrjawka – ein Dorf in der Nähe von München – klärte. Man bot mir eine
zweitätige Reise mit Fahrer, Dolmetscherin, Unterkunft und Verpflegung für 110 Euro
an. Ein Angebot was ich natürlich dankend annahm.
Bereits in Deutschland hatte ich einige Erkundigungen über München eingeholt,
dabei jedoch viel verwirrendes herausgefunden. So fanden sich als heutige
Ortsnamen je nach Quelle „Maloje Poretchje“, „Poritschtschja“, „Porriccja“ oder auch
„Gradowka“, was die Orientierung nicht unbedingt erleichterte. Allerdings hatte ich
eine aktuelle Straßenkarte gefunden, auf der „Porriccja“ eingezeichnet war, so dass
ich mir ziemlich sicher war, zumindest nah an meinem Ziel zu liegen. Zur Not hatte
ich auch noch ein Bild der Kirchenruine aus München aufgetrieben, so dass ich vor
Ort vergleichen oder die Dorfbewohner nach der besagten Kirche fragen könnte.
Tag 1
So machte ich mich am 12. März 2009 frühmorgens aus Timisoara auf die Reise. Ich
hatte für die gesamte Tour nur sechs Tage eingeplant, da Andrea schwanger war
und ich sie nicht so lange alleine lassen wollte. Ich wusste also, es würde
anstrengend werden. Um kurz vor acht bestieg ich also den Zug, der mich zunächst
nur nach Oradea bringen sollte. Dort traf ich Martin, der ebenfalls ein Bosch-Kollege
meiner Freundin war und den ich nach anderthalb Jahren und einigen gemeinsamen
Reisen schon ziemlich gut kannte. Mit ihm verbrachte ich den Tag in Oradea, bevor
wir um 16:30 Uhr den Bus nach Chisinau nahmen. Martin wollte dort einen als
Arbeitstreffen getarnten Kurzurlaub verbringen. Da die Fahrt etwa 15 Stunden
dauern würde, hatte ich beschlossen, mich ihm auf dem ersten Teil meiner Reise
anzuschließen. Der Bus war glücklicherweise ziemlich leer, so dass wir genug Platz
hatten und uns in der Nacht halbwegs bequem über die Sitzreihen ausstrecken
konnten. Während Martin schlechte Filme auf Russisch zu sehen bekam, überfiel
mich kurz nach Einbruch der Dunkelheit schon die Müdigkeit, so dass ich die meiste
Zeit der Fahrt über schlief. Zwar nicht besonders fest, denn jedes Mal wenn ich mich
drehen wollte wurde ich unweigerlich wach. Es war eben nur halbwegs bequem.
Tag 2
Gegen 7 Uhr morgens, am 13. März, erreichten wir Chisinau und stiegen am
zentralen Marktplatz aus, wo uns erstmal ein Mann mit einem toten Schwein über der
Schulter über den Weg lief. Nach etwa einer halben Stunde hatten wir die Wohnung
von Julian – ein weiterer Bosch-Lektor – erreicht und frühstückten dort. Eine Stunde
später brachten mich die beiden dann zum Busbahnhof, von wo aus meine Reise
nun alleine weitergehen sollte. Um 8:40 Uhr bestieg ich den Bus nach Odessa, wo
ich nach etwa 5 Stunden Fahrt schließlich ankam. Dort machte ich mich auf die
Suche nach meiner Unterkunft, die mir Elke – Bosch-Lektorin in Mykolajiv – besorgt
hatte. Diese sollte sich im Gemeindehaus der St. Paul Kirche in der NovoselskovoStraße befinden. Meine Russischkenntnisse waren quasi nicht vorhanden und so
stand ich dann vor dem Straßenbahnfahrer und gab als einziges Wort den
Straßennamen von mir. Erstaunlicherweise schien er nach nochmaligem Nachfragen
zu verstehen und zeigte mir drei Finger. Dies interpretierte ich als ein Zeichen dafür,
dass ich drei Stationen zu fahren hatte. Nachdem ich die Bahn dann wieder
verlassen hatte, fragte ich mich weiter durch. Auf meine Frage, ob sie denn Englisch
könnten, wendeten sich die meisten Passanten bereits wieder ab. Ich rief dann stets
„Novoselskovo“ hinter ihnen her. Sie reagierten darauf zunächst immer mit fragenden
Blicken, bis ich ihnen den Zettel mit dem Straßennamen zeigte und sie zumeist ein
erleichtertes „Ah, Novoselskova!“ hervorbrachten. Scheinbar wird das letzte „O“ wie
ein „A“ ausgesprochen – das dieser kleine Fehler aber gleich das ganze Wort
unverständlich machen würde, hätte ich nicht gedacht. Doch ich war auf dem
richtigen Weg, denn alle Leute die ich fragte wiesen mich in die gleiche Richtung.
