Leseprobe - Diogenes Verlag

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Leseprobe
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© Diogenes Verlag AG
www.diogenes.ch
Dick & Felix Francis
Schikanen
Roman
Aus dem Englischen von
Malte Krutzsch
Diogenes
Titel der 2008 bei
Michael Joseph, London,
erschienenen Originalausgabe: ›Silks‹
Copyright © 2008 by Dick Francis
Umschlagfoto (Ausschnitt):
Copyright © Mark Guthrie
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 2010
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
100/10/52/1
isbn 978 3 257 06744 6
Wir danken
Miles Bennett, Barrister
Guy Ladenburg, Barrister
David Whitehouse, Kronanwalt
Prolog
März 2008
S
chuldig.«
Ich beobachtete den Sprecher der Jury bei der Bekanntgabe des Geschworenenspruchs. Er trug ein helles Tweedsakko über einem blauweiß gestreiften Hemd. Zu Beginn
des Prozesses hatte er noch stets eine nüchtern gestreifte
Krawatte umgehabt, die ihm angesichts der sehr saloppen
Kleidung seiner elf Mitgeschworenen dann aber wohl doch
zu steif vorkam, und jetzt trug er das Hemd mit o∑enem
Kragen. Im Gegensatz zu den meisten anderen war er grau
an den Schläfen und hielt sich gerade. Vielleicht war er deshalb zu ihrem Sprecher ernannt worden. Er hatte etwas von
einem pensionierten Lehrer an sich, der es gewohnt war,
Verantwortung zu übernehmen und in einer Klasse voll ungebärdiger Jugendlicher für Ruhe zu sorgen.
»Schuldig«, sagte er noch einmal, etwas nervös zwar, aber
mit fester, tiefer Stimme. Sein Blick ruhte einzig auf dem
Richter in Talar und Perücke, der ein wenig erhöht zu seiner
Linken saß. Nicht ein einziges Mal sah er zu dem jungen
Mann auf der Anklagebank hinüber, der ebenfalls etwas erhöht, aber rechts von ihm saß. Wir waren in Saal 3 am Old
Bailey, einem der alten viktorianischen Gerichtssäle des
Central Criminal Court, erbaut zu einer Zeit, als man bei
Übeltätern noch auf Einschüchterung und bei Unbeschol7
tenen auf Abschreckung setzte. Bei aller formellen Strenge
war es jedoch ein kleiner Saal, nicht größer als ein geräumiges Wohnzimmer. Der Richter oben in seiner langen Bank
beherrschte den Raum und thronte über den anderen Beteiligten – dem Angeklagten, den Anwälten und Geschworenen –, die so eng beieinandersaßen, dass sie sich kaum bewegen konnten, ohne sich zu berühren, doch das vermieden
sie nach Möglichkeit.
Insgesamt wiederholte der lehrerha∫e Sprecher achtmal
dasselbe Wort, bevor er sich mit einem Seufzer spürbarer Erleichterung darüber, dass die Sache ausgestanden war, wieder hinsetzte.
Die Jury hatte den jungen Mann in allen acht Anklagepunkten für schuldig befunden: Körperverletzung in vier
Fällen, gefährliche Körperverletzung in drei Fällen und ein
Mordversuch.
Es überraschte mich kaum. Sogar ich als der Verteidiger
des jungen Mannes war von seiner Schuld überzeugt.
Warum hatte ich dann die schönste Zeit des Jahres im
Old Bailey herumgehockt und versucht, einen Kerl, der es
nicht verdiente, vor einem ziemlich langen Aufenthalt hinter Schloss und Riegel zu bewahren?
Des Geldes wegen, nehme ich an. Dabei wäre ich wegen
der Renntage viel lieber in Cheltenham gewesen. Zumal ich
geplant hatte, an diesem Nachmittag meinen zwölfjährigen
braunen Wallach im Foxhunters Chase, dem »Gold Cup der
Amateure«, zu reiten.
