OBERLANDESGERICHT FRANKFURT AM MAIN Beschluss Az.: 11

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OBERLANDESGERICHT FRANKFURT AM MAIN Beschluss Az.: 11
OBERLANDESGERICHT FRANKFURT AM MAIN
Beschluss
Az.: 11 Verg 5/07
In der Beschwerdesache
....
hat der Vergabesenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main durch den Vorsitzenden
Richter am Oberlandesgericht ... und die Richter am Oberlandesgericht ... und ...
am 10.07.2007
beschlossen:
1.
Der Antrag des Antragsgegners, ihm den Abschluss der Verträge über die zeitlich
unbefristete Überlassung von Standardsoftware gegen Einmalvergütung (060612/1)
und über die Pflege von Standardsoftware (060612/2) mit ... vom 02.11.2006 zu
gestatten, wird zurückgewiesen.
2.
Termin zur mündlichen Verhandlung wird bestimmt auf Dienstag, den 04.09.2007,
10.15 Uhr, Saal D 101.
3.
Der Antragsgegner wird gebeten, bis zum 25.07.2007 mitzuteilen, ob die sofortige
Beschwerde aufrechterhalten wird.
Gründe:
I.
Der Antragsgegner ist örtlicher Träger der Sozialhilfe und als sog. "Optionskommune" seit
01.01.2005 für die Verwaltung und Auszahlung des Arbeitslosengeldes II nach dem SGB II
im Zuge der sog. Hartz-Reform zuständig. Bereits zuvor war in sämtlichen Bereichen der
Sozialverwaltung des Antragsgegners (Sozialamt, Jugendamt, Flüchtlingsamt) die Software
der Beigeladenen eingesetzt worden. Bei dieser Software handelt es sich um das Produkt
A/B .... Für dieses Produkt waren ursprünglich 78 Lizenzen bei dem Antragsgegner
vorhanden. Im Dezember 2004 überließ der Antragsgegner dem Eigenbetrieb "Neue Wege
Kreis ...", der der Erfüllung der Aufgaben als Sozialhilfeträger dient, 40 Lizenzen, um die
Aufgaben nach dem SGB II zu erfüllen. Diese Lizenzen dienten ausschließlich der
Zahlbarmachung an die Hilfeempfänger. Der Eigenbetrieb des Antragsgegners benötigte
jedoch weitere Software für das sog. Fallmanagement (Erfassung von Daten zur Vermittlung
der Hilfeempfänger in Arbeit). Hierüber verhält sich ein Vermerk vom 01.10.2004, in dem es
u.a. heißt, die Zahlbarmachung der Hilfebeträge werde kurzfristig nur über das ...-Verfahren
möglich sein, eine Alternative zu dieser Lösung sei bis zum heutigen Zeitpunkt nicht bekannt.
Im ersten Halbjahr 2005 fragte der Antragsgegner bei verschiedenen Softwareanbietern
nach Softwarelösungen für das Fallmanagement an, u.a. bei der Antragstellerin und der
Beigeladenen.
Hierzu heißt es in einem handschriftlichen Vermerk vom 14.12.2004: "Herr F. (Mitarbeiter
des Antragsgegners) hat den Auftrag, Angebote einzuholen. Ihm wurden diesbezüglich
Unterlagen zur Verfügung gestellt. Herr F. soll hier Präsentationstermine mit den
Regionalteamleitungen vereinbaren....". In der Folgezeit haben die Antragstellerin, die
Beigeladene und zwei weitere Anbieter Angebote abgegeben. In einem Vermerk vom
24.10.2006 des Antragsgegners heißt es, im Jahre 2005 hätten vier Softwareanbieter ihre
Produkte.... vorgestellt. Als Ergebnis der Präsentation erscheine die Software der
Antragstellerin am geeignetsten, da diese Firma eine ganzheitliche Software anbiete, mit der
sowohl die Zahlbarkeit wie das Fallmanagement abgewickelt werden könnten. In diesem
Einzelfall bestünden gegen eine Auftragserteilung in freihändiger Form keine Bedenken, da
schon wirtschaftliche Gründe diese Entscheidung rechtfertigten (Einsparung des Ankaufs
weiterer
40
Lizenzen,
Einsparung
erheblicher
Kosten
durch
zusätzliche
Schulungsmaßnahmen beim Wechsel zu einem anderen Anbieter, Einsparung erheblichen
Zeitaufwandes durch das Übertragen der Bestandsdaten auf die Bedürfnisse einer anderen
Software)".