Nach kurzer Zeit hatte ich die Straße tatsächlich gefunden. Auch wenn das
Straßenschild nur in kyrillischen Buchstaben vor meinen Augen lag, so war ich mir
doch ziemlich sicher. Das Zimmer im Gemeindehaus stellte sich als äußerst
komfortabel und mit nur 10 Euro pro Nacht auch als ebenso preiswert heraus.
Nachdem ich mich eine halbe Stunde auf dem Bett ausgeruht hatte, begann ich die
Stadt zu erkunden. Da es am nächsten Morgen direkt weiter nach München gehen
würde, blieb mir dafür eventuell nur dieser eine Nachmittag. Nach den vielen Reisen,
die ich im Laufe der letzten anderthalb Jahre unternommen hatte, konnte mich
Odessa jetzt nicht mehr vollkommen vom Hocker reißen. Ich war einfach übersättigt,
denn letztlich ähneln sich europäische Städte doch sehr stark. Odessa ist jedoch
zweifelsohne eine schöne Stadt: Traumhafte alte Gebäude die einen morbiden
Charme versprühen, die Lage direkt am Schwarzen Meer – besonders im Sommer
kann man es hier mit Sicherheit gut aushalten. Doch heute war es sehr kalt und ich
war froh, dick eingepackt zu sein. Ich ließ mich einfach durch die Stadt treiben,
verpasste dabei aber keine ihrer Sehenswürdigkeiten: Das alte Opernhaus, die
potemkinsche Treppe, die Verklärungskathedrale, die Duma mit der vorgelagerten
Puschkin-Statue und natürlich die beiden Flaniermeilen Derybasivs’ka und
Prymors’kyj. Obgleich ich Denkmäler eigentlich nicht sonderlich spannend finde,
suchte ich gezielt nach der Statue von Katharina der Großen. Auf der Reise zu
meinen historischen Wurzeln erschien es mir passend am Fuße des Steindenkmals
der Zarin Halt zu machen, welche die deutschen Siedler erst ins Land geholt hatte.
Als ich ein Foto der Statue machte, sah ich wie drei Jugendliche auf mich zeigten
und ihre Köpfe schüttelten – Katharina die Große ist in der nun unabhängigen
Ukraine wohl eine polarisierende Persönlichkeit.
Nach etwa drei Stunden kehrte ich ins Gemeindehaus zurück, wo ich auf Elke und
ihren Freund traf. Sie waren zufällig auch in Odessa und so gingen wir gemeinsam
etwas essen. Später kam noch ein deutscher Freiwilliger dazu, der in Mykolajiv an
einer Schule unterrichtete. Mit ihm gingen wir noch auf ein Bier in eine nahe
gelegene Bar, wo wir einer ukrainischen Nachwuchsband lauschten und uns über
unsere jeweiligen Pläne unterhielten. Doch gegen 23 Uhr verabschiedete ich mich,
morgen würde ein langer Tag werden.
