Labyrinth

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Labyrinth
Mein Leben als Weg mit vielen Wendepunkten und Umwegen — Labyrinth
Zum Verständnis des Labyrinths als Lebensweg sind viele verschiedene
Interpretationen und Deutungen überliefert. Sie machen je nach Aspekt andere
Gesichtspunkte des Labyrinth-Gedankens sichtbar. Die Interpretationen kreisen um die
Deutung der beiden Elemente Weg und Mitte.
Der Weg des Labyrinths besteht aus schwer zu erfassenden Windungen und
verdeutlicht die Gewichtigkeit des Suchens und Findens des Lebensweges: «Wer von
aussen sich auf den Weg des Labyrinths begibt, steuert direkt und ungehindert, nur
kurz durch einen Schlenker umgeleitet, auf die Mitte zu. Vielleicht wähnt er schon, am
Ziel zu sein. Da führt ihn der Weg um die Mitte herum, lässt ihn noch einen Halbkreis
lang die Nähe der Mitte erfahren und bringt ihn dann richtig in die Wirrungen des
Labyrinths hinein. Schliesslich findet er sich ganz an der Peripherie wieder und wird
dort endlos entlang geschickt. Er verliert die Mitte aus den Augen, denkt nicht mehr an
sie, obschon er sie doch ständig umkreist. Endlich gelangt er eben dort an, wo er
aufgebrochen ist. Aber an diesem Punkt, da er eigentlich keinen Fortschritt zu erkennen
vermag, die Mühsal des Weges für vergeblich halten und aufgeben möchte, biegt der
Weg auf die Mitte zu und führt ihn jetzt direkt und unmittelbar in die Mitte selbst. Ein
letzter Abstecher zur Seite nur: Er ist kurz und ruft noch einmal alle früheren Irrungen
und Mühen ins Gedächtnis. Nach der Mühe des Weges wird Ankunft zum Geschenk.»
Der Weg führt den Besucher/Betrachter in vielen Schlingen zum Zentrum und lässt ihn
dabei Nähe und Ferne zum Ziel erfahren. Auf diesem Weg nach innen wird der
Betrachter/Besucher zu 28 Richtungswendungen gezwungen. Die Zahl 28 ist nicht
zufällig; vgl. Mondzyklus, Periode, 4 x 7 (4 als Zahl der Ganzheit, 4 Himmelsrichtungen;
7 als Zahl der Vollkommenheit). Auf dem Weg ins Zentrum hat man keine Wahl; der
Weg führt, er ist gegeben.
In der Mitte kommt der Weg zu einem Ziel oder zu seinem Ziel: Dieses Zentrum kann
verstanden werden als der entscheidende Wendepunkt, der einen grundsätzlichen
Richtungswechsel bedeutet. Oder das Zentrum ist das eigentliche Ziel des Wegs und
bedeutet Eigentlichkeit, Selbst, Gott, Christus. In den Kirchenlabyrinthen bedeutet zum
Ziel kommen zu Christus kommen. Deswegen ist das Zentrum als stilisierte Rose
ausgestaltet, die seit ca. 1000 n. Chr. als Christussymbol nachgewiesen ist.
In der Deutung des Labyrinths als Lebensweg stehen drei Aspekte im Vordergrund:
1. Ich verstehe meinen Lebensweg als einen mühevollen, zielgerichteten Weg ins
Zentrum. In diesem Zentrum kommt mein Weg zum Ziel, meine Person kommt zu
ihrem Selbst, zur Eigentlichkeit. Das Zentrum ist der Ort, wo Theseus den
Minotaurus besiegt hat. Mein Weg kommt ins Zentrum als Ziel kann auch
bedeuten, ich komme zu Christus. Christus ist mir auf diesem Weg
vorangegangen, ich folge ihm nach. Sich-auf-den-Weg-Machen zu Christus hin
bedeutet gleichzeitig ein Über-sich-verfügen-Lassen als ein Akt äusserster
Freiheit (vgl. Joh 14,6: Jesus sagt: «Ich bin der Weg und die Wahrheit und das
Leben; niemand kommt zum Vater ausser durch mich.»). Der Weg kann auch
verstanden werden als Läuterung der Seele in der Vorbereitung auf die
Begegnung mit Gott.
2. Ich verstehe meinen Lebensweg als einen Weg ins Zentrum, in welchem Umkehr
geschieht, so dass ich als ein anderer meinen Weg nach aussen beginne. Die
Mitte wird zum Ort der Umkehr, Veränderung; er wird zur Möglichkeit für
Erkenntnis, die so grundlegend ist, dass sie einen grundsätzlichen
Richtungswechsel verlangt. Wer herauskommen will, muss sich um 180° drehen,
sich also grösstmöglich von seiner Vergangenheit distanzieren und den Weg
zurück als neuer, veränderter Mensch gehen.
Die Umkehr im Zentrum bedeutet somit nicht nur Aufgeben der bisherigen
Existenz, sondern auch Neubeginn, Initiation.