Am 02.11.2006 schlossen der Antragsgegner und die Beigeladene einen Vertrag über die
zeitlich unbefristete Überlassung von Standardsoftware gegen Einmalvergütung, der die
Überlassung von 90 Lizenzen zum Inhalt hat, sowie einen Vertrag über die Pflege von
Standardsoftware bezüglich 130 Lizenzen. Der Vertrag sollte eine Mindestvertragsdauer von
24 Monaten haben.
Mit Schreiben vom 07.12.2006 teilte die Antragstellerin dem Antragsgegner mit, ihr sei
bekannt geworden, dass der Antragsgegner im Begriff sei, Software für die Umsetzung des
SGB II zu beschaffen. Es liege die Vermutung nahe, dass beim Antragsgegner eine
Umstellung
erfolge.
Der
Umstieg
auf
ein
anderes
Softwareprodukt
sei
ausschreibungspflichtig. Die Antragstellerin forderte eine schriftliche Bestätigung des Inhalts,
dass es beim Antragsgegner entweder keinen Umstieg auf eine andere Software gebe oder
dass ein solcher Umstieg ausgeschrieben werde. Nachdem der Antragsgegner einen
Verstoß gegen Vergaberecht verneinte, sandte die Antragstellerin ihm am 28.01.2007 erneut
ein förmliches Rügeschreiben zu und reichte, nachdem der Antragsgegner der Rüge nicht
abhalf, unter dem 20.03.2007 einen Nachprüfungsantrag ein.
Die Antragstellerin hat beantragt,
1. den Antragsgegner zu verpflichten, die Beschaffung von Software für den Bereich
SGB II sowie zugehörige Dienstleistungen (Pflegeleistungen, Schulungen,
Betreuung, Datenmigration) unverzüglich offen und diskriminierungsfrei europaweit
auszuschreiben,
2. festzustellen, dass etwaige - ohne Ausschreibung geschlossene - Verträge des
Antragsgegners oder von dessen Eigenbetrieben mit über die Beschaffung von
Software für den Bereich SGB II sowie zugehörige Dienstleistungen nichtig sind
3. hilfsweise zu 1. und 2. festzustellen, dass die Unterlassung der Ausschreibung
rechtswidrig war und die Antragstellerin in ihren Rechten verletzt wird.
Mit Beschluss vom 27.04.2007 hat die Vergabekammer den Antragsgegner verpflichtet, die
Beschaffung der Software für den Bereich SGB II sowie zugehörige Dienstleistungen
(Pflegeleistungen, Schulungen, Betreuung, Datenmigration) unverzüglich offen und
diskriminierungsfrei europaweit auszuschreiben und festgestellt, dass die Verträge zwischen
dem Antragsgegner und der Beigeladenen vom 02.11.2006 über die zeitlich unbefristete
Überlassung von Standardsoftware gegen Einmalvergütung (060612/1) und die Pflege von
Standardsoftware (060612/2) nichtig sind. Wegen der Begründung wird auf den Beschluss
der Vergabekammer Bezug genommen.
Gegen den ihm am 15.05.2007 zugestellten Beschluss hat der Antragsgegner am
29.05.2007 sofortige Beschwerde eingelegt. Zur Begründung trägt er vor, das
Nachprüfungsverfahren sei unzulässig, jedenfalls aber unbegründet.
Unzulässig sei der Nachprüfungsantrag bereits deshalb, weil die konkrete Auftragsvergabe
unterhalb des maßgeblichen Schwellenwertes liege, so dass die Vergabekammer dem
Antragsgegner zu Unrecht die europaweite Ausschreibung aufgegeben habe. Darüber
hinaus habe die Antragstellerin ihre Rügeobliegenheit verletzt und einen etwaigen
Vergabeverstoß verspätet gerügt.
Jedenfalls sei der Nachprüfungsantrag aber unbegründet, weil der Antragsgegner gemäß § 3
a Nr. 2 lit. e und c VOL/A nicht zur Ausschreibung verpflichtet gewesen sei.
Der Antragsgegner beantragt vorab,
dem Beschwerdeführer und Antragsgegner den Abschluss der Verträge über die
zeitlich unbefristete Überlassung von Standardsoftware gegen Einmalvergütung
060612/1) und über die Pflege von Standardsoftware (060612/2) mit ... vom 02.11.2006
zu gestatten.
