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5/2010
12. JAHRGANG
ISSN 1439 9660
Deutschland Euro 6,80
I Österreich Euro 7,80 I BeNeLux Euro 7,90 I Schweiz sfr. 13,50
Das Jahresheft
Das neue Gesicht
des Nahen Ostens
Wer 2010 wichtig war
und wen wir im Blick behalten
www.zenithonline.de
INHALT
10. Januar
Ägyptens Geheimdienstchef
Omar Suleiman trifft sich
mit US-Außenministerin
Hilary Clinton. WikileaksVeröffentlichungen des
Gesprächs zeigen:
Suleiman führt in Ägypten
schon die Amtsgeschäfte
Seite 27
2. Februar
Der palästinensische
Ministerpräsident
Salam Fayyad spricht
auf der »HerzliyaKonferenz« in Israel.
Für viele Palästinenser
ein Schlag ins Gesicht
Seite 34
2010
JANUAR
12. Februar
Hamas-Führer
Khaled Mashaal warnt in
einem Interview, der
nächste Krieg mit Israel
werde sich nicht auf den
Gazastreifen beschränken –
diesmal werde die gesamte
Region beteiligt sein
Seite 46
18. Februar
Die israelische Tennisspielerin Shahar Peer
qualifiziert sich für das
Halbfinale des
WTA-Turniers in Dubai
Seite 50
15. Februar
Dubais Polizeichef
Dhahi Khalfan
Tamim benennt
medienwirksam
elf Verdächtige im
Mordfall des
Hamas-Funktionärs
Mahmud al-Mabhuh
Seite 50
19. Februar
Mohammed El-Baradei
kehrt nach Ägypten
zurück und macht
seitdem der Elite um
Präsident Mubarak
schwer zu schaffen
Seite 27
25. Februar
Der libysche Staatschef
Muammar al-Gaddafi
ruft zum Dschihad gegen
die Schweiz auf. Die
Sippe des »Bruder Führer«
führt nicht erst seit dem
Minarett-Bauverbot in der
Alpenrepublik einen Kleinkrieg mit den Eidgenossen
Seite 66
27. Februar
»Twilight«-Star Anna
Kendrick ist für den
Oscar als beste
Nebendarstellerin
nominiert. Auf der
Oscar-Gala trägt
sie eine Robe des
libanesischen
Designers Elie Saab
Seite 56
28. Februar
Die armenische
Archäologin
Hourig Sourouzian
findet den kolossalen
Kopf des Pharaos
Amenhotep III.
Seite 51
FEBRUAR
>>
zenith überreicht ...
... allen Abonnenten ein Sonderheft zum Jahreswechsel.
Wer veränderte den Nahen Osten im Jahr 2010? Und wer wird auch
in Zukunft eine Rolle spielen?
»Macht« ist die Fähigkeit, Dinge zu verändern, Einfluss auszuüben
und anderen Menschen seinen Willen aufzuzwingen. Gemessen an der
reinen Macht müssten in diesem Heft allerhand Könige, Präsidenten
und Militärs vorkommen – nicht zu vergessen die Manager milliardenschwerer Staatsfonds. Aber haben die Mächtigen den Nahen Osten
im zurückliegenden Jahr tatsächlich verändert? Haben sie ihre Macht
genutzt, um Impulse zu setzen und etwas in Gang zu bringen?
Das zenith-Jahresheft ist kein Präsidentenalbum und erhebt auch
keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es ist ein durchweg persönlicher
Rückblick unserer Autoren und Redakteure auf Menschen, die uns
aufgefallen und begegnet sind und dabei einen Eindruck hinterlassen
haben: Strategen, Modemacher, Milliardäre, Schauspieler, Künstler,
Denker – sogar ein Koch und eine Schönheitskönigin.
Letztere heißt Rima Fakih und ziert den Titel dieses Heftes – schließlich
hat auch ein seriöses, politisch-kritisches Orient-Magazin einmal jährlich
Anrecht auf ein echtes Covergirl. Sie wurde im Mai 2010 zur ersten
arabischstämmigen »Miss USA« gekrönt – und galt der rechten Boulevard-Presse gleich als Agentin der Hizbullah. Ob wir von Rima noch
etwas hören werden, ist nicht sicher. Aber das absurde Theater, das diese
an und für sich so harmlose Misswahl provozierte, lässt hoffen: Es kann
nächstes Jahr nur besser werden. (S. 44)
Wenn wir das Verhältnis zwischen dem Orient und der westlichen Welt
verstehen wollen, brauchen wir Forscher von solchem Format:
Gernot Rotter, Fred Halliday, Mohammed Arkoun, Shmuel Eisenstadt
und Nasr Hamid Abu Zaid. Alle fünf starben 2010. Mit ihnen ist eine
Ära zu Ende gegangen. (S. 63) Wer ihnen nachfolgt? zenith wird Sie dazu
auf dem Laufenden halten.
So vielschichtig wie der Nahe Osten ist, so bunt ist auch die Mischung
der Personen in diesem Jahresheft. Einige Gesichter kennt man schon
bei uns, andere werden nicht lange auf sich warten lassen. Allen gemein
ist, dass ihre Strahlkraft auch über die Grenzen des Nahen Ostens hinaus
wirkt – einer Region, die noch fremd sein mag, die uns aber auch 2011
immer näher rücken wird.
zenith 5/2010
03
INHALT
7. März
Der Irak wählt ein neues
Parlament. Fast neun Monate
danach bestätigt Staatschef
Talabani den bisherigen
Ministerpräsidenten
Nuri al-Maliki erneut im
Amt. Für die Regierungsbildung hat Maliki 30 Tage
Zeit
Seite 60
1. April
Der schiitische
Geistliche Hasan
Musa al-Saffar
fordert einen
Ehrenkodex, der
Regeln für den
Umgang zwischen
Sunniten und
Schiiten in SaudiArabien etabliert
Seite 60
2010
MÄRZ
22. April
In Dubai läuft der erste
große, in den Emiraten
produzierte Kinostreifen
mit Alexandra Maria Lara
an – manche Szenen
wurden gekürzt, dennoch
gilt »City of Life« von
Ali Mostafa als besonders
heiß und kritisch
Seite 22
10. März
Premierminister Yousaf
Raza Gilani verkündet,
der pakistanische
Geheimdienstchef werde
vorerst im Amt bleiben.
Eigentlich sollte
Ahmad Shuja Pasha
dieses Jahr in Rente
gehen
Seite 36
26. April
Fred Halliday erliegt
einem Krebsleiden.
Der irische NahostWissenschaftler
war bekennender
Sozialist und
irritierte mit seinen
undogmatischen
Urteilen so manchen
Weggefährten
Seite 65
zenith 5/2010
5. August
Rachid Agouray, Chefkoch
des frisch renovierten Luxushotels »La Mamounia« in
Marrakesch, präsentiert sein
persönliches Rezept für eine
Lamm-Tajine im französischen Fernsehen
Seite 37
9. Juni
Gernot Rotter stirbt.
Der Hamburger
Professor wurde zum
Vorbild einer ganzen
Generation deutscher
Islamwissenschaftler
Seite 63
MAI
5. April
Noha Atef beginnt ihr
Master-Studium »Social
Media« in Großbritannien.
Mit ihrem Blog, das Folter
in Ägypten protokolliert, hat
sie bereits mehr als genug
praktische Erfahrung
gesammelt
Seite 26
04
16. Mai
Rima Fakih wird zur
schönsten Frau Amerikas
gekürt. Die erste arabischstämmige Miss USA
könnte das schiefe Bild
muslimischer Frauen ein
wenig gerade rücken
Seite 44
27. April
Salva Kiir Mayardit
wird in einer Wahl
als Präsident der
autonomen Region
Südsudan bestätigt.
Mit dem
kommenden
Referendum könnte
er auch Staatschef
eines unabhängigen
Südsudans werden
Seite 41
APRIL
2. Juli
Leyla Piedayesh schickt
ihre Models für ihr Label
»Lala Berlin« während der
Berlin Fashionweek auf den
Laufsteg. Seitdem werden
immer mehr Promis mit
der lässigen Mode gesichtet
Seite 38
JUNI
31. Mai
Zehn türkische
Aktivisten der
»Gaza-Hilfsflotte«
werden von
israelischen
Kommandosoldaten
getötet. Im neuen
»Tal der Wölfe«Kinofilm, der
die Ereignisse
aufgreift, spielt
Necati Sasmaz
die Hauptrolle
Seite 20
3. Mai
Der Startschuss für
Samih Sawiris‘ FünfSterne-Superior-Hotel
»The Chedi« fällt im
Schweizer Kanton Uri.
Es soll 2013 eröffnet
werden
Seite 28
JULI
AUGUST
5. Juli
Der Ägypter
Nasr Hamid Abu Zaid
stirbt an den Folgen einer
Meningitis. In den 1990er
Jahren musste der
Professor seine Heimat
wegen seiner kritischen
Schriften zum Islam
verlassen
Seite 64
10. Juni
Mir Hossein Musavi
sagt die Demonstration
zum Jahrestag der Wahlen
von 2009 im Iran ab.
Ist die »Grüne Revolution«
am Ende?
Seite 41
15. August
Der ehemalige
saudische
Arbeitsminister
Ghazi al-Gosaibi
stirbt. Er war nicht
nur Politiker
sondern auch Poet.
Vielleicht werden
seine indizierten
Gedichte nun
veröffentlicht
Seite 42
14. September
Der algerische Philosoph
Mohammad Arkoun
stirbt. Als sich noch niemand damit beschäftigte,
setzte er schon den
politischen Islam in Bezug
zur Globalisierung
Seite 64
1. September
Auf dem Filmfestival
von Venedig wird
»Miral« präsentiert.
Alexander Siddig
spielt diesmal weder
einen Terrorpaten
noch einen Scheich
mit Säbel, sondern
einen Pazifisten
Seite 19
10. November
Die libanesische Dichterin
und Journalistin
Joumana Haddad
präsentiert in Deutschland
ihr neues Buch »Wie ich
Scheherazade tötete –
Bekenntnisse einer
zornigen arabischen Frau«
Seite 61
18. September
In Afghanistan beginnen
die Parlamentswahlen.