Die britische Justiz geht seit fünfhundert Jahren davon
aus, dass Menschen unschuldig sind, bis ihre Schuld erwiesen
ist. Deshalb braucht der Angeklagte nicht seine Unschuld
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nachzuweisen, sondern sich lediglich gegen Anschuldigungen zu wehren, Anschuldigungen, die erst anerkannt werden, wenn kein berechtigter Zweifel mehr an ihrer Richtigkeit besteht. Der Angeklagte wird je nach Titel als Mister,
Doctor oder Sir, wenn nicht als Hochwürden, Euer Gnaden
oder Euer Ehren angeredet. Sprechen die Geschworenen
ihn aber schuldig, fallen diese hübschen Unterscheidungen
sofort weg, und der Angeklagte wird zum »Täter«. Statt um
höfliche Wahrheits⁄ndung und Aufdeckung der relevanten
Fakten geht es nunmehr um Strafe und Vergeltung für nachgewiesene Vergehen.
Noch ehe der Geschworenensprecher richtig Platz genommen hatte, erhob sich auch schon der Staatsanwalt, um
das Gericht über die Vorstrafen des Täters in Kenntnis zu
setzen. Das waren nicht wenige. Bereits viermal war er wegen Gewalttätigkeit verurteilt worden, allein zweimal wegen
gefährlicher Körperverletzung. Zweimal hatte der junge
Mann dafür in einer Jugendstrafanstalt gesessen.
Ich beobachtete, wie die Geschworenen die Neuigkeit
aufnahmen. Fast eine Woche lang hatten sie sich vor der
Abgabe ihres Urteils beraten. Jetzt waren einige von ihnen
sichtlich entsetzt über den zutage tretenden wahren Charakter des elegant gekleideten Dreiundzwanzigjährigen auf
der Anklagebank, der aussah, als könnte er kein Wässerchen
trüben.
Konnte mir jemand verraten, was ich hier machte? Zum
x-ten Mal fragte ich mich, warum ich einen so ho∑nungslosen Fall übernommen hatte. Ich kannte die Antwort. Weil
der Freund eines Freundes der Eltern des jungen Mannes
mich dazu gedrängt hatte. Weil alle mich bekniet hatten,
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seinen Fall zu übernehmen, mir versichert hatten, er sei
unschuldig, den gegen ihn erhobenen Vorwürfen liege eine
Verwechslung zugrunde. Und auch, wie gesagt, weil sie anständig zahlten.
Ich fand jedoch schnell heraus, dass der einzige Irrtum
hier in dem unerschütterlichen Glauben der Eltern lag, ihr
Goldjunge könne unmöglich mit einem Baseballschläger
auf eine ganze Familie losgegangen sein. Das einzige Motiv
für den abscheulichen Überfall bestand darin, dass sich der
Familienvater bei der Polizei beschwert hatte, der junge
Mann benutze die Straße vor ihrem Haus allnächtlich bis
um zwei oder drei Uhr früh als Dragster-Rennpiste.
Alles, was ich über meinen Klienten herausgefunden
hatte, bestätigte mir nur immer wieder, dass es ein Fehler
gewesen war, den Fall anzunehmen. Seine Schuld lag für
mich so klar auf der Hand, dass ich dachte, der Prozess
würde im Nu vorbei sein und ich könnte leichten Herzens
mit dicker Brieftasche nach Cheltenham zum Pferderennen
fahren. Dass die Geschworenen aus uner⁄ndlichen Gründen so lange gebraucht hatten, um zu dem einzig möglichen
Schluss zu gelangen, war leider nicht zu ändern gewesen.
Ich hatte zwar mit dem Gedanken gespielt, mich krankzumelden und nach Cheltenham abzusetzen, aber der Richter war selbst turfbegeistert und hatte mir am Vorabend
noch sein Mitgefühl dafür ausgesprochen, dass ich am Foxhunters nicht würde teilnehmen können. Hätte ich Krankheit vorgeschützt und wäre in dem Rennen gestartet, hätte
er mich wahrscheinlich wegen Missachtung zu sich bestellt,
und damit hätte ich alle Ho∑nung, einmal Kronanwalt zu
werden, begraben können.
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»Es ⁄ndet ja auch nächstes Jahr statt«, hatte der Richter
mit einem irritierenden Lächeln gesagt.