Die Antragstellerin beantragt,
den Antrag nach § 121 GWB analog als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, ihn als
unbegründet zurückzuweisen.
Wegen der weitergehenden Einzelheiten des Parteivortrages wird auf die in der
Beschwerdeinstanz gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Vorabgestattung des Zuschlags analog § 121 Abs. 1 GWB war
zurückzuweisen, da er im Ergebnis jedenfalls unbegründet ist.
Gemäß § 121 Abs. 1 Satz 1 GWB kann das Gericht unter Berücksichtigung der
Erfolgsaussichten der sofortigen Beschwerde den weiteren Fortgang des Vergabeverfahrens
und den Zuschlag gestatten: Gemäß § 121 Abs. 1 Satz 2 GWB kann es den Zuschlag auch
gestatten, wenn unter Berücksichtigung aller möglicherweise geschädigten Interessen sowie
des Interesses der Allgemeinheit an einem raschen Abschluss des Vergabeverfahrens die
nachteiligen Folgen einer Verzögerung der Vergabe bis zur Entscheidung über die
Beschwerde die damit verbundenen Vorteile überwiegen. Die Parteien sind sich darüber
einig, dass eine unmittelbare Anwendung dieser Vorschrift im vorliegenden Fall nicht in
Betracht kommt. Denn die Verträge über die zu beschaffenden Leistungen (Software und
Softwarepflege) sind bereits geschlossen worden. Allerdings sind sie nach der wie sogleich
darzulegen ist, - zutreffenden - Auffassung der Vergabekammer in entsprechender
Anwendung des § 13 VgV nichtig, weil der Antragsgegner der Antragstellerin die nach dieser
Bestimmung vorgeschriebene Information nicht erteilt hat.
Die Antragstellerin meint, in dieser Situation müsse eine Gestattung des
Vertragsabschlusses analog § 121 Abs. 1 Satz 2 GWB möglich sein, weil die Nichtigkeit der
Verträge und der damit verbundene Zwang zur Abschaltung der Software zu einer
existentiellen Bedrohung von 16.000 ALG II-Empfängern führen müsse. Für den Ausgang
der erforderlichen Interessenabwägung könne es keinen Unterschied machen, ob der
Vertragsschluss erst noch erfolgen solle oder bereits geschehen sei. Denn wenn es
überragende Gründe für eine schnelle Vergabe eines Auftrags gebe, blieben diese auch
nach Vertragsschluss bestehen. Die Regelungslücke für die nachträgliche Gestattung von
besonders dringenden Vertragsabschlüssen könne durch eine analoge Anwendung des §
121 Abs. 1 GWB geschlossen werden, da eine ähnliche Interessenlage vorliege. Wäre die
Antragstellerin noch vor Vertragsschluss am 02.11.2006 gegen den Antragsgegner
vorgegangen, so hätte die Möglichkeit bestanden, die Gestattung des Zuschlags zu
beantragen. Der Umstand, dass der Nachprüfungsantrag erst nach Vertragsschluss gestellt
worden sei, sei dem gleich zu stellen, weil sich die Dringlichkeit der Vertragsfortführung für
den Antragsgegner noch erhöht habe.
Gegen eine analoge Anwendung des § 121 GWB in der hier vorliegenden Fallkonstellation
dürfte schon sprechen, dass die gesetzlich bestimmte Nichtigkeitsfolge bei Verletzung der
Informationspflicht gemäß § 13 VgV nicht durch eine gerichtliche Entscheidung außer Kraft
gesetzt werden kann. Selbst eine Gestattung des Zuschlags durch das Gericht und ein
nochmaliger Vertragsschluss könnten deshalb nicht zur Wirksamkeit der Verträge führen.
Ungeachtet dessen wäre ein solches Verfahren mit Sinn und Zweck der in § 13 VgV
angeordneten Nichtigkeitsfolge unvereinbar. Diese Frage kann aber dahingestellt bleiben.
