Über Fanatismus und Toleranz

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Über Fanatismus und Toleranz
Über Fanatismus und Toleranz
von Nikolaus Werle
Fanatismus
fanari - umherrasen
fanum - heiliger Ort, Tempel
fas - Verhängnis, Recht, Schicksal
Diese Wörter wurden bei den Römern vornehmlich auf den Kult außerrömischer Götter,
bei christlichen Autoren dann auf heidnische Kulte überhaupt bezogen. Im weiteren Sinn
bezeichnet fanaticus jeden vom göttlichen furor (= das Rasen) Ergriffenen. Die schon im
vorchristlichen Sprachgebrauch abwertende Bedeutung wird im Christentum üblich. Fanatici
heißen nun alle heidnischen Priester und Kultdiener, die nicht den „Geist aus Gott“ (1 Kor 2, 12)
empfangen haben. Bis ins sechzehnte Jahrhundert bleibt fanaticus eine Bezeichnung für die
Religiosität des antiken Heidentums, aber es tritt allmählich eine wertfreie Bedeutung des
schwärmerischen Außersichseins in den Vordergrund.
Seit der Reformation wird der Begriff vor allem für religiöse Schwärmer und Sektierer
verwendet, die statt einer allen zugänglichen, institutionell oder rational vermittelten Quelle der
Einsicht die Unmittelbarkeit der Inspiration oder Intuition zum Prinzip erheben und dafür
allgemeine Anerkennung verlangen.
Thomas Hobbes (1588-1679) und John Locke (1632-1704) vollziehen einen wichtigen
Schritt und unterscheiden zwischen Enthusiasmus und Schwärmerei.
Voltaire (1694-1778) identifiziert Fanatismus und Aberglauben, wobei auch er von diesen
den Enthusiasmus unterscheidet. Dieser ist innerlich und harmlos, jene aber sind intolerant und
äußern sich auch mit Mitteln der Gewalt.
Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) differenziert so: Die Berufung der Intellektuellen auf
ihre Vernunft, die privat und partikular ist, birgt die Gefahr eines illuministischen Fanatismus,
also eines solchen, der sich vom Licht der Vernunft für besonders erleuchtet hält. Rousseau sieht
im Fanatismus jedoch auch eine große und starke Leidenschaft, die den Menschen seinen
kleinlichen Egoismus vergessen lässt und den Einzelnen und die Gesellschaft zum Guten bringen
könne, während der Atheismus die Menschen auf ihre Privatinteressen reduziere und so die
sittlichen Grundlagen der Gesellschaft untergrabe. Die philosophische Gleichgültigkeit gegen
diese politischen Folgen des Atheismus ersetze den Fanatismus durch Friedhofsruhe. Eine
heilsame Beseitigung des religiösen Fanatismus könne nur aus der Religion selbst kommen.
Die französische Revolution verstand sich als Vernichterin des Fanatismus, indem sie eine
abstrakte Vernunftherrschaft proklamierte. Die Berufung auf die Vernunft eröffnete so dem
Fanatismus eine raffinierte Verbrämung.
Exkurs über die Terrorherrschaft während der Französischen Revolution
Die Terrorherrschaft, la Grande Terreur (Der große Schrecken), war eine Periode der
Französischen Revolution von Anfang Juni 1793 bis Ende Juli 1794, die durch die brutale
Unterdrückung aller Personen gekennzeichnet war, die verdächtigt wurden, nicht mit der
Revolution einverstanden zu sein. Die Terrorherrschaft wurde vom Wohlfahrtsausschuss, einem
Komitee von zwölf Männern, einschließlich des Vorsitzenden Maximilien de Robespierre,
angeführt.
Diese dunkelste Periode der Französischen Revolution begann mit dem Volksaufstand
vom 2. Juni 1793. Der Konvent beschloss am 5. September 1793 offen die Einführung von
Terrormaßnahmen zur Unterdrückung aller „konterrevolutionären“ Aktivitäten.
