wann welches Verfahren? Medtropole Nr. 30 / Juli 2012 PDF 714.0 KB

Transcrição

wann welches Verfahren? Medtropole Nr. 30 / Juli 2012 PDF 714.0 KB
med tropole
Nr. 30 Juli 2012
ORTHOPÄDIE UND UNFALLCHIRURGIE:
Knieglenksverschleiß – wann welches Verfahren
UROLOGIE:
Das Blasenkarzinom
PSYCHIATRIE UND PSYCHOTHERAPIE:
Selbstverletzendes Verhalten
Aktuelles aus der Klinik
für einweisende Ärzte
Medtropole | Ausgabe 30 | Juli 2012
Kniegelenksverschleiß –
wann welches Verfahren?
Prof. Dr. Karl-Heinz Frosch, Dr. Jürgen Madert
Die Therapie von Verschleißerkrankungen mit Kunstgelenken wird zunehmend komplexer und differenzierter,
um den steigenden Ansprüchen der Patienten an ihre Gelenke Rechnung tragen zu können. Mit der Intention,
möglichst physiologische Bewegungsabläufe und eine hohe Funktionalität zu erreichen, gewinnen anatomisch
geformte Implantate und auch der Gelenkflächenteilersatz an Bedeutung. Insbesondere die Primärendoprothetik
erfuhr damit in den vergangenen Jahren einen deutlichen Wandel ihrer Zielsetzung von der reinen Schmerzreduktion hin zum uneingeschränkt funktionsfähigen Gelenk. Es zeigte sich aber auch, dass Kunstgelenke einer
strengen Indikationsstellung bedürfen und die gelenkerhaltenden Kniegelenksoperationen, insbesondere die
Korrekturosteotomien, deshalb nach wie vor einen hohen Stellenwert haben.
Umstellungsosteotomie versus
unikondyläre Schlittenprothese
Ganzbeinaufnahmen sowie auch die
Rosenberg-Aufnahme sind für die Therapieentscheidung hilfreich. Insbesondere die
exakte Vermessung der Achse und die Evaluation eines „vollschichtigen“ oder „nichtvollschichtigen“ Knorpelschadens sind von
entscheidender Bedeutung (Abb. 1).
Biomechanische Untersuchungen zeigen,
dass es bei Fehlstellung > 4° in der Frontalebene zu einer erheblichen Drucksteigerung auf den Knorpel kommt, was aber
nicht zwangsläufig zu einer Arthrose
führt.[8,9] Liegen aber bereits degenerative
Veränderungen vor, ist eine Achsabweichung ein sicherer Risikofaktor für das
weitere Fortschreiten der Arthrose. Bei
arthrotischen Veränderungen mit nicht
vollständig aufgebrauchtem Gelenkspalt
in Belastungsaufnahmen, bestehender
Achsenfehlstellung und entsprechenden
Beschwerden ist bei Patienten unter 55 Jah-
1060
ren eher eine Umstellungsosteotomie indiziert (Abb. 2).[7] Bei der Varusgonarthrose
wird meist die „open wedge“-Technik mit
diskreter Überkorrektur (2 – 5°) präferiert,
da sich der gewünschte Korrekturwinkel
mit dieser Methode gut einstellen lässt, die
Komplikationsraten niedrig sind und für
eine eventuell nachfolgende Knieendoprothese signifikant weniger Probleme zu
erwarten sind als mit „closed wedge“Osteotomien.[11]
Handelt es sich hingegen um einen vollschichtigen Knorpelschaden („Knochen auf
Knochen“ in den Belastungsaufnahmen),
ist der unikondylären Schlittenprothese der
Vorzug zu geben (Abb. 3). Untersuchungen
zeigten, dass Patienten mit Varusgonarthrose mit „nicht vollständigem“ Knorpelschaden und dennoch implantierter unikondylärer Schlittenprothese schlechte
Ergebnisse aufweisen.[8] Für die Indikationsstellung zu einem endoprothetischen
Gelenkflächenersatz – in welcher Form
auch immer – ist deshalb in den Belas-
tungsaufnahmen (Ganzbeinstand- und
Rosenberg-Aufnahme, Abb. 1) die „Knochenglatze“ zu fordern. Zeigt sich in der
Rosenberg-Aufnahme Knochen auf Knochen, ist eine Umstellungsosteotomie nicht
mehr erfolgversprechend. In diesen Fällen
kann auch langfristig mit einer unikondylären Schlittenprothese ein gutes klinisches
Ergebnis erzielt werden (Abb. 3).
