Schwankungen*19
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Schwankungen_19_Vorne.qxp 07.11.2007 1:29 Uhr S Seite 1 P E C I A L I N T E R E S T S C H WA N K U N G E N UNVERFROREN # 1 9 I Was Du nicht siehst Gelegenheit macht Angelegenheiten 1 2 . N O V E M B E R An ein mögliches „Ende der Fotografie“ dachte Weegee freilich nicht. Die zeitgenössische Technologie war sein Rüst- und Handwerkszeug, aber auch sein ästhetischer Ratgeber. Das Medium und die Umstände seiner Hervorbringung allerdings wurden bei Weegee erst postum (und über die beschriebene Papier-Bande) reflektiert. Russische Zeitgenossen und BauhausKollegen gingen fotomechanischen und chemischen Angelegenheiten bereits deutlicher auf den Grund. Von den hier begangenen Seitenwegen gingen einige in den klassisch-modernen Kanon ein. Von jenen, die weiter schritten, sind jetzt einige im Künstlerhaus am Deich zu sehen. Das im künstlerischen wie privaten Gebrauch verengte Medium ausweiten zu wollen, ist den unterschiedlichen Positionen von Hollis Framptons und chris.marker, Jörn Zehe und Kyungwoo Chun gemeinsam. Und mit seinen subtilen Eingriffen in die scheinbare Objektivität des Fotos ist Christopher Williams nicht weit von Weegee entfernt. Der fotografierte einen Leichnam gerne so, dass man im Hintergrund das Türschild einer Leichenhalle sehen konnte. Oder einen Briefkasten, auf dem stand: Für rechtzeitige Zustellung zu Weihnachten bitte < Tim Schomacker hier einwerfen. Angelegenheiten, die sich daraus ergeben: Bis 6. Januar im Künstlerhaus Am Deich I 2 1 | WINDIG T A G E K U LT U R F Ü R Das Festival „Dancing Roads Compact“ bringt Tanz-Helden nach Bremen Man kann es nicht anders sagen: Da tummelt sich jede Menge Rang und Namen beim international besetzten Festival “Dancing Roads Compact”. Am Regiepult, auf der Bühne, aber auch bei den Stichwortgebern aus Film, Literatur und Musik. Und mit etwas Glück muss man hernach nicht konstatieren: „Schade, dass nur wenige Zuschauer den Weg zu dieser Aufführung fanden. Die Truppe hätte wirklich besseren Zuspruch verdient gehabt.“ So zu lesen nach einem Auftritt des belgischen Kollektivs „Peeping Tom“ im Frankfurter Mouson-Turm – ja auch nicht eben Brachland, was zeitgenössische Choreographie betrifft. Doch die Bremer Zeichen stehen nicht schlecht: Schließlich ist der Tanz eines der Felder, in denen die Balance zwischen solider Arbeit daheim und hochkarätigen, impulsgebenden Gastspielen von außerhalb ganz gut funktioniert. Siehe „Tanz Bremen“, das im nächsten März nach drei Jahren Pause wieder stattfindet. Siehe auch die Produktions- und Einladungspolitik des steptext dance projects. Letztere bringen unter dem Label „Dancing Roads“ seit 2004 regelmäßig renommierte Acts in die bisweilen sogar tanzverrückte Hansestadt. Die erste Angelegenheit wird zum „daraus“, aus ihr ergibt sich eine zweite. Und so weiter. Ein Beispiel: Als Weegee 1939 eine Abrechnung der „Time Incorporated New York“ auf seinen Schreibtisch legte und vielleicht andere Papiere und Abzüge darüber Wir haben es hier mit einer ganzen Angelegenheitskette zu tun 2 0 0 7 K A LT Ein paar Tage von Welt Es gibt nicht immer nur einen Startpunkt. „Angelegenheiten, die sich daraus ergeben“, wie eine Ausstellung mit Fotoarbeiten heißt, die derzeit im Künstlerhaus Bremen zu sehen ist, gibt es meist dort, wo es erste Angelegenheiten gibt. Diese sind den weiteren – jenen, die sich daraus ergeben – vorgelagert; ohne deshalb ursprünglicher zu sein. schichtete, wusste er nicht, dass dieses Schriftstück sich dereinst in seinem Nachlass, ja sogar Eingang in Ausstellungen seiner Werke finden würde: „Two Murders“, steht da. Das Honorar ist mit 35 Dollar angegeben. Wir haben es hier mit einer ganzen Angelegenheitskette zu tun: Nummer eins ist der Mord, der verübt wird. Nummer zwei das Foto, das Weegee auf seinen Expeditionen durch die „Naked City“ schoss. Nummer