BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB

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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB
BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
Nobody Wants
the Night
45 Years
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Taxi
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Queen of the Desert 6
Ixcanul Volcano
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Diary of a
Chambermaid
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Victoria
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Mr. Holmes
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Knight of Cups
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The Pearl Button
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The Club
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Als wir täumten
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Body
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Under Electric
Clouds
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Every Thing
will Be Fine
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Aferim
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Eisenstein in
Guanajuato
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Gone with the
Bullets
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Elser
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Sworn Virgin
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Big Father, Small
Father and Other
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Cinderella
45
Chasuke's Journey 47
BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
"Nobody wants the night" | Wettbewerb
Zwei Frauen im Schnee
"Starke Frauen in extremen Situationen" hat Berlinale-Direktor Dieter Kosslick für diesen Jahrgang der
Berlinale versprochen. Das trifft auf den Eröffnungsfilm "Nobody Wants the Night" der Katalanin Isabel
Coixet zweifellos zu: Zwei eigentlich rivalisierende Frauen sind einander darin in der Polarnacht ausgeliefert. Doch leider vergibt Coixet ihr starkes Thema, indem sie Klischee auf Klischee häuft und dem Film einen unangenehmen Beigeschmack verpasst. Von Fabian Wallmeier
Josephine Peary ist eine Frau von Welt – zumindest empfindet sie sich so. Selbst auf einer Expedition zum Nordpol, wohin sie ihrem Mann, dem Forscher Robert Peary, im Jahr 1908 hinterherreisen möchte, besteht sie auf erlesenem Rotwein, edlem Geschirr und musikalischer Untermalung durch Opernarien vom Grammophon. Von der
Expedition hat man ihr eigentlich abgeraten – zu gefährlich sei die Polarnacht, sagen die Experten, zu unberechenbar seien die Eisschollen.
Doch sie rückt nicht von ihrem Vorhaben ab. "Wenn es keinen Weg gibt, schaffe einen", heißt ihr Motto. Das hat
wohlgemerkt ihr Mann formuliert, nicht sie selbst. Denn die Stärke dieser Josephine entspringt vor allem ihrer
ehefraulichen Folgsamkeit - ein feministisches Ausrufezeichen jedenfalls ist dieser Eröffnungsfilm nicht im Geringsten.
"Nach Süden fliegst du nicht mehr"
Josephine hat es sich also in den Kopf gesetzt, ihrem Mann zu folgen, der als erster Mensch den Nordpol erreichen will. Jeder, der sich ihr in den Weg stellt, bekommt einen verbalen Faustschlag verpasst. Selbst der Vogel,
den sie unterwegs erlegt hat, wird noch beleidigt, als sie ihm die Federn ausrupft. Noch nicht mal schöne Federn
habe er – "und nach Süden fliegst du nicht mehr", ätzt sie mit unfreiwilliger Komik.
Die Josephine Peary, die wie viele andere Figuren "von realen Personen inspiriert" ist, wie es im Vorspann heißt,
ist beileibe keine Sympathieträgerin. Als der an ihre Seite gestellte Captain Spalding (Gabriel Byrne) im Eis ein-
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bricht und kurz darauf stirbt, lässt sie ihn pflichtbewusst begraben – doch schon am nächsten Tag lässt sie sich
jauchzend vor Freude zum nächsten Basislager kutschieren. Dort trifft sie auf die junge Inuit Alaka (Rinko Kikuchi), die sich später als Geliebte ihres Mannes entpuppt.
Geheimnisumwitterte Menschen und Enthüllungen
Coixet hat sich in früheren Filmen hauptsächlich dafür interessiert, was das Fürsichbehalten von Geheimnissen
mit den Menschen macht – und sich dabei mehr für den Ist-Zustand interessiert als für Reaktionen auf eine etwaige Enthüllung. Dieses Mal hat sie einen anderen Ansatz gewählt: Dass Alaka die Geliebte von Robert Peary ist,
erfährt Josephine Peary gleichzeitig mit dem Zuschauer – und im Fokus steht nun, wie sie damit umgeht. Der
Film ist damit um einiges klassischer erzählt, weist kaum Brüche auf und lässt so gut wie keine Frage offen.
Juliette Binoche spielt die emotionale Klaviatur von Entsetzen über Wut bis zur schlussendlichen Verschwesterung mit der Rivalin so überzeugend durch, wie man erwarten durfte. Dennoch wird das Aufeinandertreffen der
beiden Frauen in Schnee und Eis zum Ärgernis. Coixet häuft nämlich ein Kolonialklischee aufs andere. Der von
der eigenen vermeintlichen Zivilisiert- und Überlegenheit eingenommenen Josephine stellt sie mit Alaka, ein rührend naturkindliches Fabelwesen gegenüber, das strahlend und ungeniert seine kariösen Zähne präsentiert und
in unterkomplexen Zwei-bis-drei-Wort-Sätzen seine Welt erklärt.
Die Untertöne fragwürdig - die Optik gelungen
Statt "ich" sagt sie "Alaka" oder "diese Frau". Auch mit naiven Weisheiten wirft sie gern um sich. Die Welt will
Josephine verstehen? Nein, das gehe doch gar nicht – verstehen könne man immer nur Menschen.
Josephines und Roberts Traum von der Erforschung und Eroberung der Fremde, davon die ersten am Nordpol zu
sein, kann Alaka nicht verstehen. Coixet hat das ziemlich sicher nicht so gemeint, aber trotzdem: Die Untertöne,
die sie bei der Charakterisierung Alakas im Kontrast zu Josephine anklingen lässt, kann man als rassistisch auffassen.
Optisch dagegen ist der Film gelungen. Wie Coixets Stamm-Kameramann die Weite der Arktis einfängt, wie er mit
dem gezielten Einsatz von Unschärfen die Schneewehen verstärkt, wie er die beiden Frauen bei Schummerlicht
im Iglu zu einer tierfellbraunen Einheit verschmelzen lässt – das ist schon sehr gekonnt. Aber letztlich kann auch
die hübsche Fassade nicht darüber hinweg täuschen, dass Isabel Coixet hier einen höchst fragwürdigen Film in
den Wettbewerb geschickt hat.
Bewertungen der rbb-Kritiker
Fabian Wallmeier, rbb online
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Hannelore Heider, Antenne
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Stephan Karkowsky, Radioeins
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Frauke Gust, radioBERLIN
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Anna Wollner, Fritz
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Steffen Prell, rbb Fernsehen
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Patrick Wellinski, rbb online
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Anke Sterneborg, Kulturradio
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Knut Elstermann, Radioeins
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"Taxi" | Wettbewerb
Streifzug durch Teheran
Ein Taxi fährt durch Teheran - am Steuer ist kein geringerer als Regisseur Jafar Panahi. Trotz Berufs- und
Drehverbot ist es dem Iraner auch 2015 wieder gelungen, einen Film auf der Berlinale zu präsentieren. Sein
Wettbewerbsbeitrag "Taxi" ist ein Streifzug durch die iranische Gesellschaft und die eigene Seelenlandschaft. Von Ula Brunner
Der Film ist in Berlin, sein Macher nicht. Wirklich erwartet hat wohl niemand, dass der Gottesstaat seinem bekanntesten Regisseur die Ausreise gestatten würde. Und so fand die Weltpremiere des iranischen Wettbewerbbeitrags "Taxi" ohne Jafar Panahi statt. Die Abwesenheit des bekennenden Oppositionellen auf der Berlinale hat
traurige Tradition: Bereits 2013 konnte der 54-Jährige den Silbernen Bären für "Pardé" nicht persönlich entgegennehmen und 2011 blieb sein Jurystuhl im Wettberwerb leer. "Ich lade Panahi solange ein, bis er kommen
kann", hat Festival-Direktor Dieter Kosslick in einem Interview erklärt.
Bis er persönlich kommen kann, schickt Panahi seine Filme. Seit 2010 hat der Regimekritiker Arbeits- und Reiseverbot. Aber er nutzt die Freiräume, die ihm bleiben, immer wieder auf verblüffend einfache und kluge Weise. Hat
er seine beiden vorangegangenen Filme "Pardé" und "This is Not a Film" in häuslicher Abgeschiedenheit gedreht,
spielt sein diesjähriger Wettbewerbsbeitrag mitten im turbulenten Teheran. Oder genauer, in einem Taxi - am
Steuer sitzt Panahi selbst.
Humor und ironische Brüche
Die unterschiedlichsten Personen kutschiert er durch die iranische Metropole: eine Anwältin für Menschenrechte,
einen Filmpiraten, zwei Frauen mit einem Goldfischglas, wie in seinem Film "The White Balloon" (1995), ein Unfallopfer, eine Lehrerin oder ein Mädchen, auf der Suche nach einem Stoff für seinen ersten Schulfilm. Manche
von ihnen erkennen in dem Mann am Steuer den Regisseur Panahi, für andere bleibt er einfach nur ein schlechter
Taxifahrer, der sich ständig verfährt.
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Menschen und Meinungen treffen in der Enge des Fahrzeugs aufeinander. Bestehende Verhältnisse, Filmverbote,
Zensur und Unterdrückung, aber auch Freundschaft und Loyalität werden auf dem Rücksitz diskutiert. Wie muss
ein Film eigentlich sein, damit er die Zensur im Iran passiert? Ist es im Sinne der Scharia, dass ein Autodieb hingerichtet wird, wie es ein Mitfahrer fordert - der sich am Ende selbst als "Straßenräuber" outet? Immer dann,
wenn der Film zu einem lehrstückhaften Diskurs über bestehende Verhältnisse und ethische Fragen abzugleiten
droht, steuert Panahi mit Humor und ironischen Brüchen gegen. Leichthändig reiht sich Episode an Episode, frei
von Tristesse, liebevoll erzählt, unterhaltsam.
Einblicke in die eigene Befindlichkeit
"Taxi" ist ein Film über den Alltag in Teheran, ein Film auch über Panahi selbst. Es sind verbotene und fremde
Einblicke in die iranische Gesellschaft, die Panahi seinem Publikum hier ermöglicht. Denn natürlich richtet sich
der Film in erster Linie an die westlichen Zuschauer - im Iran wird er ganz sicher nicht auf der Leinwand zu sehen
sein. Immer wieder schafft der Regisseur auch der eigenen Situation und Befindlichkeit Raum. Einmal meint er
für einen Moment in der Stimme der befreundeten Anwältin die Stimme einer Vernehmungsbeamtin zu erkennen. "Das ist die Augenbinde", antwortet ihm die Menschenrechtlerin, "man ist dauernd hinter Stimmen her."
Eine ganze besondere Präsenz
Fünf Jahre ist es her, dass Panahi, der sich in seiner Heimat für eine Liberalisierung der Gesellschaft und einen
politischen Wechsel stark macht, von einem Revolutionsgericht in Teheran mit einem 20-jährigen Berufsverbot
abgestraft wurde. Seither darf er keine Interviews geben und auch das Land nicht verlassen. Doch Panahi hat
sich nicht mundtot machen lassen, hat heimlich weitergefilmt. "Nichts kann mich am Filmemachen hindern. Denn
wenn ich in die äußerste Ecke gedrängt werde, ziehe ich mich in mein Innerstes zurück. Und trotz aller Einschränkungen wird in dieser inneren Abgeschlossenheit die Notwendigkeit, etwas zu erschaffen, zu einem immer
größeren Trieb. Kino als Kunstform wird zu meinem Hauptanliegen. Ich muss unter allen Umständen weiter Filme
machen, um der Kunst Respekt zu erweisen und mich lebendig zu fühlen", sagt er selbst über sich.
Panahi lässt sich nicht mundtot machen. Er schickt seine Filme. Manchmal auf abenteuerlichen Wegen: "This is
Not a Film" wurde in einem Kuchen 2011 auf die Filmfestspiele nach Cannes geschmuggelt. Dass ihn die westlichen Festivals trotz seines Reiseverbots immer wieder einladen, ist ein offenes Bekenntnis für den Regisseur.
Doch gerade die erzwungene Abwesenheit gibt dem Regimekritiker eine ganz besondere Präsenz - auch auf dieser Berlinale.
Bewertungen der rbb-Kritiker
Ula Brunner, rbb online
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Hannelore Heider, Antenne
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Stephan Karkowsky, Radioeins
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Harald Asel, Inforadio
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Silke Mehring, radioBERLIN
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Patrick Wellinski, rbb online
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Anke Sterneborg, Kulturradio
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Knut Elstermann, Radioeins
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Fabian Wallmeier, rbb online
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Carsten Beyer, Kulturradio
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"Queen of the Desert" | Wettbewerb
Ziellos durch die Wüste
Mit großem Star-Aufgebot präsentierte Werner Herzog seinen neuen Film "Queen of the Desert" im Wettbewerb der Berlinale. Nicole Kidman, James Franco und Robert Pattinson sorgten für Wirbel auf dem roten
Teppich. Doch der Film selbst bleibt hinter den Erwartungen zurück. Von Andreas Kötzing
Mein Herz gehört niemandem mehr, nur noch der Wüste." Gertrude Bell (Nicole Kidman), die große britische Archäologin, Dichterin und Diplomatin, die nach dem Ersten Weltkrieg im Orient die Interessen des British Empires
vertrat, sagt diesen Satz, irgendwann in der Mitte von "Queen of the Desert". Und in diesem einen Satz steckt im
Prinzip schon vieles von dem, was uns dieser Film zu erzählen hat: Die Geschichte einer Frau, deren Liebe auf
tragische Weise unerfüllt bleibt, so dass sie stattdessen ihr Glück in der Wüste sucht und findet.
Über weite Strecken ist "Queen of the Desert" ein pathetischer Film. Allein die erste Dreiviertelstunde verschenkt er an eine schwülstige Liebesgeschichte zwischen Gertrude und Henry Cadogan (James Franco), einem
Mitarbeiter der Britischen Botschaft in Teheran. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis die beiden zueinander finden. Und auch danach muss man schon sehr kitschbedürftig sein, um der Wüsten-Romanze etwas abgewinnen zu
können. Dabei scheut Herzog nicht die großen Gesten: James Franco darf sogar im Sand knien und um die Hand
von Gertrude anhalten. Ein Kuss im Gegenlicht der untergehenden Wüstensonne? Selbst dieses Klischee wird bedient.
Eine viel zu elegant wirkende Kidman
Auch in der zweiten Hälfte, in der Gertrude sich intensiv mit der Kultur der Wüstenbewohner beschäftigt, ihre
Sprache lernt und rivalisierende Beduinengruppen besucht, plätschert der Film über weite Strecke oberflächlich
vor sich hin. Das liegt vor allem an der glatten, bruchlosen Inszenierung. Alle politischen Konflikte der damaligen
Zeit werden nur angedeutet, aber nie tiefergehend thematisiert.
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Gertrudes Reisen wirken beinahe idyllisch. Nur selten droht Gefahr, denn zumeist wird sie gleich zum Teetrinken
oder zu einem exotischen Essen eingeladen (gekochter Schafkopf!). Die Scheichs diskutieren mit ihr auch lieber
über Verse von Vergil anstatt über die dramatischen politischen Verwerfungen und die harten militärischen Konflikte der damaligen Zeit.
Nicole Kidman wirkt in ihrer Rolle zudem viel zu elegant, um die Lebenswelt von Gertrude Bell ausfüllen zu können. Das golden schimmernde Haar, der perfekte Teint, die makellose Kleidung - all das erinnert eher an einen
Werbespot, aber es passt kaum zu einer Frau, die Wochen und Monate durch die Wüste gereist ist.
Wenig Vertrauen in die eigenen Bilder
Starke Momente gibt es in "Queen of the Desert" nur, wenn der Film sich traut, seine Geschichte in berauschenden Bildern zu erzählen, wenn die Kamera sich langsam zurück zieht und uns ein breites Panorama ermöglicht,
wenn der Wind durch die Wüste peitscht und wir das Gefühl bekommen, mitten in die Landschaften hineingezogen zu werden.