Neben den genannten Faktoren spielt auch
das Alter des Patienten eine Rolle. So nimmt
das Risiko eines Fehlschlags nach Tibiakopfumstellungsosteotomie bei Patienten
über 65 Jahren um 7,6 Prozent pro Jahr
zu.[10]
Orthopädie und Unfallchirurgie
Abb. 2: Tibiale, valgisierende Korrekturosteotomie bei einem 45-jährigen
Mann mit 8° Varusabweichung und
noch nicht vollschichtigem Knorpelschaden im Kniegelenk
Abb. 3: Mediale unikondyläre
Schlittenprothese
Abb. 1: Die Ganzbeinaufnahme (links) zeigt eine Varusgonarthrose. Der vollschichtige Knorpelschaden wird
erst in der Rosenberg-Aufnahme (rechts) sichtbar
(Belastungsaufnahme in 45° Beugung).
Patellofemoraler Gleitlagerersatz
Bikondylärer Oberflächenersatz
Etwa elf Prozent der Männer und jede vierte Frau über 55 Jahre haben eine isolierte
Femoropatellararthrose.[2] Die Indikation
für einen Ersatz ist gegeben, wenn es sich
um einen vollschichtigen Knorpelschaden
des patellofemoralen Gleitlagers handelt
und das mediale und laterale Kompartiment noch weitgehend intakt sind (Abb. 4).
Das natürliche Kniegelenk besitzt vier anatomische Drehachsen und ist deshalb aus
biomechanischer Sicht ein Viergelenk. Das
Viergelenk kann eine Roll-Gleitbewegung
bei Beugung ausführen: die Femurkondyle
rollt etwa 17 – 22 mm auf dem Tibiaplateau
nach dorsal. Nur wenige derzeit erhältliche
Implantate sind in der Lage, diesen RollGleitmechanismus zu rekonstruieren.[4] Die
meisten gebräuchlichen Prothesen orientieren sich dennoch an den anatomischen
Verhältnissen und sind häufig Modularsysteme, die dem Operateur das Wechseln
einzelner Prothesenkomponenten und die
Kombination verschiedener Komponenten
erlauben. Beim Oberflächenersatz wird nur
der zerstörte knorpelige Gelenkanteil ersetzt. Die Implantation eines bikondylären
Oberflächenersatzes gehört zu den Standardtherapieverfahren bei fortgeschrittener
Gonarthrose (Abb. 5).[3]
Es ist darauf zu achten, dass das Beschwerdebild, insbesondere isolierte retropatellare
Schmerzen zum Beispiel beim Treppensteigen, die Schmerzstärke (VAS > 5) und
der radiologisch lokalisierte retropatellare
Knorpelschaden übereinstimmen. Nach
drei Jahren zeigen sich in 84 Prozent der
Fälle exzellente und gute Ergebnisse [5] und
eine Revisionsrate von 14,1 Prozent nach
sieben Jahren.[6] Zu beachten ist, dass die
arthrotische Dekompensation des medialen
oder lateralen Kniegelenkskompartiments
den Hauptversagensmechanismus des patellofemoralen Gleitlagerersatzes darstellt.
Nach Implantation eines bikondylären
Oberflächenersatzes lässt sich die Lebensqualität signifikant verbessern. Die meisten
Autoren fordern 10-Jahres-Standzeiten von
mehr als 95 Prozent.[1] Im Gegensatz zu
Hüftgelenksendoprothesen werden die
meisten Kniegelenksendoprothesen in
zementierter Technik eingebracht und zeigen in Langzeitstudien eine bessere Standzeit als zementfreie Prothesen. Auch bei
einem Prothesenwechsel kann die Zementierung Vorteile zeigen, da sich die Komponenten meist mit weniger Knochenverlust
explantieren lassen als zementfreie Komponenten. Die Standzeit der Endoprothese
hängt darüber hinaus von der exakten ligamentären Balancierung und der Achsenausrichtung ab. Achsabweichungen von
mehr als 3° in der Frontalebene führen zu
einer signifikanten Reduktion der Standzeit.
1061
Medtropole | Ausgabe 30 | Juli 2012
Abb. 4: 70-jährige Patientin mit isolierter, symptomatischer Retropatellararthrose:
Abb. 5: 36-jähriger Patient drei Jahre nach Knie-gelenksluxation:
patellofemoraler Gleitlagerersatz
Der Patient lehnte primär die operative Versorgung ab. Bei chronisch
multidirektional instabilem Kniegelenk und fortgeschrittener symptomatischer
Gonarthrose wurde eine gekoppelte Kniegelenksendoprothese implantiert.