Nach einer Auszählung von
zweieinhalb Monaten jubelt
Abdullah Abdullah der
Oppositionspolitiker und
Ex-Herausforderer
von Präsident Karzai
Seite 33
17. September
Die Ausstellung
»Zukunft der Tradition
– Tradition der
Zukunft« eröffnet im
Haus der Kunst in
München. Die
libanesische
Modeschöpferin
Milia Maroun
präsentiert dort
ihre Arbeiten
Seite 12
28. September
Der palästinensische
Philosoph Sari Nusseibeh
erhält in Berlin den
Siegfried-Unseld-Preis 2010
für sein Engagement im
Friedensprozess
Seite 43
SEPTEMBER
OKTOBER
8. September
Israels Regierung
genehmigt 1300 neue
Wohneinheiten für
Juden in Ost-Jerusalem.
Durch Immobilien
will der jüdischamerikanische Investor
Irving Moskowitz
die Stadt erobern
Seite 10
2. September
Der berühmte
israelische Soziologe
Shmuel Eisenstadt stirbt.
Vielen galt er als Max
Weber der Gegenwart
Seite 65
11. November
Die ägyptische
Autorin
Miral al-Tahawy
wird für den
»International
Prize for Arab
Fiction« nominiert.
Die Auszeichnung
wird 2011 vergeben
Seite 55
27. September
Die iranische Band
Kiosk veröffentlicht ihr
viertes Album »Triple
Distilled – Live at
Yoshi’s«. Frontmann
Arash Sobhani tourt
mit seinen Kollegen in
neun Tagen durch
zehn Städte
Seite 48
17. September
Die ehemalige MTVModeratorin
Kristiane Backer stellt
in Hamburg ihr Buch
»Islam als Weg des
Herzens« vor.
Als alternative Heldin
der Konvertiten in
Europa wird sie nun
wieder prominent
Seite 30
29. November
Israels Premier
Benjamin Netanjahu
designiert
Tamir Pardo zum Chef
des Auslandsgeheimdienstes. Als erstes
muss der neue
Mossad-Chef die
Verbindungen
zwischen dem Iran
und Nordkorea
aufdecken
Seite 36
NOVEMBER
29. Oktober
Der Sydney Morning Herald
enthüllt, dass Truppen des
aufstrebenden afghanischen
Warlords Matiullah Khan
heimlich in Australien
trainiert werden. Matiullah
gilt als Krimineller – und
Nato-Verbündeter
Seite 32
1. Oktober
Zaha Hadid gewinnt
den renommierten
englischen »Stirling
Prize«. Die begehrte
Architekturauszeichnung erhielt
sie für das 150 Millionen
Dollar teure MAXXI
in Rom
Seite 16
26. November
In Kairo wird der
»Freedom to Create Prize«
verliehen. Die libanesische
Installationskünstlerin und
Autorin Zena al-Khalil
ist unter den Nominierten
für den Hauptpreis
Seite 54
24. November
Der palästinensische
Milliardär Munib al-Masri
kehrt von einer delikaten
Mission in Gaza zurück.
Er sollte einen Deal
zwischen den verfeindeten
Gruppen Fatah und Hamas
aushandeln
Seite 06
zenith 5/2010
05
Fotos: Daniel Gerlach
In seiner Villa in Nablus
sammelt der Milliardär Masri
europäische Kunstschätze.
Im Mittelpunkt steht eine
Herkules-Figur aus Kreta.
»Auch unsere Vorfahren
kamen über das Mittelmeer«,
sagt der Palästinenser.
06
zenith 5/2010
GEGENSPIELER
MUNIB AL-MASRI, 76, PALÄSTINA
Der Alte
vom Berg Gerizim
Er ist der reichste Mann des Westjordanlands:
Munib al-Masri – Großinvestor, Kunstliebhaber und Patriarch.
Immer wieder heißt es, er kann Premierminister oder
Präsident werden, wenn er es nur will. Aber was führt Palästinas
Rockefeller tatsächlich im Schilde?
Von Daniel Gerlach
Große Fürsten haben Dichter, die ihre Güte
preisen. Auf dem Festbankett, das an diesem
Herbstabend in Nablus stattfindet, schlüpft ein
Professor der Geschichte in diese Rolle. »Dieser
Palast steht auf Jahrtausenden menschlicher Zivilisation«, schwärmt der Experte mit Ton und
Gestik eines Opernbaritons. »Darunter ruht –
vollständig erhalten und zu besichtigen – ein
Feuertempel aus der Bronzezeit und eine byzantinische Kapelle. Und sehen Sie nur die Kuppel: geschaffen nach den Plänen des Palladio
von Venedig!«
Durch diese Renaissance-Kuppel hallt nun
anerkennender Applaus. In der Empfangshalle
darunter stehen einige Dutzend amerikanische
Ehepaare – Mitglieder eines Unternehmerclubs,
die das Westjordanland bereisen. Munib al-Masri steht da, strahlt und bedankt sich für den Beifall. Mit über 1,90 Meter ist er viel größer als die
meisten seiner Landsleute in Palästina. Beim Gespräch muss er sich stets nach vorne beugen.
Was sein Kreuz geneigt hat, ist die Größe, nicht
das Alter – auf Jugendfotos sieht man den 76Jährigen in derselben Haltung.
An diesem Abend trägt Masri ein goldbesticktes Hemd im Stile eines Maharadschas. Er
legt den Arm um eine schöne, etwa 40-jährige
Brünette. So stellt man sich einen Milliardär vor.
Aber die Frau an seiner Seite ist nicht Masris
Geliebte, sondern seine Schwiegertochter. Er
selbst ist seit über 40 Jahren verheiratet. Mit seiner Frau Angela, einer Amerikanerin, pendelt
Masri zwischen London und Nablus.
In der Stadt im Herzen Palästinas ist Masri
aufgewachsen. Nach seinem Geologie-Studium
in den USA ließ er sich in Jordanien nieder und
machte Geld im Ölgeschäft des Nahen Ostens.
Viel Geld. Seine Bau- und Ingenieursfirmen,
darunter die Edgo Group, erwirtschaften vor allem in Afrika beträchtliche Gewinne. Masri hält
Mehrheitsanteile an der palästinensischen Investmentfirma Padico und am Telefonanbieter
Paltel-Jawal.
Unter König Hussein diente Masri für kurze
Zeit als Arbeitsminister in Jordanien. Ein Großteil der Bevölkerung Jordaniens bestand damals
bereits aus Palästinensern. Die Palästinensische
Befreiungsorganisation (PLO) unterhielt dort
Milizen, die Husseins Macht gefährlich wurden.
1970, im »Schwarzen September«, zerschlugen
die königlichen Truppen sie in Jordanien. Masri soll seinen Einfluss genutzt haben, um PLOChef Jassir Arafat rechtzeitig aus Jordanien zu
evakuieren. Wahrscheinlich rettete er ihm das Leben. Nach dem Osloer Abkommen war Masri
rechtzeitig wieder in Nablus, um vom ersten
Aufbauboom zu profitieren. 1998 begann er mit
dem Bau der Villa »Beit Filastin«. Auch andere
wohlhabende Palästinenser kamen ins Westjordanland und investierten in Immobilien und
Masri heißt
»Ägypter« –
so viel Arabisch
kann selbst
Netanjahu
Hotels. Im Jahr 2000, als das Gebäude fertig war,
brach die zweite Intifada aus. Nablus versank in
Chaos und Krieg.
In Nablus sind die Masris eine alteingesessene Familie. Ihr Name bedeutet allerdings »Ägypter« – und so viel Arabisch kann selbst Benjamin Netanjahu. Als Masri vor Jahren den israelischen Ministerpräsidenten traf, sprach der
ihn auf seine ägyptischen Vorfahren an, die erst
vor ein paar Jahrhunderten ins Heilige Land gekommen seien. »Und wann genau sind Ihre denn
aus Polen eingewandert?«, fragte Masri darauf
forsch zurück.
Palästinas historisches Vermächtnis ist Masris Leitmotiv. Er steht für eine Generation, die
noch überall erklären musste, dass die Palästinenser ein altes Volk seien – und keine Erfindung >>
zenith 5/2010
07
Fotos: Daniel Gerlach
GEGENSPIELER
Der Tycoon als Lebemann:
Für seine Bankett-Gäste veranstaltet Masri
eine mondäne Modenschau.
Manchmal
spricht
er mit den
Steinen
der PLO. Auch die mannshohe Herkules-Figur
unter der Kuppel seines Palastes spielt dabei eine Rolle. »Vor langer Zeit habe ich die Statue aus
Kreta kommen lassen«, sagt Masri. »Auch unsere
Vorfahren, die Philister, sind übers Meer in dieses Land gekommen.« Sein Herkules steht da, als
halte er einen Wurfstein in der Hand. »Nein«,
erwidert Masri, »er fasst die Leine eines gefangenen Löwen.«
»Palästinensischer Rockefeller« – so nannte
ihn einmal eine israelische Zeitung. Kaum vorstellbar, dass dieser Gentleman eine dunkle, eine gangsterhafte Seite wie Rockefeller haben
könnte. Dass sich seine Besucher diese Frage
stellen, scheint Masri zu ahnen. Oder ist es Zufall, dass er, während er durch die Halle schlendert, die Titelmelodie des »Paten« pfeift? Masri
wirkt unangreifbar. In keinem nahöstlichen Land
08
zenith 5/2010
würde sich ein Milliardär wie er so frei und ungezwungen bewegen: Wenn Masri von Nablus
nach Ramallah reist, hat er nur einen Fahrer bei
sich und keinen schwarzen protzigen Mercedes,
sondern einen silberfarbenen VW-Passat mit einer Beule im Kotflügel.
In Nablus würde wohl niemand wagen ihn
anzurühren. Masri habe, so berichtet Adli Yaish,
der Bürgermeister, auch gute Kontakte zur israelischen Armee. Aber vor allem kann sich Masri sicher fühlen, weil man ihn keiner der verfeindeten Gruppen im Westjordanland zurechnet. Masri ist der Gründer einer kleinen,
unabhängigen Partei, die sich »PalästinaForum« nennt, die allerdings vor allem aus ihm
selbst besteht. Über ihre politischen Ziele und
Aktivitäten hört man wenig – zuletzt trat sie in
Erscheinung, als Masri sich gemeinsam mit anderen Oppositionellen gegen die bedingungslose Aufnahme von Friedensverhandlungen in
Washington aussprach. Politisch operiert er derzeit im Hintergrund. Er selbst sagt, er versuche,
zwischen den unversöhnlichen Parteien Hamas
und Fatah zu vermitteln.