Leider sind diese Momente nur von kurzer Dauer. Immer wenn man sich wünscht, der Film würde einen Moment
verharren, klimpert im Hintergrund schon wieder penetrant ein Klavier und Geigen schmachten herzzerreißend
vor sich hin, während Nicole Kidmann aus dem Off ihre Tagebucheinträge, Briefe oder Gedichte vorliest. Ihre
Emotionen werden dabei nicht gezeigt, sondern nur behauptet. Ihre Gefühle wirken vorgetragen, nicht erlebt.
Vergleiche zu epischen Werken der Filmgeschichte wie "Lawrence of Arabia" von David Lean, den Herzog streift,
in dem dessen Hauptfigur auch bei ihm auftaucht (flapsig gespielt von Robert Pattinson), meidet man lieber man würde Werner Herzog damit keinen großen Gefallen tun.
Bewertungen der rbb-Kritiker
Andreas Kötzing, rbb online
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Hannelore Heider, Antenne
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Stephan Karkowsky, Radioeins
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Frauke Gust, radioBERLIN
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Carsten Beyer, Kulturradio
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Patrick Wellinski, rbb online
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Anke Sterneborg, Kulturradio
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Knut Elstermann, Radioeins
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Fabian Wallmeier, rbb online
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Christine Deggau, Fernsehen
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"45 Years" | Wettbewerb
Die Liebe und ihre Zumutungen
Kate und Geoff müssen kurz vor dem 45. Hochzeitstag ihre Beziehung neu justieren, als mehr als 50 Jahre
nach ihrem Tod die Leiche von Geoffs früherer Freundin gefunden wird. Andrew Haigh hat aus dieser
Grundidee einen berührenden, aber niemals kitschigen Film gemacht - mit einer umwerfenden Charlotte
Rampling in der Hauptrolle. Von Fabian Wallmeier
Am Anfang steht das Klicken eines Diaprojektors, wenn zum nächsten Bild weitergeschaltet wird. Zuerst hören
wir ihn nur - und als der Vorspann vorbei ist, zeigt die Kamera etwas ganz anderes. Aber dieser Diaprojektor wird
uns eine knappe Stunde später noch einmal begegnen - und ein entscheidendes Geheimnis offenbaren.
Überhaupt offenbart sich vieles in Andrew Haighs "45 Years" - und das genauso scheibchenweise, wie ein Projektor ein Dia nach dem anderen vor die Linse schiebt. Kate und Geoff Mercer (Charlotte Rampling und Tom
Courtenay) leben in einem abgelegenen Haus im flachsten England. In ein paar Tagen wollen sie ein großes Fest
zu ihrem 45. Hochzeitstag geben. Doch plötzlich bekommt Geoff einen Brief aus der Schweiz: Die Leiche seiner
ehemaligen Freundin Katya, die 1962 auf einer gemeinsamen Alpenwanderung in eine Felsspalte stürzte und nie
geborgen werden konnte, ist gefunden worden. Bedeckt von meterdickem, aber glasklarem Eis liegt sie begraben
- äußerlich auch 50 Jahre später noch immer 27 Jahre alt. Die Grundzüge dieser Geschichte aus der Zeit, bevor
sie Geoff kennenlernte, waren Kate bekannt. Doch nun erfährt sie nach und nach immer mehr Details, schmerzhafte Details. "Ich habe dir doch von meiner Katya erzählt", setzt Geoff an und sagt schon mit diesem beiläufigen
"meine Katya" mehr als Kate hören möchte.
"Ich will diesen Namen nie wieder hören"
Geoff ist schon ein bisschen tatterig, seit er vor fünf Jahren schwer krank war. Der Blick in die lange nicht thematisierte Vergangenheit bringt ihn aus seinem gemächlichen Landhaustrott. Selbstversunken tapert er durch die
Szenerie, er grübelt über die Zeit mit Katya und über ihren Tod nach - und kann nicht anders, als Kate davon zu
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erzählen, so oft sie ihn auch zurückweist. "Ich will diesen Namen nie wieder hören", sagt sie einmal. Doch gleich
in seinem nächsten Satz erwähnt Geoff Katya wieder - und scheint es noch nicht einmal zu merken. Kate dagegen schleicht fast durch ihr Haus. Mit jeder vorsichtigen Bewegung ringt sie um Kontrolle. Charlotte Rampling
verkörpert diese Kate mit umwerfender Genauigkeit, zeigt mit perfekt gesetzten Gesten und kleinsten mimischen
Regungen Kates Stolz und ihre Angst vor dem emotionalen Abgrund, der sich plötzlich auftut. Kate ringt um Fassung, bis zum Schluss des Films - der wohltuend offen ist.
Andrew Haigh hat schon in seinem vorherigen Film eine Liebesbeziehung seziert - wenn auch in einem geradezu
diametral entgegen gesetzten Setting: In "Weekend" (2011) lernen sich zwei Männer in einer Schwulenbar kennen, landen zusammen im Bett und verbringen das Wochenende miteinander. In beiden Filmen ist der zeitliche
Rahmen wichtig: "45 Years" steuert auf den Hochzeitstag zu und "Weekend" auf den Montag, an dem einer der
beiden Männer in die USA auswandern will. In den wenigen Stunden, die den beiden bis dahin bleibt, lässt Haigh
sie durch Nottingham laufen und vor allem reden. Kluge, echte, ehrliche Dialoge hat er dafür geschrieben, in denen die beiden ihre Sexualität reflektieren, aber auch die Ausgrenzungserfahrungen, die sie deswegen machen
mussten.
Die ewig 27-jährige Gegenspielerin im Eis
"45 Years" hat naturgemäß eine gesetztere Tonlage - denn die beiden Partner, um die es hier geht, lernen sich
nicht gerade erst kennen, sondern teilen seit 45 Jahren Tisch und Bett. Doch Haigh gelingt es, auch diese langjährige Ehe in realistischen, pointierten und allenfalls nicht ganz so quirligen und überraschenden Dialogen auf
den Punkt zu bringen.
Musik wird in Haighs Film zum emotionalen Verstärker, zum Katalysator und Kommentator: Geoff legt auf einmal
eine lange nicht gehörte Platte auf, und Kate muss sich unweigerlich fragen, ob diese Musik ihn an Katya erinnert, behält die Frage aber für sich; zu Popsongs aus der Zeit ihres Kennenlernens tanzen Geoff und Kate durch
die Wohnung; als Kate im Radio "Young Girl" hört, das sie an die ewig 27-jährige Gegenspielerin im Eis denken
lassen muss, verliert sie für einen Moment beinahe die Beherrschung; um vor der großen Feier auf andere Gedanken zu kommen setzt Kate sich ans Klavier (und spielt ein von Rampling selbst komponiertes Stück). Und
auch die letzte Szene wird von der Musik mitgetragen: Wir hören "Smoke Gets in Your Eyes", als Kate und Geoff
auf ihrer Feier den Tanz eröffnen - einen Song, der bei genauerem Hinhören gar nicht das romantische Liebeslied
ist, für das man ihn hält. Haigh hat das Hauptaugenmerk auf Kate gelegt. Sie zeigt er, wie sie den grantelnden
Geoff zu einer Feier bei einem Freund bringt. Sie sehen wir auf einer Dampferfahrt auf dem Kanal allein an Deck
sitzen und in den spätherbstlichen englischen Nebel starren. Ihr folgen wir auf den Dachboden, zum Dia-Projektor
und dem Geheimnis, das er birgt. Und ihr gehört auch die Einstellung, mit der Andrew Haigh "45 Years" beendet
- einen ruhigen, klugen, genau beobachtenden, berührenden und niemals kitschigen Film über die Liebe und die
Zumutungen, die sie mit sich bringen kann.
Bewertungen der rbb-Kritiker
Fabian Wallmeier, rbb online
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Hannelore Heider, Antenne
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Stephan Karkowsky, Radioeins
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Carsten Beyer, Kulturradio
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Patrick Wellinski, rbb online
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Ula Brunner, rbb online
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Andreas Kötzing, rbb online
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"Ixcanul Volcano" | Wettbewerb
Hinter dem Vulkan
"Ixcanul" ist ein doppeltes Debüt: Es ist der erste guatemalische Wettbewerbsfilm, der jemals auf einer
Berlinale gezeigt wurde, und zugleich der erste Spielfilm von Regisseur Jayro Bustamante. Er handelt von
einer jungen Maya-Frau, die den beengten Verhältnissen ihres Lebens entfliehen will. Eine authentisch erzählte Geschichte, die trotz einiger dramaturgischer Schwächen überzeugt. Von Ula Brunner
Eine Kaffeplantage im Hochland von Guatemala: Hier lebt die 17-jährige María (María Mercedes Coroy) zusammen mit ihren Eltern, Kakchiquel-Maya, am Fuße des Vulkans Ixcanuls. Die Familie ist arm, es sind einfache, naturverbundene Leute. Die Arbeit auf der Plantage, ein paar Schweine, Hühner - man kommt über die Runden.
Von Anfang an nimmt sich Regisseur Jayro Bustamante viel Zeit, um uns mit dieser abgeschiedenen Welt und
den Menschen, die dort leben, vertraut zu machen. Immer wieder verweilt die Kamera bei den täglichen Verrichtungen: Tortillas backen, den Haarschmuck anlegen, den Vulkan mit Opferkerzen für ein gutes Gelingen bitten.
Nahe Einstellungen dominieren, zeigen einen unaufgeregten Alltag, dessen Routinen sich aus den Notwendigkeiten des Überlebens ergeben. Es ist ein vorhersehbares Dasein mit begrenzten Perspektiven, hier am Fuß des Vulkans. Beschränkt durch Armut, den Mangel an Bildung, die Tradition, die Sprache und die räumliche Isolation.
Ein anderes Leben
Aber die Familie ist stabil, und María, das einzige Kind, wird von ihrer Mutter (María Télon) zärtlich umsorgt.
Trotz der Armut wächst sie in einer behüteten, liebevollen Atmosphäre auf. Eigentlich könnte das alles so weiter
gehen und vielleicht sogar ein bisschen besser werden, denn Ignacio, Witwer mit drei Kindern, will María heiraten.
Der Mann ist Verwalter der Plantage, eigentlich eine gute Partie, er spricht sogar Spanisch und nicht nur das regionale Kaqchikel. Doch María will ihn nicht heiraten. Sie sehnt sich nach einem anderen Leben - auch wenn sie
gar nicht genau weiß, wie das aussehen könnte. "Wie ist es eigentlich auf der andere Seite des Vulkans", fragt sie
einmal ihre Mutter. Und die antwortet nur: "Dort ist es kalt."
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Eine Lüge mit Folgen
Pepe (Marvin Coroy), der mit María auf der Plantage arbeitet, zieht es nach Amerika. Dort, irgendwo jenseits der
Berge, ist alles besser, dort gibt es "Dollars". Damit er sie mitnimmt, verführt ihn María. Aber Pepe geht heimlich,
ohne sie. Maria bleibt schwanger zurück. Alle Versuche, den Fötus mit Kräutertees und Beschwörungen abzutreiben, scheitern. Die junge Frau wird das Baby austragen, die Heirat mit Ignacio wird abgeblasen.
Doch als María von einer giftigen Schlange gebissen wird, bringt Ignacio die Hochschwangere ins Krankenhaus
der nächsten Stadt. María wird gerettet. Ihr Kind sei tot, gestorben durch das Schlangengift, übersetzt ihr Ignacio
die Worte der spanischen Ärztin. Er hat gelogen, doch das wird María erst später erfahren.
Dichtes Porträt mit dokumentarischer Kraft
"Ixcanul" erzählt von der gescheiterten Hoffnung einer jungen Frau, ihr Leben selbst zu gestalten. Und so beginnt und endet der Film mit der gleichen Einstellung: María wird von ihrer Mutter für die Hochzeit geschmückt.
Zwar wirkt die Geschichte dramaturgisch etwas unausgereift: Sehnsucht, Liebe, Betrug, Lüge, eigentlich die emotionalen Triebkräfte des Films, werden zu beiläufig verhandelt. Und trotzdem ist das Porträt dieser jungen indigenen Frau und ihrer Familie erfrischend authentisch und von großer dokumentarischer Kraft.
Das ist zum einen den ausdrucksvollen Protagonistinnen María Mercedes Coroy und María Télon zu verdanken,
die, man glaubt es kaum, zum ersten Mal vor der Kamera standen. Die Laiendarsteller stammen aus der indigenen Community in Panajachel, wo auch der Film spielt. Regisseur Jayro Bustamante wuchs ebenfalls in Guatemala in der Region der Kakchiquel-Mayas auf. Bustamante und seine Schauspieler wissen also, wovon sie erzählen.
Und das ist in jeder einzelnen Filmminute spürbar.
Bewertungen der rbb-Kritiker
Ula Brunner, rbb online
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Hannelore Heider, Antenne
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Stephan Karkowsky, Radioeins
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Carsten Beyer, Kulturradio
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Anna Wollner, Fritz
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Fabian Wallmeier, rbb online
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Patrick Wellinski, rbb online
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Anke Sterneborg, Kulturradio
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Knut Elstermann, Radioeins
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Andreas Kötzing, rbb online
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Harald Asel, Inforadio
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
"Journal d'une femme de chamber" (Diary of a Chambermaid) | Wettbewerb
Karikaturen statt Charaktere
Der französische Regisseur Benoit Jacquot, der vor zwei Jahren mit "Leb wohl, meine Königin" die Berlinale eröffnen durfte, präsentierte 2015 mit "Tagebuch einer Kammerzofe" seinen neuesten Film. Es ist wieder ein historisches Thema - Léa Seydoux alleine aber kann diesen sprunghaften Film nicht retten. Von
Andreas Kötzing
Es gibt Filme, bei denen man sich noch Jahre später an eine bestimmte Einstellung erinnern kann, weil man die
Bilder nicht vergisst. Oder an eine Dialogzeile, die so treffend ist, dass man gleich die ganze Szene vor Augen hat.
In Benoit Jacquots "Tagebuch einer Kamerzofe" gibt es nur wenig nachhaltige Einstellungen und erst recht keine
bleibenden Dialoge - wenn überhaupt, dann wird man sich später an ein Geräusch erinnern: das penetrante Klingeln einer kleinen Glocke, mit der Madame Lanlaire nach ihrer Kammerzofe Célestine (Léa Seydoux) ruft.
Es ist eigentlich kein Klingeln, sondern mehr ein schrilles Pfeifen, wie bei einem alten Teekessel. Im Film erklingt
es rund ein Dutzend Mal - und es symbolisiert die Überheblichkeit der bourgeoisen Elite gegenüber ihren Angestellten. Egal ob es ums Kochen, die Wäsche, den Garten oder die frivolen Gelüste des Hausherrn geht - für alles
ist hier die Kammerzofe zuständig. Doch wie lange wird sie sich die Schikanen noch gefallen lassen?
Ideenlose Verfilmung
Als Octave Mirbeaus satirischer Roman "Tagebuch einer Kammerzofe" im Jahr 1900 erschien, sorgte er für Furore. Mirbeau kritisierte offen die Dekadenz des wohlhabenden Bürgertums und entlarvte zugleich dessen Ignoranz gegenüber den sozialen Problemen am Ende des 19. Jahrhunderts. Der Roman wurde bereits mehrfach verfilmt, unter anderem von Jean Renoir, der den Stoff 1946 etwas abgemildert und mit Happy End inszenierte. Luis Buñuel verlegte in seiner Version aus dem Jahr 1964 die Handlung in die späten 1920er Jahre und rückte dabei die politische Radikalisierung der Gesellschaft in den Mittelpunkt.
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
Jacquot belässt den Stoff hingegen im späten 19. Jahrhundert. Die Kostüme, die Kulissen und die Ausstattung
erinnern an klassische Historienfilme, allerdings gelingt es dem Film nicht, seine Handlung zu einer stringenten
Erzählung zu verdichten. Handwerkliche Spielereien (hier eine ruckartige Kamerafahrt auf ein Gesicht, dort eine
abrupte Blende) machen den Film sehr unruhig, und auch die Handlung springt bisweilen unmotiviert hin und her.