Diese Zeit des Schreckens führte in Frankreich nach Archivunterlagen zu mindestens 16
594 Todesurteilen, die meisten wurden durch die Guillotine vollstreckt, davon rund 2 500 in Paris
(1306 davon liegen auf dem Friedhof Picpus. In den Massengräbern dieses Cimetière de Picpus
ruhen insgesamt 1109 Männer, darunter 579 Männer aus dem Volk, 178 Militärangehörige, 136
Beamte, 108 Geistliche und 108 Aristokraten und 197 Frauen, darunter 123 Frauen aus dem
Volk, 23 Nonnen, und 51 Aristokratinnen). Insgesamt wurden nach dem Beginn der
Terrorherrschaft zirka 500 000 Verhaftungen vorgenommen. Dabei sind Opfer, die ohne Prozess
getötet wurden oder in Gefangenschaft starben, nicht mitgerechnet. Ihre Zahl wird von
Historikern zwischen 25 000 und 40 000 geschätzt. Insgesamt rund 85% der Hingerichteten
gehörten dem früheren Dritten Stand an, darunter Bauern mit 28% und Arbeiter mit 31%. 8,5 %
waren aus dem Adel, 6,5 % aus dem Klerus.
Maximilien de Robespierre vertrat die Auffassung, dass in einem „Tugendstaat das Volk
durch Vernunft zu leiten und die Feinde des Volkes durch terreur zu beherrschen seien“. Am 5.
Februar 1794 sagte er vor dem Nationalkonvent: „Terror ist nichts anderes als strenge und
unbeugsame Gerechtigkeit. Er ist eine Offenbarung der Tugend. Der Terror ist nicht ein
besonderes Prinzip der Demokratie, sondern er ergibt sich aus ihren Grundsätzen, welche dem
Vaterland als dringendste Sorge am Herzen liegen müssen.“ Dem Exekutivorgan dieses
Staatsterrors, dem Pariser Revolutionstribunal, fiel Robespierre noch im gleichen Jahr selbst zum
Opfer. Er wurde am 27. Juli 1794 verhaftet. Nur noch eine Minderheit war bereit, für seine
Rückkehr an die Macht zu kämpfen, und so wurde sein Sturz endgültig. Noch am gleichen Tag
wurde er guillotiniert.
Bemerkenswert ist, dass die Beseitigung der politischen Gegner nicht insgeheim erfolgte,
sondern vor den Augen der Öffentlichkeit. Es gab fast immer Gerichtsverfahren, die aber den
Angeklagten keine reelle Chance ließen. Alle diese Vorgänge erregten in ganz Europa Angst und
Bitterkeit.
Ende des Exkurses
Im 19. Jahrhundert bezeichnete man mit Fanatismus nicht mehr eine bestimmte
Überzeugung, sondern eine Geistesverfassung und eine Art, seine Überzeugung zu vertreten.
Fanatismus ist für Hegel die Erscheinungsweise der abstrakten Freiheit, welche die gesamte
gegliederte Wirklichkeit von sich stößt und sich selbst nur als Furie der Zerstörung Realität geben
kann. Der Terror der Französischen Revolution ist ihm dafür das vollendete Beispiel. Auch die
unmittelbare Herrschaft der Religion im Staat ist für ihn Fanatismus.
Der NS erhob in seiner Abkehr von der abendländischen Vernunfttradition eine so
genannte fanatische Entschlossenheit zur germanischen Nationaltugend.
Resümierend sei daher festgehalten: Fanatismus bezeichnet jene Haltung, die andere
Menschen in Mitleidenschaft zieht und nicht erkennt, dass sich menschliche Erkenntnis im
Horizont eines Kontinuums und nicht in einem abgeschlossenen Raum vollzieht. Der Fanatiker
ist der Gegentyp zum Freiheitsliebenden, weil er aufgrund des Wahns seines Partikulardenkens
einen Ausgleich allgemein vorhandener Interessen mit Füßen tritt.
Toleranz
tolerare - ertragen, erdulden, aushalten
Dieses Verbum kommt von tolus - Last
Mit diesem Begriff bezeichnet man die Duldung von Personen, Handlungen oder
Meinungen, die aus berechtigt erscheinenden Gründen abgelehnt werden. Sie wird öffentlich
praktiziert oder gefordert und argumentativ begründet, vor allem mit dem Recht auf
Meinungsfreiheit.