Denn der Antrag hat im Ergebnis jedenfalls deshalb keinen Erfolg, weil das Rechtsmittel des
Antragsgegners nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit Erfolg haben wird. Können die
Erfolgsaussichten bereits im Eilverfahren weitgehend abschließend beurteilt werden, weil wie hier - bei im Wesentlichen unstreitigem Sachverhalt nur die rechtlichen Konsequenzen
umstritten sind, so ist eine Interessenabwägung nach § 121 Abs. 1 S. 2 GWB entbehrlich
(vgl. Summa in Heiermann/Zeiss/Kullack/Blaufuß, JURIS-Praxiskommentar, Vergaberecht, §
121 GWB Rn. 31 f).
So liegt der Fall hier. Die sofortige Beschwerde des Antragsgegners ist zwar zulässig,
insbesondere fristgerecht eingelegt und begründet. In der Sache wird sie aber
voraussichtlich keinen Erfolg haben. Die Vergabekammer ist zu Recht davon ausgegangen,
dass der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin zulässig und begründet ist.
Der Nachprüfungsantrag ist zulässig, weil bei der vorliegend in Rede stehenden
Auftragsvergabe das Verfahrensregime der §§ 97 ff GWB eröffnet ist, die Antragstellerin eine
etwaige Rügepflicht nach § 107Abs. 3 GWB nicht verletzt hat und die Erteilung des Auftrags
an die Beigeladene in analoger Anwendung des § 13 VgV nichtig und damit das
Vergabeverfahren noch nicht abgeschlossen ist.
Die Vergabekammer ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Schwellenwert nach § 100
Abs. 1 GWB, § 2 Nr. 3 VgV überschritten ist. Zwischen den Parteien ist streitig, auf welchen
Zeitpunkt zur Festlegung des Schwellenwertes im vorliegenden Fall abgestellt werden muss.
Gemäß § 3 Abs. 10 VgV ist maßgeblicher Zeitpunkt für die Schätzung des Auftragswertes
der Tag der Absendung der Bekanntmachung der beabsichtigten Auftragsvergabe oder die
sonstige Einleitung des Vergabeverfahrens. Soweit die Auffassung vertreten wird, die
Einleitung des Vergabeverfahrens habe vorliegend spätestens im Januar 2005
stattgefunden, als der Antragsgegner vier Anbieter zur Abgabe von Angeboten für eine
Software zum Fallmanagement hinsichtlich der Betreuung von AGL II-Empfängern
aufforderte. Bei diesem Vorgang habe es sich nicht um eine bloße Markterkundung, sondern
vielmehr um den Beginn des Vergabeverfahrens gehandelt. Zu diesem Zeitpunkt sei der
Antragsgegner aber von einem Bedarf von lediglich 40 Lizenzen zum Fallmanagement und
80 Pflegeverträgen ausgegangen, um auch die bereits vorhandenen 40 Lizenzen zu
erfassen.
Dem vermag der Senat nicht zu folgen. Zum einen spricht viel für die überzeugende
Auffassung der Vergabekammer, wonach der Antragsgegner vor Beginn der Durchführung
der erweiterten Beschaffung die Schätzung der Auftragssumme aktualisieren musste.
Ungeachtet dessen ergibt sich aus den von dem Antragsgegner im Frühjahr 2005
eingeholten Angeboten dreier Wettbewerber ein durchschnittliches Auftragsvolumen, das
bereits zu diesem Zeitpunkt den Schwellenwert überstieg, so dass der Antragsgegner weder
zu diesem Zeitpunkt noch im Zeitpunkt der tatsächlichen Beschaffung bei der gebotenen
vorsichtigen Schätzung von einem Auftragsvolumen ausgehen konnte, das unter dem
Schwellenwert lag. Tatsächlich scheint der Antragsgegner davon auch nicht ausgegangen zu
sein, weil sich der Vermerk seiner Revisionsabteilung vom 24.10.2006 ausschließlich mit der
Frage befasst, ob die Auftragserteilung in freihändiger Form aus wirtschaftlichen Gründen
gerechtfertigt sein könne. Derartiger Überlegungen hätte es nicht bedurft, wenn damals von
einem Unterschreiten der Schwellenwerte ausgegangen worden wäre.
Die Antragstellerin ist auch nicht wegen Verletzung einer Rügepflicht präkludiert (§ 107 Abs.