Da gibt es eine Episode, in der Célestine kurzzeitig in einem anderen Haushalt anheuert und sich dort um einen
todkranken Jungen kümmert. Sie verliebt sich in ihn, aber gleich beim ersten Sex stirbt er und die Episode ist
schon wieder vorüber. Irgendeine Bedeutung für die weitere Handlung hat das alles nicht, und als Zuschauer
bleibt man daher nicht nur in dieser Szene ratlos zurück.
Figuren am Rande der Karikatur
Dass am Ende des Films ein unbestimmtes, leeres Gefühl überwiegt, liegt nicht zuletzt daran, dass die einzelnen
Figuren viel zu überzeichnet sind. Sie sind Karikaturen, aber keine Charaktere, mit denen man sich identifizieren
könnte. Die grotesken Überspitzungen, die Jacqout aneinander reiht, mögen für den Moment unterhalten - einen
ganzen Film tragen sie nicht.
Nur Léa Seydoux gelingt es, in der Rolle der Célestine so etwas wie Empathie oder Mitgefühl hervorzurufen, alle
anderen Figuren bleiben unnahbar. In Seydouxs Augen spiegelt sich die ohnmächtige Wut, die sich langsam aufstaut, wenn Madame schon wieder mit ihrem Glöckchen nach ihr klingelt. Aber die Kraft, die von ihren Blicken
ausgeht, kann den Film allein nicht retten.
Bewertungen der rbb-Kritiker
Andreas Kötzing, rbb online
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Christine Deggau, Fernsehen
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Fabian Wallmeier, rbb online
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Silke Mehring, radioBERLIN
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Carsten Beyer, Kulturradio
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Steffen Prell, rbb Fernsehen
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Patrick Wellinski, rbb online
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Knut Elstermann, Radioeins
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Harald Asel, Inforadio
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"Victoria" | Wettbewerb
Der unerwartete Triumph des Sebastian Schipper
Sebastian Schippers "Victoria" besteht aus einer einzigen, 140 Minuten langen Szene ohne Schnitte. Er
zeigt die Stunde vor und die Stunde nach einem Banküberfall in Berlin-Mitte. Ein Wagnis, das in jeder Hinsicht aufgegangen ist – und ein großer Glücksfall für das deutsche Kino. Von Fabian Wallmeier
Am Anfang ist alles weiß. Wir hören elektronische Musik, dann sehen wir stroboskopisch zuckendes Licht und
können zunächst nur Schemen ausmachen. Ganz langsam stellt sich die Kamera scharf und wir sehen in Nahaufnahme das Gesicht einer jungen Frau, die in einem Club tanzt. Victoria (Laia Costa) heißt sie, eine Spanierin, die
seit Kurzem in Berlin lebt. Die Kamera wird sie in den kommenden 140 Minuten verfolgen, Victoria nur hier und
da aus dem Blick verlieren. Und vor allem: Sie wird die ganzen 140 Minuten lang auf ihre Protagonisten gerichtet
sein, in Echtzeit und ohne eine einzige Unterbrechung.
"Victoria" besteht nur aus einem einzigen Take, also einer einzigen Kameraaufnahme, ganz ohne Schnitt. Das
war schon vorab als große Besonderheit des Films angepriesen worden. Formale Strenge in einem deutschen
Wettbewerbsfilm – das kam einem doch bekannt vor. Genau: Erst im vergangenen Jahr zeichnete sich Dietrich
Brüggemanns - ausgerechnet für das beste Drehbuch mit einem Silbernen Bären geehrter - Film "Kreuzweg" dadurch aus, dass er aus 14 Szenen bestand, die jeweils ohne Schnitt und fast alle auch ohne Kamerabewegung
auskamen. Leider stellte sich all das als ziemlich fragwürdiger Gimmick heraus, der vor allem Schwächen in den
Dialogen überdeckte. Dessen Grundidee, das selbst auferlegte Martyrium einer erzkatholischen Jugendlichen mit
den Stationen des Kreuzwegs gleichzusetzen, ging bei näherer Betrachtung vorne und hinten nicht auf.
"We're not zugezogen, you know – we're real Berliners"
Nun gibt es bei "Victoria" erneut einen formalen Gedanken, dem sich der Film unterzuordnen hat. Doch Befürchtungen, man könnte es wieder mit einem "One-Trick-Pony" zu tun haben, bläst der Film vollständig beiseite. Victoria lernt in diesem Club beim Rausgehen ein Gespann von vier etwas prolligen Freunden kennen, die sich nur
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
mit Spitznamen anreden: der smarte und charmante Wortführer Sonne (Frederick Lau), der glatzköpfige, vor unterschwelliger Aggression vibrierende Boxer (Franz Rogowski), Blinker (Burak Yigit), der sein langes Haar mit einem roten Haarreifen bändigt, und der schon bald über seine Grenzen hinaus betrunkene Fuß (Max Mauff). Die
vier beginnen auf Victoria einzureden. Sie sind bis zum Anschlag voll mit Testosteron und Alkohol, balzen und
prahlen um die Wette – und überreden Victoria schließlich mitzukommen.
Schon lange gab es im deutschen Film keine so authentisch wirkenden Dialoge mehr. Schipper hat seine Schauspieler viel improvisieren lassen – und der Mischmasch aus Alder-Dicker-Chill-mal-Deutsch und Pidgin English
klingt tatsächlich so, wie man ihn nachts in der U-Bahn hört. "We're not zugezogen, you know – we're real Berliners", verkündet Sonne halb stolz, halb ironisch.
Den größten Applaus bekommt der Kameramann
Während die fünf unter Vollspannung durch Berlin-Mitte torkeln, sich immer wieder neu gruppieren, bleibt die
Kamera mal hier, mal da. Und in diesem großen Hin und Her schafft es Kameramann Sturla Brandth Grøvlen immer wieder, spontan aus der Situation heraus neue Perspektiven zu eröffnen, zusätzliche Bewegungen entstehen
zu lassen, die fünf in ein neues Licht zu tauchen. Es passiert nicht oft, dass bei einer Pressekonferenz der Jubel
besonders laut aufbraust, wenn der Kameramann vorgestellt wird. In diesem Fall war es so – vollkommen zurecht,
denn was er hier geleistet hat, ist in seiner Kraft, seiner Reaktionsfähigkeit und seinem Einfühlungsvermögen
schlicht atemberaubend.
Bei dem spätnächtlichen Durch-die-Stadt-Torkeln bleibt es nicht. Schipper gibt schon ziemlich früh im Film einen
Verweis darauf. Während die fünf in bester Partystimmung in ein Hinterhaus laufen und die Treppen hoch bis
aufs Dach steigen, hören wir nicht mehr den Originalton der Szene, sondern ein schwermütiges, zerfranztes
Stück Musik. Sie lässt erahnen: Etwas Dramatisches wird passieren. Nicht jetzt, aber irgendwo bahnt sich Unheil
an.
Von der Großstadtsause zum Genre-Film
So kommt es auch: Boxer saß mal wegen Körperverletzung im Knast und stand dort unter dem Schutz seines
Mithäftlings Andi (André M. Hennicke). Der will nun an diesem Abend entlohnt werden: Boxer soll eine Bank überfallen, und zwar jetzt gleich, denn Andi weiß, dass ein Kunde dort am frühen Morgen eine größere Geldsumme in
Empfang nehmen soll.
"Victoria" entwickelt sich von der testosterongeschwängerten Großstadtsause erst zum Liebesfilm und mit Boxers Ankündigung zum Genre-Film: Es geht nun darum, von jetzt auf gleich den Überfall zu planen. Und Victoria
wird mit hineingezogen: Weil Fuß mittlerweile komplett weggetreten ist, muss sie das Fluchtauto fahren. Erst zögert sie, weil immer offensichtlicher wird, dass sie in ein Verbrechen verwickelt wird, auch wenn die Jungs das
Ganze herunterzuspielen versuchen. Laia Costa dabei zuzuschauen, wie sie einen Adrenalin-Kick bekommt, alle
Bedenken über Bord wirft und sich ins Abenteuer stürzt, ist eine wahre Wonne.
Kein makelloser Film - und deshalb ein Glücksfall
Nichts, aber auch gar nichts hat darauf hingedeutet, dass Sebastian Schipper mit seinem vierten Film ein solcher
Triumph glücken würde: nicht "Mitte Ende August" (2009), sein leidlich geglückter Versuch, Goethes "Wahlverwandtschaften" mit den filmischen Mitteln der Berliner Schule nach Brandenburg zu verlegen. Nicht sein verblüffend schlecht gealtertes Debüt "Absolute Giganten", das 1999 als Rettung des deutschen Kinos gefeiert wurde.
In Wahrheit aber ist es ein eher fades Buddy-Movie mit müden Kalauern. Und schon gar nicht der wiederum eine
Männerfreundschaft zelebrierende "Ein Freund von mir" (2006), eine läppisch-uninspirierte Komödie mit Daniel
Brühl und Jürgen Vogel.
"Victoria" ist kein makelloser Film. An manchen Stellen macht er es sich etwas zu leicht: Wenn etwa Victoria, mit
Sonne auf der Flucht vor der Polizei, in einem Hotel dem Concierge eine Geschichte auftischt, um auch ohne Pa-
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piere ein Zimmer zu bekommen, sehen wir nur ihre Ankündigung. Während sie das Zimmer klar macht, bleibt die
Kamera bei Sonne. Aber wäre er ein makelloser Film, dann wäre er nicht dieses ungeheure Wagnis, dann wäre er
vielleicht nicht so ein seltener Glücksfall für das deutsche Kino.
"Victoria" hat jeden Preis der Berlinale verdient
Es gibt mehr große Momente in "Victoria" als in diese Rezension passen, aber ein paar müssen hier erwähnt
werden: die wunderbar leichte, einen unerwarteten Augenblick trauriger Selbstbesinnung heraufbeschwörende
Sequenz, in der Sonne und Victoria in dem Café, wo eigentlich gleich ihre Schicht beginnt, am Klavier sitzen. Oder wenn Sonne nach dem Besuch auf dem Dach im Fahrstuhl scherzhaft zur Ruhe aufruft: "Germans don't talk
on elevators. It's forbidden." Und natürlich der umwerfende Schluss des Films, der noch tragischer ist, als die unheilschwangere Musik es ankündigen konnte.
Es fällt schwer, eine Auszeichnung aus dem Portfolio der Berlinale zu benennen, die "Victoria" nicht verdient hätte. Laia Costa als Darstellerin, Frederick Lau als Darsteller, Kameramann Sturla Brandth Grøvlen, CoDrehbuchautor und Regisseur Sebastian Schipper: Sie alle haben hier Herausragendes geleistet – und nicht nur
der diesjährigen Berlinale den bisher kraftvollsten Film beschert, sondern dem Festival insgesamt den besten,
gewagtesten, gewaltigsten deutschen Wettbewerbsbeitrag seit vielen Jahren.
Bewertungen der rbb-Kritiker
Fabian Wallmeier, rbb online
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Hannelore Heider, Antenne
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Carsten Beyer, Kulturradio
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Harald Asel, Inforadio
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Silke Mehring, radioBERLIN
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Steffen Prell, rbb Fernsehen
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Patrick Wellinski, rbb online
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Anke Sterneborg, Kulturradio
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Knut Elstermann, Radioeins
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Andreas Kötzing, rbb online
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Christine Deggau, Fernsehen
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"Mr. Holmes" | Wettbewerb (außer Konkurrenz)
Der andere Sherlock
Bill Condon präsentiert den großen Ian McKellen als in die Jahre gekommenen Sherlock Holmes. Der Film
spinnt die Lebensgeschichte des legendären Meisterdetektivs weiter. Sein Film kreist um Wahrheit, Erinnern und Vergessen, zugleich ist er eine liebevolle Hommage an eine literarische Figur und eine großartige
Bühne für einen großen Darsteller. Von Ula Brunner
Filmische Biografien über Berühmtheiten sind so alt wie das Kino selbst. Das Leben von großen Menschen gibt
halt meist auch einen guten Kinostoff her - selbst wenn es sich dabei um eine Romanfigur handelt. Der scharfsinnige Detektiv Sherlock Holmes, der mit seinem treuen Vasallen Watson jeden noch so kniffligen Fall löst, ist bis
heute legendär und war es bereits vor über hundert Jahren.
Sein Schöpfer, der britische Autor Conan Doyle, war selbst überrascht, wie beliebt der pfeifenrauchende Schlaukopf bei der Leserschaft war: Als er Holmes kurzerhand in einer Gletscherspalte sterben ließ, um dem permanenten Schreibdruck neuer Detektivgeschichten zu entkommen, musste er ihn auf Drängen der entrüsteten Fans sogar wieder von den Toten auferstehen lassen.
Legendenklischees und Erinnerungen
Regisseur Bill Condon setzt nun seine Geschichte da an, wo die Holmes-Geschichten enden: nach dem letzten Fall.
Und es ist nur konsequent, dass er die Romanlegende mit einer Schauspielerikone besetzt: Ian McKellen.
Der berühmte Sherlock Holmes hat sich ins Private zurückgezogen. Man schreibt das Jahr 1947. Holmes, mittlerweile 93 Jahre alt, zwar mit Gehstock, aber immer noch rüstig, lebt alleine auf seinem gepflegten Landhaus im
malerischen Sussex. Versorgt wird der grummelige Misanthrop von seiner Haushälterin, der früh verwitweten
Mrs. Munro (ganz wunderbar: Laura Linney) und ihrem Sohn Roger (ebenfalls sehr gut: Milo Parker).
In der Bevölkerung ist der prominente Mitbürger noch immer bekannt und muss hin und wieder mit den eigenen
Legendenklischees aufräumen: Nein, er rauche gar keine Pfeife und Schirmmützen findet er grässlich. Das seien
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
Erfindungen aus Büchern und Filmen über ihn. Und überhaupt: der einstige Ruhm interessiere ihn wenig. Seine
Bienen liegen ihm am Herzen, er schreibt Tagebuch. Doch mit Schrecken muss er feststellen, dass sein ehemals
messerscharfer Geist unter dem Alter gelitten hat. Und so sehr er es auch will - es fällt ihm schwer, sich an seinen letzten, seinen wichtigsten Fall zu erinnern. 35 Jahre ist das mittlerweile her, doch er lässt ihm seit langem
keine Ruhe mehr. Nur so viel weiß er noch: ein Bild, ein Handschuh, eine Biene und natürlich eine Frau spielten
darin eine Rolle.
Gutgemachter Film, großartiger Ian McKellen
Der englische Garten, das Bienenhaus, die gemütliche Landhausküche - mit warmen Farben, sorgfältig komponierten Bildern und einem zurückhaltenden Soundtrack grundiert Bill Condon die Bühne für seinen großartigen
Protagonisten. Ian McKellen, ihm gehört dieser Film in jeder Minute. Anrührend, selbstironisch, humorvoll und
sehr genau im Ausdruck verkörpert der britische Ausnahmeschauspieler einen alten Menschen, dessen stärkster
und einziger Verbündeter - sein scharfer Verstand - ihm zu entgleiten droht.
"Ich war immer alleine, aber mein Intellekt war der Ausgleich", sagt Holmes irgendwann. Doch ihn scheint er immer wieder zu verlieren. Das sekundenlange Erschrecken, als er bemerkt, dass er etwas vergessen hat, der
schnelle Blick auf seine Manschetten, auf die er sich als Erinnerungsstütze den Namen seiner Gesprächspartner
gekritzelt hat, das triumphierende Lächeln, wenn er sich wieder ganz bei sich selbst fühlt - Ian McKellen, zuletzt
als Gandalf in "Der Hobbit" im Kino, ruft hier die ganze Bandbreite seines schöpferischen Könnens ab. Wie fein
der Schauspieler differenziert, zeigt sich in den Rückblenden, in denen er den knapp 60-jährigen Detektiv auf der
Höhe seines Erfolgs gibt: glatter, selbstsicherer, arroganter, aber unverkennbar Holmes.
Was am Ende bleibt
"Mr. Holmes" ist nach "Gods and Monsters", einem Biopic über den Regisseur der "Frankenstein-Filme", James
Whales, die zweite erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Ian McKellen und Regisseur Bill Condon. Dieser hat in
"Mr. Holmes" Mitch Cullin's Roman "A Slight Trick of the Mind" adaptiert und dabei viel richtig gemacht, nicht nur
in der Wahl seiner Darsteller.