drei der Abdruck in der Illustrierten und Nummer vier die Abrechnung. Indem das Schriftstück erst zum dokumentarischen Indiz für die Arbeitsweise des großen fotografischen Erzählers und dann zum Ausstellungsstück selbst wird, kommen weitere dazu. | Mit „Le Salon“ setzen „Peeping Tom“, die sonst in Belgien arbeiten, ihre verschlungene, dabei ganz nah an die Tanzenden heranrückende Erzählarbeit fort, die schon in „Le Jardin“ manch choreographisches Klischee aus den Angeln hob. Diesmal kann man der „Place Vendome“-artigen GroßfamilienOpulenz beim Niedergang zuschauen: Als Spielraum und Leitmotiv fungiert der Salon der Residenz. Wie die Bezüge der Sitzmöbel verschleißen, gerät auch der bürgerliche Bezugsrahmen aus den Fugen. Verschleiß und Unschärfen an der Peripherie Das ist ein Umstand, von dem auch der rumänisch-französische Choreograph Cosmin Manolescu seinen Abgesang zu singen weiß. In einem Vortrag erklärt er, wie schwer es ist, in einem Land, das jahrzehntelang doppelt und dreifach zur Peripherie verurteilt war, eine freie Tanzszene mit internationalem Anspruch aufzubauen. Mit Glück berichtet Manolescu auch davon, wie unterschiedlich historisch entstandene Avantgarde-Begriffe sind und wie man tänzerisch damit umgeht, dass ein organisiertes Europa zwar oft hilfreich ist, einem aber auch im Weg stehen kann. Beispielhaft wird von ihm „Serial Paradise“ gezeigt, eine als satirisches Tanz- theater annoncierte Groteske über Individualität und Uniformität, die möglicherweise einen dritten choreographischen Weg markieren kann. Periphere Situationen baut auch Roberto Zapallá aus Sizilien. Und zwar mitten im europäischen MasterMaterial. Seine Romeo und JuliaAdaption „la sfocatura die corpi“ sucht nach Momenten des Unfokussiert-Seins. Diesen optisch-medialen Umstand untersucht Zapallás Duo als alternatives Welt-Bild. Wie schwer es ist, die Wahrheit in den Blick zu bekommen, weiß auch die französische Regisseurin und Marinettenbauerin Gisèle Vienne. Basierend auf einem Text des hierzulande leider wenig beachteten Dennis Cooper collagiert sie in „I apologize“ zahlreiche Versionen ein und des selben Unfallhergangs zusammen. Ästhetisch entschuldigen muss sich kein DancingRoads-Gast. Möge das Publikum dieses Mal auch nicht nach Ausreden suchen... < Tim Schomacker “Dancing Roads Compact” findet vom 20. bis 25. November in der Schwankhalle statt. Von Nasenflötern und Plattenspieler-Spielern Kleine Instrumentenkunde im Dschungel schräger Kreationen Im Jazz hat sich der Begriff „miscellaneous instruments“ für all jene Teile eingebürgert, die nicht in den üblichen Katalog der Instrumentenfamilien passen. Dieser bunte Kramladen verschiedenartiger (nichts anderes meint „miscellaneous“) Instrumente umfasst Fundstücke aus den Kulturen der Welt, Selbstgebautes, aber auch das weite Feld der zum Instrument gewordenen Spielzeuge und Alltagsgegenstände. So gehört der legendäre Eierschneider ebenso in diese Kategorie wie das brasilianische Berimbau. Jetzt gibt es in Bremen im Rahmen des HörZu-Festivals mehrfach und zudem bei einem Konzert der MIBReihe „Improvisationen“ Gelegenheit, solche Instrumente kennen zu lernen, die manchmal sehr eigenartig klingen, mitunter aber auch seltsam himmlisch. Da ist zunächst einmal Jan Klug: Der gebürtige Aachener lebt seit längerem in Groningen und hat sich den dortigen „Dichters uit Epibreren“ angeschlossen, dem Konsortium aus düster musikalischen Poeten, das schon mehrfach in Bremen zu erleben war. Klug hat als Elektroniktüftler begonnen und dann Jazz-Saxophone studiert, aber die Leidenschaft für Experimentelles blieb. Irgendwann führte das zum Bau des selbst erfundenen Pataphon, eines kuriosen Saxophonablegers aus Rohren. Bei seinem Solokonzert, dass er am 11. 11. um 20.30 Uhr für „HörZu : Zeichen & Wunder“ in die Halle beim Tor 48 am Güterbahnhof installiert, benutzt er dazu außerdem die Sax-Familie, Bassklarinette und Elektronik. Am 14. 