Was ihm Autorität verleiht, ist nicht nur sein
Vermögen oder sein Einfluss auf Investitionsentscheidungen von Unternehmen. Es ist auch
seine Freundschaft zu Jassir Arafat, den auch
viele Anhänger der Hamas verehren.
Auch Bürgermeister Yaish, der dem gemäßigten
Hamas-Lager angehört, pflegt eine Freundschaft
zu Masri – mit aller gebührlichen Distanz. Wenn
Masris Gäste im Beit Filastin mit ihren Weingläsern anstoßen, nimmt Yaish zügig Abschied.
Die Glamour-Welt passt nicht zu seiner Rolle als
Bürgermeister einer Stadt mit hoher Arbeitslosigkeit, Kriegsschäden und einer tief gläubigen
Bevölkerung.
Masri dagegen zeigt seinen Reichtum und
freut sich über Komplimente. »Ich will zeigen,
was wir schaffen können«, sagt er. »Die Israelis
sollen sehen: Wir könnten gemeinsam Wunder
vollbringen! Sie wissen nicht, was in uns steckt.
Sie sind Gefangene ihrer egoistischen Existenz.«
Er ist ein weltläufiger, alter Mann, und paradoxerweise haben solche Männer oft eine schlichte Sicht der Welt. Sie haben die Wahrheit einmal
erkannt und aufgehört zu verfolgen, wie sich
politische Diskurse wandeln. Ihre Argumente
sind so klassisch wie sie selbst.
»Ich weiß nicht, ob Sie so etwas schreiben
dürfen«, erklärt Masri. »Aber es ist doch einfach: Sie als Europäer mögen die Juden nicht. Also haben Sie sie nach Israel geschickt. Aber Sie
haben ein schlechtes Gewissen bei der Sache.
Deshalb helfen Sie den Israelis.« Masri ist nicht
nur Tycoon und Investor, sondern ein palästinensisches Pendant zur weltweiten Israel-Lob-
Das Palästina-Haus auf dem Berg Gerizim.
Masri baute es an diese Stelle,
weil er fürchtete, dass Siedler ihm zuvorkommen.
by. Er glaubt an deren Macht – und will ihr etwas entgegen setzen.
Im Garten, wo der Geologe sonst spazieren
geht und »mit den Steinen« spricht, steht an
diesem Abend ein Zelt mit Laufsteg, Scheinwerfern und Musikanlage. Dort defilieren Mannequins in eng anliegenden, orientalisch anmutenden Kleidern. Die amerikanischen Gäste
applaudieren wieder – einige haben ihre Taschenkameras gezückt und führen sich nun auf
wie Modefotografen: »Give me a smile!«. Zum
Schluss marschiert auch der Hausherr von Beit
Filastin auf, mit einem Enkel auf dem Arm. Der
Name der Designerin – sie heißt Heidi – wird
nicht angesagt. Es geht nicht um die Kleider,
sondern um das Event und die Models, die eigens aus Bethlehem gekommen sind. Bethlehem, so weiß man, hat die schönsten Töchter.
Masri stiftet Geld für Schulen und Universitäten. Er steht für amerikanisches Mäzenatentum und europäischen Kulturgeschmack. In seiner Villa hängt ein echter Picasso. Es gibt einen
Wintergarten, der einmal Kaiser Napoleon III.
gehörte und einen Kamin aus einem französischen Königsschloss.
Den Effekt des westlichen Geldes, das derzeit
in den Aufbau des Westjordanlandes fließt,
schätzt Masri allerdings weniger. »Das sind Geschenke, für die wir natürlich dankbar sind. Aber
sie bringen unsere Wirtschaft nicht voran. Wir
müssen unsere eigene Leistung stimulieren.«
Masri schildert den Masterplan, den er damals,
Ende der 1990er Jahre, mit nach Palästina brachte: »Tourismus in Bethlehem, Finanzwirtschaft
in Ramallah, Industrie in Gaza und Telekommunikation in Nablus.«
Die Probleme der Palästinenser, so sagt Masri, seien nicht ökonomischer Natur: »Solange
Gaza und die Westbank gespalten sind und wir
Siedlungen und Besatzung haben, wird es wohl
dauerhaft nichts werden«. Er deutet dabei auf die
Berge, die Nablus umschließen und in denen
sich jüdische Siedler eingerichtet haben. »Ich
habe dieses Haus hierhin gesetzt, damit die Siedler sich den Platz nicht unter den Nagel reißen«,
erklärt Masri. Die unbequemen Nachbarn hätten, was schöne Aussicht anbelangt, stets guten
Geschmack bewiesen. Der Ort, auf dem Masri
seinen Palast baute, wäre gewiss begehrtes Siedlerland, denn laut dem Pentateuch sollen die
Stämme Israels dort, am Berg Gerizim, geopfert haben.
Immer wieder spekulieren Medien, ob Masri
eines Tages das Amt des Premierministers übernehmen werde – oder gar des Präsidenten. Bislang hat Masri das ausgeschlagen. Die politische
Situation ist heikel: Derzeit muss ein anderer,
Premierminister Salam Fayyad, versuchen, das
Arafat-Bilder finden sich überall
in dem Palast. Der PLO-Chef sei sein bester
Freund gewesen, sagt Masri heute.
Ist es Zufall,
dass er die
Melodie des
»Paten« pfeift?
Beste daraus zu machen. Masri gilt auch als Förderer von Marwan Barghuti, eines populären
Fatah-Funktionärs, der in israelischer Haft sitzt,
aber bald freikommen könnte.
Beobachter vermuten, dass Masri auf bessere
Bedingungen wartet, bevor er seinen Lebenslauf noch einmal politisch krönt. Aber es gibt
Momente, da sieht der Mann zufrieden aus mit
sich, seinem Ruf und seinem Reichtum. Und er
weiß nicht, wie lange das noch währt. Das Herz
macht ihm nach zahlreichen Operationen immer mehr zu schaffen: »Da drinnen stecken acht
Gefäßstützen, für eine neunte gibt es keinen
Platz«, sagt Masri nachdenklich am Morgen nach
dem Festempfang. Er steht unter dem Portal der
Villa und blinzelt in die Sonne. »Jeder Tag ist eine Zugabe. Ich weigere mich zu sterben. Denn
den Staat Palästina möchte ich noch sehen.«
zenith 5/2010
09
lIllustration: Hadinugroho
GEGENSPIELER
IRVING MOSKOWITZ, 82, USA
Der Magnat
aus Miami
Mit »Bingo« verdiente er Millionen:
Irving Moskowitz ist heute ein wohlhabender
Menschenfreund. In Israel verfolgt der
Amerikaner aber seine eigene politische Agenda.
Er spendet für religiöse Siedler in Ost-Jerusalem
und schafft damit täglich Fakten
Von Dominik Peters
Comics. Damit verdiente Irving Moskowitz seinen eigenen Angaben zufolge seine ersten Cents.
Er wurde Arzt und später Geschäftsmann – mit
dem Kauf und Verkauf privater Krankenhäuser
an der amerikanischen Westküste machte er die
ersten Millionen. Ein großer Coup gelang ihm
1988, als er eine Bingohalle im kalifornischen Ort
Hawaiian Gardens übernahm. Moskowitz wurde Multimillionär, gründete eine Stiftung und
gibt sich seither als Menschenfreund der nobelsten Sorte. Egal ob Tsunami- oder Erdbebenopfer, arme Amerikaner oder krebskranke Israelis: Es heißt, der Magnat aus Miami Beach helfe ihnen allen.
Aber Moskowitz, der fromme Jude mit der
schwarzen Kippa, spaltet Israel. Die Linken sehen in ihm einen Brandstifter, der die Lunte ans
Pulverfass Jerusalem legt. »Dass ein Jude aus
Miami über unsere politische Zukunft bestimmt,
10
zenith 5/2010
ist nicht akzeptabel«, empörte sich Jerusalems
verstorbener Bürgermeister Teddy Kollek bereits in den 1990ern. Der Grund: Mit dem Großteil seiner Glücksspiel-Gelder – Schätzungen zufolge mehrere hundert Millionen US-Dollar –
unterstützt Moskowitz national-religiöse Siedlergruppen wie »Ateret Cohanim – Krone der
Tempelpriester«. Deren selbsternanntes Ziel ist
die Wiedererrichtung des jüdischen Tempels,
schon lange fungieren sie als Strohmänner für
Moskowitz beim Kauf von Immobilien im arabischen Teil Jerusalems.
Der 82-Jährige, den eine enge Freundschaft
mit Benjamin Netanjahu und Ehud Olmert verbindet und der angeblich Jerusalemer Kommunalpolitiker mit seinen Dollars besticht, ist in
den vergangenen Jahrzehnten zum Schattenmann der Siedlungspolitik geworden. Für ihn
gibt es nur ein jüdisches Jerusalem. Einst verglich
Siedlungen und
Archäologie –
hinter seiner
Güte steht ein
Masterplan
Fotos: Daniel Gerlach
GEGENSPIELER
Altstadt von Jerusalem mit Felsendom: Moskowitz finanziert
dort jüdische Schulen und besitzt ein Haus.
er Jitzhak Rabin mit dem britischen Premier
Neville Chamberlain, der 1938 Hitler hofierte.
Moskowitz sah in den Osloer Verträgen einen
»politischen Selbstmord« Israels.
Bereits 1985 kaufte Moskowitz das ShepherdHotel in Ost-Jerusalem, half Siedlern, ein Grundstück im Ortsteil Ras al-Amud zu erwerben, und
finanzierte Religionsschulen im muslimischen Teil
der Altstadt, wo er selbst ein Haus besitzt. Daneben war er einer der Hauptgeldgeber des umstrittenen Hasmonäer-Tunnels an der Klagemauer. Heute fördert er die Ausgrabungen der historischen »Davidstadt« nahe des arabischen Dorfes
Silwan durch die jüdische Organisation »El Ad«.