Augenzwinkernd lässt Condon seinen Film um Vergangenheit, Erinnerungen, um Fiktion und Wahrheit kreisen,
bleibt dabei aber im Kern bei der Frage, was einen Menschen eigentlich ausmacht. "Tod, Liebe, Trauer - das sind
doch alles nur Allgemeinplätze. Das einzige, was wirklich zählt ist der Verstand, die Logik", lässt er seinen Protagonisten an einer Stelle sagen. In diesem Punkt, das muss der alte Detektiv erkennen, hat er sich geirrt. Aber
Condon lässt ihn mit dieser Erkenntnis nicht allein. Er schenkt ihm eine andere, versöhnlichere, Wahrheit - und
ein richtiges Film-Happy-End.
Bewertungen der rbb-Kritiker
Ula Brunner, rbb online
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Stephan Karkowsky, Radioeins
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Andreas Kötzing, rbb online
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Anke Sterneborg, Kulturradio
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Anna Wollner, Fritz
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Harald Asel, Inforadio
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
"Knight of Cups" | Wettbewerb
Tarotkarten-Kitsch und erhabene Schönheit
Die amerikanische Regielegende Terrence Malick hat seit 1973 nur sechs Filme gemacht. "Knight of Cups"
ist der siebte. Er ähnelt in seiner rauschhaften Bildsprache und seiner assoziativen Reihung von Schwerstbedeutsamem sehr seinen jüngsten beiden Filmen – und schlägt dabei leider gewaltig über die Stränge. Von
Fabian Wallmeier
Gleich der Anfang von "Knight of Cups" ist vertrautes Terrain: Wir sehen die Erde, aus dem All, umkränzt von einem Schleier aus grünem Nebel. Dann steht ein Mann in einer kargen Gebirgslandschaft, aus dem Off raunt eine
Stimme von einer Pilgerreise ins auserkorene Land, kurz darauf geht es zurück in die Kindheit. In grobkörnigeren
Aufnahmen sehen wir Kinder im Garten schaukeln, darüber dringt die Sonne durch eine Baumkrone. Der Blick
von oben, die Rückschau auf die Kindheit, der Allumfassenheitsanspruch, der religiöse Bombast – kleiner macht
Terrence Malick es spätestens seit "The Tree of Life" nicht mehr, mit dem er 2011 in Cannes die Goldene Palme
gewann.
Worum es in "Knight of Cups" gehe, wollte in der Pressekonferenz ein Journalist von den Schauspielern wissen
(denn der notorisch medienscheue Malick ließ sich dort nicht blicken) – die Frage erntete lautes Gelächter im Saal.
Tatsächlich lässt sich nur schwer fassen, worum es in seinen Filmen jüngeren Datums eigentlich geht. Und es ist
im Grunde auch fast egal, denn diese Filme funktionieren nicht über Plots, sondern über ihre rauschhafte Bildkomposition.
"Der einzige Weg nach draußen ist nach innen"
Als Plot-Bruchstücke lassen sich aber festhalten: Rick (Christian Bale) ist ein Hollywood-Produzent, der offenbar
viel Geld verdient hat, aber trotzdem unerfüllt durchs Leben geht. Er war einmal verheiratet mit Nancy (Cate
Blanchett) und auch die Beziehung mit Elizabeth (Natalie Portman) ist gescheitert. Nur zu seinem Bruder scheint
er noch ein halbwegs intaktes Verhältnis zu haben, ein zweiter Bruder dagegen ist tot, vermutlich hat er sich umgebracht. Und der Vater, der zu Beginn aus dem Off spricht, hat schwere Narben von diesem Tod davon getragen.
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Malick erzählt das natürlich nicht chronologisch und schon gar nicht eindeutig. Rick läuft wie ein Schlafwandler
durch sein Leben und genauso auf der Grenze zwischen Traum und Wachsein ist auch die Struktur des Films. Assoziativ springt er von einer Szene in die nächste, von Ricks unglücklicher Gegenwart in die glückliche Vergangenheit. Rund 80 Prozent des Gesprochenen kommt dabei aus dem Off – sogar einige Dialoge zwischen Rick und
seinen Frauen werden mit anderen Bildern der beiden Sprechenden verschnitten. Was da aus dem Hintergrund
zu hören ist, wird niemals einfach nur gesprochen, sondern grundsätzlich geraunt, tonnenschwer mit Bedeutung
aufgeladen, auch wenn bei näherem Lauschen ganz schön viel donnerndes Nichts gesprochen wird: "Der einzige
Weg nach draußen ist nach innen." – "Dein Geist ist ein Theater." Dazu kommen immer wieder die Fragen "Wo
sind wir jetzt?" und "Wo fange ich an?" Selten folgt der gesprochene Text länger einem Gedankengang, schnell
ist er weiter gesprungen.
Malicks bekannter Mischmasch beginnt zu nerven
Malicks Hang zu einem Mischmasch aus Esoterik, Naturgewalt und donnerndem Katholizismus, der in seinem
Meisterwerk "The Tree of Life" noch seine unumstößliche Berechtigung hatte, aber schon in "To the Wonder"
(2012) ein bisschen zu viel des Guten war, fängt nun in "Knight of Cups" an zu nerven. Tarotkarten gleiten
durchs Bild und geben dem Film eine (allerdings schwer zu durchschauende) Struktur: Zwischentitel wie "Der Eremit", "Der Gehängte" oder "Der Tod" unterteilen den Film. Und auch der titelgebende "Ritter der Kelche" ist
eine Tarotkarte.
Vielleicht tut Malick nicht gut daran, die Schlagzahl seiner Filme seit 2011 so gewaltig erhöht zu haben: Zwischen 1973 (als sein Langfilmdebüt "Badlands" erschien) und 2010 brachte er es auf gerade einmal vier Filme –
seit 2011 ist "Knight of Cups" schon sein dritter. Man hat nicht den Eindruck, dass er darin viel Neues zu erzählen hat, zu sehr ähnelt der Film in seiner frei assoziativen Struktur den beiden vorangegangenen.
Bilder von atemberaubender Kraft
Doch visuell ist auch "Knight of Cups" wieder meisterlich. Emmanuel Lubezki, seit 2005 Malicks Stammkameramann, fängt Bilder von atemberaubender Kraft ein: Quallen gleiten durch ein Aquarium, Menschen gehen in Zeitlupe aneinander vorüber, die Urgewalt des Ozeans, die glänzenden Fußböden der Hochhäuser von Los Angeles,
Spiegelungen in Glasfassaden, bombastisch überladene Villen, das strahlende Blau der Swimmingpools – das alles
fängt er perfekt ein. Was Malick daraus macht, mag an manchen Stellen maßlos überzogen sein, doch kein anderer Regisseur ist dazu in der Lage, so kunstvoll Kitsch und erhabene Schönheit zu einem Bilderrausch aneinanderzureihen wie er. Und wenn man das Raunen aus dem Off als Teil des Rauschens begreift und nicht so genau
auf den Inhalt des Gesagten hört, kann auch "Knight of Cups" zwei Stunden Kinoglück bereiten.
Bewertungen der rbb-Kritiker
Fabian Wallmeier, rbb online
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Anna Wollner, Fritz
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Patrick Wellinksi, rbb online
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Stephan Karkowsky, Radioeins
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Carsten Beyer, Kulturradio
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Andreas Kötzing, rbb online
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
"El botón de nácar" (The Pearl Button) | Wettbewerb
Meer der Erinnerung
Wenn das Wasser eine Stimme und eine Erinnerung hätte, heißt es in "El botón de nácar", dann könnte es
auch von Unterdrückung und Mord erzählen. Der chilenische Film von Patricio Guzmán war der einzige Dokumentarfilm im Wettbewerb der Berlinale 2015. Ein poetischer Essay über das Verschwinden von Minderheiten in Chile, der seine Kraft aus starken Bildern bezieht. Von Ula Brunner
Ein schimmernder 3.000 Jahre alter Quader aus Quarz – das ist das erste Bild in Patricio Guzmáns neuem Film
"El botón de nácar". Aus dem Inneren dieses Blocks schillert ein einziger Wassertropfen. Im Wasser, so der Erzähler, sei die gesamte Menschheitsgeschichte enthalten, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Die See, fährt der
Kommentar fort, fängt alle Stimmen und Geschichten der Erde auf, auch die aus dem Weltraum. Wasser erhält
Impulse von den Sternen und überträgt sie auf lebende Organismen. Dazu sehen wir Wasser in allen Aggregatszuständen, wunderschön fotografiert: Ganz nah gefilmter strömender Regen, langsame Schwenks schneebedeckte Berggipfel, Hagelkörner, die über die Erde fegen, eine Fahrt entlang eines smaragdschimmernden Gletschers,
dunstig aufsteigender Nebel.
Selten hat einem dieses Element solche visuelle Genüsse verschafft, selbst das Februar-Geniesel gewinnt unter
diesem Blickwinkel eine ganz neue Qualität. Auch dass der poetische Kommentar sich vor esoterischen Gemeinplätzen nicht scheut, lässt sich da verkraften. Denn mit seinem opulenten Bilderrausch zieht uns Guzmán hinein
in seine Geschichte des Wassers, die, so der Film, auch eine Geschichte Chiles ist.
Erzählung von einem ausgerotteten Volk
Fast unmerklich verändert sich der universelle Grundton des Films zum Konkreteren hin. Die essayistischen Reflektionen über die elementare Kraft des Wassers lässt Guzmán nun in historische Ereignisse münden. Auch hier
vertraut der chilenische Regisseur auf die Kraft der Bilder. Er hat eine befreundete Künstlerin gebeten, das langgezogene Land aus Karton nachzubilden. Ausgerollt auf dem azurblau gestrichenen Fußboden blickt die Kamera
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
aus der Vogelperspektive auf die Attrappe: Chile ist umgeben von Wasser. 4.300 Kilometer Küste hat der lateinamerikanische Staat, in dessen Süden der größte Archipel der Welt liegt, Westpatagonien.
Aus dieser Einstellung heraus entwickeln sich die weiteren Erzählstränge des Films: die Ausrottung der indigenen
Bevölkerung Westpatagoniens und die Ermordung chilenischer Oppositioneller während der Militärdiktatur Pinochets. Die patagonischen Ureinwohner waren Wassernomaden, umfuhren mit ihren Kanus die zahllosen unzähligen Inseln, Felsen und Fjorde. Verblichene Schwarz-Weiß-Fotografien erzählen die Geschichte dieses Volkes, das
Ende des 19 Jahrhunderts von den Kolonisten auf brutalste Weise ausgerottet wurden. Nur zwanzig von einstmals 8.000 Ureinwohnern leben heute noch, einige von ihnen kommen im Film zu Wort. Bereits als kleines Mädchen, erinnert sich eine alte Frau, habe sie tauchen und paddeln gelernt. Sie sei auf dem Meer zu Hause gewesen
– aber das alles sei heute nicht mehr möglich.
Leichen im Meer
Guzmán selbst hat ganz andere Erinnerungen an das Meer: Ein Schulfreund von ihm sei im Meer ertrunken. An
der gleichen Stelle sei Ende der siebziger Jahre die Leiche einer Frau an Land geschwemmt worden – ein Opfer
der Militärdiktatur, weiß man heute. Auf der Isla Dawson, einst auch eine Missionarsstation für patagonische Ureinwohner, hatte das Militär Konzentrationslager errichtet, wo Oppositionelle nicht selten zu Tode gefoltert wurden. Die Leichen wurden mit Eisenschienen beschwert und im Meer entsorgt. Als die Regierung 2004 die Schienen bergen ließ, klebte auf einem Metallstück zwischen Korallen und Muscheln auch ein Perlmuttknopf, die einzige Erinnerung an das das ermordete Opfer.
Bilder für das historische Gedächtnis
"El botón de nácar" ist das thematische Pedant von Guzmáns letztem Film Nostalgia de la Luz (2010). In beiden
Dokumentationen geht es um die historische Vergangenheit und die Bedeutung der Erinnerung. "In Chile gab es
soviele Massaker. Aber in den Geschichtsbüchern kommen nur die Sieger vor. Das muss sich ändern", erklärte
Guzmán auf der Pressekonferenz der Berlinale. Sein filmischer Essay wird der Komplexität seiner Thematik sicher nicht in allen Punkten gerecht. Aber einen solchen historischen Rundumschlag will Guzmán auch gar nicht
leisten, sagt er. Er wolle mit seinem Dokumentarfilm seinen Teil zum historischen Gedächtnis seines Landes beitragen. Mit starken Bildern und eindringlichen Geschichten ist ihm das in "El botón de nácar" auf poetische Weise
gelungen.
Bewertungen der rbb-Kritiker
Ula Brunner, rbb online
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Fabian Wallmeier, rbb online
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Anna Wollner, Fritz
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"El Club" (The Club) | Wettbewerb
Sühne und Schuld
Schuld ist ein großes Wort, und die Frage, wie sie gesühnt werden kann, kennt keine leichten Antworten schon gar nicht, wenn es um sexuellen Missbrauch und Gewalt gegenüber Unschuldigen geht. Pablo Larraín
präsentiert mit "El Club" ein verstörendes und brachiales Werk. Von Andreas Kötzing
Ganz am Anfang von "El Club" zitiert Pablo Larraín die Schöpfungsgeschichte der Bibel: "Gott sah, dass das Licht
gut war. Gott schied das Licht von der Finsternis." Verheißungsvoll prangen die Worte auf der Leinwand, aber
wenn man knapp zwei Stunden später das Kino verlässt, bleibt von der Hoffnung nicht mehr viel übrig. In dieser
Geschichte gibt es kein Licht - nur Finsternis.
Versteckter Missbrauch
"El Club", der Club um den es hier geht, ist eine Art Wohngemeinschaft für ehemalige Priester. Abgeschieden leben sie in einem kleinen chilenischen Dorf, irgendwo an der Küste. Warum dürfen sie nicht mehr in ihren Gemeinden predigen? Weshalb leben sie hier? Diese Fragen drängen sich auf, als ein neuer Priester mit in die Gemeinschaft einziehen soll: Kurz nach seiner Ankunft taucht ein Mann aus dem Dorf auf, der den Neuankömmling wiedererkennt und mit schweren Vorwürfen konfrontiert. Lautstark berichtet er von sexuellen Übergriffen, die er als
Kind erdulden musste – bis plötzlich ein Schuss fällt: Der Priester tötet sich selbst, um sich den Anschuldigungen
zu entziehen.
Als ein weiterer Geistlicher in das Dorf kommt, um den Selbstmord zu untersuchen, vertuschen die anderen
Priester die Hintergründe. Doch nach und nach lüftet sich das Geheimnis, das über diesem Haus liegt. Versteckt
vor der Öffentlichkeit, aber noch immer geschützt durch die Kirche leben hier pädophile Geistliche, die sich an
Kindern vergangen haben und deswegen aus ihren Gemeinden verstoßen wurden.
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
Schleier über der Erinnerung
Wie sich der Film diesem schwierigem Thema nähert, ist bemerkenswert. Auf den blassen Bildern liegt ein eigenartiger, blau-grauer Schleier, so wie die verblassten und unterdrückten Erinnerungen sich selbst hinter den Gesichtern der Figuren zu verstecken scheinen.
Stück für Stück offenbaren sich die Abgründe, unter anderem bei den Befragungen, die Larraín in immer gleichen
Großaufnahmen inszeniert. Kaum zu ertragen, ist die selbstgerechte Uneinsichtigkeit mancher Priester. Als einer
von ihnen gefragt wird, ob er sich als Verbrecher gefühlt habe, bricht er in hämisches Gelächter aus, ohne ein
Zeichen von Reue. Mitgefühl haben die meisten von ihnen nur noch für sich selbst - und für den Windhund, den
sie aufopferungsvoll pflegen, damit er das Wettrennen gegen die Nachbarshunde gewinnt.