3 GWB). Dabei kann der Senat offenlassen, ob bei einer de-facto-Vergabe eine Rügepflicht
grundsätzlich nicht besteht (so BayObLG, VergabeR 02, 244; OLG Frankfurt, NZBau 04,
692;OLG Düsseldorf, NZBau 01, 696) oder ob eine Rügepflicht jedenfalls dann besteht,
wenn ein (fehlerhaftes) Vergabeverfahren oder gar kein Vergabeverfahren durchgeführt wird
und der Unternehmer über diesen Umstand seit langem fortlaufend unterrichtet ist (OLG
Karlsruhe, ZfBR 07, 511; OLG Naumburg, Beschluss vom 2.3.2006 - 1 Verg 1/06; VK
Sachsen, Beschluss vom 28.02.2007 - 1/SVK/110/06 - II).
Die Unzulässigkeit eines Nachprüfungsantrages wegen Verletzung der Rügepflicht im Sinne
von § 107 Abs. 3 GWB kann nur angenommen werden, wenn dem Antragsteller
nachgewiesen ist, dass er den behaupteten Vergaberechtsverstoß erkannt und gleichwohl
nicht unverzüglich gerügt hat (BGH NZBau 05,290, Beschluss vom 01.02.2005 - X ZB 27/04
m.w.N.). Im Streitfall ist nicht davon auszugehen, dass die Antragstellerin bereits vor
November 2006 positive Kenntnis davon hatte, dass der Antragsgegner den
streitgegenständlichen Auftrag ohne vorherige Ausschreibung an die Beigeladene vergeben
wollte. Zwar war der Antragstellerin infolge ihres eigenen Angebots vom Januar 2005
bekannt, dass der Antragsgegner zur Bearbeitung von Anträgen nach dem SGB II geeignete
Software anschaffen bzw. entsprechende Aufträge vergeben wollte. Der gerügte
Vergabeverstoß kann jedoch erst als bekannt angesehen werden, wenn die Antragstellerin
aus den ihr bekannten Umständen auch geschlossen hätte, dass ein geregeltes
Vergabeverfahren erforderlich ist, es hierzu aber nicht kommen würde, oder wenn sie sich
dieser Erkenntnis, obwohl sie sich aufdrängte, verschlossen oder entzogen hätte (BGH
a.a.O.). Diese Voraussetzungen lagen bei der Antragstellerin aber nicht vor
November/Dezember 2006 vor. Da der bisherige Kontakt der Antragstellerin mit dem
Antragsgegner auch als eine noch der Erkundung der Möglichkeiten des Marktes dienende
Vorbereitungsmaßnahme verstanden werden konnte, kann der Antragstellerin nicht widerlegt
werden, erst zu diesem Zeitpunkt einen aussagekräftigen Anhaltspunkt gehabt zu haben,
dass es bei dem bisherigen Vorgehen des Antragsgegners verbleiben und ein geregeltes
Vergabeverfahren nicht durchgeführt werden sollte. Der Antragstellerin kann deshalb nicht
vorgeworfen werden, die Notwendigkeit des bisher unterbliebenen geregelten
Vergabeverfahrens nicht früher gerügt zu haben (BGH a.a.O.). Das gilt umso mehr, als
ausweislich des bei den Akten befindlichen Vermerks des Antragsgegners vom
18./24.10.2006 im Hause des Antragsgegners zu diesem Zeitpunkt noch Überlegungen
hinsichtlich der Notwendigkeit einer öffentlichen Ausschreibung angestellt worden sind, also
der Antragsgegner selbst sich hierzu noch keine abschließende Meinung gebildet hatte.
Mit diesem Sachverhalt wäre es unvereinbar, wenn die Antragstellerin gehalten sein sollte,
schon zu einem sehr viel früheren Zeitpunkt die Notwendigkeit einer europaweiten
Ausschreibung zu rügen, zumal ihr auch nicht ohne weiteres bekannt sein konnte, ob der
Schwellenwert angesichts des ursprünglichen Auftragsvolumens tatsächlich überschritten
würde. Eine etwa erforderliche Rüge wäre auch nicht deshalb verspätet, weil nach dem
Schreiben der Antragstellerin vom 07.12.2006 jedenfalls zu diesem Zeitpunkt das positive
Wissen der Antragstellerin um den Vergabeverstoß vorlag, eine förmliche Rüge aber erst
unter dem 28.01.2007 ausgesprochen wurde. Das Schreiben vom 07.12.2006 verdeutlicht
vielmehr, dass die Antragstellerin zu diesem Zeitpunkt noch kein sicheres Wissen um die
Vertragsvergabe hatte, sondern zunächst klären wollte, ob es beim Antragsgegner bereits
einen Beschaffungsvorgang gab oder ein solcher bevorsteht. In dem Schreiben selbst heißt
es aber ausdrücklich, für den Fall, dass es einen Umstieg von A/S auf A/B gegeben habe,
sei das Schreiben als Rüge im Sinne des § 107 Abs. 3 GWB zu interpretieren. Damit hat die
Antragstellerin einer etwaigen Rügepflicht jedenfalls genügt.