Diese und dutzende andere Projekte unterstützt der medienscheue Multimillionär nach
eigenen Angaben nur, damit Israel ein »sicherer
Hafen für Juden« ist. Für den Mäzen aus Miami, dessen Familie viele Mitglieder im Holo-
caust verloren hat, ist dies eine Herzensangelegenheit.
Der in New York als Sohn jüdisch-polnischer
Einwanderer geborene Moskowitz ist dennoch
selten in Israel. Einer der letzten Besuche des
82-Jährigen fand im Jahr 2005 statt. Er besichtigte gemeinsam mit seiner Frau Cherna die jüdischen Siedlungen im Gaza-Streifen. 58 Jahre
sind sie verheiratet, haben acht Kinder und 42
Enkel. Dort sah man ihn durch den Siedlungsblock Gusch Katif tanzen; seine Frau stellte fest,
es gebe »keinen Ort auf der Welt, wo sie sich so
wohl und sicher fühlen«. Wenige Wochen später ließ die Scharon-Regierung die Siedlungen
räumen. Moskowitz kehrte nach Miami Beach
zurück. Genau das wollten linke Israelis verhindern: Moskowitz solle im Alltag erleben, was
er mit seinem Geld anrichtet. Ihr Slogan: »Spiel
nicht Bingo mit unserem Leben.«
zenith 5/2010
11
GEWAGTE SCHNITTE
MILIA MAROUN, 39, LIBANON
Die Verhüllungskünstlerin
Milia Maroun gehört mit ihrem Label »milia m«
zur Avantgarde in Beirut. Seit sie als erste arabische Designerin
eine eigene Show auf der Modewoche in Mailand hatte,
sind ihre Kollektionen weltweit gefragt
Interview: Silke Brandt
zenith: Was waren Ihre ersten
Erfahrungen mit Mode?
Milia Maroun: Meine erste Modenschau fand
1998 in einem Nachtclub in Beirut mit ausgefallenen und verrückten Entwürfen statt. Leider
habe ich für so etwas keine Zeit mehr.
Wie sind Sie Modedesignerin geworden?
Das hat sich alles so entwickelt, als ich mit dem
Modedesign-Studium in Paris fertig war. Ich habe gar nicht viel überlegt, ich liebte es einfach,
ganz neue und unterschiedliche Wege zu ent-
decken, wie man Mode sehen kann. Nach ein
paar Jahren in Paris ging ich dann zurück nach
Beirut und eröffnete mein eigenes Studio. Seit
1999 entwerfe ich zwei Kollektionen pro Jahr.
Welche Designer bewundern
und inspirieren Sie am meisten?
Ich lasse mich nicht unbedingt von der Arbeit
anderer Designer inspirieren. Mehr als ihre Mode selbst bewundere ich die Persönlichkeiten
dahinter. Coco Chanel, Yves Saint Laurent,
Jean-Paul Gaultier oder Vivienne Westwood sind
>>
zenith 5/2010
13
Fotos: Joe Kesrouani (klein), Dina Debbas (groß)
GEWAGTE SCHNITTE
»Geschäftssinn ist heute wichtiger als Talent«
wahre Mythen. Heute ist Mode eher eine Industrie. Jeder kann eine Kollektion kreieren. Wichtiger als bloßes Talent ist mittlerweile der richtige Geschäftssinn.
Was ist das wichtigste Motiv Ihrer Arbeit?
Das variiert von Saison zu Saison, manchmal
verwende ich auch kein bestimmtes Motiv. Aber
das, was aus den Formen, Details, Farben und
dem Geist aller Kollektionen herauskommt, ist
eine bestimmte Identität, die die Basis für meine gesamte Arbeit ist. Die meisten meiner Kleider deuten mehr an, als sie zeigen. Das Spiel von
Verhüllen und Enthüllen zur selben Zeit ist ein
Motto, das sich durch meine Arbeiten zieht.
Gibt es Materialien, mit denen
Sie besonders gerne arbeiten?
Ich liebe es, natürliche Materialien wie Seide
oder Baumwolle zu verwenden. Aber ich bin immer offen für neue Stoffe und Technologien.
Die Möglichkeiten bei Textil-Innovationen sind
heute fast unbegrenzt. Das ist sehr inspirierend.
In welchen Ländern sind Sie mit
Ihrer Mode am erfolgreichsten?
Die besten Kunden habe ich im Moment im Nahen Osten, in Europa und in Ostasien.
14
zenith 5/2009
Warum sind Sie nicht wie andere Kollegen in
der Modehauptstadt Paris geblieben?
Mein Leben und meine Arbeit spielen sich einfach in drei anderen Städten ab – Beirut, London und Istanbul. Außerdem bin ich gern in
Beirut. Ich nehme mir das Beste, was die Stadt
zu bieten hat. Beirut ist immer noch so etwas wie
eine freie Fläche, auf der man frei experimentieren kann. Es ist immer noch eine Stadt, die
dabei ist, sich zu entwickeln und die sehr neugierig macht.
Was war bisher Ihr größter Erfolg?
Am schönsten war es, als ich meinen eigenen
Laden in Beirut eröffnet habe. Allerdings habe
ich mich auch sehr gefreut, als meine Kollektion 2008 auf der Mailänder Modenschau neben
anderen etablierten Namen gezeigt wurde.
Außerdem wird meine Mode mittlerweile von
einigen der besten Läden der Modewelt geführt.
Fotos: Joe Kesrouani (klein), Franck Christen (groß)
GEWAGTE SCHNITTE
Milia Maroun
arbeitete nach ihrem ModedesignStudium in Paris einige Jahre
als Unterwäsche-Designerin bei
der Vanity Fair Corporation
Europe. Die 1971 in Beirut geborene
Designerin zeigte nach ihrem
Auftritt bei der »Abu Dhabi Fashion
Week« 2007 ihre Entwürfe als
erste arabische Designerin auch
2008 auf der Mailänder Modewoche.
Sie lebt in Istanbul und Beirut.
»Mehr andeuten als zeigen« –
allzu streng hält »milia m« sich nicht an dieses Motto
zenith 2/2009
15
Foto: Simone Cecchetti; Illustration: Zaha Hadid Architects
LIEBE ZUR GEOMETRIE
ZAHA HADID, 60, IRAK
Wider die Gerade
Die irakische Stararchitektin Zaha Hadid trotzt starren Formen.
e
Für sie befindet sich alles im Fluss. Der Weg an die Spitze der Avantgard
war steinig. 2010 wurde sie 60 Jahre alt
Von Elisabet h Knoblau ch
Ihre Bauten sind real gewordene Fantasien. Als
könnte man die Statik überwinden, neigen sie
sich, strecken sich auf dem Boden aus, schrauben sich atemberaubend leicht in die Höhe.
Zaha Hadid hat die Formensprache der Architektur des neuen Jahrtausends gefunden. Es war
ein steiniger Weg. Jahrelang fand die 1950 in
Bagdad geborene Hadid keine Bauherren für ihre außergewöhnlichen Entwürfe, obwohl ihr
Talent früh erkannt worden ist. Nach einem Mathematikstudium in Beirut und einem Architekturstudium in London wurde sie Partnerin im
Büro des Niederländers Rem Koolhaas. »Ich habe etwas ganz Neues gemacht«, sagt sie heute.
»Und ich war fremd.« In mehrerer Hinsicht. Sie
war Frau, sie war Irakerin – nicht einfach in einer von Männern dominierten Branche, in der
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zenith 5/2010
tonnenweise Stahl, Beton und Geld verschoben
werden.
Nicht bauen zu können ist für einen Architekten eine Qual. Aber zehn Jahre lang arbeitete Hadid fast ausschließlich auf dem Papier. Sie
zeichnete, gewann Preise und Ausschreibungen,
die nie umgesetzt wurden. 1988 wurden ihre
Werke in einer viel beachteten Ausstellung im
New Yorker MoMA gezeigt. Fast hätte sie das
gleiche Schicksal ereilt wie den russischen Konstruktivisten Iwan Leonidow (1902-1959), der
zeitlebens hoch gelobt wurde, doch nur eine einzige Treppenanlage in die Tat umsetzen konnte.
Hadid jedoch gelang mit der Vitra-Feuerwache in Weil am Rhein 1993 der Durchbruch.
Plötzlich fanden sich Bauherren für ihre eigenwilligen Konstruktionen. Heute beschäftigt sie
LIEBE ZUR GEOMETRIE
Fremd in einer Branche,
in der tonnenweise Stahl und
Geld verschoben werden
Der erste große Auftrag in London: Das Aquatics Center
für die Olympischen Sommerspiele 2012
300 Mitarbeiter und baut auf der ganzen Welt.
Im Jahr 2004 erhielt sie den Pritzker-Preis, die
weltweit höchste Auszeichnung für Architektur.
Zum ersten Mal wurde er an eine Frau vergeben.
Im Oktober dieses Jahres nahm sie in London
den Stirling-Preis entgegen, Großbritanniens
prestigeträchtigste Architekturauszeichnung, für
den Bau des italienischen Museums der Künste
des 21. Jahrhunderts MAXXI in Rom. Es war
mehr für sie als nur ein weiterer Preis. Nach Jahren harter Arbeit wurde sie endlich in ihrer
Wahlheimat England anerkannt. Für die Olympischen Sommerspiele 2012 in London baut sie
nun die Schwimmhalle.
Sie lehrt heute an vielen Hochschulen, auch
an der für ihre Innovationsfreude bekannten
»Angewandten«, der Universität für angewand-
te Kunst in Wien. Studenten lernen dort von
Hadid die Geheimnisse der »non standard architecture«: Durch mehrdimensionale Entwurfsverfahren entwickelt sie Modelle, die sich
am Zeichenbrett gar nicht denken ließen – meist
ohne rechte Winkel. Dieser Luxus macht allerdings einen anderen Umgang mit Geometrie
notwendig; komplexe und kostspielige Tragwerke müssen her. Auch in den Golfstaaten, etwa in Bahrain und den Emiraten, baut sie Museen und Kulturpaläste – allerdings heißt es in
der Architekturszene, dass das geplante »Performing Arts Center« in Abu Dhabi das geplante
Budget übersteigen wird. Die Umsetzung des
Entwurfs ist womöglich in Gefahr.