Augustinus: Toleranz und Gewalt
Augustinus (354-430) entwickelte ein für die weitere Zukunft maßgebliches Verständnis
von Staat und Kirche, somit auch von Toleranz und Gewalt. Glauben könne man nur freiwillig.
Toleranz ist eine Grundtugend des sozialen Zusammenlebens. Schon von seiner
Grundverfassung her sei der Mensch ein endliches, sündhaftes Geschöpf und deshalb auch der
tolerantia seiner Mitmenschen bedürftig. Geschuldet werde Toleranz den Armen und Reichen,
den Gesunden und Kranken, den Gefangenen und Freien, den Sündern und den Irrenden.
Letzteren schreibt er eine bemerkenswerte Funktion zu: „Denn vieles, was zum katholischen
Glauben gehört, wird sorgsamer beachtet, klarer verstanden und eindringlicher geäußert,
gepredigt, wenn es durch die schlaue Unruhe der Ketzer in Frage gestellt wird und gegen sie zu
verteidigen ist, so dass die von ihnen aufgeworfene Frage zum Anlass des Lernens wird..“ (XVI,
2)
Autoritativ wirkte für Augustinus das Gleichnis vom Unkraut im Weizen. Das Übersäen
des Weizens mit Unkraut bewirke die Vermischung, wobei die Aufforderung des Evangeliums
gelte: „lasst beides wachsen bis zur Ernte“ (Mt 13, 30). Wer abweiche, sei Unkraut, wer richtig
glaube und falsch lebe, sei Spreu, und beides müsse ertragen werden, auch das Unkraut bis zur
Ernte, denn allein Gott bleibt das letzte Wort vorbehalten.
Augustinus gelangt zu zwei Schlussfolgerungen: Es sind die zu ertragen, die man nicht zu
berichtigen vermag, und man solle den Sünder lieben, aber nicht insofern er Sünder, sondern
Mensch ist.
Er vertrat aber auch eine Gegenwehr gegen gewalttätige Provokationen, zu der die
legitime Staatsgewalt befugt sei, denn ihr obliege die Durchsetzung von Recht und Wahrheit.
Biblisch rechtfertigte er diese Gewalt anhand des Wortes: „Nötige sie einzutreten“, entnommen
dem Gleichnis vom Gastmahl bei Lk 14. Im Lauf der Kirchengeschichte gewann die von dieser
Stelle abgeleitete Sicht, welche Gewalt fast jeglicher Art gegen Andersdenkende befürwortete, die
Oberhand.
Historischer Streifzug
Die Idee der Toleranz fand vor allem in der französischen Aufklärung ihren
spezifisch neuzeitlich europäischen Akzent. Nach J.-J. Rousseau besteht zwischen
monotheistischem Christentum und religiöser Intoleranz ein enger historischer und
psychologischer Zusammenhang. Dieser könne nur durch das Christentum selbst gelöst werden.
Für Voltaire wird Toleranz zum Kennzeichen der Menschlichkeit. Goethe geht einen Schritt
weiter und meint, dass Toleranz durch Akzeptanz abgelöst werden sollte. Denn dulden heiße
beleidigen.
Nietzsche betrachtete Toleranz als Zuchtlosigkeit, die sich hinter einem
moralischen Aufwand versteckt und unfähig ist zu einem Ja oder Nein. Sie ist ein Beweis des
Misstrauens gegen ein eigenes Ideal oder überhaupt für das Fehlen desselben.