Tag 3
Ich schlief wie ein Stein und hätte noch ewig weiter im Bett liegen können, doch
bereits um 6:30 Uhr klingelte mein Wecker. Eine Stunde später traf ich im Foyer auf
Katja, meine Dolmetscherin. Sie war eine 17-jährige Englisch- und DeutschStudentin, die mich auf meiner Reise nach München begleiten würde. Wobei ihre
Englischkenntnisse deutlich besser waren als ihr Deutsch. Wir fuhren gemeinsam
zum Hauptbahnhof der Heldenstadt Odessa und kauften uns Tickets nach
Berezowka. Nach zweieinhalb Stunden Zugfahrt – in denen mir Katja u.a.
ukrainische Jungennamen vorstellte und ich beschloss, dass diese für meinen Sohn
nicht in Frage kämen – erreichten wir unsere erste Etappe. Dort erwartete uns bereits
Julia, welche die Reise organisiert hatte. Unser Fahrer Sascha brachte uns dann in
ein kleines Dorfrestaurant, wo wir uns erstmal mit einer Borschtsch und einem Stück
Fleisch mit Kartoffelpüree stärkten. Danach ging es auch schon los in Richtung
München. Unser Gefährt war doch recht klapprig, erfüllte aber seinen Zweck. Sascha
raste über die mit Schlaglöchern versehene Straße, er schien jedes einzelne zu
kennen und umkurvte alle Hindernisse mit großem Geschick. Aufgrund der fehlenden
Hinweisschilder und der extrem schlechten Straßenverhältnisse – ich war zwar aus
Rumänien schon einiges gewohnt, aber es ging also noch schlimmer – war ich sehr
froh, in Begleitung zu sein. Ich hatte auch kurzfristig erwogen, mir in Odessa einen
Mietwagen zu nehmen und den Trip auf eigene Faust durchzuziehen. Als wir dann
auch noch die reguläre Straße verließen und uns quer über die Felder den Weg nach
München bahnten, war ich heilfroh, mich für diese Variante entschieden zu haben.
Alleine und ohne Sprachkenntnisse wäre ich hilflos verloren gewesen. Nach einer
guten Stunde holpriger Autofahrt durch Feld und Matsch – die Entfernung von
Berezowka aus betrug laut Julias Aussagen nur knappe 30 km – war ich in München,
dem Ziel meiner Reise, angekommen.
Doch so ganz traute ich dem Braten noch nicht. Da ich bei meinen Recherchen auf
so viele unterschiedliche Ortsnamen gestoßen war, wollte ich zunächst die
Kirchenruine – von der ich ja immerhin ein Bild hatte – mit eigenen Augen sehen.
Meine Begleiter wollten mich hingegen zur Dorfschule bringen, ich bestand jedoch
darauf, nach der Kirche Ausschau zu halten. Wir fragten einen kleinen Jungen nach
dem Weg und dieser sagte, dass es keine Kirche gäbe. Nach einer Schocksekunde
fügte er allerdings hinzu, es stünde nur noch eine Ruine. Julia fragte mich, ob ich die
Kirche trotzdem sehen wolle. Was für eine Frage! Ich wusste ja schon vor meiner
Reise, dass nicht mehr viel von der Kirche übrig war. Und dann stand es schließlich
vor mir, dass Gotteshaus, in dem meine Oma ihre ersten 20 Lebensjahre stets
gebetet hatte. Obwohl ich nicht gläubig war, ist es ein sehr ergreifendes Gefühl
gewesen, nun wahrhaftig vor dieser Kirche zu stehen. Nur die Außenmauern waren
ihr geblieben – Dach, Türen, Fensterscheiben, Böden und jegliche Inneneinrichtung
waren nicht mehr vorhanden. Trotzdem war es nahezu überwältigend für mich, die
Schwelle in die Kirche hinein zu übertreten. Katja, Julia und Sascha hingegen
verstanden die Bedeutung, die dies für mich hatte, nicht im Ansatz, schauten sich
lachend ein wenig um und gingen dann zurück zum Auto. Ich war froh eine zeitlang
alleine in der Kirche sein zu können und schaute mir alles, was noch übrig geblieben
war, sorgfältig an. Dann hob ich vom Boden zwei Steine auf, die ich meiner Oma als
Erinnerung an ihre alte Heimat mitbringen wollte. Meine Begleiter hatten sich
inzwischen umgesehen und waren mit einer Dorfbewohnerin ins Gespräch
gekommen. Wie mir Katja übersetze, wusste sie leider nicht viel über das alte
München und verwies uns an die Dorflehrerin. Nachdem wir zwei weitere Ruinen
gefunden hatten, von denen uns leider niemand sagten konnte, was früher ihre
Bestimmung gewesen war, fuhren wir mit der Lehrerin in ihre Dorfschule. Sie hatte
sich bereit erklärt, uns zu begleiten, da sie etwas über das frühere Dorfleben wusste.