Im Zentrum geschieht Tod und Wiedergeburt: wer in das Labyrinth eintritt, ist
eingeschlossen und zugleich von seiner bisherigen Umgebung abgeschlossen,
für sie gestorben. Einen Weg zurück gibt es nicht; es gibt zwangsläufig nur den
Weg nach vorne, der mit vielen Wendungen ein Weg ins Zentrum ist. Der Weg
aus der bisherigen Existenz bedeutet den Todesweg (nicht zufällig finden sich
früheste Belege in Gräbern oder im Zusammenhang mit dem Bergbau), auch
Rückkehr in den Schoss, Regression zum Embryo. Der Wiedergeborene wird
ausgestossen durch die engen Windungen des Labyrinths zurück. Die
geburtssymbolische Bedeutung wird verstärkt durch Form und Enge der
Windungen des Weges.
3. Ich verstehe meinen Lebensweg als einen Weg, der gekennzeichnet ist durch ein
ständiges Sterben und Auferstehen. Ermöglicht ist dieser Weg durch den Tod und
die Auferstehung Jesu Christi. Mein Weg durch das Leben ist ein immer neues
Hineingehen ins Labyrinth, Aufgeben und Neuwerden im Hinaustreten aus dem
Labyrinth. Mein Leben ist ein fortwährendes Aufgeben-Müssen und
Neuanfangen-Können.
Was ich als Leben erfahre, ist ein Weg, der gekennzeichnet ist von Sterbe- und
Geburtsvorgängen, darin erfahre ich etwas vom Sterben und Auferstehen Jesu
Christi. So kann ich meinen Weg gehen, bis ich durch den Tod ganz ins Leben zu
Gott komme.
Das Labyrinth von Chartres
Dieser Labyrinth-Typ findet sich zuerst im 10. Jh. Mit seinen elf Umgängen, über deren
Windungen ein Kreuz gelegt ist, wurde es zum klassischen Kirchen-Labyrinth. Die
Kathedrale von Chartres (geweiht am 24. Oktober 1260) hat – wie viele Marienkirchen
Frankreichs – ein solches Labyrinth im Kirchenschiff. Es weist einen Durchmesser von
12.5 m und einen abschreitbaren Weg von 305 m auf. Man betritt das Labyrinth vom
Kircheneingang, also Westen (Tod) her und geht in Richtung Osten (Leben) auf das
Zentrum zu.
Gegenüber dem kretischen Labyrinth-Typ, der nur sieben Umgänge hat, weist das
Labyrinth von Chartres also elf Umgänge auf. In der christlichen Zahlensymbolik steht
die Elfzahl für Sünde, Übertretung und Masslosigkeit, und für die Unvollkommenheit.
Das Labyrinth stellt also die Sündenwelt dar. Hier wird auch die Intention der christlichen Interpretation des Labyrinths sichtbar: Der alte, sündige Mensch muss sterben
und als neuer Mensch geboren werden.
Das Kreuz, das über die Windungen gelegt ist, gliedert die Welt in vier überschaubare
Quadranten: Der Herr des Kosmos ist nicht mehr die Sünde, der Satan, sondern
Christus. Das Kreuz nötigt als Sperre immer wieder zur Umkehr (4 x 7, also 28
Umkehrpunkte). Ein theologisch wichtiger Akt also, dessen symbolische Bedeutung
einleuchtet: Der sündigen Welt ist das Heilszeichen aufgeprägt, und damit wird der
Weg durch das Labyrinth zum Läuterungsweg.
Die beiden Aspekte der mittelalterlich-christlichen Deutung — Labyrinth als Sündenwelt
und als Läuterungsweg — gehen ineinander über. Bei beiden stellt sich gleichermassen
die Frage nach der Erlösung: Der Weg aus dem Labyrinth wird als Erlösung verstanden;
gewiesen wird er durch Christus, der durch Tod und Auferstehung Herr der Welt ist.
(Hier klingt das alte Motiv an: Theseus überwindet den Minotaurus.)
Dieses Verständnis des Labyrinths ist der Hintergrund für die Bräuche des Pilgerwegs
und Ostertanzes: Der Pilgerweg, eine symbolische Reise nach Jerusalem als
Bussübung, und der Ostertanz als Vergegenwärtigung der Auferstehung Jesu Christi.
Die mittelalterlich-kirchliche Interpretation stellt also eine spezielle Ausformung des
labyrinthischen Gedankens dar. Der Weg durch das Labyrinth hat als solcher wenig
Gewicht, er ist eher Durchgang. In der unterrichtlichen Verwendung empfiehlt es sich,
vorerst den Weg als solchen zu betrachten, seine Wendepunkte und seine Nähe und
Distanz zum Zentrum.
Kathedrale von Chartres: Blick zum Chor, neuzeitliche Federzeichnung nach einem Stich des 18. Jh.