11. um 20 Uhr kommt dann Claus van Bebber zu den Improvisationen in den Sendesaal von Radio Bremen. Er ist bildender Künstler und Schallplattenspieler-Spieler. Jemand könnte jetzt sagen: Ach, ein DJ! Aber zwischen Claus van Bebber und einem DJ besteht ein Riesenunterschied: Der Mann vom Niederrhein legt seine teilweise brutal bearbeiteten (nämlich beklebten und „teilentrillten“) LPs und Singles auf diverse betagte Plattenspieler, mischt ihre Klänge ineinander, so dass regelrechte Schallplattenkonzerte entstehen, dabei ist er ausgemachter Improvisator. Hier trifft er auf Hainer Wörmann und dessen präparierte, oft mit Toys traktierte Gitarre. Jemand könnte jetzt sagen: Ach, ein DJ! Der dritte Termin verspricht vor allem lustig zu werden: Das Original Oberkreuzberger Nasenflötenorchester kommt nämlich am 17.11. um 20.30 Uhr in die Stauerei. Die zehn Herren aus Berlin-Kreuzberg blasen dabei tatsächlich durch das billige Kinderspielzeug, wobei sie von Human Beatbox und Gitarre beim jaulenden und tirilierenden Nasenflöten halbwegs gestützt werden. Das Ganze klingt verdammt nach einer Neuauflage von Insterburg & Co.: Tatsächlich machen sich die gestandenen Männer nasenblasend über alles Mögliche her: Von „Tiptoe thru the tulips“ über „My Way“ bis zu Queen, Bach und Schlumpflied - bis die Nasen laufen. Zu guter Letzt ist am 18. 11. um 20.30 Uhr in der Schwankhalle dann der Vorläufer aller elektronischen Klangerzeuger zu bewundern: Das ThereminVox aus den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Barbara Buchholz, Ex-Bassistin (reichlich weiblich), hat sich ganz dem Instrument gewidmet, das so ätherisch klingt und ohne jede Berührung mit weit schwingenden Bewegungen der Arme und Hände gespielt, besser gesagt, umschmeichelt < Christian Emigholz wird. B R E M E N Bremen verwirrt GERINGE TOLERANZ Es war schon etwas später geworden, der Tag der versammelten Kulturszene ein langer gewesen. Die Energie ging zur Neige nach der ersten Verkündung kulturhaushaltspolitischer Linien und Wege durch Kulturstaatsrätin Carmen Emigholz. Viel war vom Sparen die Rede gewesen. Da hatte einer der knapp 150 Kulturmenschen aber doch noch eine wichtige Frage: Nach „Citipost“ und „Mindestlohn“ klangen Wortfetzen, die von Reihe sechs oder sieben bis hinten in den Saal drangen und auch in der Antwort der Staatsrätin mehrfach vorkamen. Die lustige Frage machte die Runde, ob der Kultursenator sich bald auch um (zu?) günstige Handytarife der bremischen Künstlerschaft kümmern werde – oder dies gar im Gegenzug von kompetenten Vieltelefonierern und Technikfreaks der Szene erwarte? Aber Vater Staat und Mutter Stadt sorgen sich nur, dass Kulturbetriebe zu Lasten von Niedriglöhnern sparen könnten. Das wäre nicht sozial, nach aktuellen Parteitagsbeschlüssen jedenfalls nicht sozialdemokratisch. Pragmatisch dagegen ist, jetzt nicht zu genau nachzurechnen, welchen Stundenlohn 1000 Euro im Monat bei Siebentagewochen und, sagen wir, 15-Stunden-Tagen ergäben. Das sind 2,22 Euro – Spaß am Kulturmachen nicht eingerechnet. Der ist der Mehrwert. Sowas gibts. Aber nicht weitersagen! Am Ende verbietet sich sonst plötzlich der Kulturgenuss. Das wär ja was. < Carsten Werner Bremen beeindruckt ERHÖHTE TOLERANZ Offenbar ist ein Teil von Öffentlichkeit derzeit ziemlich ratlos, wenn es um einen anderen Teil von Öffentlichkeit geht. JBK als antifaschistischen TV-Schutzwall feiern kann beispielsweise nur der, der sich nicht fragt: Warum wurde Eva Hermann eigentlich eingeladen in dessen Plauderrunde? Dass die Ex-Tagesschausprecherin sich nicht für etwas entschuldigen würde, was ihr selbst gar nicht komisch vorkommt: irgendwie klar! Auch die Anhänger des sportlich im Irgendwo der Serie A dümpelnden Clubs Lazio Rom werden nicht verwundert feststellen, dass der erhobene rechte Arm mehr zu bedeuten hat als eine Dehnübung. Problem: Bei der Champions-League-Partie im Weserstadion scheint das keiner so richtig mitbekommen zu haben. Konnte ja auch keiner wissen, dass die Identitätsbildung der Römer ohne den „Duce“ nicht funktioniert... Wenn der Öffentlichkeit (auch jenseits des Fußballplatzes) nichts mehr einfällt, fällt ihr nur noch Toleranz ein: Rote Karten gegen Rassismus, Werbespots und Bekenntnisslesungen – ein trügerischer Schulterschluss derer, die Eva Hermann auch gerne mal aus dem Studio werfen würden. Gegen die, die sich beim Pokalspiel gegen St. Pauli lauthals darüber verwunderten, dass Coach Trulsen „den Zwei-Meter-Bimbo“ nicht von Beginn an gebracht hat, hilft das wenig. Auch, weil’s denen nicht komisch vorkommt, so was zu sagen. Und weil Menschen wie ich gegen drei Mal trunkenes Gut-Hundert-Kilo-Lebendgewicht schlicht Angst haben. Die ist die Kehrseite der Toleranz, von der so derzeit alle profitieren, die sie mal gar nicht verdient haben: Die Rassisten selber. Angstvoll schützte Werder seine Profis und Anhänger gegen Übergriffe durch Lazio-Anhänger – und verlangte keine Sanktionen gegen die Römer. Im oberen Toleranzbereich agiert die notorische Fan-Fraktion „Standarte Bremen“. Seit einem Überfall auf den Ostkurvensaal zu Jahresbeginn funktioniert die prekäre Logik: Die Opfer haben Angst und schweigen. Und der Club nimmt lieber an hochglänzenden FIFA-Fairneß-Programmen teil, statt zuhause mal nach den Rechten zu sehen. < Tim Schomacker Schwankungen_19_Hinten.qxp 07.11.2007 11. bis 21.11. junge akteure: nachtblind Schauspielhaus, Goetheplatz 1-3 1:28 Uhr Seite 1 Fr. 16.11., 20.30 Uhr die popette in Betancorband: hispanoid! Stauerei, Cuxhavenerstr. 7 In Familienräume, in denen Geborgenheit nur noch Worthülse ist, dringt Darja Stockers Stück „Nachtblind“ vor. Die Jungen Akteure loten die Welt der jungen Layla aus, die zwischen erfolgreicher Journalistenmutter, abwesendem Vater und gewalttätigem Bruder keinen rechten Halt findet. Mo. 12.11., 20.30 Uhr jeanne balibar: slalom dame Schwankhalle, Buntentorsteinweg 112 Ausgebildet am Conservatoire National d'Art Dramatique in Paris, hat die Schauspielerin Jeanne Balibar immer wieder neue künstlerische Pfade beschritten. Ihre neue CD „Slalom Dame“ ist Ergebnis einer musikalischen Komplizenschaft mit dem TextdichterKomponisten-Duett Fred Poulet und Sarah Murcia und mit Dominique A.. Balibar verführt in einer spielerischer Atmosphäre zwischen Rock, Pop und Soundexperiment und zelebriert ihre Potentiale an Dramatik und Erzählkunst dabei so raffniert wie ihre musikalische Neugier und Reife. Di. 13.11., 21 Uhr sean costello trio: MOANIN FOR MOLASSES Sendesaal, Radio Bremen Seine ersten musikalischen Kontakte bekam der Sänger und Gitarrist Sean Costello in Atlanta, Georgia: natürlich die zum Blues! Lange Zeit blieb er dabei, bis er Rootsrockerin Susan Tedeschi traf. Seitdem interessiert sich Costello auch für Soul und Rock. Dieses Gebräu stellt er mit seinem Trio vor. Frau Betancor, die sich kurz und präzis unpräzise Die Popette nennt, ist Multiinstrumentalistin und Sängerin. In ihrem Programm „hispanoid“ lebt sie ihre Leidenschaft für ihren spanischen Blutanteil aus, singt also Tangos und „Guantanamera“, aber wie es sich für die Popette gehört: mal augenzwinkernd, mal boshaft. An ihrer Seite hat sie die kongeniale und exzellente dreiköpfige Betancorband. Sa. 17.11., 21 Uhr V.B. schulzes bernsteinzimmer: VERTRAG DER GENERATIONEN Lagerhaus, Medien-Coop (3.Etage) Nicht viele Bremer können etwas so papierenes wie den Generationenvertrag elegant auf die Klangbühne übersetzen: Das Bernsteinzimmer kann. Das mag auch daran liegen, dass der Name des gelegentlich um andere Musiker erweiterten Sound +Video-Quartetts sich von etwas herleitet, was Mythos ist. Wer nicht sah, wie es wirklich aussieht, kann auch nicht behaupten, dass es so nicht aussieht... Nachdem die Schulzes vor Jahren mit Jörgensen nach