Brachial und Unbarmherzig
Im weiteren Verlauf entwickelt "El Club" eine verstörende Kraft, die anziehend und abstoßend zugleich ist. Die
eskalierende Gewalt, die verschwimmenden Grenzen zwischen den "Tätern" und dem "Opfer" und die wiederkehrenden Verweise auf den Missbrauch fügen sich nicht zu einem Gesamtbild – im Gegenteil. Der Film bleibt bewusst undurchsichtig und sperrig. Man kann das mögen, weil es den Zuschauern die Möglichkeit lässt, sich daran
abzuarbeiten. Man kann es aber auch irritiert ablehnen, weil die Frage nach der Schuld bei sexuellem Missbrauch
viel zu diffizil ist, um ungeklärt zu bleiben.
Bewertungen der rbb-Kritiker
Andreas Kötzing, rbb online

Hannelore Heider, Antenne
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Stephan Karkowsky, Radioeins
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Fabian Wallmeier, rbb online
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Patrick Wellinski, rbb online
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Anna Wollner, Fritz
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Carsten Beyer, Kulturradio
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
"Als wir träumten" | Wettbewerb
Zwischen Sehnsucht und Arrestzelle
Fünf Leipziger Jugendliche, kurz nach der Wende. Die Welt ist aus den Fugen geraten, alles scheint offen
und nichts unmöglich. In seinem Wettbewerbsfilm "Als wir träumten kreiert Andreas Dresen mit schmutzigen Bildern und schnellen Schnitten ein Lebensgefühl zwischen Exzess, Sehnsucht und Orientierungslosigkeit. Nur das Träumen ist dabei etwas kurz gekommen. Von Ula Brunner
Das matte Licht einer Taschenlampe, stumpfgraue Wände, erst allmählich werden Konturen erkennbar: Die erste
Szene des Films spielt in einem Kino, dem Sehnsuchtsort schlechthin. Als Dani hier endlich seinen Kumpel Mark
findet, ist es für den schon zu spät. Mark hat ausgeträumt, zu viele Drogen, Alkohol, fertig. Dresen greift diese
Szene nochmals am Ende seines Films auf, umrahmt ihn damit. Dazwischen liegt eine wilde Zeit, in der der Alltag
außer Kontrolle gerät. Die Zeit, in der Dani und seine Freunde erwachsen wurden, eine Zeit, wie die Erzählerstimme von Dani sagt, die er bis heute nicht vergessen kann.
Als die Mauer fiel
"Als wir träumten" ist voller Kraft, Wut und Gefühl, ein Drama über das Erwachsenwerden in einer Umbruchzeit,
sicher auch der schmutzigste und düsterste Film von Andreas Dresen. Der Film ist eine Adaption des gleichnamigen Bestsellers von Clemens Meyer, das Drehbuch stammt aus der Feder von Wolfgang Kohlhaase, wie auch
schon bei Dresens Filmen "Sommer vorm Balkon" (2005) und "Whiskey mit Wodka" (2009). "Als wir träumten"
spielt in Leipzig nach der Wende. Dani, Mark, Rico, Pitbull und Paul kennen sich schon von der Schulbank und der
gemeinsamen Pionierzeit in Leipzig.
Als die Mauer fällt sind sie 16, keine Kinder mehr, aber auch noch nicht erwachsen. Dani will vielleicht Reporter
werden, aber erst die Schule fertig machen, sein Freund Rico will boxen, und da gibt es noch Sternchen, das
schönste Mädchen aus der Schule. Juvenile Träume treffen auf eine Wirklichkeit, die völlig aus den Angeln gehoben wurde.
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
Vergangenheit und Gegenwart
Die Inszenierung ist ein echter Dresen: nah an den Figuren, handwerklich ausgereift, rau, atmosphärisch. Er zeigt
uns nicht ohne Komik einen Alltag zwischen Dosenbier und Polizeigewahrsam, zwischen Aufbruch und Resignation. Dicht an dicht reihen sich Momentaufnahmen einer aus den Fugen geratenen Welt: die einsame alte Frau in
ihrer verwahrlosten Wohnung, das prügelnde Ehepaar, Ricos Boxclub, die Stripperbar, in der Sternchen am Ende
landet, die wilden Nächte, die Exzesse, die Prügeleien mit der Nazi-Gang, die Freundschaft.
Immer wieder konterkariert Dresen die Gegenwart durch Rückblenden an die gemeinsame Schulzeit mit Pionierhalstüchern, Treueversprechen und sozialistischen Lippenbekenntnissen. Eine übersichtlichere und geordnete
Welt zeigt er uns hier, ein anderes, aber nicht zwangsläufig auch ein besseres Leben. Geschickt lässt er Vergangenheit und Gegenwart, Menschen und Systeme aufeinanderprallen. Dass der episodische Plot zusätzlich in eingeblendete Kapitel strukturiert ist – "Konkurrenz", "Mord in Deutschland" – wäre bei dieser inneren Erzählstringenz gar nicht nötig gewesen.
Über weite Strecken hämmert uns der Film das explosive Lebensgefühl dieser Jugendclique im Leipziger Osten
ein, lässt die nächtlichen Exzesse immer wieder in rauschhaften Autofahrten kulminieren. Niemals öffnet die Kamera den Blick auf größere Zusammenhänge, sie bleibt dicht im Hier und Jetzt. Die atemlose Montage ist
manchmal fast zu viel des Guten, weniger wäre hier mehr gewesen – auch bei der stroboskopartigen Diskoästhetik, dem wummernden Technosoundtrack und den unruhigen Reißschwenks.
Zärtlichkeit und Brutalität
Doch insgesamt ist Dresen ein eindringlicher, authentischer Nachwende- und Coming-of-Age-Film gelungen, ein
atmosphärisch stimmiger Rückblick auf eine trostlose und doch energiestrotzende Jugend, die ihren Weg und ihr
Ziel noch nicht kennt. Und dabei kommt er ganz ohne verständnisheischende Gesten und pädagogische Fingerzeige aus. Bilder von Verwahrlosung und Orientierungslosigkeit gehören ebenso zu diesem insgesamt recht düster geratenen Film wie brutale, zärtliche und sehnsuchtsvolle Momente.
Dass die titelgebenden Träume manchmal etwas zu kurz kommen im Erzählgefüge, hat vielleicht auch seinen
Grund: Zum Träumen haben diese Jungs einfach keine Zeit. Sie werden mitgerissen von der Wirklichkeit.
Bewertungen der rbb-Kritiker
Ula Brunner, rbb online
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Carsten Beyer, Kulturradio
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Fabian Wallmeier, rbb online
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Patrick Wellinski, rbb online
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Anna Wollner, Fritz
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Anke Sterneborg, Kulturradio
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Stephan Karkowsky, Radioeins
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Christine Deggau, Fernsehen
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Knut Elstermann, Radioeins
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Frauke Gust, radioBERLIN
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Silke Mehring, radioBERLIN
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Andreas Kötzing
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Hannelore Heider, Antenne
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
"Body" | Wettbewerb
Das Leben nach dem Tod in Warschau
Gibt es einen Weg zurück aus dem Jenseits? Um diese Frage kreist Małgorzata Szumowskas Film "Body",
in dessen Zentrum ein mit Mordfällen befasster Untersuchungsrichter, seine essgestörte Tochter und ihre
esoterische Therapeutin stehen. Der polnische Wettbewerbsbeitrag nähert sich dem Thema ganz ohne Pathos – und mit sachtem Humor. Von Fabian Wallmeier
Ein Mann hat sich an einem Baum aufgehängt. Die Polizei kommt, der Staatsanwalt ist auch dabei. Ein Polizist
schneidet das Seil durch, der Tote wird nicht aufgefangen, sondern fällt ungebremst auf den Boden. Dort bleibt
er gekrümmt liegen. Doch während der Staatsanwalt Anweisungen gibt, sich ein Bild von der Lage macht, steht
der Mann auf einmal auf und läuft in aller Ruhe weg.
Diese surreale, witzige Eingangsszene von Małgorzata Szumowskas Wettbewerbsbeitrag "Body" definiert das
Hauptthema des Films: die Grenze zwischen Leben und Tod. Es werden in diesem Film noch weitere Tote plötzlich wieder lebendig erscheinen – allerdings ausschließlich in Traumsequenzen. Denn Szumowska nimmt den
Glauben an wandelnde Tote, an Geister und den Kontakt mit dem Jenseits zwar ernst, macht sich ihn aber nicht
gemein.
Der Vater trinkt, die Tochter kotzt
Der Staatsanwalt (jedenfalls ist er in den Untertiteln des polnischen Films ein Staatsanwalt, während im offiziellen Programm der Berlinale von einem Untersuchungsrichter die Rede ist) Janusz (Janusz Gajos) hat vor einigen
Jahren seine Frau verloren. Ihr Zimmer in der Warschauer Wohnung hat er gelassen, wie es war, und auch ansonsten hat er den Verlust so gut es geht bei Seite geschoben. Er stürzt sich in seine Arbeit und trinkt ein bisschen zu viel.
Seine Tochter Olga (Justyna Suwała) dagegen kommt deutlich schlechter mit dem Tod der Mutter zurecht. Für
den Vater hat sie nur noch stillen Hass übrig. Vor allem aber richtet sie ihre Trauer gegen sich selbst: Der Vater
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
findet sie in ihrem eigenen Erbrochenen neben der Kloschüssel liegend - schon zum fünften Mal hat sie versucht
sich das Leben zu nehmen. Außerdem ist sie an Bulimie erkrankt und muss immer wieder in eine psychiatrische
Klinik eingewiesen werden.
In der Klinik trifft sie auf die Therapeutin Anna (Maja Ostaszewska), eine Frau, die nichts auf Äußeres gibt und
mit Schreitherapie und Aufstellungen arbeitet – Methoden, für die der Stationsleiter nur Spott übrig hat. Sie hat
vor ein paar Jahren ihren Sohn verloren und lebt nun allein mit ihrem gewaltigen Hund, der mehr mit ihr Gassi
geht als sie mit ihm. Wenn die beiden nebeneinander ausgestreckt im Bett liegen, hat er genau die Größe, die
auch ein möglicher Lebenspartner haben müsste. Vor allem aber ist Anna davon überzeugt, ein Medium, zu sein.
Mit starr nach vorn gerichtetem Blick sieht man sie am Tisch sitzen, während ihre rechte Hand hastig etwas aufs
Papier kritzelt. Es sind Briefe von Verstorbenen, die über Anna Kontakt zu ihren Hinterbliebenen aufnehmen wollen – eine Dienstleistung, für die sie schon eine kleine Anhängerschaft um sich geschart hat. Janusz dagegen will
von derlei Übersinnlichem nichts wissen, zunächst zumindest.
Können die Toten zurückkehren? Eher nicht
Der Titel des Films spiegelt sich in vielen Aspekten des Films wieder: Er steckt in den bulimischen und magersüchtigen Körpern Olgas und ihrer Mitpatientinnen, in den verstümmelten Leichen, die Janusz in seinem Beruf zu
sehen bekommt – und natürlich auch in den eigentlich toten Körpern, die irgendwie doch weiter leben und sich
einen Weg aus dem Jenseits ins Diesseits bahnen.
Małgorzata Szumowska war schon vor zwei Jahren im Wettbewerb der Berlinale vertreten, mit dem Drama
"W imię..." ("Im Namen des…") über einen schwulen Priester. Beide Filme vereint die einfache Bildsprache, die
unaufgeregte, nüchterne Erzählweise – und das Thema Religion. Allerdings ist diese im vom Thema her eigentlich
expliziter religiösen "W imię..." mehr Grundierung als Dreh-und Angelpunkt. Der Protagonist leidet darunter, seine Sexualität nicht ausleben zu können – dass er nun ausgerechnet Priester ist, wirkt vor allem als Verstärker einer zutiefst sozialkritischen Geschichte. In "Body" dagegen steht die Religion letztlich im Mittelpunkt: in Gestalt
der Frage nach der Transzendenz, einem Leben nach dem Tod.
Der Film beantwortet die Frage letztlich mit einem vorsichtigen Nein. Am (überraschend versöhnlichen) Ende ist
das Thema Transzendenz nur noch Mittel zum Zweck – und an seine Stelle ist das Weiterleben der Hinterbliebenen getreten. Szumowskas Film dürfte im Rennen um die Bären wohl keine Rolle spielen – aber als kleiner, größtenteils recht kluger Film über eine der ewigen Fragen der Menschheit macht er sich nicht schlecht.
Bewertungen der rbb-Kritiker
Fabian Wallmeier, rbb online
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Hannelore Heider, Antenne
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Harald Asel, Inforadio
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Stephan Karkowsky, Radioeins
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Andreas Kötzing, rbb online
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Patrick Wellinski, rbb online
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Christine Deggau, Fernsehen
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Anke Sterneborg, Kulturradio
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
"Pod electricheskimi oblakami" (Under Electric Clouds) | Wettbewerb
Good Bye, Lenin!
Mit "Under Electric Clouds" war der einzige russische Beitrag im Rennen um den Goldenen Bären der Berlinale. Es ist ein komplexes Mosaik der russischen Seele. Verspielt, surreal und hoch politisch. Ein Werk,
das auch Jury-Präsident Aronofsky hätte drehen können. Von Patrick Wellinski
Alles beginnt mit einer Landschaft: Ein grauer Horizont, surreale Wasserläufe, riesige Betonstelen ragen aus dem
Boden, eine melancholische Leuchtreklame verweist auf ein Hotel, das nie gebaut wurde. Und dann sind da noch
die Statuen, die verstreut aus der Gegend ragen. Eine ist von Lenin mit ausgestrecktem Arm. Er zeigt ins neblige
Nichts.
Was danach in den sehr genialen 130 Minuten folgt, ist ein Reigen an sehr traurigen Figuren, die Regisseur Alexey German Jr., in seinem nun mehr fünften Spielfilm auf- und wieder abtreten lässt. Er gliedert "Under Electric
Clouds" in sieben Kapitel und heftet sich an die Versen eines Architekten mit einem komischen Muttermal auf der
Stirn; er begleitet einen Touristenführer eines Museums, der mit Gorbatschow auf die Barrikaden ging; eine
Tochter muss das Erbe des Vaters neu ordnen und ein junger Studenten begegnet einem Freund aus der Zukunft.
Der Wunsch nach einem anderen Leben
Alle wandern sie durch diese geisterhafte Kulisse, die eine Art Fegefeuer darstellt. Hier sind sie alle gefangen,
vagabundieren zwischen russischer Vergangenheit und Gegenwart, getrieben von dem Wunsch endlich ein neues,
anderes Leben zu beginnen.
German kennt die Filmgeschichte in- und auswendig. Er zitiert hier Fellini, Bergman und natürlich das große verwöhnte Kind des Sowjetkinos Andrei Tarkowski. An seine Filme "Spiegel" und "Iwans Kindheit" fühlt man sich
hier besonders stark erinnert.
Doch wie schon in seinem Vorgängerfilm "Der Papiersoldat", in dem German einen Raumfahrt-Arzt in Baikonur
beobachtete, ist der größte Bezugspunkt das Werk von Anton Tschechow. Der ganze Figurenreigen aus "Under
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
Electric Clouds" könnte aus der Feder Tschechows stammen, denn all ihr Flehen und Trauern hat immer auch etwas herzhaft-absurdes, was German Jr. in seine mystischen Bilder bannt.
Die gespaltene russische Mentalität
Und wie bei Tschechow steckt im Absurden immer auch der Kommentar auf die aktuelle Lage. Und ja: German Jr.
hat einen hoch politischen Film gedreht. Es ist aber keine plumpe Anklage an ein wie auch immer geartetes "Putin-Russland". German Jr. gewährt uns Einblick in die unterschiedlichen Spaltungen der russischen Mentalität
und zeigt uns, dass dort eben alles seinen Platz hat: die mafiöse Gewalt aber auch die sehnsuchtsvolle Melancholie der Volkslieder, die Liebe einer Tochter zum Vater, aber auch der Gehorsam eines Soldaten zu seinem General.
Wir begreifen ganz schnell: dieses eine Russland von dem immer die Rede ist, das gibt es gar nicht.