Aber zum Foxhunters konnte man sich nicht einfach anmelden, man musste sich durch Rennsiege dafür quali⁄zieren, und das war mir nach zehnjährigem Bemühen jetzt zum
ersten Mal gelungen. Nächstes Jahr wären Pferd und Reiter
wieder ein Jahr älter, und wir standen beide nicht mehr in
der Blüte unserer Jugend. Vielleicht kam die Chance für uns
nie wieder.
Ich sah auf meine Armbanduhr. In einer halben Stunde
ging das Rennen los. Mein Pferd würde zwar starten, aber
mit einem anderen Jockey, und der Gedanke daran war mir
zuwider. Wie o∫ hatte ich das Rennen im Kopf durchgespielt, und jetzt nahm jemand anderes meinen Platz ein. Ich
hätte in diesem Augenblick in der Jockeystube in Cheltenham die leichte Reithose, den bunten Seidendress überziehen sollen, statt in Nadelstreifen, Talar und Perücke hier zu
sitzen, weit weg vom jubelnden Publikum, deprimiert und
ohne einen Funken freudiger Erregung.
»Mr. Mason«, riss mich der Richter aus meiner Träumerei.
»Ich habe gefragt, ob die Verteidigung vor der Urteilsverkündung noch etwas sagen möchte.«
»Nein, Euer Ehren.« Ich erhob mich halb und setzte mich
wieder hin. Soweit ich sah, gab es keine mildernden Umstände, auf die ich das Gericht hätte hinweisen können. Weder
ließ sich behaupten, der junge Mann stamme aus ärmlichen
oder zerrütteten Verhältnissen, noch ließ sein Verhalten sich
auf irgendeinen erlittenen Missbrauch zurückführen. Im
Gegenteil. Seine glücklich verheirateten Eltern liebten ihn,
und er hatte eine namha∫e englische Privatschule besucht,
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jedenfalls bis er mit siebzehn hinausgeworfen wurde, weil er
die jüngeren Mitschüler schikaniert und den Lehrer, der ihn
dafür zur Rechenscha∫ zog, mit einer zerbrochenen Flasche bedroht hatte.
»Der Angeklagte erhebe sich«, rief der Gerichtsschreiber.
Fast aufreizend langsam erhob sich der junge Mann. Auch
ich stand auf.
»Julian Trent«, sprach ihn der Richter an, »dieses Gericht
hat Sie des gewaltsamen Überfalls auf eine unschuldige Familie für schuldig befunden und legt Ihnen einen Mordversuch zur Last. Sie haben keine Reue für Ihre Taten gezeigt,
und ich betrachte Sie als eine Gefahr für die Gesellscha∫.
Da Sie bereits mehrfach wegen Gewaltdelikten verurteilt
worden sind, hat es den Anschein, als könnten oder wollten
Sie aus Ihren Fehlern nicht lernen. Ich bin mir bewusst, dass
ich die P¬icht habe, die Ö∑entlichkeit zu schützen. Daher
verurteile ich Sie zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren.
Nach unten mit ihm.«
Achselzuckend ließ sich Julian Trent von zwei stämmigen Vollzugsbeamten in den Zellentrakt hinunterbringen.
Im Publikum brach seine Mutter in Tränen aus und wurde
von Mr. Trent, der nie von ihrer Seite wich, beschwichtigt.
Ich fragte mich, ob sie nach der achttägigen Gerichtsverhandlung und den erdrückenden Beweisen immer noch so
ein rosiges Bild von ihrem Sprössling hatten.
Im Stillen hatte ich geho∑t, der Richter würde Julian lebenslang einsperren und den Schlüssel wegwerfen. Denn spätestens nach der Häl∫e der ihm zugemessenen acht Jahre
würde er wieder auf freiem Fuß sein und selbstherrlich mit
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seinem Baseballschläger irgendeinen armen Tropf, der ihm
über den Weg lief, bedrohen und verprügeln.
Nicht im Traum hätte ich gedacht, dass er lange vor Ablauf der vier Jahre schon wieder draußen sein könnte und
dass ich der Betro∑ene sein würde.