dem Rauschen der Toten im Äther fahndeten, setzen sie diesmal einen Moment früher an. Ein Ablebensübereinkommen wollen sie in ihrer wummernden Sozialgroteske propagieren. Manchmal kommt man ja doch lebend raus und hat ein Lächeln im Gesicht. Eine Institution in Sachen Jonglage: Markus Jeroch, der Mann mit dem wirren Harrschopf, versteht es in gleicher Weise virtuos mit Worten wie mit Bällen zu jonglieren, und zwar, das ist der Witz dabei, gleichzeitig! Seine bevorzugten Wortjongleure sind dabei Ernst Jandl und Friedhelm Kändler, gelegentlich lässt er sich aber auch selbst von der Muse küssen. Di. 15.11., 20 Uhr hans leyendecker: die große gier Zur Sachlage, Schwankhalle An der Gier kann man verrekken. Und Gier wirft Vorbildjournalist Hans Leyendecker der deutschen Wirtschaft und vor allem ihren Bossen vor. Sie gefährden damit den Wirtschaftsstandort Deutschland, meint er und plädiert für ein hartes Unternehmensstrafrecht und ein Anti-Korruptionsregister. Gibt’s nämlich beides erstaunlicherweise noch nicht. Über die Lage der Nation, ihrer Wirtschaft und über sein neues Buch „Die große Gier“ talkt Leyendecker mit Otmar Willi Weber. Mi. 21.11., 20.30 Uhr verkot trio und inchworm: jazzaustausch Weserterassen, Osterdeich 70b Christian „Barfly“ Zurwellen, Erfinder und Motor der Blue Moon Bar, hat immer schon ein feines Gespür für nachwachsende Bands, leider häufig nicht mit der entsprechenden Publikumsresonanz. So schließt denn eine der letzten bremischen Jazzeinrichtungen zum Jahresende die Pforten, und dann hängt alles an der MIB. Bevor es soweit ist, gibt es noch Blue-MoonKonzerte. Zunächst ein Blick auf die „Next Generation“, nämlich zwei junge Bands. Die eine kommt aus Finnland, ist ein Trio und heißt Verkot Trio, die andere aus Deutschland, ist ein Quartett und heißt Inchworm. Die Musiker kennen sich untereinander – durch einen Aufenthalt in Göteborg, so geht das heute im europäischen Jazz! Mi. 21.11., 20 Uhr Horst evers: gefühltes wissen Stauerei, Cuxhavenerstr. 7 Die Welt stellt einen Tag für Tag neu auf die Probe – weil sie so groß ist. Bis man irgendwann gar nicht mehr weiß, was man eigentlich weiß. Der Berliner Autor Horst Evers schreibt genau darüber seine Texte. Wie das funktioniert, erzählte er den Schwankungen, während er vor dem Hannoveraner Hauptbahnhof auf einen Anschlusszug wartete. Nachzuhören auf www.schwankungen.de 22 + 23.11., 20 Uhr bongers, jahnke, Jahnke, de martin: lappen weg Stauerei, Cuxhavenerstr. 7 So. 18.11., 20 Uhr david murrAy: black saint quartet Sendesaal, Radio Bremen Do. 15.11., 20 Uhr juri andruchowytsch: engel und dämonen... Theater am Goetheplatz Gemeinsam mit dem polnischen Literatur-Export No. 1 durchmaß der 1960 in der Westukraine geborene Andruchowytsch 2004 essayistisch den diffusen Raum Mitteleuropas. Und auch die Literaturstudenten, die in seinem Roman „Moscoviada“ (2006 mit 13 Jahren Verspätung auf Deutsch erschienen) im Gorki-Institut der russischen Hauptstadt hocken, zeigen deutlich: Andruchowytsch verbindet gesellschaftspolitische Verläufe gern mit souveränburlesken Erzählformen. Hier stellt er gedankliche Versuche zu „Engeln und Dämonen der Peripherie“ zur Diskussion. Nachdem ihr Spaß-Talk bei MTV aus dem Programm flog, hatte komischerweise kein TV-Programmmacher und Formatentwickler eine gute Idee zu Sarah Kuttner. Ihre Memoiren hat Deutschlands erstaunlichste Arbeitslose zum Glück trotzdem noch nicht geschrieben. Zu ein paar Gedanken über ihr bisheriges Schaffen und Wirken kam es dennoch – und damit zu einem „Best of Kuttner“, das sie in Kombination mit besten Kolumnen über die große kleine Welt nun höchstselbst präsentiert. So. 18.11., 20 Uhr markus jeroch: baustelle wort Stauerei, Cuxhavenerstr. 