An Ausschreibungen in Israel, so wird aus
ihrem Umfeld kolportiert, nimmt Hadid im >>
zenith 5/2010
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Illustration: Zaha Hadid Architects
LIEBE ZUR GEOMETRIE
Zaha Hadids Traum: ein
Haus, das sich den Launen
der Bewohner anpasst
Übrigen nicht teil. Es heißt, sie wolle es sich
nicht mit ihren arabischen Auftraggebern verscherzen.
Frappierend, wie sich ihr Stil in den Jahren gewandelt hat. Aus dem sperrigen, herausfordernden Formen sind schmiegsame Wesen
geworden, die sich weich in die Landschaft einbetten und trotzdem herausstechen. »Parametrismus« nennt das Büro Hadid diesen Stil,
der in der digitalen Animationstechnik wurzelt.
Alle Gebilde sind als verformbar zu betrachten,
sie sind systematisch zu krümmen und in Korrelation zu setzen. Hadid selbst arbeitet nicht
mit dem Computer, sondern lässt ihre handgefertigten Skizzen von ihrem Team ausarbeiten.
Das Fließende ihrer Handarbeit ist ihr wichtig.
Sie, die seit mehr als 30 Jahren nicht mehr im
18
zenith 5/2010
Irak war, denkt oft an den Tigris, der durch das
Bagdad ihrer Kindheit floss. Welche Ruhe er ausstrahlte. Es ist nicht verwunderlich, dass ihr Lieblingsstoff der Beton ist. Sie möchte das Fließende, das sich Ändernde festhalten, um ihm gleichzeitig Raum zu geben. Einer ihrer größten
Träume ist es, ein Haus zu konstruieren, das sich
dem Gemüt und der Laune seiner Bewohner
anpasst. Ein Haus, in dem Badezimmer und
Küche nicht an einer festen Stelle im Haus sein
müssten. Mit durchlässigen Räumen, veränderbar. Fast so, als hätten sie ihr eigenes Leben.
Total Fluidity
Patrik Schumacher, Zaha Hadid
Springer, Wien 2011,
512 Seiten, 35,99 Euro
In Zukunft wird auch noch mehr
Stadtplanung zu den einzelnen
Gebäuden kommen. Hier eine
Ansicht der Istanbuler Stadtviertel
Kartal und Pendik, die neu
geordnet werden sollen.
Foto: Warner Bros
HELDEN DER LEINWAND
ALEXANDER SIDDIG, 45, GROSSBRITANNIEN
Doktor,
Gärtner,
Terrorist
Als heimlicher Botschafter
all dessen, was gut ist
am Araber, schleicht sich
der gebürtige Sudanese
in unser Unterbewusstsein –
über Leinwände
und Fernsehschirme
Seit Beginn seiner Karriere spielte Alexander
Siddig mit den Großen. Eine seiner ersten Rollen war die des Emirs Faisal in der britischen
Fernsehproduktion »A Dangerous Man« von
1990 – eine inoffizielle Fortsetzung von
»Lawrence von Arabien« mit Ralph Fiennes in
der Titelrolle. Darin nimmt Lawrence gemeinsam mit Faisal erfolglos an der Versailler Friedenskonferenz 1919 teil. »What a lovely job«,
lobte Sir Alec Guinness, der den Faisal in David
Leans Epos von 1962 gegeben hatte, den jungen
Siddig. 15 Jahre später spielte Siddig in »Syriana« wieder einen arabischen Fürsten, Prinz Nasir, diesmal neben George Clooney als CIAAgent. Zwischen beiden Filmen lagen die Anschläge des 11. September 2001. Sie haben Siddig
nach eigener Aussage zum politischen Menschen
gemacht; er sei sich mit Nachdruck seiner arabischen Herkunft bewusst geworden, sagt der
Sohn eines Sudanesen und einer Britin.
Ein enormer Karrieresprung lag für Siddig in
der Zwischenzeit: Ohne seine Hauptrolle als Arzt
in der Science-Fiction-Serie »Star Trek – Deep
Space Nine« in den 1990ern wären ihm wohl
kaum so viele Rollen angeboten worden. Nach
2001 suchte das Kino dann viele Terroristendarsteller. Siddig hat sich indes die Aufgabe gestellt, das Bild vom »bösen Araber« auf Leinwand und Bildschirm zu differenzieren: Emir
Faisal und Prinz Nasir zeigen die gute, edle,
großzügige Seite des Orients, wie auch die geläu-
terten Terroristen, die Siddig in Actionthrillern
mimt. In der englischsprachigen Welt hat er sich
damit einen Namen gemacht, hierzulande ist er
noch kaum bekannt. Erst wenn man vom Doktor aus »Deep Space Nine« spricht, lautet die
Reaktion: »Ach, der!« Die Filme und Serien, in
denen Siddig seither aufgetreten ist, sind aber
auch in Deutschland populär: von »Syriana«
über »Königreich der Himmel« bis »24«.
Siddigs Schicksal wurde schon früh von der
Politik bestimmt. Über seinen inzwischen verstorbenen Vater ist er mit dem Mahdi verwandt,
der vor rund 130 Jahren im Sudan eine islamische Volksbewegung gegen die anglo-ägyptische Kolonialherrschaft anführte. Sein Onkel
Sadiq al-Mahdi, zwei Mal sudanesischer Premierminister, wurde zuletzt von Omar alBashir gestürzt. Als Gafaar al-Numeiri sich 1969
an die Macht putschte, verließ al-Mahdi das
Land, und die Verwandtschaft schickte seinen
vierjährigen Neffen in Sicherheit zur Mutter
nach England.
Über den heutigen Zustand der Heimat des
Vaters ist Siddig tief betrübt. Die Diktatur habe
die Sudanesen verroht: »Die Menschen sind
kaum noch gütig und großzügig«, sagt er im
Gespräch mit zenith. »Die Jungen wachsen zu
Gewalttätern heran.« Aus der Ferne versucht
Siddig zu tun, was er kann, und unterstützt
Flüchtlinge aus dem Sudan, sich im Exil zurecht
zu finden.
Sein Vorfahre
jagte die Briten
aus Khartum
Nach seiner eigenen, frühen Umsiedlung hat er
sich rasch adaptiert, er spricht feinstes OxfordEnglisch. Er bekennt: »In England ist meine Seele zu Hause, denn dort bin ich aufgewachsen.«
Seine zwei Identitäten hat er ausgeglichen. Auf
der Leinwand ist er Araber – für das westliche
Publikum, denn mit seinem Arabisch ist er zu
unsicher, um in arabischen Filmen zu spielen.
Zuhause in seinem Garten in Sussex ist er
Engländer.
Von seiner selbst gewählten Mission nimmt er
sich bisweilen eine Auszeit und übernimmt feine Charakterrollen. Keine Blockbuster, sondern
Autorenkino. Letztes Jahr war er der ägyptische
Charmeur im preisgekrönten, kanadischen Film
»Cairo Time«. Und seit dem 11. November ist
er wieder einmal in deutschen Kinos zu sehen:
In Julian Schnabels Palästina-Melodram »Miral« spielt er den Vater der Titelheldin. »Es geht
um einen Menschen, der nicht in den Kampf
ziehen will. Er ist einfach nur Ehemann und Vater«, erklärt Siddig. »Ich spiele ihn als Gärtner
– davon verstehe ich etwas.«
mmo
zenith 5/2010
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Fotos: Pera Film
HELDEN DER LEINWAND
MOHAMMED NECATI SASMAZ 39, TÜRKEI
Der Rächer
Im Kino kämpft er gegen
das Böse und für die türkische Ehre.
Auch im wahren Leben scheint
Necati Sasmaz sein Alter Ego zu
gefallen
Von Jannik Veenhuis
Ein Geiselnehmer hält einer Frau mit Baby auf
dem Arm die Pistole an den Kopf. Ihm gegenüber steht der türkische Geheimagent Polat
Alemdar. Der zögert nur kurz, dann drückt er
ab. Das Blut des Geiselnehmers spritzt an die
Wand, befleckt einen Davidstern. Geisel, Geheimdienst und die Szenerie sind fiktiv. Der
Konflikt um den es geht, ist umso realer. Der
Agent steht irgendwo dazwischen. Eigentlich
heißt er Mohammed Necati Sasmaz, genannt
wird er so aber eher selten. In der Türkei kennt
man ihn als Polat Alemdar, Hauptdarsteller der
beliebten türkischen Fernsehserie »Tal der Wölfe«. In »Kurtlar Vadisi«, wie die Serie im Original heißt, bekämpft der Held die Mafia. Die
Produktion war so erfolgreich, dass der Stoff für
die Kinoleinwand adaptiert wurde. Der neueste Streifen »Tal der Wölfe – Palästina« läuft ab
dem 28. Januar 2011 in den türkischen Kinos.
Auch diesmal legt sich Alemdar mit einem
mächtigen Gegner an – Israel. Und die Pro-
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zenith 5/2010
duktionsfirma Panafilm scheint damit kein Zeichen des Friedens setzen zu wollen.
Die Firma mit Sitz in Istanbul gehört Necati
Sasmaz und seinen Brüdern. Raci Sasmaz ist
Drehbuchautor, Bruder Zübeyr Regisseur. Seit
2004 ist Panafilm mit der TV-Serie »Tal der Wölfe« nicht nur innerhalb der Türkei erfolgreich.
»Wir sprechen Dinge an, die keiner hören will,
immer und immer wieder. So machen wir denen Angst, die schuldig sind«, sagte Necati kürzlich in einem Interview. Und daran lässt er keinen Zweifel.
Als Polat Alemdar kämpft Sasmaz entschlossener und radikaler als je zuvor gegen den Feind.
Am Bosporus ist der Geheimagent vor allem für
die Jugend ein Held. Dabei war Sasmaz’ Weg
auf die Leinwand alles andere als geplant. Nachdem er Tourismus und Hotelmanagement studiert hatte, versuchte er, in den USA Fuß zu fassen, und arbeitete dort sechs Jahre lang in der
Tourismus-Branche. Als er 2001 nach einem Besuch
HELDEN DER LEINWAND
in der türkischen Heimat wieder auf dem Weg
in die USA war, musste seine Maschine wegen
der Anschläge auf das World Trade Center umkehren. Zurück in der Türkei geriet Sasmaz
schließlich an den Produzenten Osman Sinav.