Darüber hinaus stellt sich im Streitfall auch die Frage, ob aufgrund der besonderen
Umstände des Einzelfalles eine Rüge im Sinne von § 107 Abs. 3 GWB überhaupt noch
erforderlich war. Sinn und Zweck der Rügeobliegenheit ist es, der Vergabestelle Gelegenheit
zu geben, die gerügten Verstöße unverzüglich im noch laufenden Vergabeverfahren
abzustellen. Da es hier bereits zu einem (nichtigen) Vertragsschluss gekommen war,
bestand für die Vergabestelle eine solche Korrekturmöglichkeit ohnedies nicht mehr, so dass
das Festhalten der Antragstellerin an einer Rügeobliegenheit für diesen Fall auf eine bloße
Förmelei hinausliefe.
Die Auftragsvergabe ist noch nicht beendet, da der Vertragsschluss wegen Verstoßes gegen
§ 13 VgV nichtig war. Die Vergabekammer ist zu Recht davon ausgegangen, dass eine
analoge Anwendung des § 13 VgV jedenfalls dann geboten ist, wenn die Beschaffung einer
Dienstleistung immerhin zur Beteiligung mehrerer Unternehmen, zu verschiedenen
Angeboten und schließlich zu einer Auswahl durch den öffentlichen Auftraggeber geführt hat
(BGH a.a.O.). Dagegen wendet sich auch der Antragsgegner nicht. Nach alledem ist das
Nachprüfungsverfahren zulässig.
Der Nachprüfungsantrag ist voraussichtlich auch begründet. Da der Schwellenwert
überschritten ist, hätte der streitgegenständliche Auftrag europaweit ausgeschrieben werden
müssen (§§ 100 GWB, 2 Nr. 3 VgV).Wie die Vergabekammer zu Recht entschieden hat, lag
auch kein Ausnahmetatbestand vor, der den Verzicht auf eine förmliche EU-weite
Ausschreibung rechtfertigen konnte.
Gemäß § 3 a Nr. 2 lit. e) VOL/A können Aufträge im Verhandlungsverfahren ohne vorherige
öffentliche Vergabebekanntmachung vergeben werden, wenn es sich um eine zusätzliche
Lieferung des ursprünglichen Auftragnehmers handelt, die entweder zur teilweisen
Erneuerung von gelieferten Waren oder Einrichtungen zur laufenden Benutzung oder zur
Erweiterung von Lieferungen oder bestehenden Einrichtungen bestimmt sind, und ein
Wechsel des Unternehmens dazu führen würde, dass der Auftraggeber Waren mit
unterschiedlichen technischen Merkmalen kaufen müsste und dies eine technische
Unvereinbarkeit oder unverhältnismäßige technische Schwierigkeiten bei Gebrauch, Betrieb
oder Wartung mit sich bringen würde.
Wie die Vergabekammer zutreffend ausgeführt hat, fehlt es vorliegend am Merkmal der
teilweisen Erneuerung der ursprünglichen Lieferung. Die Erneuerung erfasst die Anpassung
der ursprünglichen Lieferung oder Einrichtung auf den neuesten Stand der Technik oder den
Austausch von Teilen zur Reparatur von Abnutzungserscheinungen. Im Zuge der
Erneuerung dürfen nur Teile der ursprünglichen Lieferung oder Einrichtung ausgetauscht
werden. Die zusätzliche Lieferung darf die ursprüngliche Lieferung oder Einrichtung nicht als
Ganzes ersetzen (Kaelble in Müller-Wrede, VOL-A, 2. Auflage, § 3 a Rn. 213). In Betracht zu
ziehen ist daher allein, ob die zusätzliche Beschaffung der 90 Lizenzen eine bloße
Erweiterung darstellt und die weiteren Voraussetzungen des § 3 a Nr. 2 lit. e) VOL/A erfüllt
sind. Das Verhandlungsverfahren ohne Bekanntmachung ist nur zulässig, wenn die
Lieferung eines anderen Unternehmens mit der ursprünglichen Leistung inkompatibel wäre.