7 Mi. 14.11., 20.30 Uhr raul zelik: der bewaffnete freund Schwankhalle, Buntentorsteinw 112 Alex, Mitte dreißig, kehrt im Rahmen eines Forschungsprojektes nach Bilbao zurück, wo er früher oft seine Ferien verbrachte. Kurz nach der Ankunft erfährt er, dass auch sein alter Freund Zubieta zurückgekommen ist, der einem befreundeten Schriftsteller vor zwanzig Jahren zur Flucht aus dem Gefängnis verholfen hat und seitdem als einer der meistgesuchten Terroristen in Europa im Untergrund lebt. Hin- und hergerissen zwischen Freundschaft und Risiko begleitet Alex den Freund auf einer Reise. Im Baskenland herrscht Ausnahmezustand, Anschläge und Folterung gehören zum Alltag. Ein Krimi über Europa, Gewalt, Politik und eine außergewöhnliche Freundschaft. Mo. 19.11., 20 Uhr sarah kuttner: best of Stauerei, Cuxhavenerstr. 7 Der Tenorsaxophonist David Murray ist ein Gigant, der sich ebenso souverän in Free-Jazz-Passagen bewegt, wie er auch lyrische, ganz der Jazztradition bewusste Linien bläst. Sein Credo dazu hat er schon vor vielen Jahren abgeben, er glaubt nämlich, dass Jazz immer auch swingen muss, egal wie frei er gespielt wird. Realisiert hat er das nachdrücklich im berühmten World Saxophone Quartet, zu dessen Mitgründern der Mann aus Kalifornien gehört, der mittlerweile in Paris zuhause ist. Aber auch in seinen eigenen Bands wie dem Black Saint Quartet, mit dem er jetzt kommt. +++++BLOGBUSTER++++ Die Welt ist eine große und vielschichtige. Wer in ihr wohnen will, muss gelegentlich auch einer gewissen Ortlosigkeit Herr werden. Literarische Reisefragmente sammelt der 32-Jährige WahlLeipziger Benjamin Lauterbach in seinem Blog „weltwohnen“. Unter www.weltwohnen.blogspot.com schreiben Autorinnen und Autoren von ihrer globalisierten Zeitgenossenschaft. Mal als Gedicht oder Kurzgeschichte, dann wieder mittels eines knapp kommentierten Fotos. Die Unvollständigkeit der Unternehmung gern in Kauf nehmen, entsteht nach und nach ein hübsch zersplittertes Gegenwartsarchiv. Um Fahren ohne Führerschein, Leben ohne Führer und Liebe ohne Schein geht es Gerburg und Jutta Jahnke, Andrea Bongers und Francesca De Martin an diesem Abend „mit Gesang sowie zum Lachen und – wenn es die Kondition erlaubt – tänzerischen Einlagen“. Charakterliche Nachschulung über Verkehr, Ordnung und Anpassung – wenn das mitten in den Wechseljahren passiert, kanns lustig werden: Das Leben ist Grund genug, Amok zu fahren! Do. 22.11., 20.30 Uhr kurt wagner Solo Kulturetage, Oldenburg Seit 20 Jahren gibt es immer zwei Möglichkeiten, wenn jemand sagt, er sei Wagnerianer. Denn dem früheren Parkett-Fachmann Kurt Wagner aus Nashville gelang es, mit Lampchop eine Alternative-Country-Marke zu etablieren, die ihre Kreise mittlerweile bis in die großen Konzertsäle dieser Welt zieht. Mit elegant-sonorer Bass-Stimme crooned Wagner traurige und tragikomische Geschichten. Er sieht dabei aus wie der Tankwart aus einem gottverlassenen Provinzkaff im Süden der USA. Weil er das musikalische Zentrum von Lampchop bildet, wird sein Gravitationsfeld immer wieder neu bestückt. In Oldenburg sogar ohne den Namen Lampchop. Sa. 24.11., 20 Uhr maybebop: superheld Schlachthof, Findorffstraße 51 AU F D I E O H R E N IM SCHWUNG Schwankungen als Festival-Podcast und Welttagsradio Wenn sich Cindy & Bert, Rammstein, Fanta 4 und Annett Louisan in einem Programm treffen, nennt man das wohl Potpourri, und zwar ein gewagtes. Wenn die vier A-cappellaHerren von Maybebop aber die Navigatoren sind, wird’s garantiert listig und lustig. Sa. 24.11., 19 Uhr motörhead: kiss of death Pier 2, Gröpelinger Fährweg 6 Bis zum 18. November produziert kulturg.u.t. e.V. zum HörZuFestival des Jungen Theaters (fast) täglich einen Festival-Podcast: Jeweils ab 13 Uhr auf www.Schwankungen.de, zuvor werktags um 7 oder/und 12 Uhr und mittwochs ab 22 Uhr über UKW 92.5 MHz im Bürgerfunk Bremen. FestivalRadio und -Podcast bietet kulturg.u.t. künftig interessierten Bremer Kultureinrichtungen als Festival-Begleitung an. In der Woche vom 19. bis 25. November veranstaltet kulturg.u.t. auf den