In der Schule war ein kleines Museum über die Geschichte des Dorfes eingerichtet,
in dem sich einige Fotos von früher befanden. Zudem gab es einen Plan, in dem die
Anordnung der Häuser mit Namen ihrer Besitzer verzeichnet waren – eine Kopie
dieses Plans erhielt ich als Geschenk. So fand ich auch den Namen Hübner und die
Lehrerin führte uns daraufhin zu der Stelle, wo wohl früher das Haus meiner Oma
gestanden hatte. Ob es wirklich genau dieser Platz gewesen ist, weiß ich natürlich
nicht. Aber es war jedenfalls die Straße, in der das Haus gestanden hatte – heute
waren dort neue Häuser. Unser Weg führte dann weiter zum alten deutschen
Friedhof, von dem ebenfalls nicht mehr viel übrig war. Über das Gras verteilt lagen
kreuz und quer Grabsteine, die jedoch so stark verwittert waren, dass von den
Inschriften darauf nichts mehr zu erkennen war. Auch die Eisenkreuze, die wohl auf
den Steinen angebracht gewesen sind, waren nicht mehr vorhanden. Daher konnte
ich auch leider nicht das Grab meines Ur-Opas finden, der zwei Wochen vor der
Flucht gestorben war und hier irgendwo liegen musste. Es war gleichwohl ein
schöner Ort. Auf einem Hügel gelegen konnte man von hier das ganze Dorf
überblicken. Nachdem wir die Dorflehrerin wieder zu ihrem Haus gebracht hatten,
endete unser etwa dreistündiger Besuch in München schon wieder. Es war
inzwischen schon nach 16 Uhr und vor uns lag noch der Weg nach Kudrjawka, das
Dorf in dem wir übernachten würden. Es erschien besser seine Ziele bei den
geschilderten Straßenverhältnissen noch bei Tageslicht zu erreichen und die Fahrt
zu unserer Unterkunft würde erneut ein bis zwei Stunden in Anspruch nehmen. Die
Dorflehrerin bat mich noch, ihr meine Unterlagen über München dazulassen. Sie
waren zwar alle auf Deutsch, aber sie wollte sie wohl für ihr Museum haben.
Außerdem befand sich darunter auch ein Bild von der Kirche, wie diese vor der
Zerstörung ausgesehen hatte. Da ich mein Ziel nun erreicht hatte und in Deutschland
leicht wieder an diese Kopien kommen würde, überließ ich sie ihr gerne. Dann bat
mich die Lehrerin noch, meine Oma möge doch einen Brief mit ihren Erinnerungen
an ihre Zeit in München schreiben. Ich ließ mir die Adresse geben und versprach,
meine Oma nach meiner Rückkehr darum zu bitten.