Abb. 6: Bikondylärer Oberflächenersatz aufgrund
fortgeschrittener Gonarthrose
Gekoppelte Kniegelenksendoprothese
Literatur
[1] Carr AJ, Robertsson O, Graves S, et al. Knee replace-
Je instabiler das Gelenk und je größer die
Fehlstellung ist, desto mehr muss die Prothese auch die Funktion der Gelenkstabilisierung übernehmen. Mit zunehmender
Fehlstellung kommt es oft zur Überdehnung einzelner Bandanteile, aber auch
häufig zu ligamentären Kontrakturen. Bei
entsprechender Wiederherstellung einer
geraden Beinachse im Rahmen der Endoprothesenimplantation lässt sich ein ligamentär dekompensiertes Gelenk in der
Regel nicht ausreichend durch einen bikondylären Oberflächenersatz stabilisieren. Je
nach Ausmaß der ligamentären Instabilität
und Dysbalance ist entweder eine teilgekoppelte oder gekoppelte Kniegelenksendoprothese zu implantieren (Abb. 6).
Bei etwa 20 Prozent der Patienten nach
Knieimplantation persistieren Schmerzen
und Beschwerden.[1] Durch strenge Indikationsstellung, die Wahl des richtigen und
geeigneten Implantats und eine exakte
Operationstechnik lässt diese Rate unzufriedener Patienten deutlich reduzieren.
1062
ment. Lancet 2012; 379(9823): 1331-40.
[2] Davies AP, Vince AS, Shepstone L, Donell ST, Glasgow
MM. The radiologic prevalence of patellofemoral osteoarthritis. Clin Orthop Relat Res 2002; 402: 206-12.
[3] Deirmengian CA, Lonner JH. What’s New in Adult
Recontructive knee surgery. JBJS Am 2012; 94: 182-8.
[4] Frosch KH, Nägerl H, Kubein-Meesenburg D, et al. A
Kontakt
Prof. Dr. Karl-Heinz Frosch
Chirurgisch-Traumatologisches Zentrum,
Abteilung für Unfall- und
Wiederherstellungschirurgie,
Sektion Knie- und
Schulterchirurgie, Sporttraumatologie
Asklepios Klinik St. Georg
Lohmühlenstraße 5, 20099 Hamburg
new total knee arthroplasty with physiologically shaped
surfaces. Part 2: First clinical results. Unfallchirurg 2009;
Tel. (0 40) 18 18-85 22 87
Fax (0 40) 18 18-85 37 70
112(2): 176-84.
[5] Leadbetter WB, Kolisek FR, Levitt RL, et al. Patellofe-
E-Mail: [email protected]
moral arthroplasty: a multi-centre study with minimum
2-year follow-up. Int Orthop. 2009; 33(6): 1597-601.
[6] Nicol SG, Loveridge JM, Weale AE, Ackroyd CE, New-
[9] Tanamas S, Hanna FS, Cicuttini FM, Wluka AE, Berry P,
man JH. Arthritis progression after patellofemoral joint
Urquhart DM. Does knee malalignment increase the risk
replacement. Knee 2006; 13(4): 290-5.
of development and progression of knee osteoarthritis? A
[7] Niemeyer P, Schmal H, Hauschild O, von Heyden J,
Systematic Review. Arthritis & Rheumatism. 2009; 61(4):
Südkamp NP, Köstler W. Open-wedge osteotomy using an
459-67.
internal plate fixator in patients with medial-compartment
[10] Trieb K, Grohs J, Hanslik-Schnabel B, Stulnig T, Pano-
gonarthritis and varus malalignment: 3-Year results with
topoulos J, Wanivenhaus A. Age predicts outcome of high-
regard to preoperative arthroscopic and radiographic fin-
tibial osteotomy. Knee Surg Sports Traumatol Arthrosc.
dings. Arthroscopy 2010; 26(12): 1607-16.
2006; 14(2): 149-52.
[8] Pandit H, Gulati A, Jenkins C, et al. Unicompartmental
[11] Smith TO, Sexton D, Mitchell P, Hing CB. Opening –
knee replacement for patients with partial thickness carti-
or closing – wedged high tibial osteotomy: A meta-analysis
lage loss in the affected compartment. Knee 2011; 18(3):
of clinical and radiological outcomes. Knee 2011; 18(6):
168-71.
361-8.