Statt eines Jobs als Kabelträger bekam er die
Hauptrolle. Heute kämpft er als Polat Alemdar
für die Nation und für die gute Sache auch
außerhalb der Türkei. In der neuesten Produktion rechnet er mit den Israelis ab, die verantwortlich waren für die Tötung türkischer Aktivisten, die mit einer Schiffsflotte Hilfsgüter in
den Gaza-Streifen transportieren wollten. Panafilm folgt dem Mainstream. Irgendwo zwischen
actiongeladenem Agentenepos und politischem
Pathos traf schon die TV-Serie genau den richtigen Nerv der Zuschauer.
Unklar bleibt, was beim neuen Blockbuster
politische Botschaft ist und was lediglich Unterhaltung. Antijüdische Elemente gab es auch
schon in der Serie »Tal der Wölfe« immer wie-
Action, Pathos und
Antisemitismus –
eine verführerische
Mischung
der. Wie die Sasmaz-Brüder die Welt sehen, wird
wohl in ihren Filmen deutlich. Angeblich stehen
Familienmitglieder der türkisch-nationalistischen Partei MHP nahe, die als extremistisch
eingeschätzt wird. Der Film könnte dafür sorgen, dass sich die türkisch-israelischen Beziehungen weiter abkühlen. Das Verhältnis steht
schon jetzt nicht zum Besten.
Aber es wäre töricht, die Realität allzu sehr von
der Kinoleinwand abzulesen. Eigentlich ist »Tal
der Wölfe – Palästina« nur ein weiterer Action-
film, denn der Film ist alles andere als innovativ. »Uns wurden Helden wie Rambo vorgesetzt.
Zum ersten Mal in der Filmgeschichte aber gibt
es einen Unbesiegbaren aus dem Nahen Osten«,
so Necati Sasmaz. Und so viele Israelis gibt es gar
nicht, wie auf Kinoleinwänden schon Vietnamesen, Russen und Araber von amerikanischen
Helden wie Rambo und Kollegen vernichtet
wurden. Sachliche und politische Korrektheit
hat dabei bisher die geringste Rolle gespielt.
So scheint sich auch Panafilm recht wenig um
den Wirbel zu scheren, den der Film schon jetzt
auslöst. Schließlich geht es vor allem um den
Profit. Bei so viel Öffentlichkeit, die der Film
schon vor dem offiziellen Start bekommt, dürfte die Kasse ordentlich klingeln.
Tal der Wölfe – Palästina
Regie: Zübeyr Sasmaz
Drehbuch: Bahadir Özdener
Türkei 2010
zenith 5/2010
21
Fotos: Lyall Gardiner
HELDEN DER LEINWAND
ALI F. MOSTAFA, 29, VEREINIGTE ARABISCHE EMIRATE
»Drink and drive!«
»City of Life«, der erste große Kinofilm aus den
Vereinigten Arabischen Emiraten, wurde 2010 am
Golf gefeiert. Er zeigt die menschlichen Schicksale
der Glitzerwelt Dubais. Regisseur Ali Mostafa über
Zensur und die Zukunft des emiratischen Films
Interview: Hannes Alpen
zenith: Herr Mostafa, die emiratischen
Protagonisten in Ihrem Film müssen nicht
arbeiten, weil ihre Väter reich sind,
trinken Alkohol und prügeln sich.
Nicht gerade Vorzeigemodelle.
Ali Mostafa: Ja, aber man sollte nicht von wenigen Beispielen gleich auf die ganze Gesellschaft schließen.
Ihr Film wird von drei Erzählsträngen
durchzogen, die in den drei Hauptgruppen
der Dubaier Bevölkerung spielen:
asiatische Gastarbeiter, westliche
Geschäftsleute und Emiratis.
Haben Sie keinen Druck gespürt,
die Charaktere repräsentativ darstellen
zu müssen?
Wenn wir ehrlich sind, ist mein Film doch gar
nicht so kritisch. Dennoch hat es sehr lange gedauert, bis er genehmigt wurde. Nicht, weil darin ein paar Emiratis Alkohol trinken. Sondern
weil das etwas Neues war. Und niemand in der
Behörde wollte die Verantwortung auf sich nehmen, die Genehmigung zu erteilen. Am Ende
haben sie gesagt: Mach erstmal, aber wir wollen
den Film dann vorher noch einmal sehen. Stellen Sie sich vor: ein so teures Projekt ohne die
Garantie, dass der Film die Zuschauer überhaupt erreicht.
22
zenith 5/2010
Wurden denn Szenen zensiert?
Nein, alles ist so, wie ich es wollte. Und die Szenen, die ich herausgeschnitten habe, werden wir
als Bonus auf der DVD veröffentlichen. Aber
kurz vor der Weltpremiere des Films wurde es
noch einmal heikel. Ich bekam eine E-Mail mit
dem Verbot, den Film zu zeigen. Dabei war
schon alles vorbereitet: Pressekonferenzen waren anberaumt, der Trailer veröffentlicht.
Was haben Sie dann gemacht?
Wir haben es geschafft, den Film seiner Hoheit
Scheich Muhammad, dem Emir von Dubai, zu
zeigen. Und haben ihn um seine Erlaubnis gebeten. Einige Tage später bekam ich einen Anruf mit Glückwünschen zu dem Film. Ich solle
stolz darauf sein. Damit hatten wir die Zustimmung von ganz oben.
Was bedeutet ihr Streifen für die Zukunft des
Films in den Emiraten?
Mein Film hat den Leuten Vertrauen in das emiratische Kino gegeben. Alle haben gesagt, wenn
der Film zwei Wochen läuft, kannst Du Dich
freuen. Am Ende waren es über neun Wochen,
länger als einige Hollywoodfilme. Mittlerweile
laufen mehrere einheimische Produktionen, unter anderem von meinem Kollegen Nawaf AlJanahi. Außerdem haben wir mit »City of Life«
Ali F. Mostafa ist Sohn eines Emiratis
und einer Britin. Er wuchs in Dubai auf,
lebte jedoch auch in London, wo er die
London Film School absolvierte. Bereits
sein Abschlussfilm »Taht al-Shams – Unter
der Sonne« fand auf Festivals großen
Anklang. Mit »City of Life« gelang ihm die
erste große einheimische Kinoproduktion
der Vereinigten Arabischen Emirate.
auch den Weg für größere Produktionen aus dem
Ausland bereitet.
Inwiefern?
»Mission Impossible 4« wurde gerade hier gedreht. Dank unseres Films wussten die Behörden, was auf sie zukommt, wenn ein Filmteam
in der Stadt ist. Wenn beispielsweise Straßen für
Dreharbeiten abgesperrt werden müssen. Für
»City of Life« ließen wir erstmals ganze Straßenzüge sperren, um dort zwanzig Autos zusammenkrachen zu lassen.
Sie sprechen die Schlüsselszene an,
in der ein Autounfall die Erzählstränge des
Films zusammenführt.
Ja. Die Shaikh Zayed Road war einmal als eine
der gefährlichsten Straßen der Welt bekannt.
HELDEN DER LEINWAND
Auch ich habe dort einige Freunde durch Unfälle verloren.
Im Film kommt der beste Freund des
Protagonisten Faisal bei dem Unfall ums
Leben. Hat der Film autobiographische Züge?
Die Geschichte der Emiratis enthält sehr viele
Elemente aus meinem persönlichen Leben. Aber
genauer möchte ich nicht darauf eingehen.
Wie konnten Sie Geldgeber für eine so
aufwändige Produktion gewinnen?
Erst habe ich überall nett angefragt – ohne Erfolg. Dann habe ich erkannt, dass Dubai eigentlich eine große Marke ist. Und dass viele
Firmen aus Dubai in meinem Film vorkommen,
wie der Flughafen oder der Immobilienkonzern
Nakheel. Also habe ich mit diesen Firmen verhandelt. Und ihnen klar gemacht, dass ihr Name durch meinen Film prominenter dargestellt
wird als in der klassischen Werbung. Dreißig
Prozent der rund fünf Millionen Dollar konnte ich so finanzieren, den Rest hat ein Investor
übernommen, der ungenannt bleiben möchte.
Hat sich das Investment für ihn gelohnt?
Leider noch nicht, weil der Film außerhalb der
Golfstaaten keinen internationalen Verleih gefunden hat. Dabei ist der Film auf vielen Festi-
Scheich
Muhammad
pfiff die
Zensoren
zurück
vals gelaufen und immer sehr gut angenommen
worden. Soeben haben wir den Publikumspreis
in Washington gewonnen. Bei meinem nächsten Film werde ich dafür sorgen, dass die Verbreitung bereits gesichert ist, bevor ich mit dem
Dreh beginne.
City of Life
Ein desillusionierter indischer Taxifahrer
träumt davon, Bollywoodstar zu werden; eine
rumänische Balletttänzerin, die als Stewardess
in Dubai gelandet ist, lässt sich mit einem
britischen Werbefilmer ein; und ein junger
Emirati treibt seinen Vater mit Verwicklungen
in Schlägereien und Alkoholkonsum in die
Verzweiflung. Ein Autounfall verknüpft diese
Geschichten und gibt ihnen eine neue
Wendung. Das urbane Drama ist mit Stars aus
den jeweiligen Kulturkreisen besetzt:
Bollywoodstar Sonu Sood als der Taxifahrer,
der emiratische Starmoderator Saoud al-Kaabi
als Faisal, und Alexandra Maria Lara als die
rumänische Stewardess.
Wovon wird ihr nächster Film handeln?
Es wird ein witziges Roadmovie. Vier alte Freunde, ein Syrer, ein Iraker, ein Palästinenser und ein
Libanese, finden nach langer Zeit wieder zusammen und fahren gemeinsam von Abu Dhabi nach
Beirut. Mit der Reise wollen sie einem verstorbenen Freund huldigen, mit dem sie diese eigentlich
hatten machen wollen. Aber die Freunde haben
sich ganz verschieden entwickelt. Das birgt Potenzial für eine Menge Spaß auf der Reise.
zenith 5/2010
23
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Foto: privat
ÄGYPTEN NACH MUBARAK
NOHA ATEF, 26, ÄGYPTEN
»Die Folter muss
ein Ende haben!«
Die junge Bloggerin Noha Atef sammelt auf ihrer Website Daten zur
Polizeigewalt in Ägypten – und könnte dadurch bald selbst in Gefahr geraten
Interview: Elisabeth Knoblauch
zenith: Frau Atef, als Bloggerin befassen
Sie sich mit Folter und Menschenrechtsverletzungen in Ägypten. Sie sind erst 26 Jahre
alt. Gab es ein auslösendes Ereignis, das Sie
dazu brachte, den Blog aufzumachen?