Auf dem Weg nach Kudrjawka kamen wir noch durch einige sehr schöne Dörfer, die
wohl früher auch von Deutschen bewohnt gewesen waren. Leider hatten wir keine
Zeit dort anzuhalten und so konnte ich das ursprüngliche Leben und die vielen
herumlaufenden Tiere nur vom Wagen aus beobachten. In Rumänien hatte ich schon
sehr viel Landleben mitbekommen, hier war jedoch alles noch einmal ein Stück
ärmer und einfacher als im Nachbarland. Kudrjawka selbst war dagegen eine sehr
groteske Erscheinung. Mitten im Nirgendwo – nichtmal ein asphaltierte Straße gab es
dorthin – stand eine Neubausiedlung. Finanziert worden war das Ganze von der
GTZ, wie mir später von Irina, der stellvertretenden Geschäftsführerin des GTZBüros in Odessa, mitgeteilt wurde. Doch zunächst bezogen Katja und ich unsere
Unterkunft und wurden dort mit einem leckeren Essen begrüßt. Nachdem wir uns
kurz ausgeruht hatten, wollte Julia – die dort mit ihrem Mann wohnte und Lehrerin an
der Dorfschule war – ihre Unterrichtsräume zeigen. Begleitet wurden wir von Irina,
die aus Kasachstan stammte und sehr gutes Deutsch sprach, da sie mit einem
ethnisch Deutschen verheiratet war und zudem an der Universität in Odessa Deutsch
studiert hatte. Sie erzählte mir, dass das Leben für die russisch sprechende
Bevölkerung in Kasachstan nach der Zeitenwende 1989/91 sehr schwierig gewesen
sei. Deshalb sei sie mit ihrer Familie vor neun Jahren in die Ukraine gekommen und
habe zunächst auch in Kudrjawka gelebt. Julia führte uns dann voller Stolz durch ihre
für das Dorf völlig überdimensionierte Schule – nur 40 Schüler gab es – und zeigte
uns alle Unterrichtsräume. In Kudrjawka waren wohl ethnische Deutsche zu Hause,
die jedoch kaum noch ihre einstige Sprache sprechen konnten und zumeist wie Irina
aus Zentralasien stammten. Als wir uns Fotos von Veranstaltungen ansahen, die hier
in Kudrjawka stattgefunden hatten, überkam mich ein leicht beklemmendes Gefühl.
Ich würde morgen wieder nach Odessa fahren, aber die Jugendlichen die hier lebten
waren quasi gefangen. Im Winter, wenn die „Straßen“ voller Schnee seien würden
oder wenn es lange geregnet hatte, konnte man wahrscheinlich tatsächlich nicht von
hier weg. Da saß ich nun im Nirgendwo und wenn meine Oma nicht nach
Deutschland geflohen wäre, sondern wie Irinas Vorfahren nach Zentralasien
vertrieben worden wäre, dann wäre ich vielleicht auf der anderen Seite und würde
Geschichts-Touristen durch verfallene Kirchen, zertrampelte Friedhöfe und
Dorfschulen in gottverlassenen Gegenden führen. Als wir die Schule wieder
verließen, war es stockdunkel. Es herrschte eine so tiefe Dunkelheit, wie ich sie
bislang selten erlebt hatte. Meine Heimatstadt war – wie eigentlich alle Städte – auch
nachts immer hell erleuchtet. Hier blieb uns nur ein schwaches Licht aus einem weit
entfernten Haus, um uns gerade noch orientieren zu können. Bei unserer Unterkunft
angekommen fiel ich sofort ins Bett, obwohl es erst 20 Uhr war. Ich war vollkommen
erschöpft und froh mich hinlegen zu können. Allerdings schlief ich nicht besonders
gut, da zum einen das Bett ziemlich unbequem war und zum anderen der Heizlüfter
alle halbe Stunde den Ventilator anwarf.