Frequenzen des Bürgerfunks und online unter www.Schwankungen.de eine „Woche der Welttage“: Vom Welttoilettentag (19.11.) über den Weltkindertag (20.11.) und den Tag der Hausmusik (22.11.) bis zum Tag gegen die Gewalt der Frauen (25.11.). Am Welttag des Fernsehens (21.11.) wird im Radio „Fernsehen ohne Kameras“ gestartet, am 24.11. ist der „internationale Tag gegen den Konsum“ (vulgo Kauf-Nix-Tag): Schwankungen macht die Welttage hörbar. < cwe Kurz vor seinem 62. Geburtstag geht Lemmy Kilmister noch mal auf Tour. Seinen Rauswurf bei den Psychedelic-Rockern von Hawkwind vor gut dreißig Jahren münzte er in eine Metal-Story sondergleichen um: Er gründete Motörhead. Die verkörpern seitdem die härtere Gitarrenschule – und werden von niemandem NICHT gemocht. Beleg: Der letzte Longplayer „Kiss of Death“ schaffte es in die Top 10 der Euro-Charts. Bemerkenswert! Das Trio spielt Da-weiß-man-was-man-hatMusik in Reinkultur. Denn hier gehört es zum guten Ton, einmal nicht überrascht zu werden. Lemmy gibt’s bald auch als Comic-Figur – und im November auf der Pier-2-Bühne. So. 25.11., 20.30 Uhr heinz ratz: mit strom & wasser Stauerei, Cuxhavenderstr. 7 Doch, da ist noch einer: Es gibt noch jemanden im untoten Kabarettgeschäft, dessen Show so politisch kompromisslos wie tanzbar, so komödiantisch wie punkwild und –wund ist: „Farbengeil“ heißt denn auch die neue CD von Heinz Ratz und Konsorten. Die springt und hüpft und juchzt respektlos von Walzer zu Punk, von Akustikrock zu Tango – und findet deshalb standesgemäß gleichzeitig im Kabarettprogramm und in der Dorfdisko-Reihe des Jungen Theaters statt. Zu Hören peter kurzeck: ein sommer der bleibt supposé Verlag Der Output des gerade nach Berlin umgezogenen Audio-Labels „supposé“ ist so gut & außergewöhnlich, dass man in jeder Ausgabe eine der von Klaus Sander konzipierten und edierten CDs vorstellen könnte. Mit Peter Kurzecks gesprochenen Erinnerungen an das nordhessische Dorf seiner Kindheit ist ihm ein besonderer Wurf gelungen: In der Tradition der improvisierten Vorträge jener Blues-Sänger, die der 1943 im Sudetenland geborene Kurzeck in den 1960ern in Army-Clubs hörte, erzählt Kurzeck aus seinem Leben – ohne einen biographischen Text zur Hilfe zu haben. Nur Stimme, nur Klang und Zuhören! Wie Klaus Sander auf die supposé-Idee kam, erzählt er am 12. Dezember um 22 Uhr in der „freisprecheinrichtung“ bei den Schwankungen. ++ GROB GESCHNITTEN ++ Manchmal bewirkt die Beschränkung der filmischen Mittel Wunder. Das kann den Plot betreffen, den Stil oder beides. Der Männer im Schnee, drei Männer und ein Baby, drei Männer und eine ehemalige Staatskarosse: Letztere rückt der Österreicher Antonin Svoboda ins tragikomische Zentrum seines zweiten Langfilms „Immer nie am Meer“. Drei Kerle, denen das Leben wenig geschenkt hat (und sie dem Leben auch nicht) machen von einer nächtlichen Bergstraße den Abflug und bleiben zwischen zwei Bäumen stecken. Sie kommen nicht raus; komische Schicksalsgemeinschaft wie in Hitchcocks „Lifeboat“ – irgendwie. Allein: Svoboda traut weder seinen drei Spielern – neben Heinz Strunk die Austro-Komiker Dirk Stermann und Christoph Grissemann – noch seinem Plot die große Einfachheit zu. Sowohl die Parallelhandlung, in der ein einsamer Junge die drei Eingeschlossenen zu Versuchstieren degradiert, noch der Umstand, dass der Daimler früher Kurt Waldheim gehörte und darum keine einfach einschlagbaren Fenster hat, zeugen von einem Mangel an komödiantischem Selbstvertrauen, den der talentierte Svoboda gerne bald in den Griff kriegen darf. Sendesaal, 14.11.: Claus von Bebber macht neue Musik aus alten Platten AUF WIEDERHÖREN „Alles was Radio kann“ beim Deutschlandradio Die Klischees sind lange schon aufgeschrieben: Die Generation Golf saß im Bademantel vorm Fernseher und durfte vorm Schlafengehen noch „Dalli Dalli“ gucken. Das Deutschlandradio macht jetzt Ernst, nimmt