Noha Atef: Im Jahr 2006 habe ich den Report einer lokalen NGO gelesen. Es war eine Sammlung
von Aussagen von Frauen, die sexueller Gewalt
und Folterungen durch Polizisten ausgesetzt waren, um den Druck auf ihre inhaftierten Ehemänner, Söhne oder Enkel zu erhöhen. Die Gefolterten selbst waren gar nicht angeklagt. Dieser Bericht hat mich sehr schockiert. Kurz darauf
begann ich mit dem Bloggen, um anderen Menschen von den Folterungen zu berichten. Die
Gesellschaft verurteilt Folter und es ist äußerst
wichtig, dass dies ein Ende hat!
Es war also von Anfang an
ein politischer Blog?
Ich meine nicht, dass mein Blog politischer Natur ist. Er verfolgt keine politischen Ziele. Mir
geht es um Menschenrechte und jede Kritik an
einem Politiker – wie auch dem Innenminister
– geschieht auf Basis der Menschenrechte.
Was wollen Sie mit ihrem Blog erreichen?
Zunächst wollte ich mit meinem Blog Informationen über Folter in Ägypten verbreiten und
klar stellen, dass solche Taten kriminell sind.
Besonders ein Video sorgte für großes Aufsehen: Es zeigt einen Polizisten in einer Polizeiwache, der einen Mann bestialisch quält.
Seit 2007 arbeite ich auch an der Datenbank
»Torturepedia«, die alle kriminellen Handlungen der Polizei in Ägypten seit den späten 1990er
Jahren auflisten soll.
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zenith 5/2010
»Frauen können
leichter unter
Druck gesetzt
werden als
Männer!«
Was ist die größte Herausforderung
für Ihre Arbeit?
Die größte Herausforderung war es zunächst,
überhaupt Informationen über Folter zu finden. Die großen Medien berichten sehr selten
darüber. Auch gibt es nur wenige NGOs, die in
diesem Bereich arbeiten. Ein weiteres Problem
war, die Menschen davon zu überzeugen, dass
es zwar jemand gibt, der ihre Nachrichten und
Berichte verbreitet, dafür aber kein Geld bezahlt.
Blogs an sich waren noch neu in Ägypten. Überhaupt war es nicht einfach, Leser zu gewinnen,
die sich mit so einem unangenehmen Thema
auseinandersetzen wollen.
Heute gibt es ungefähr 160 000 bis
300 000 ägyptische Blogs. Hat das Internet
die ägyptische Gesellschaft verändert?
Gibt es mehr Diskussionen als früher?
Überraschenderweise gibt es keine öffentliche
Diskussion über den Beitrag ägyptischer Blogger zur Gesellschaft. Auch nicht über das, was sie
zu Tage fördern. Ich glaube jedoch, dass jede
Art von Anstrengung, wenn sie ernsthaft ver-
folgt wird, eine Änderung nach sich ziehen wird.
Wie reagiert die ägyptische Gesellschaft
auf ihre Arbeit?
Generell unterstützen mich die Menschen. Viele machen sich auch Sorgen um mich.
Spielt es in irgendeiner Weise eine Rolle,
dass Sie eine Frau sind?
Die meisten Menschen sind überrascht, wenn sie
herausfinden, dass hinter tortureinegypt.net eine Frau steckt – noch dazu eine so junge, fröhliche mit Kopftuch. Ich bin mir nicht sicher, ob
die Polizei zögern würde, mich zu inhaftieren,
nur weil ich eine Frau bin. Immerhin wurde
2008 Esra Abdel-Fattah, eine Frau ungefähr in
meinem Alter, für ihre Facebook-Aktivität verhaftet. Frauen können viel besser bedrängt und
unter Druck gesetzt werden als Männer. Die
ägyptische Polizei wendet häufig sexuelle Gewalt an, sowohl verbal als auch ganz konkret
mit Vergewaltigungen.
Noha Atef
ist eine der bekanntesten Bloggerinnen
Ägyptens. Ihre Seite tortureinegypt.net wird
an manchen Tagen mehr als 20 000 mal
angeklickt und zählt zu einer der wichtigsten
unabhängigen Quellen zum Thema staatliche
Gewalt. Geboren und aufgewachsen in Kairo
mit zwei Brüdern und einer Schwester
studierte sie zunächst Spanische Sprache und
Literatur. Seit Anfang 2010 macht sie ihren
Master in »Social Media« in Großbritannien,
2011 möchte sie nach Kairo zurückkehren.
Der Neue macht Ärger
Die ägyptische Präsidentenwahl 2011 wird keine Überraschungen
bringen. Aber was geschieht, wenn der alte Mubarak nicht mehr
antritt und seine Entourage zerfasert? Mohammed El Baradei
hält sich für diesen Fall bereit
Wenn von Ägyptens Zukunft die Rede ist, fällt oft
der Name Mohammed El Baradei. Der 68-jährige
fordert ein Regime heraus, das 30 Jahre lang kaum
Widersacher kannte. Seit Anfang 2010 versucht der
frühere Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), in Ägypten ein informelles politisches Bündnis zu schmieden. »Immer mehr Menschen begreifen, dass sie unterdrückt und in Rückständigkeit gehalten werden«, verkündete Baradei.
Für seine Allianz suchte er neben linken Kräften
auch die Nähe der islamisch-konservativen Muslimbruderschaft, die sich bislang aber eher distanziert verhält.
Mit ihrer Hilfe will Baradei das Ende des auf
das Militär gestützten Regimes einläuten. Er legt damit auch sein Image als Geschöpf der Ära Mubarak ab. Ob bei den Vereinten Nationen, im ägyptischen Außenministerium, als Professor für Internationales Recht oder Generaldirektor der IAEA
– der studierte Jurist blickt auf eine glatte Karriere zurück. 2005 erhielt er den Friedensnobelpreis
für sein Engagement gegen die Verbreitung von
Atomwaffen.
Dass Baradei von zahlreichen Medien bereits
die Nachfolge des Präsidenten ans Herz gelegt wird,
registriert die regierende Elite Ägyptens offenbar
nicht ohne Sorge: Das Land steht mit seinem 82jährigen Präsidenten Hosni Mubarak kurz vor dem
Wechsel. Neben Baradei werden gehandelt: Geheimdienstchef Omar Suleiman, Mubaraks Sohn
Gamal und womöglich Premier Ahmad Nazif.
Bei seiner Rückkehr nach Ägypten im Februar
2010 wurde Baradei von seinen Anhängern stürmisch gefeiert. Über Youtube und andere InternetMedien wirbt er um junge Anhänger. Seine Medienarbeit macht es für Beobachter schwierig zu bewerten, wie beliebt er tatsächlich bei den Massen
ist. Da im Land noch immer der Ausnahmezu-
OMAR SULEIMAN, 74, ÄGYPTEN
Der Wikileaks-Skandal hilft
ausgerechnet Ägyptens
Geheimdienstchef.
Seine Chancen,
Präsident zu werden, steigen
Foto: Cherie A. Thurlby/US Department of Defense
Agent und
Statthalter
Für viele arabische Politiker waren die WikileaksEnthüllungen aus amerikanischen Diplomatenberichten eine Peinlichkeit. Nicht so für Omar
Suleiman, den Direktor des ägyptischen Geheimdienstes. Die Drahtberichte der US-Botschaft in Kairo zeichnen vielmehr das Bild eines
gewieften Strategen, der gekonnt alle Fäden der
Macht in den Händen hält und beizeiten daran
zieht. Suleiman erscheint als Vorkämpfer gegen
die iranische Vormachtstellung in der Region.
Sein Nachrichtendienst rekrutiert selbst in Syrien und im Irak Agenten. Daneben vermittelt der
74-Jährige seit Jahren zwischen den verfeindeten
Palästinensergruppen Hamas und Fatah, wenn
auch mit mäßigem Erfolg: »Ich betrachte mich
als geduldigen Menschen, aber langsam platzt
mir der Kragen«, offenbarte Suleiman den Amerikanern im Geheimen.
lIllustration: Hadinugroho
MOHAMMED EL BARADEI, 68, ÄGYPTEN
stand gilt, sind seine Möglichkeiten, zu Massenveranstaltungen aufzurufen, beschränkt.
Baradei rief zum Boykott der Parlamentswahlen
Ende November auf – es kam zu Ausschreitungen
auf den Straßen und einer Wahlbeteiligung von
25 Prozent in der ersten Runde. Nur ein Zeichen
von Desinteresse oder eine Reaktion auf Baradeis
Kampagne? Mubaraks Regierungspartei NDP gewann angeblich über 90 Prozent der zu vergebenden Sitze. Baradei hat mächtige Gegner – aber derzeit stellt er sich als einzige Alternative zu MubaUlrike Gasser
raks Kamarilla dar.
Seit 20 Jahren ist der Absolvent einer sowjetischen
Militärakademie einer der engsten Getreuen von
Präsident Hosni Mubarak. 1995 rettete er dem
Staatschef bei einem Attentat in Addis Abeba das
Leben, als er sich bei dem Angriff auf die Präsidentenlimousine schützend über Mubarak warf.
Seither wird Suleiman immer wieder als möglicher Nachfolger an der Staatsspitze gehandelt. Er
ist unbestritten ein ausgebuffter Strippenzieher,
der beste Kontakte im Nahen Osten und einen guten Draht zum Verbündeten in Washington hat.
Doch als Geheimdienstler weicht der Mann aus
dem ländlichen Oberägypten Fragen nach seinen
politischen Ambitionen beharrlich aus.
Viele Ägypter glauben, dass nur ein Mann Suleiman den Präsidentenposten streitig machen
kann: Mubaraks 47 Jahre alter Sohn Gamal. Der ist
jedoch sowohl beim Volk als auch in weiten Kreisen der herrschenden Nationaldemokratischen Partei unbeliebt. Suleiman hat den Vorteil, dass er in
Geheimdienst, Partei und Armee bestens vernetzt
ist, und die Zahl derer, die eine Erbmonarchie am
Nil verhindern wollen, beständig wächst. Gut möglich also, dass die US-Botschaft in Kairo demnächst
von Gesprächen mit dem Präsidenten Suleiman
syd
berichten wird.