Tag 4
Am 15. März ging es nach einem ausgezeichneten Frühstück mit leckeren
Pfannekuchen zurück nach Odessa. Katja und ich verabschiedeten uns von Julia
und Irina und wurden dann von Sascha zurück nach Berezowka gefahren, von wo
aus wir einen Bus zurück nach Odessa nahmen. Auf dem Weg konnten wir in einigen
Dörfern kurz Halt machen, so dass ich doch noch einige Fotos vom ukrainischen
Landleben machen konnte. Leider war das Wetter recht trüb, so dass keine
Menschen auf den Straßen zu sehen waren und wir nur einigen Gänsen, Hühnern
und Truthähnen begegneten. Der Bus brauchte für die Strecke nur anderthalb
Stunden, so dass wir schon gegen 14 Uhr zurück in Odessa waren. Katja gab mir
noch ihre Adresse, da sie mich nach deutscher Musik gefragt hatte und ich ihr eine
kleine Auswahl schicken wollte. Bislang kannte sie nur Bushido – das konnte ich so
nicht stehen lassen. Wir verabschiedeten uns im Gemeindehaus, wo ich mich kurz
auf meinem Zimmer ausruhte. Dann ließ ich mich erneut durch das kalte Odessa
treiben, fand noch einige nette Ecken, die ich bislang noch nicht gesehen hatte, zog
mich dann aber in ein Internetcafe zurück, um mit Andrea zu chatten. Es gab
schließlich einiges zu berichten. Der Zenit meiner Reise war nun überschritten, am
nächsten Tag würde es zurück nach Chisinau gehen. Nachdem ich noch einigen
Proviant eingekauft hatte, ging ich zurück auf mein Zimmer, wo ich schon recht bald
in einen tiefen und sehr erholsamen Schlaf fiel.
Tag 5
Am Morgen des 16. März machte ich mich ziemlich früh auf zum Busbahnhof, da ich
mir noch ein Ticket besorgen musste und keine Ahnung hatte, wann die Busse nach
Chisinau abfuhren. Zudem wollte ich es möglichst vermeiden durch Transnistrien zu
fahren, da ich in diesem Fall keinen Einreisestempel für Moldawien bekommen
würde und dann als illegal eingereist gelten würde, was wiederum zu Problemen bei
der Ausreise führen könnte. Der Ticketkauf erwies sich trotz Sprachbarriere als völlig
problemlos. Um 8:40 Uhr saß im Bus und befand mich so bereits auf der ersten
Etappe meiner Rückreise nach Timisoara. Bei der Einreise nach Moldawien gab es
ein kleineres Problem mit der Grenzbeamtin. Ich wurde aus dem Bus gerufen und sie
verglich unentwegt mein Passfoto mit meinem Gesicht, wobei mir bis heute
schleierhaft ist, was es da zu gucken gab. Ich war auf meinem Passfoto eigentlich
recht gut getroffen. Sie rief eine englischsprachige Kollegin zu sich und dann wurde
ich nach meinem Geburtsort gefragt. Nachdem ich dies beantwortet hatte, fragten sie
mich nach meinem Geburtsdatum. Ich erwiderte, dass dies doch alles im Pass
stehen würde und wies auf das Dokument. Da erst merkte ich, dass dies
Kontrollfragen waren und wohl festgestellt werden sollte, ob ich mein im Pass
vermerktes Geburtsdatum auch auswendig wusste. Als ihnen keine Fragen mehr zu
meinem Pass einfielen, wollten sie wissen, was ich denn in der Ukraine gemacht
hätte und was meine Vorhaben in Moldawien wären. Ich antwortete das ich ein
Tourist sei und mir Chisinau ansehen wolle. Als sie wissen wollte, was genau ich mir
dort ansehen wolle, wurde es mir zu blöd. Ich spiele meinen letzten Trumpf und
sagte, dass ich dort jemanden kennen würde und nannte Julians Namen und seine
Anschrift. Diese Auskunft überzeugte scheinbar und ich durfte nun einreisen. Die