"Under Electric Clouds" ist ein tiefer Blick in die russische Seele. Traurig, widersprüchlich, aber voller wertvoller
Erkenntnisse, die jeden politischen Leitartikel bei weitem übersteigen.
Bewertungen der rbb-Kritiker
Patrick Wellinski, rbb online
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Harald Asel, Inforadio
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Christine Deggau, Fernsehen
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Hannelore Heider, Antenne
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Anke Sterneborg, Kulturradio
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Steffen Prell, rbb Fernsehen
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Knut Elstermann, Radioeins
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Stephan Karkowsky, Radioeins
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Fabian Wallmeier, rbb online
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
"Every Thing Will Be Fine" | Wettbewerb
Kunst oder Kitsch?
Nach seiner Tanz-Doku "Pina" hat Wenders nun seinen ersten Spielfilm in 3D gedreht: "Everything Will Be
Fine". Es ist ein Männerfilm, ein Künstlerporträt und ein existenzielles Drama um Schuld, Vergebung und
Trauer. Eine sensibel erzählte Geschichte, die am Ende jedoch auch als gutes Beispiel für einen schlecht
gemachten 3D-Film in Erinnerung bleiben könnte. Von Ula Brunner
Ein kleiner Holztisch, ein aufgeschlagenes Notizbuch, eine Blechdose mit Stiften - mit dem Stillleben einer
Schriftstellerexistenz beginnt Wim Wenders seinen Film. Langsam streift die Kamera durch die kleine Hütte,
senkt den Blick auf den Autor auf einer Klappliege, untermalt von einem melancholisch schweren Soundtrack.
Jede einzelne Einstellung ist für sich genommen schön, aber das Gesamt-Arrangement schwülstig. Schnell stellt
sich hinter unseren 3D-Brillen das Gefühl ein: Hier wartet schwere Kost.
Die Zerbrechlichkeit des Daseins
In "Every Thing Will Be Fine“ hat Wim Wenders nach seiner Tanzfilm-Doku "Pina" (2011) seinen zweiten 3D-Film
gedreht. Wieder steht ein Künstler im Mittelpunkt, allerdings als fiktive Figur. James Franco gibt Tomas, einen
jungen Autor, der in einer doppelten Krise steckt. Künstlerisch geht es nach seinen ersten beiden Büchern nicht
wirklich voran, auch die Beziehung zu seiner Freundin Sara (Rachel McAdams) steht auf der Kippe.
Ständig klingelt an diesem kalten Wintertag sein Handy, als Tomas mit seinem Rover über die schneebedeckte
Landstraßen Quebecs fährt. Ein Countrysong spielt im Autoradio, die Sicht ist verhangen, plötzlich löst sich der
Schemen eines Kinderschlittens aus der Dämmerung, Vollbremsung, ein Knall.
Tomas scheint Glück gehabt zu haben: Der kleine Junge, Christopher, ist unverletzt, beide scheinen mit dem
Schrecken davon gekommen zu sein. Doch die trügerische Gewissheit endet eine Filmminuten später mit einer
einzigen Frage von Christophers Mutter Kate (Charlotte Gainsbourg): "Wo ist Nicolas?", fragt sie. Ihr zweites
Kind hat den Unfall nicht überlebt.
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
Eine Zäsur im Leben aller Beteiligten
Der Unfall bringt das Leben aller Beteiligten aus dem Schritt. Wäre er zu verhindern gewesen - wenn Kate ihre
Kinder früher nach Hause geholt hätte, Christopher besser auf seinen Bruder aufgepasst, Tomas achtsamer gefahren wäre? Hat jemand Schuld? Wie kann das Leben danach aussehen. Während des ganzen Films stehen diese
Fragen unausgesprochen zwischen den Figuren.
Der Unfall wird zur existenziellen Zäsur und zum Katalysator der weiteren Geschichte. In drei Handlungsschritten
- zwei, vier und noch einmal vier Jahre später - skizziert Wenders die Zeit danach. Kate leidet, aber das Leben
geht weiter, Christopher wächst heran. Die Beziehung zwischen Tomas und Sara zerbricht, er rettet sich in sein
Schreiben, feiert Erfolge, verliebt sich neu. In Tomas schafft Wenders auch das Porträt eines introspektiven
Künstlers. James Franco verkörpert ihn mit einer überzeugenden Mischung aus Unnahbarkeit und Charme, die
Kate so wütend macht, dass sie ihn irgendwann ohrfeigt. "Es ist schwer mit dir zu leben", sagt auch seine neue
Freundin Ann später zu ihm.
Die Zeit vergeht, aber sie führt Tomas, Kate und Christopher zirkelhaft in diesen zehn Jahren, die der Film umschreibt, immer wieder zum Ursprung ihres Schmerzes zurück. Einige wenige Male treffen sie sich. Jede Begegnung scheint sie ein wenig mehr aus ihrer Einsamkeit zu befreien.
Grenze zum Kitsch
Wim Wenders berührt in seinem Film existenzielle Themen: Schuld, Trauer, Heilung, auch Kunst. Der Erzählfluss
ist manchmal etwas zäh, aber die Ökonomie seiner Handlung ist eine der großen Stärken des Films. Sehr fokussiert, mit einem kleinen herausragenden Schauspielerensemble, ist dieser Plot komponiert.
Doch die Geschichte wird ästhetisch mit Pathos überfrachtet. Das liegt einmal am bombastischen Ton. Der Streicher-Soundtrack legt sich bleischwer über die einzelnen Szenen, der 3D-Effekt tut ein weiteres. In seinem ersten
dreidimensionalen Spielfilm hat Wenders die Möglichkeiten dieser Technologie leider komplett verschenkt. In
"Pina" hat er damit der tänzerischen Darstellung Raum, Tiefe, ja auch Lebendigkeit hinzugefügt. Davon ist in "Every Thing Will Be Fine" nichts spürbar.
Im Gegenteil: Die 3D-Szenerie wirkt wie unter einem riesigen dreidimensionalen Brennglas - überdramatisch. Dieser verkünstelte Hyperrealismus führt uns von den Figuren fort, anstatt zu ihnen hin und drängt den Film an den
Rand zum Gefühlskitsch. Und das ist schade. Denn so könnte "Every Thing Will Be Fine" vor allem als eines in Erinnerung bleiben: als gutes Beispiel für einen schlecht gemachten 3D-Film.
Bewertungen der rbb-Kritiker
Ula Brunner, rbb online
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Christine Deggau, Fernsehen
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Harald Asel, Inforadio
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Silke Mehring, radioBERLIN
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Stephan Karkowsky, Radioeins
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Patrick Wellinski, rbb online
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Hannelore Heider, Antenne
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
"Aferim" | Wettbewerb
Für eine Handvoll Taler
Wir kennen diese Bilder: Weite, tiefe Schluchten, Berge, Täler – und dann kommen da aus der Ferne zwei
Männer angeritten. Es sind klassische Westernelemente denen sich der rumänische Regisseur Radu Jude
für seinen dritten Spielfilm "Aferim!" bedient. Der Film ist ein kompromissloser Western, der die Lügen
sichtbar macht, auf denen Nationen ihre Legenden bauen. Von Patrick Wellinski
In diesem Film fehlen die Farben. Wir sehen keine rot-braunen Canyons, keine glühende Sonne, keine grünen
Sträucher und Bäume. Hier ist alles schwarzweiß. Es ist eine konsequente ästhetische Entscheidung, die gleichzeitig das Weltbild aller Figuren, die sich durch die karge Landschaft der Walachei im 19. Jahrhundert bewegen,
reflektiert.
Die beiden Männer auf den Pferden erweisen sich als Vater und Sohn. Der Vater ist ein Staatsangestellter, der
einen entflohenen Sklaven finden und ihn dann seinem rechtmäßigen Herrscher wiederbringen soll. So reiten die
beiden verschiedenen Hinweisen hinterher und reden im wahrsten Sinne des Wortes über Gott und die Welt. Der
Vater impft seinem Sohn all seine – aus heutiger Sicht – mehr als zweifelhaften Moral- und Wertvorstellungen ein,
die dieser begierig und gehorsam aufsaugt.
Filmische Ursachenforschung
Dabei müsste der Junge es eigentlich besser wissen. Denn auf ihrem Weg sehen die beiden zum Himmel schreiendes Unrecht, Gewalt und Unterdrückung. Sie begegnen Mönchen, die ihre Sklaven schlagen und foltern. Die
meisten von ihnen sind Sinti und Roma, die im Film mit abschätziger Geste entweder als Krähen oder Zigeuner
bezeichnet werden. Sie treffen einen rassistischen Priester, der eine Hasspredigt hält und uns seine zweifelhafte
Weltsicht präsentiert. Ihm zufolge sind alle Völker mit schlechten Eigenschaften belegt, nur die Rumänen leiden
und lieben Jesus. "Machen Sie es sich da nicht zu einfach, Pater?", fragt der Vater. "Nein", kommt es wie aus der
Pistole geschossen. Die Welt kann man sich halt sehr leicht zurecht lügen
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
Regisseur Radu Jude betreibt so eine intensive filmische Ursachenforschung. Er fragt, woher die Xenophobie,
der Schwulenhass, der Antisemitismus und Rassismus kommen, die sich ja nicht nur im heutigen Rumänien oder
Ungarn ausbreiten, sondern auch bei uns. Und so wird in "Aferim!" jeder Dialog - so vulgär, arrogant und verachtend, er uns erscheint - zu einem offenen Schlagabtausch über den Wert von Hierarchie, Macht und Gewalt.
Hohe Inszenierungskunst
Radu Jude gehört zu der kleinen Gruppe von rumänischen Regisseuren, die man in den letzten Jahren gerne zur
der "rumänischen Neuen Welle" zählt. Diese Filme gehen mit der jüngsten Vergangenheit ihres Landes hart ins
Gericht. Doch das ist eben nie plumpes Historienkino. Die Regisseure demonstrieren ein unnachahmliches Gespür
für filmische Formen. So sind diese Filme immer getragen von langen Einstellungen. Es gibt keine Close-Ups, weil
uns ein Gesicht in der Naheinstellung eben auch belügen kann und von den giftigen Worten ablenkt. An all diese
Regeln hält sich auch Jude in "Aferim!". Wir sehen das Unrecht und hören die Selbstgerechtigkeit der Figuren.
Und da das alles immer in einem Bild, einer Einstellung, passiert, können wir als mündige Zuschauer das ganze
Lügengemälde erfassen. Das ist – ohne Frage - Inszenierungskunst auf höchstem Arthouse-Niveau.
Und so wird die Botschaft des Films klar und deutlich: Wer Unrecht als gegeben hinnimmt und es als Teil seiner
Welt schulterzuckend duldet, der akzeptiert diese Verhältnisse, wird so selbst ein Teil von ihnen und macht sich
schuldig. Dieses mächtige Statement gießt Radu Jude in prachtvolle Bilder und ist dabei so wagemutig, am Ende
seines Werkes mit dem Finger auf uns alle zu zeigen. Denn dann fragt der Vater zynisch: "Ob sich die Welt in 100
Jahren noch an uns erinnert?" Um im gleichem Atemzug die Frage selbst zu beantworten: "Sie werden uns keine
Träne nachweinen. Sie werden vergessen, dass wir ihnen den Weg geebnet haben." Es ist einer dieser widersprüchlichen Sätze, deren bitteren Nachgeschmack man noch lange mit sich herumtragen muss.
Bewertungen der rbb-Kritiker
Patrick Wellinski, rbb online
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Anke Sterneborg, Kulturradio
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Stephan Karkowsky, Radioeins
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Andreas Kötzing, rbb online
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
"Eisenstein in Guanajuato" | Wettbewerb
Sex, Tod und Triptychon
Der russische Stummfilm-Avantgardist Sergei Eisenstein war in den 1930er Jahren zu Dreharbeiten in
Mexiko. Der Film wurde niemals fertig. Peter Greenaway hat über das gescheiterte Unterfangen einen der
rasantesten Filme des Wettbewerbs gedreht: "Eisenstein in Guanajuato" ist wild, wahnwitzig und in jeder
Hinsicht eine große Überraschung. Von Fabian Wallmeier
Schwarz-Weiß beginnt dieser Film. Wir sehen Autos durch eine sandige Gegend fahren: die Ankunft Sergei Eisensteins im mexikanischen Guanajuato im Oktober 1931. Auf einmal wird das Bild farbig, dann zieht Greenaway die
Farben wieder raus, bis es wieder schwarz-weiß ist. Ein paar Mal wiederholt er diesen Trick, manchmal nur mit
Teilen des Bildausschnitts. Hinzu kommen Split-Screens, die den Bildschirm wie ein Triptychon in drei Teile trennen. Mal ist dreimal dasselbe zu sehen, mal Variationen desselben – und mal drei völlig unterschiedliche Dinge. Es
dauert ein bisschen, bis man sich an die Filmsprache von "Eisenstein in Guanajuato" gewöhnt hat, vor allem an
ihr irres Tempo. Doch zum einen wird man durch ihren wahnwitzigen Reichtum reich belohnt – und zum anderen
bleibt sie nicht die vollen 105 Minuten Spieldauer des Films so wirr wie zu Beginn. Greenaway gönnt dem Zuschauer auch immer wieder etwas weniger hektische Passagen – und das Hin und Her zwischen Schwarz-Weiß
und Farbe gibt er nach wenigen Minuten vollständig auf, um Mexiko in seiner ganzen Buntheit zeigen zu können.
Aufgekratzt wie Roberto Benigni bei der Oscar-Verleihung
Eisenstein war tatsächlich 1931 in Mexiko, um dort einen Film zu drehen. Doch der russische Stummfilmpionier
hat "¡Que viva México!", einen Film über das Leben der Mexikaner und die Geschichte der Mexikanischen Revolution von 1910, nie vollendet - seine größte berufliche Niederlage. Der US-Schriftsteller Upton Sinclair, der wichtigste Produzent des Films, drehte ihm schließlich den Geldhahn zu, Eisenstein wurde aufgefordert, in die UdSSR
zurückzukehren. Die Dreharbeiten müssen für die damalige Zeit gigantische Ausmaße angenommen haben. Doch
all das sehen wir in Greenaways Film nicht. Nur eine einzige Szene zeigt tatsächliche Filmarbeiten: Eisenstein
fängt die Auswirkungen einer Schlammlawine ein und lässt im strömenden Regen die offenen Särge von Todes-
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
opfern filmen. Ansonsten hören wir nur Berichte von den unglaublichen Dingen, die bei den Dreharbeiten passiert
sein müssen. Greenaway konzentriert sich stattdessen ganz auf die Figur Sergei Eisenstein – und auf das von Anfang an sexuell aufgeladene Verhältnis zu seinem mexikanischen Führer Palomino Cañedo (Luis Alberti). Elmer
Bäck sieht nicht nur Sergei Eisenstein verblüffend ähnlich, sondern er erinnert mit seinem wild abstehenden Haar
auch an Roberto Benigni - und ähnlich aufgekratzt, wie der bei der Oscar-Verleihung 1999 über die Sitzreihen
nach vorne kletterte, springt auch Bäcks Eisenstein durch die Szenerie. In einem fort redet er, laut und schnell,
witzig und irrwitzig - und mit schwerem russischem Akzent. Er spricht mit Cañedo, mit sich selbst und seinem
"Señor Schwanz", unter der Dusche am Telefon mit seiner späteren Frau Pera – und mit jedem anderem, dem er
begegnet.