sentimentale oder junggebliebene Quiz-, Radio- und Retrofans beim Wort und schickt Hans Rosenthal zurück ins Wohnzimmer. Zur wahren Bademantelzeit am Sonntagmorgen um 8 Uhr gibt es unten dem neuen Deutschlandradio-Wochenendmotto „Alles was Radio kann!" eine Folge „Allein gegen alle“ aus dem Archiv. In dieser Radio-Mutter fast aller Fernsehshows stellt eine Person – gerne Oberstudienräte und Oberlandesgerichtsräte – einer ganzen Stadt fünf Fragen, die in 15 Minuten beantwortet werden müssen. Um das nachzuvollziehen: „Frage 1: Welcher deutsche Musiker komponierte im Jahre 1875 für die 100-Jahr-Feier der Vereinigten Staaten von Amerika einen Marsch? – Frage 2: Die Porträtbüste welches weiblichen Mitgliedes des römischen Kaiserhauses war so gearbettet, dass der obere Teil des Kopfes wie eine Perrücke abzunehmen ging, um bei etwaigem Wechsel der Mode ausgetauscht werden zu können? – Frage 3: Wie heißt der Schutzpatron der Gepäckträger? – Frage 4: Wo ließ Johann Gottfried Seume auf seinem Spaziergang nach Syrakus zum zweiten Mal seine Stiefel besohlen? – Frage 5: In welchem Bau ließen alle Universitäten der Welt zu Ehren eines großen Mannes eine Marmorplatte legen?“ Klären Sie das mal mit ihren Nachbarn, ohne Google, in einer Viertelstunde! Radio- und Fernsehredakteure von heute trauen Ihnen das jedenfalls nicht zu. „Die Sonderrunde“ schließlich war die Urmutter aller „Wetten, dass ...?“Außenwetten: Mindestens 100 Bürger bitte zur Gmnastik auf den Marktplatz von Vechta, 25 Erwachsene zum Rennen mit Kinderrollern nach Delmenhorst: Sage und schreibe 100 Mark brachte die gelöste Aufgabe – für die Stadtkasse. Die Gags sind also geblieben – die Rätsel sind ja einfacher geworden, wenn heute in Call-Ins ein „Tier mit A“ mit 1000 Euro belohnt wird. „Allein gegen alle“ geriet zur – auch kommunikationstechnisch – faszinierenden Rundreise durch die Provinz, wenn Hans Rosenthal zum Marktplatz oder in die Schulaula schaltete und seine Reporter unter zeitlichem Hochdruck die Bürgermeister und Oberstadtdirektoren Lösungen verkünden ließ, die die minutenschnell telefonisch von ihren Einwohnern eingesammelt hatten. Schwetzingen, Vechta, Melle, Kellinghusen und Delmenhorst (drei mal siegreich und gegen den Berliner Postbeamten Siegfried Luckmann nur an der Frage nach dem ersten Heiratsinserat – „im Delmenhorster Kreisblatt war es nicht“ – gescheitert!) mussten sich erst einmal durchsetzen, bevor sie gegen größere Städte und deren gesammeltes Wissen antreten konnten. Nach drei siegreichen Runden durfte eine Stadt sich mit dem Titel „Unschlagbare Rätselstadt“ schmücken – vermutlich eine weitaus integrativere Anstrengung, als weltrekordtaugliches Krähen (oder wars Miauen, Bellen, I-A-en?) auf dem Bremer Bremer Marktplatz anno 2007. Faszinierend ist beim heutigen Nachhören aber vor allem die technische Perfektion, mit der Hans Rosenthal und seine Reporter blitzschnell, hellwach, präzise und virtuos zig mal zwischen Bürgermeistern, Rollerrennstrekken und nächster Stadt kreuz und quer – „bitte melden, bitte melden!“ – hin und her schalteten, Juryentscheidungen und Publikumsstatements einholten und zwischendurch noch die Creme der deutschen Unterhaltungsmusik spielen ließen, live natürlich und immer wieder nur bis zum Lichtsignal für den nächsten Antwortversuch, dessen Erfolg ein selbstverständlich ebenfalls live gespielter < cwe Jingle krönte. Impressum: Infos, Tickets, Service: Herausgeber: kulturg.u.t. e.V. Künstlerhaus Schwankhalle Buntentorsteinweg 112 D - 28201 Bremen www.schwankhalle.de www.schwankhalle.de www.theaterbremen.de www.sendesaal-bremen.de www.weserterassen.com www.kulturetage.de www.schlachthof-bremen.de www.kulturzentrum-lagerhaus.de www.sarahkuttner.de www.pier2.de www.suppose.de Redaktion: Eva Oelker, Carsten Werner, Tim Schomacker, Christian Emigholz Gestaltung: www.b7ue.com [email protected] www.schwankungen.de NO LOGO