Fahrt durch Moldawien war recht schön, wir kamen durch kleine Bauerndörfer, die
allerdings denen in Rumänien sehr ähnlich waren. In Chisinau angekommen nutze
ich die Zeit bis ich Julian treffen würde mit einem Spaziergang über die Hauptstraße,
den Boulevard Stefan cel mare. Damit hatte ich eigentlich, wie Julian mir mitteilte,
schon alle Sehenswürdigkeiten der Stadt gesehen. Chisinau war im 2. Weltkrieg
weitestgehend zerstört worden, so dass von der alten Bausubstanz nicht mehr viel
übrig geblieben war. Riesige Betonklötze bestimmten nun das Stadtbild. Trotzdem
zog ich nach kurzer Verschnaufpause noch mal los, um mir ein Ticket für die morgige
Busfahrt zurück nach Timisoara zu besorgen. Die Verkaufsstelle befand sich in
unmittelbarer Nähe zum Marktplatz, wo ich einer alten Frau noch ein paar gestrickte
Kinderschühchen für meinen kleinen Millimeter abkaufte. Nach einem Abstecher zum
sowjetischen Ehrendenkmal kehrte ich in Julians Wohnung zurück, wo ich sofort auf
seinem Bett einschlief. Doch meine Ruhe währte nicht lange, da Julian von seinem
Unterricht zurückkam und wir gemeinsam mit seiner Freundin Valeria in ein
türkisches Restaurant gingen. Dort trafen wir noch auf ein paar Franzosen, welche
Funktion diese in Chisinau erfüllten, habe ich aber vergessen. Nach zwei
moldawischen Bieren und einer Shawarma brachten wir Valeria zu ihrem Bus und
ging zurück zu Julian. Dort schauten wir uns auf youtube noch einige Satiresongs
über Osama, Obama, Westerwelle, Koch und Konsorten an, bevor wir selig
einschliefen.
Tag 6
Der 17. März sollte mein Rückreisetag werden. Nachdem ich mich von Julian
verabschiedet hatte, fuhr ich zum Busbahnhof und bestieg um 12 Uhr einen
Mercedes-Sprinter, der mich in einer 18-stündigen Fahrt zurück nach Timisoara
bringen sollte. Auf der Hinreise hatten wir einen komfortablen Reisebus und nun
musste ich mich mit einem engen, winzigen Wagen begnügen. Doch da nicht alle
Plätze belegt waren, wurde die Rückfahrt bei weitem nicht so schlimm, wie ich
zunächst befürchtet hatte. Solange es hell war, las ich ein Buch, dass mir Julian für
den Rückweg mitgegeben hatte und sah mir zwischendurch das moldawische und
später dann das rumänische Hinterland an. Die Einreise in die EU verlief für mich
problemlos, die alte Frau neben mir wurde allerdings beim Schmuggeln von ein paar
Stangen Zigaretten erwischt, was aber keine ernsteren Konsequenzen nach sich
zog. Die Grenzbeamten werden sich über ihre Beute gefreut haben. In Sibiu hatte
sich der Bus dann soweit geleert, dass ich mich wieder über eine komplette Sitzbank
langlegen und einigermaßen schlafen konnte. Um 5 Uhr morgens und einem
gestammelten „Unde sunt?“ war ich wieder in Timisoara angekommen. Nach kurzer
Orientierung sah ich, dass ich im Stadtteil Iosefin gelandet war und ging in Richtung
Bahnhof, um ein Taxi zu ergattern. Der Taxifahrer entnahm unserem Gespräch
zunächst, ich sei gerade aus China angekommen und schaute mich etwas verdutzt
an. Als ich ihm noch mal langsam die Stadt Chisinau nannte, war für ihn die Welt
wieder in Ordnung. Ich betrat das Dozentenwohnheim, womit meine Reise endgültig
endete und ich erschöpft, aber glücklich, die verschlafene Andrea und ihren
Bauchbewohner in die Arme schließen konnte.