Selten stehen die Figuren still
Eisenstein redet über Eros und Thanatos: das Verhältnis zwischen Sex und Tod, das ihm in Mexiko an jeder Ecke
ins Auge springt, über die Russen und ihre Schuhe, über die Unterschiede zwischen Europa und Mexiko, über seine Filme und über seine Erlebnisse bei seinen Reisen durch Europa und die USA. Er lässt die Namen von einer
Geistesgröße und sonstigen Prominenz nach der anderen fallen – und währenddessen blitzen im Split-Screen
teilweise nur für Sekundenbruchteile ihre Bilder auf. Und wann immer die Rede von seinem revolutionären Film
"Panzerkreuzer Potemkin" ist, rasen aufgeteilt auf die drei Teile des Bild-Triptychons die bekanntesten Einstellungen des Films vorbei. Die schnelle Schnittfolge, die Greenaway durch Split-Screen und Einblendungen im Hintergrund auch innerhalb einer Einstellung einsetzt, korrespondiert mit dem sonstigen Tempo des Films. Selten
stehen die Figuren still, oft laufen sie im Kreis um Tische oder Eisensteins Bett im Hotelzimmer – und wenn sie
sich einmal nicht bewegen, dann ist zumindest die Kamera in Bewegung. Vielleicht hätte Eisenstein seine Filme
auch so gedreht, wenn die Kameras damals schon so beweglich gewesen wären.
"Zehn Tage, die Eisenstein erschütterten"
Greenaway begleitet Eisenstein nicht über den ganzen Zeitraum seines Mexiko-Abenteuers, sondern nur während der ersten zehn Tage – und setzt sie parallel zu den zehn Tagen der Oktoberrevolution von 1917, der Eisenstein mit dem Film "Oktober" ein Denkmal setzte. "Zehn Tage, die die Welt erschütterten" – so wurde der Film
damals im Westen genannt – und Greenaways Film zeigt nun die "zehn Tage, die Eisenstein erschütterten", ein
Zitat, das am Anfang und am Ende des Films steht. Wichtige Teile von "Eisenstein in Guanajuato" spielen in der
Hotelsuite des Regisseurs, in die das Licht meist nur von unten dringt, durch das mattierte Glas, mit der das eiserne Bodengerüst gekachelt ist. Im Zentrum des symmetrisch aufgebauten Films steht eine Sexszene: Eisensteins Entjungferung durch Cañedo in seinem Hotelbett. Auch sie vergleicht Greenaway mit der Russischen Revolution – auf drastische und sehr witzige Weise. Sex, Tod und Kunst sind seit jeher Kernthemen von Peter Greenaway. Dass er ihnen aber im Alter von 72 Jahren mit "Eisenstein in Guanajuato" noch einmal einen so frischen,
wilden und komischen Film abringen würde, ist eine der schönsten Überraschungen des diesjährigen Wettbewerbs.
Bewertungen der rbb-Kritiker
Fabian Wallmeier, rbb online
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
"Yi bu zhi yao" (Gone with the Bullets) | Wettbewerb
Spiel es noch einmal, Mr. Ma Zouri
2014 war die Berlinale ein Triumph-Ort für das chinesische Kino. Gleich drei der Hauptpreise gingen an
Filmemacher aus der Volksrepublik. Der diesjährige chinesische Wettbewerbsbeitrag "Gone with the bullets" jedoch ist ein schräges und sehr verzichtbares Zerrbild der Filmgeschichte. Stellt sich nur die Frage:
Was soll das? Von Patrick Wellinski
Für diesen Film braucht es mehr als nur eine Gebrauchsanweisung. Hier ein Versuch: "Gone with the Bullets" hat
eine Vorgeschichte. Es ist nämlich ein Sequel zu "Let the Bullets fly" aus dem Jahr 2010, der nicht nur zu einem
überraschenden Festivalhit wurde, sondern in China zu einem der erfolgreichsten Filme der jüngeren Leinwandgeschichte. Damals erzählte Regisseur Wen Jiang von einer kleinen Verbrecherbande, die sich im Shanghai der
1920er Jahre durch die Gegend gaunerte. Es war ein Film mit großem Unterhaltungswert. Doch in China kam
noch eine Deutungsebene hinzu, die für unsere westlichen Augen verschlossen blieb. Denn die chinesischen Kinogänger lasen in dem Werk einen politischen Subtext heraus, der aus Wen Jiang einen subversiven Regimekritiker machte.
Ob das jetzt auch für "Gone with the Bullets" gilt? Das lässt sich vielleicht wieder nur mit einem chinesischen
Blick sagen. Mit dem westlichen Blick sieht man folgendes: Wieder spielt der Film 1920 in Shanghai. Wir folgen
einem gerissenen, aber sehr ungleichen Gaunerduo. Der Kleinkriminelle Ma Zouri macht mit einem Polizeikommissar gemeinsame Sache. Sie haben es auf Geldwäsche abgesehen. Doch zuerst wollen sie die gesamte Schickeria Shanghais in einem sehr prunkvoll inszenierten Schönheitswettbewerb ablenken. Als eine Außenseiterin den
Wettbewerb gewinnt, fallen plötzlich die Masken. Plötzlich werden Allianzen und Bündnisse sichtbar, die keiner –
am wenigsten wir – geahnt hat.
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
Viel Glamour, wenig Substanz
Wen Jiang versteht es die große Leinwand zu füllen. Der Schönheitswettbewerb ist so übertrieben in Szene gesetzt, dass selbst ein Kostümfetischist wie Baz Luhrmann sich die Augen reiben würde. Doch wirklich unterhaltsam ist der Film nicht. Spätestens in der zweiten Hälfte wirkt der Plotverlauf mit seinen vielen Szenen- und Handlungswechseln unbeholfen und naiv. Es gibt zwar einen sehr temporeichen Drogentrip bei dem Ma Zouri seine
Freundin umbringt, doch wirkt dieser so, als würde die Idee aus einem anderen Film stammen.
Womit wir schon beim Thema Fälschung und Kopie wären. Denn Wen Jiang kopiert (zitieren kann man das nicht
mehr nennen) quasi die gesamte Filmgeschichte. Das beginnt schon mit einer 1:1-Übertragung der berühmten
Eröffnungseinstellung aus Francis Ford Coppolas "Der Pate" und geht dann weiter über "Casablanca" zu "Die
Lady aus Shanghai". Das ist brachial. Das ist irgendwie auch dreist, weil recht herzlos. Aber vielleicht ist das ja
auch schon wieder so eine hoch subtil versteckte Kritik an den derzeitigen Machthabern. Wie gesagt, der westliche Blick erkennt es nicht. Das ist schade um die vielen tollen Stars aus dem chinesischen Kino, die hier durch die
Manege getrieben werden wie die Löwen - und dabei kaum einen Moment haben, um sich zu orientieren oder zu
glänzen.
Vielleicht fasst das am besten ein Zitat des leider vergessenen deutschen Filmkritikers Gunther Groll zusammen:
"Ein Werk mit viel Stars und viel Gepränge. Allein: Sie verlieren sich in der Menge."
Bewertungen der rbb-Kritiker
Patrick Wellinski, rbb online
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Hannelore Heider, Antenne
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
"Elser" | Wettbewerb (außer Konkurrenz)
Widerstand wider Willen
Georg Elser versuchte im Alleingang Hitler zu stoppen. Sein Attentat scheiterte. Was trieb diesen Mann
aus einfachen Verhältnissen zu seiner Tat? Der deutsche Wettbewerbsfilm "Elser" zeigt die unterschiedlichen Gesichter dieses Menschen und präsentiert ein facettenreiches Zeit- und Charakterporträt, das weitgehend ohne Heldenpathos auskommt. Von Ula Brunner
Er war einer unter vielen. Aber er handelte, als andere schwiegen. Georg Elser, ein schwäbischer Schreiner, wollte Adolf Hitler und die NS-Führungsriege stoppen. Am 6. November 1939 zündete er eine selbstgebastelte Bombe unter Hitlers Rednerpult im Münchner Bürgerbräukeller. Der minutiös ausgetüftelte Plan scheiterte: Die Explosion tötete acht Menschen, der Reichskanzler jedoch überlebte - Hitler hatte das Podium eine Viertelstunde
früher verlassen als geplant.
In der deutschen Erinnerungskultur steht Georg Elser bis heute im Schatten der Stauffenberg-Attentäter. Er hoffe, dass Elser durch seinen Film "nun endlich die Würdigung erhält, die ihm gebührt", erklärte Regisseur Oliver
Hirschbiegel nach der Präsentation seines Wettbewerbsbeitrags auf der diesjährigen Berlinale. Thematisch ist
Hirschbiegel vom Fach: Bereits in "Der Untergang" (2002) über die letzten Tage Hitlers im Führerbunker und
dem Fernsehfilm "Ein ganz normaler Jude" (2005) hatte er sich mit der NS-Zeit und ihren Folgen beschäftigt.
Nun also ein verkannter Widerstandskämpfer. Doch Entwarnung: Wer ein in Pietät gegossenes Heldenporträt befürchtet, wird von "Elser" zum Glück positiv enttäuscht.
Man muss machen, was richtig ist
Das Attentat selbst ist lediglich der Ausgangspunkt des Films. In Großaufnahme sehen wir in der ersten Einstellung, wie Elser (Christian Friedel) mit blutverschrammten Händen hastig die Dynamitstangen unter dem Pult verstaut und den Zeitzünder scharf macht. Einige Filmminuten später ist er bereits verhaftet. Die Verhöre beginnen.
Die Story ist mit der Montage von Verhörszenen und Rückblenden recht konventionell, aber in sich schlüssig in
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
Szene gesetzt. Kripo-Chef Arthur Nebe (Burghart Klaußner) und Gestapo-Chef Müller (Johann von Bülow) können nicht glauben, dass Elser alleine gehandelt hat. Mit Drohungen, Schlägen und Folter versuchen sie aus ihm
die Mittäter und Hintermänner herauszupressen. Doch Elser hat alleine gehandelt: "Ich wollte durch meine Tat
ein noch größeres Blutvergießen verhindern", erklärt er gegenüber Nebe, der seinen Ohren nicht trauen will. "Ich
war ein freier Mensch. Man muss machen, was richtig ist. Wenn der Mensch nicht frei ist, stürzt alles ein."
Hallodri, Frauenheld, Überzeugungstäter
Leichthändig, in Momentaufnahmen und langen Kameraeinstellungen, zeichnet Hirschbiegel die Entwicklung eines Mannes nach, der sich selbst als unpolitisch bezeichnet, hin zum politischen Attentäter: Der charmante Wandergeselle 1932 am Bodensee, der einen Schlag bei den Frauen hat und nichts anbrennen lässt. Der pflichtbewusste Sohn, der auf Wunsch seiner Mutter in sein schwäbisches Dorf zurückkehrt, wo mittlerweile schon die
NSDAP-Plakate an der Friedhofsmauer kleben. Seine Liebesgeschichte zur verheirateten Elsa (Katharina Schüttler), die an jenem folgenschweren Abend beginnt, als die NSDAP stärkste Partei im Reichstag wird. Die Begeisterung für die NS-Ideologie infiltriert die dörfliche Bevölkerung. Jüdische Mitbürger werden denunziert, sein KPDFreund Schurr (David Zimmerschied) zur Zwangsarbeit verurteilt. Irgendwann beschließt Elser zu handeln.
Der Plot ist sehr fokussiert und atmosphärisch dicht erzählt, ein handwerklich gelungener Genre-Mix aus Romanze, Widerstandsdrama, Heimatfilm und facettierter Charakterstudie. "Elser – Er hätte die Welt verändern können"
heißt es im Untertitel zu Hirschbiegels Drama. Dass sein Protagonist niemals zur Helden-Schablone verkümmert,
verdankt sie ihrem großartigen Darsteller. Christian Friedel ist der stärkste Joker in diesem Film. Sehr nuanciert
gibt er den Widerstandskämpfer wider Willen. Sein Elser hat viele Gesichter - stur, gequält, verliebt, verschmitzt –
und wir glauben ihm jedes dieser Gesichter. Er ist Hallodri, Frauenheld, Überzeugungstäter, aber immer auch nur
ein ganz normaler Mensch.
Bewertungen der rbb-Kritiker
Ula Brunner, rbb online
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Hannelore Heider, Antenne
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Silke Mehring, radioBERLIN
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Stephan Karkowsky, Radioeins
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Andreas Kötzing, rbb online
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Anke Sterneborg, Kulturradio
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Harald Asel, Inforadio
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
"Vergine giurata" (Sworn Virgin) | Wettbewerb
Von der Frau zum Mann und wieder zurück
Mark ist eine so genannte "vergine giurata", eine "geschworene Jungfrau". Eigentlich heißt er Hana und ist
ein Mädchen, doch ein Onkel macht Hana zu seinem Sohn Mark, dem zweiten Mann im Haus. Der Preis für
das Mehr an Freiheit und Macht ist hoch. Regisseurin Laura Bispuri ist ein beachtlicher Debütfilm mit einer noch beachtlicheren Hauptdarstellerin gelungen. Von Fabian Wallmeier
Wir sind in der schroffen Berglandschaft Albaniens. Es ist kalt und verschneit. Eine Ziege wird gebändigt – und
die Hauptfigur des Films legt ihren Kopf auf das Fell und nennt sie sanft "meine Schöne". Als Mark wird uns diese
Figur vorgestellt, obwohl man sich beim Zuschauen eigentlich sicher ist, dass sie viel zu weibliche Züge hat, um
ein Mann zu sein. Das Gesicht hat zu weiche Formen, die Stimme ist zu hoch.
Doch die italienische Regisseurin Laura Bispuri lässt die Zuschauer erst einmal allein mit ihren Irritationen. Mark
bleibt Mark – und erst im weiteren Verlauf erfahren wir seine Geschichte: Mark wurde eigentlich als Hana geboren. Nach dem Tod ihrer Eltern kam sie zu Onkel, Tante und Nichte Lila.
Einen Sohn hat der Onkel nicht – und da kommt ihm gerade Recht, dass Hana so zupackend ist, dass sie schnell
mit einem Gewehr umzugehen lernt. Also muss Hana sich die Brüste abbinden und fortan Männerkleidung tragen.
Der Onkel schießt in die Luft, um dem Dorf zu signalisieren, dass er nun einen Sohn hat. Es folgt ein Initiationsritus, in der Hanas Zöpfe fallen und sie einen Schwur ablegen muss: Die ewige Jungfräulichkeit ist der Preis, den
sie für das Mannsein zahlen muss. Fortan ist sie Mark.
"Dann musst du wohl ein lesbischer Transvestit sein"
Der Film springt immer wieder zwischen den Zeiten hin und her. Etwa zur Hälfte spielt er (zu unterschiedlichen
Zeiten) in Albanien, die andere Hälfte ist (in einer chronologischen Erzählung) in Mailand angesiedelt. Hierhin ist
Lila vor langer Zeit gezogen, um etwas aus ihrem Leben zu machen. Und hierhin macht sich auch Mark auf – und
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
steht plötzlich vor Lilas Tür. Lila ist irritiert, reagiert zunächst schroff, denn die beiden sind nicht im Guten auseinander gegangen, als sie sich vor 14 Jahren zum letzten Mal trafen.
Mark trägt die Haare kurz und über den mit Bandagen plattgedrückten Brüsten extra weite Hemden. Lilas Tochter Jonida ist irritiert und ein bisschen genervt von ihm. Einmal fragt sie, ob er schwul sei. Nein, antwortet Mark
knapp. Dann müsse er wohl ein lesbischer Transvestit sein, mutmaßt Jonida. Wieder verneint Mark.
Laura Bispuri lässt es an dieser Stelle damit beruhen. Sie vermeidet einfache Antworten, lässt das Gespräch an
dieser Stelle enden und schneidet in die nächste Szene. Daran tut sie gut, denn Marks Geschichte ist keine lineare,
keine einfache und keine vorbestimmte, von Anfang an eindeutige. Erst ganz langsam erwacht in ihm der lange
verdrängte Wunsch, wieder Hana zu sein – und der Mut, die ersten Schritte dafür zu tun.
Die perfekte Körperlichkeit
Mark begleitet Jonida immer wieder zum Synchronschwimmtraining. Die auf perfekte Körperlichkeit getrimmten
Menschen und das Selbstbewusstsein, mit der diese Körper im Schwimmbad zur Schau gestellt werden, hinterlassen einen tiefen Eindruck auf Mark. Besonders der Bademeister Bernard (Lars Eidinger) fällt ihr immer wieder
in die Augen. Er wird zum entscheidenden Faktor in Marks oder vielmehr Hanas Selbstfindung, fernab von jeder
Romantik.