Friedrich Nietzsche, Zum „intellektuellen Gewissen.” In: Götzen-Dämmerung, 18:
— Nichts scheint mir heute seltner als die echte Heuchelei. Mein Verdacht ist gross, dass diesem
Gewächs die sanfte Luft unsrer Cultur nicht zuträglich ist. Die Heuchelei gehört in die Zeitalter des starken
Glaubens: wo man selbst nicht bei der Nöthigung, einen andern Glauben zur Schau zu tragen, von dem Glauben
losliess, den man hatte. Heute lässt man ihn los; oder, was noch gewöhnlicher, man legt sich noch einen zweiten
Glauben zu, — ehrlich bleibt man in jedem Falle. Ohne Zweifel ist heute eine sehr viel grössere Anzahl von
Überzeugungen möglich als ehemals: möglich, das heisst erlaubt, das heisst unschädlich. Daraus entsteht die
Toleranz gegen sich selbst. — Die Toleranz gegen sich selbst gestattet mehrere Überzeugungen: diese selbst leben
verträglich beisammen, — sie hüten sich, wie alle Welt heute, sich zu compromittiren. Womit compromittirt man
sich heute? Wenn man Consequenz hat. Wenn man in gerader Linie geht. Wenn man weniger als fünfdeutig ist.
Wenn man echt ist ... Meine Furcht ist gross, dass der moderne Mensch für einige Laster einfach zu bequem ist:
so dass diese geradezu aussterben. Alles Böse, das vom starken Willen bedingt ist — und vielleicht giebt es nichts
Böses ohne Willensstärke — entartet, in unsrer lauen Luft, zur Tugend ... Die wenigen Heuchler, die ich kennen
lernte, machten die Heuchelei nach: sie waren, wie heutzutage fast jeder zehnte Mensch, Schauspieler. —
Nietzsche meinte, dass jemand, der nach den Prinzipien der Toleranz lebt, dies mangels
ausreichend starker eigener Überzeugung tut.
Das Paradoxon der Toleranz
Respektiert wird die Person eines anderen, toleriert hingegen werden seine Handlungen
und Überzeugungen. Die Alternative wäre Gehirnwäsche oder Nichtwahrnehmung.. Der Abbau
des Reizschutzes erhöht die Konfliktrate. Verlockend erscheint die Versuchung, gleichgültige
Koexistenz zu propagieren, da sich daraus der soziale Vorteil eines konfliktfreien
Zusammenlebens zu ergeben scheint.
Es gehört jedoch zu den Existenzvoraussetzungen einer liberalen Gesellschaft, die latent
und offensichtlich intoleranten Mitbürger darauf hinzuweisen, dass die Inanspruchnahme der
Freiheit es zur Pflicht macht, diese Freiheit auch allen anderen zuzugestehen. Toleranz zeugt vom
Ideal und vom Selbstbewusstsein einer offenen Gesellschaft.
Widersprüchlich ist die Forderung der Duldung dessen, was begründetermaßen abgelehnt
wird. In unserer Gesellschaft gibt es in vielerlei Hinsicht das Nebeneinander von Minderheit und
Mehrheit. Es gibt gute Gründe, nicht zuletzt historische Erfahrungen, die eine Neutralität des
Staates auch gegen zerstörerische Anschauungen als Ausdruck der Substanzlosigkeit und der
Entpolitisierung betrachten. Viele sehen daher die Intoleranz als Kriterium für das, was nicht
durch Toleranz geschützt werden darf.
Ergebnis
Aber vielleicht geht es gar nicht um Tolerierung und Nichttolerierung, sondern um
Koexistenz starker Gruppen und freier Individuen. Eine tolerante Gesellschaft soll einerseits die
kulturelle Verschiedenheit und relative Autonomie ihrer Gruppierungen anerkennen, andrerseits
aber deren Mitgliedern ihre Menschenrechte garantieren und nötigenfalls gegen ihre Gruppe
sichern.
Moderne Gesellschaften sind keine säkularen Gesellschaften, sondern Gesellschaften mit
säkularen staatlichen Institutionen.
Leicht erkennbar löst diese Sicht nicht das Paradoxon der Toleranz, sondern hebt es nur
auf eine andere Ebene. Denn eine Quadratur des Kreises gibt es nicht.
Verwendete Literatur
Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie,
Schwabe & Co. AG 1998.
Arnold Angenendt: Toleranz und Gewalt, Aschendorff 2008.
Aurelius Augustinus: Vom Gottesstaat, dtv klassik 1978.
Friedrich Nietzsche: Götzendämmerung, dtv de Gruyter 1980.
Rolf Schieder: Sind Religionen gefährlich? Berlin University Press 2008