Diese Voraussetzungen muss der Auftraggeber darlegen. Das Verhandlungsverfahren ohne
Bekanntmachung kann gewählt werden, wenn die abweichenden technischen Merkmale zu
einer Unvereinbarkeit von zusätzlicher Lieferung und ursprünglicher Leistung führen würden
(technische Unvereinbarkeit). Der Gebrauchszweck müsste durch die abweichenden
technischen Merkmale vereitelt werden. Davon kann aber nicht ausgegangen werden, weil
es sich bei der neu beschafften Software um eine komplette Neubeschaffung mit völlig
anderen, erweiterten Funktionen handelt, die speziell auf die Aufgaben des Auftraggebers
gemäß SGB II zugeschnitten ist.
Auch einen Fall der relativen Inkompatibilität hat der Antragsgegner nicht ausreichend
dargelegt. Er ist anzunehmen, wenn im Falle einer möglichen Angleichung der technischen
Merkmale die Anpassung technische Schwierigkeiten aufwirft, die entweder nur mit einem
unverhältnismäßigen
Aufwand
behoben
werden
könnten
oder
aber
den
bestimmungsgemäßen Gebrauch und die Wartung nicht nur marginal, sondern erheblich
beeinträchtigten (Kaelble a.a.O.). Der Hinweis des Antragsgegners, eine automatisierte
Datenmigration von Daten der interimsweise überlassenen Software A/S win auf die neu
erworbene Software sei möglich, während Fremdhersteller einen solchen Vorgang aufgrund
der technischen Programmstruktur von A/S win nur unter "erheblichen technischen
Schwierigkeiten" durchführen könnten, reicht dazu nicht aus. Er lässt jedenfalls den Schluss
zu, dass es an einer absoluten technischen Unvereinbarkeit fehlt. Inwieweit die technischen
Schwierigkeiten, von denen der Antragsgegner wegen der Datenmigration ausgeht, einen
unverhältnismäßigen Aufwand bedeuten oder den bestimmungsgemäßen Gebrauch nicht
nur marginal beeinträchtigten, geht aus dem Vortrag des Antragsgegners nicht substantiiert
hervor, so dass der Antragsgegner seiner Darlegungsobliegenheit nicht nachgekommen ist.
Auch die Voraussetzungen des § 3 a Nr. 2 lit. c) VOL/A sind von dem Antragsgegner nicht
ausreichend dargelegt worden. Der Auftraggeber hat keine Gründe dargelegt, die zwingend
die Vergabe an ein spezifisches Unternehmen erforderlich machen. Dass zwingend nur ein
Unternehmen zur Auftragsdurchführung in der Lage ist, muss der Auftraggeber mittels einer
sorgfältigen Markterforschung feststellen. Nicht ausreichend ist hingegen die Auffassung des
Auftraggebers, dass ein bestimmtes Unternehmen die wirtschaftlichste Leistungserbringung
erwarten lässt. Auf die Bekanntmachung kann auch dann nicht verzichtet werden, wenn eine
begrenzte Anzahl konkurrierender Unternehmen die Leistung erbringen kann (Kaelble
a.a.O., Rn. 178). Hierauf beruft sich aber der Antragsgegner bislang. Er trägt vor, die
Alternative, eine völlig neue Software zu beschaffen, habe aufgrund der tatsächlichen,
zwingenden Erfordernisse nicht bestanden. Ob im Zeitpunkt der tatsächlichen Beschaffung
im November 2006 außer der Beigeladenen kein anderes Unternehmen in der Lage
gewesen wäre, die benötigte Software zu liefern, ist danach aber nicht festzustellen. Soweit
der
Antragsgegner
beiläufig
auch
auf
der
Beigeladenen
zustehende
Ausschließlichkeitsrechte für ihre Software verweist, ist der Vortrag ebenfalls nicht schlüssig,
um eine rechtliche Beschränkung des Kreises der für die Leistungserbringung in Betracht
kommenden Unternehmen darzulegen.
Da nach allem aufgrund des derzeitigen Sach- und Streitstandes eine hinreichende
Erfolgsaussicht der sofortigen Beschwerde nicht festzustellen ist, war der Antrag auf
Gestattung des Zuschlags analog § 121 Abs. 1 GWB schon aus diesem Grund
zurückzuweisen.