Der Film läuft zu keiner Zeit Gefahr, seine Geschichte einer Emanzipation zu verkitschen. Alba Rohrwacher spielt
Mark/Hana mit zarter Zurückhaltung und schafft dabei ein eindringliches Porträt, das sie zu einer Favoritin für
den Darstellerpreis machen dürfte. Die Handkamerabilder, die selbst die Totalen der albanischen Bergkulisse
immer ein bisschen verwackelt erscheinen lassen, bilden nüchtern das Geschehen ab. Und Laura Bispuris ist klug
genug, um im richtigen Moment aus einer Szene herauszugehen. "Vergine giurata" ist sicherlich kein Meisterwerk, aber ein mehr als beachtliches Langfilmdebüt – und vor allem ein eindringliches Plädoyer für die sexuelle
Selbstbestimmung.
Bewertungen der rbb-Kritiker
Fabian Wallmeier, rbb online
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Harald Asel, Inforadio
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Christine Deggau, Fernsehen
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Stephan Karkowsky, Radioeins
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Knut Elstermann, Radioeins
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Hannelore Heider, Antenne
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Patrick Wellinski, rbb online
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
"Cha và con và" | Wettbewerb
Eine Liebe in Saigon
Der vietnamesische Wettbewerbsbeitrag "Cha và con và" (Unsere sonnigen Tage) von Regisseur Phan
Dang Di spielt in den 90er Jahren in Saigon. Hier verliebt sich der junge Vu in seinen Mitbewohner Thang.
Eine atmosphärische Inszenierung, wobei die einzelnen Charaktere allerdings etwas kurz kommen, meint
Ula Brunner
Schon in der ersten Einstellung des Films lenkt Regisseur Phan Dang Di mit der Kamera unseren Blick. Es schein,
als wären wir Passagiere dieses Bootes, das sehr langsam den Saigon-Fluss entlang tuckert. Am Ufer stehen einfache Holzhäuser, auf Pfähle gesetzt. Er nimmt sich viel Zeit für diese Fahrt, bis das Boot an einem dieser Häuschen anlegt. Vus Vater steigt aus, er ist gekommen, um seinen Sohn zu besuchen..
Der vietnamesische Wettbewerbsbeitrag "Cha và con và" spielt in den Neunzigerjahren in Saigon, oder genauer
gesagt Ho-Chi-Minh-Stadt. Vu lebt gemeinsam mit seinen Freunden in einer Art Hausgemeinschaft in den Slums
am Stadtrand. Sein Vater hat ihm einen neuen Fotoapparat mitgebracht. Er hat so viel gekostet, sagt er "wie
zwei Tonnen Reis." Das Leben ist teuer in Saigon, erfahren wir, während der Vater eine große Frucht für das gemeinsame Essen zerteilt. In beiläufigen Gesprächen zieht uns Phan Dang Di hinein in den Alltag dieser jungen
Männer. Sie sind jung, haben kaum Geld, lassen sich treiben. Einzig Vu scheint ein Ziel vor Augen zu haben, er will
Fotografie studieren. Dass sein Vater in seinem heimatlichen Dorf schon eine Verlobte ausgesucht hat, übergeht
er stillschweigend an diesem Nachmittag. Denn er ist in Thang verliebt, seinen Mitbewohner.
Sexuell aufgeladenes Lebensgefühl
Es ist Ende der Neunzigerjahre in Vietnam, eine Zeit des wirtschaftlichen Umbruchs, und der Film stürzt sich
förmlich in den rastlosen Alltag seiner jungen Protagonisten, jenseits von Metropolenglanz und Wohlstand. Traditionelle Werte und Familiengründung sind für sie keine Option. Einer von ihnen hat sich bereits gegen gutes Geld
sterilisieren lassen im Rahmen eines Regierungsprogramms zur Eindämmung des Bevölkerungswachstums. Hier
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
in den Slums lebt man von der Hand in den Mund, als Straßenmusiker oder als Bartänzerin, vom Verkauf von Süßigkeiten in den Cafés und Garküchen oder vom Dealen. In dichten Momentaufnahmen beschreibt der Film ein
sexuell aufgeladenes Lebensgefühl, geprägt vom täglichen Existenzkampf, von Gewalt, Drogen, Alkohol – und einer vagen Sehnsucht.
Figuren bleiben uns fremd
Regisseur Phan Dang Di, der bereits mit "Bi, Dung So!" (Don't Be Afraid, Bi, 2010) internationale Preise gewonnen hat, gehört einer neuen Generation von Filmemachern in Vietnam an. Er hat selbst als junger Student in den
90er Jahren in Saigon Film studiert. Phan Dang Di kennt die Stadt, und er versteht es, atmosphärisch zu inszenieren. Etwas weniger Geschick beweist er bei seinen Figuren. Die Bildkompositionen setzen auf das Gesamtensemble und lassen den Einzelcharakteren häufig nur wenig Raum. Dadurch bleiben sie uns über weite Strecken
des Films eigentümlich fremd.
Das gilt auch für Vu und seine Gefühle für Thang. Erst nach der ersten Hälfte des Films, wenn man es fast nicht
mehr erwartet, deuten Blicke und Gesten die erotische Spannung zwischen den beiden jungen Männern an. Nach
einem Überfall müssen sie in Vus Heimatdorf im Mekong-Delta fliehen. Hier, in den sumpfig-grünen Mangrovenwäldern, kommt es auch zum ersten Mal zum Sex zwischen Vu und Thang, heimlich beobachtet von Vus künftiger
Braut. In dieser zweiten Filmhälfte wechselt der Film von seiner direkten, sehr sinnlichen Bildsprache mehrmals
auf eine symbolische Ebene. Die Natur, der undurchsichtige Dschungel werden zur Gefühlsmetapher: Nachdem
Vu und Thang besoffen übereinander hergefallen sind, blickt die Kamera aus der Vogelperspektive auf einen am
Waldboden gekrümmten schlammverschmierten nackten Körper – ein kunstvoll inszeniertes Sinnbild von Verwirrung und Scham.
"Cha và con và" von Phan Dang Di ist alles in allem ein bildstarker Film über eine Stadt, über Liebe, Sex, und ein
Jung-Sein ohne Plan und Rückversicherung. Mit diesem Sujet ähnelt er übrigens zwei weiteren Ensemblefilmen
des Wettbewerbs: Sebastian Schippers "Victoria" und Andreas Dresens "Als wir träumten". Drei Filme, drei Geschichten, drei Städte. Mindestens einer von ihnen sollte einen Bären mitnehmen können – nach Saigon, nach
Berlin oder nach Leipzig.
Bewertungen der rbb-Kritiker
Ula Brunner, rbb online
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Fabian Wallmeier, rbb online
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Stephan Karkowsky, Radioeins
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Hannelore Heider, Antenne
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Carsten Beyer, Kulturradio
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Harald Asel, Inforadio
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Patrick Wellinski, rbb online
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Anna Wollner, Fritz
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Knut Elstermann, Radioeins
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
"Cinderella" | Wettbewerb (außer Konkurrenz)
Von Mäusen und Mädchen
Es ist ein schöner Bogen, mit dem der Wettbewerb der 65. Berlinale zu Ende geht. Das DisneyAnimationsmärchen "Cinderella" gewann 1951 bei der ersten Berlinale-Ausgabe den Goldenen Bären in der
Kategorie Musikfilm. Kenneth Branaghs Neuauflage des Märchens beschließt den 65. Wettbewerb – außer
Konkurrenz, dafür mit einem Star-Ensemble. Von Anna Wollner
Es ist ein wahrer Klassiker der Filmgeschichte, den der britische Regisseur Kenneth Branagh hier auf die Leinwand bringt: Die Geschichte von Aschenputtel aka Cinderella, einem jungen Waisenmädchen, das von ihrer
Stiefmutter und den Stiefschwestern gemobbt wird. Dank ein wenig Magie wird sie geradewegs in die Hände von
"Prince Charming getrieben, und bekommt am Ende ein Königreich. Es ist genau die Geschichte, von der kleine
Mädchen träumen.
Es ist ein wahrer Klassiker der Filmgeschichte, den der britische Regisseur Kenneth Branagh hier auf die Leinwand bringt: Die Geschichte von Aschenputtel aka Cinderella, einem jungen Waisenmädchen, das von ihrer
Stiefmutter und den Stiefschwestern gemobbt wird. Dank ein wenig Magie wird sie geradewegs in die Hände von
Prince Charming getrieben, und bekommt am Ende ein Königreich. Es ist genau die Geschichte, von der kleine
Mädchen träumen.
Klassischer Ausstattungsfilm
Da rückt der Auftritt von Helena Bonham Carter als gute Fee fast schon in den Hintergrund. Allerdings ist sie diejenige, die in wenigen Minuten und mit einem einzigen Zauberstab-Schwingen aus der grauen Maus eine Prinzessin macht - inklusive Kürbis-Kutschen, Eidechsen als Diener, Gänsen als Kutscher und der Verwandlung von Mäusen zu Pferden für den nächtlichen Ausflug zum Ball. Die Verwandlung des Kürbisses sieht dabei mit Drehungen
und sprühenden Goldfunken aus wie der in Zeitlupe rückwärts abgespielte Berlinale-Trailer.
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
Klassischer Ausstattungsfilm
Da rückt der Auftritt von Helena Bonham Carter als gute Fee fast schon in den Hintergrund. Allerdings ist sie diejenige, die in wenigen Minuten und mit einem einzigen Zauberstab-Schwingen aus der grauen Maus eine Prinzessin macht - inklusive Kürbis-Kutschen, Eidechsen als Diener, Gänsen als Kutscher und der Verwandlung von Mäusen zu Pferden für den nächtlichen Ausflug zum Ball. Die Verwandlung des Kürbises sieht dabei mit Drehungen
und sprühenden Goldfunken aus wie der in Zeitlupe rückwärts abgespielte Berlinale-Trailer.
"Be kind and have courage" – "Sei freundlich und mutig" betet Cinderella fast mantrahaft vor sich her, wiederholt die Worte ihrer verstorbenen Mutter und übersteht so die Misshandlungen der Stief-Familie. Mehr Mut hätte
man sich auch von Kenneth Branagh gewünscht, denn dann wäre die Cinderella-Neuauflage vielleicht ein bisschen weniger konventionell ausgefallen. Aber so hat die Berlinale 2015 ihr ganz eigenes Happy End.
Bewertungen der rbb-Kritiker
Anna Wollner, Fritz
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Fabian Wallmeier, rbb online
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Stephan Karkowsky, Radioeins
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Christine Deggau, Fernsehen
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Carsten Beyer, Kulturradio
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Steffen Prell, Fernsehen
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Patrick Wellinski, rbb online
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Frauke Gust, radioBERLIN
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Knut Elstermann, Radioeins
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Silke Mehring, radioBERLIN
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
"Chasuke's Journey (Ten no chasuke)" | Wettbewerb
Der Himmel über Okinawa
In "Ten no chasuke" schickt ein Drehbuchautor, der im Himmel das Leben der Menschen schreibt, einen
Gesandten auf die Erde, um den Tod einer Frau zu verhindern. Der schnallt sich unten Engelsflügel um und
wird als Wunderheiler zur Berühmtheit. Der japanische Regisseur Sabu hat einen herrlich überdrehten Film
in den Wettbewerb geschickt, der leider am Ende in den Kitsch abrutscht. Von Fabian Wallmeier
Der Himmel ist eine Dampfsauna. In gelbes Licht getaucht und in weiße Gewänder gehüllt sitzen dort Drehbuchautoren, links und rechts einer auf dem Boden ausgebreiteten Papierrolle. Wie besessen schreiben sie die Geschichten der Menschen. Es geht dort oben im Wolkendampf so zu, wie man sich die Arbeit in einem Writers'
Room einer amerikanischen Fernsehserie vorstellt: Man streitet leidenschaftlich über Plots, diskutiert über die
Figuren, wünscht sich mehr Avantgarde – und pfuscht sich hier und da aus unterschwelliger Missgunst gegenseitig ins Handwerk.
Jeder dieser Autoren ist für seine eigene Figur zuständig. Und als Kansukes Figur Yuri (Ito Ohno) überraschend
stirbt, weil ein Kollege sie von seiner Figur mit dem Auto überfahren lässt, schickt er Chasuke (Ken'ichi Yatsuyama), der die Himmelsautoren mit Tee versorgt, auf die Erde um sie zu retten. Chasuke springt und landet unsanft
mitten in einem Straßenfest in Okinawa.
Mit Engelsflügeln zum Wunderheiler
Er kämpft sich durch die engen Gassen und Höfe, stellt fest, dass er noch etwas Zeit hat bis zu Yuris geplantem
Todeszeitpunkt - und trifft nach und nach auf Menschen, die er aus seinem Job über den Wolken kennt: Figuren,
deren Leben er aus den Debatten und schließlich den Niederschriften der Drehbuchautoren kennt. Doch nach
und nach merkt er auch: Irgendjemand hat es auf ihn abgesehen, es scheint, als änderten die Schreiber oben die
Geschichten ihrer Figuren als Reaktion auf seine Intervention.
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BERLINALE 2015: REZENSIONEN DER RBB-KRITIKER
Chasuke findet auch Yuri - und wird mit ihr gemeinsam vom Auto überfahren. Im Krankenhaus ist er für die Ärzte
klinisch tot, doch da für einen vom Himmel Gesandten andere Regeln gelten, steht er auf und zieht traurig durch
die Stadt, in der festen, aber, wie sich später herausstellt, falschen Überzeugung, Yuri nicht gerettet zu haben. Er
findet ein Paar Engelsflügel, schnallt sie sich um und trifft prompt auf einen Jungen im Rollstuhl. Chasuke geht
auf ihn zu, hebt seine Hand, es regnet Glitzerschuppen (Schnee sieht anders aus) - und der Junge steht auf.
Per Youtube und Twitter macht die Wunderheilung schnell die Runde, bald stehen die Leute Schlange bei Chasuke. "Ich rette die Menschen davor, schreckliche Drehbücher zu leben", erklärt er. Chasuke heilt sie alle - und kotzt
ihnen dabei immer wieder vor die Füße, weil seine Gabe an seinen Kräften zehrt. Außerdem ist da noch der
merkwürdige Cop mit dem weiß angemalten Gesicht, der ihm nach dem Leben trachtet - und die eigene irdische
Vergangenheit, die ihn nach und nach einholt.
Ein Engel kommt auf die Erde - da denkt man natürlich sofort an "Der Himmel über Berlin" - doch "Ten no Chasuke" hat mit dem tonnenschweren Film von Wim Wenders ansonsten kaum etwas gemeinsam. Sabu setzt seinen
irrwitzigen Plot, basierend auf seinem eigenen Romandebüt, mit so prall-bunten wie poetischen Handkamerabildern in Szene. Oft ist er dabei auch nah an der Grenze zum Kitsch, zum Beispiel, wenn die Engelsflügel im Sonnenlicht gleißen.
Filmzitate von Cassavetes bis Cameron
Doch Sabu gleicht das aus mit einer Menge Humor, großer Lust am Fabulieren und am plakativ-ironischen Einbauen von direkten und Filmzitaten: Die Töpferszene aus "Ghost" bekommt etwa genauso ihren Platz wie Gena
Rowlands' Mantel aus John Cassavetes' "Gloria" und die ausgebreiteten Arme von Leonardo "Ich bin der König
der Welt" di Caprio am Bug von James Camerons "Titanic".
Ganz am Ende holt ihn dann doch noch der Kitsch ein. Der "Und die Moral von der Geschicht'"-Epilog gibt "Ten no
chasuke" am Ende einen unnötig pathetischen Anstrich, der nicht zum Rest des Films passen will. Als bunter, liebevoller und einfallsreicher Spaß funktioniert er bis dahin nämlich ziemlich gut.
Bewertungen der rbb-Kritiker
Fabian Wallmeier, rbb online
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Stephan Karkowsky, Radioeins
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Knut Elstermann, Radioeins
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Harald Asel, Inforadio
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Patrick Wellinski, rbb online
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Hannelore Heider, Antenne
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Impressum
Rundfunk Berlin-Brandenburg rbb,
vertreten durch seine Intendantin Dagmar Reim
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