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27
N E U E S TÄ D T E
SAMIH SAWIRIS, 53, ÄGYPTEN
»Massentourismus
hat keine Zukunft«
Als der ägyptische Millionärssohn Samih Sawiris
in den 1970er Jahren in Berlin studierte, gab sein
Vater ihm nur den deutschen Bafög-Satz zum
Leben. Seine Familie besitzt Orascom, einen der
größten Konzerne des Nahen Ostens. Sawiris
selbst entwickelt weltweit Tourismus-Immobilien
Interview: Nils Metzger
zenith: Herr Sawiris, für rund 1,3 Milliarden
Euro bauen Sie das Schweizer Dorf Andermatt
zu einem Luxus-Ferienresort aus. Glauben Sie
nicht, dass die Schweiz schon genug Angebote
für reiche Touristen besitzt?
Samih Sawiris: Die Nachfrage für die Schweiz
ist nach wie vor hervorragend. Die Anzahl der Luxus-Standorte ist recht gering, betrachtet man
die Reputation, die das Land international hat.
Man hat eine Auswahl zwischen höchstens sechs
verschiedenen Standorten. Selbst ein Entwicklungsland wie Ägypten hat hier mehr Angebote.
Trotzdem scheinen Ihnen die Kunden das
Produkt nicht aus der Hand zu reißen. Bislang
wurden erst 32 von geplanten 600 Appartements verkauft. Haben Sie sich verkalkuliert?
Sie denken zu kurzfristig. Wir sind nicht dorthin gegangen, um möglichst schnell zu bauen,
zu verkaufen und wieder abzuhauen. Wir haben
ein jährliches Pensum und möchten das Projekt
über die nächsten zehn bis zwanzig Jahre fertigstellen. Es ist nicht langfristig profitabel, wenn
wir alles auf einmal bauen. So macht es weder
Sinn noch Spaß. Würden wir auf einen Schlag
alle 600 Wohnungen bauen, wäre das Projekt ja
direkt zu Ende.
Geht es Ihnen darum, trotz Touristen ein
natürliches Stadtbild zu entwickeln?
Ganz genau. Wir wollen nichts forcieren. Lieber
warte ich, um die Identität des Dorfes nicht auf
einen Schlag zu verändern. Ich kann mir das er-
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zenith 5/2010
lauben, weil ich als globaler Unternehmer kein
maximales Wachstum an einem einzelnen
Standort brauche. Andere bezeichnen es als Stagnation, für mich ist es Stabilität und ich bin damit sehr zufrieden. Wenn wir jedes Jahr 100 Appartements verkaufen und das zehn Jahre lang,
sind wir glücklich. Wenn andere diesen Glauben
an unsere Projekte verlieren, dann kümmert uns
das nicht. Unser Wachstum kommt daher, dass
wir jedes Jahr an einem völlig neuen Standort
etwas starten.
Auf wie vielen Hochzeiten möchten Sie noch
gleichzeitig tanzen? Wann verliert man seinen
unternehmerischen Fokus?
Ich möchte damit nicht angeben, aber diesen
Stil muss man sich leisten können. Vor zwei Jahren nahmen wir Oman in unser Portfolio auf,
kommendes Jahr wird es Marokko sein. Inzwischen sind wir in acht Staaten aktiv.
In Oman bauen Sie gerade an vier Standorten
Hotels mit insgesamt über 5600 Zimmern.
Dort gingen Sie eine gezielte Kooperation mit
dem Staat ein, der rund 30 Prozent Anteile
an dem Projekt besitzt.
Genauso gehe ich auch in Marokko und in Montenegro vor. Ich arbeite gerne mit dem Staat zusammen. Er ist die einzige Institution in einem
Land, die langfristig denkt. Weil unsere Projekte über Jahrzehnte angelegt sind, wären Probleme mit unseren Partnern vorprogrammiert. Ich
kenne nur Wenige, die in Andermatt nicht ge-
Samih Sawiris
wurde 1957 als Sohn koptischer Christen in
Kairo geboren. Sein Vater Onsi Sawiris war
Gründer des ägyptischen Milliardenkonzerns
Orascom. Wie seine beiden Brüder Naguib und
Nassef besuchte er die Deutsche Evangelische
Oberschule Kairo, zwischen 1976 und 1980
studierte er an der Technischen Universität
Berlin. 1990 gründete Sawiris den Ferienort
El Gouna am Roten Meer. Seit 1996 ist er in
der Familien-Holding für die Tourismussparte
zuständig. Das Vermögen des Sawiris-Clans
wird auf 20 Milliarden US-Dollar geschätzt.
sagt hätten: »Was soll der Quatsch?« Dabei bieten wir vielen Branchen Anreize, dort aktiv zu
werden. Nur der Staat, nicht aber ein Privatmann kann dieses Potenzial schätzen.
Oman hat den nachhaltigen, ökologischen
Tourismus als Nische für sich entdeckt.
Verspricht dieser Weg erfolgreich zu sein?
Die Regierungen müssen endlich einsehen, dass
Qualität und nicht Masse zum Erfolg führt. Auch
mit Oman waren es lange Verhandlungen, bis wir
die Anzahl der Zimmer reduzieren durften. Es
wäre traurig, würde Oman seine Kapazitäten
plötzlich bis auf mehrere hunderttausend
Appartements ausbauen, wie es Dubai beispielsweise getan hat. Noch sind die Omanis die
Mehrheit in ihrem Land. Würden sie auf den
Massentourismus setzen, wären sie darauf an-
lIllustration: Hadinugroho
N E U E S TÄ D T E
gewiesen, zehntausende ausländische Arbeiter
zu importieren. So verlöre das Land seinen Charakter. Auch der Unterschied zwischen arabischen und europäischen Touristen wird immer
geringer. Besonders die Kinder wachsen heute
mit einer globalen Kultur auf. Verglichen mit
ihren Eltern leben sie in einer anderen Welt. In
ein paar Jahren werden die Hotels keine Unterschiede mehr zu beachten haben.
Sie tendieren dazu, in abgeschiedenen
Gegenden zu bauen, die noch nicht erschlossen
wurden. Was reizt Sie am Niemandsland?
Überall dort würden Menschen leben, wenn das
richtige Produkt für sie existierte. In El Gouna
am Roten Meer und Taba gab es nur Wüste, bis
wir gekommen sind. Ich habe über die Jahre ein
Knowhow dafür entwickelt, solche Orte zu finden und bislang habe ich mich zum Glück noch
nie geirrt. Trotzdem bin ich auch heute noch
vom Erfolg der Projekte manchmal überrascht.
Ihr ägyptisches Feriendorf El Gouna haben
Sie nur rund 20 Kilometer von Hurghada
entfernt am Roten Meer errichtet. Hurghada
selbst gefällt Ihnen wohl nicht?
Das ist doch keine Frage! In Hurghada tun mir
die Augen weh. Es gibt dort keinerlei Koordination. Niemand kontrolliert den Ausbau der
Stadt. Als Tourist wird man ständig in Geschäfte hineingezogen, die doch immer nur das Gleiche verkaufen. Einige Hotels sind fertig, andere
bleiben Bauruinen. Dieser Massentourismus hat
keine Zukunft. In El Gouna befindet sich der
ganze Standort in unserer Hand. Auch wenn die
Hotels dort qualitativ nur wenig besser sind,
kosten sie doch erheblich mehr. Das lässt sich mit
der Beliebtheit erklären.
Ihre beiden Brüder Naguib und Nassef leiten
große Telekommunikations-, beziehungsweise
Bauunternehmen. Hatten Sie jemals den
Wunsch, mit einem von ihnen zu tauschen?
Bislang nicht. Ich habe schon das interessantere Geschäft. Ich reise um die Welt, bin immer an
schönen Orten und treffe nette Leute.
Für einen Ingenieur, der an der Technischen
Universität Berlin studiert hat, ist Ihre Arbeit
eher ungewöhnlich.
Dann bin ich eine Ausnahme.
Sie haben einmal gesagt, Sie besäßen mehr
Geld, als Sie jemals brauchen könnten.
»In Hurghada tun
mir die Augen weh«
Das ist richtig. Deswegen messe ich meinen Erfolg heute auch nicht anhand des Geldes. Nicht
alle Unternehmer sind so weit. Trotzdem habe
ich durchaus Verständnis dafür, wenn sie sich
zuerst ihre persönlichen Wünsche erfüllen
möchten.
Sie sind während der Nasser-Ära
aufgewachsen. Ihr Vater wurde enteignet und
musste sein Unternehmen neu aufbauen.
Ja, das hat mich sehr geprägt. Wir haben alle gelernt, zu sparen und immer etwas zurückzulegen. Die Lektion ist, dass man nie davon ausgehen darf, dass alles so rosig bleibt. Wenn man
sich zu viel erlaubt, steht man eines morgens
auf und kann sich seinen Lebensstil nicht mehr
leisten. Mein Vater hat mich Vorsicht gelehrt.
Meine Mutter hingegen ist schon seit über 30
Jahren in Hilfsorganisationen aktiv. Sie war immer ein Vorbild. Deshalb ist es für mich selbstverständlich, ihr jetzt nachzueifern.
Seit 2007 betreiben Sie mit Orascom nahe
Kairo auf acht Quadratkilometern sozialen
Wohnungsbau. Ist »Haram City« ein
karitatives Projekt?
Nur bedingt. Wenn wir Wohnanlagen für Reiche errichten, können wir das genauso gut für
Arme tun. Es ist zwar kein lukratives Geschäft,
trägt sich aber immerhin selbst. Wenn wir in einigen Jahren bis zu einer halben Million Menschen in »Haram City« unterbringen, dann ist
das ein großer Erfolg.
Haben Sie je darüber nachgedacht, selbst in
die Politik zu gehen, um dort etwas zu ändern?
Wir versuchen, alles Mögliche zu tun. Wir helfen, indem wir dem Staat Schulen bauen und ich
zum Beispiel die Bildungskooperation zwischen
dem neuen Studiencampus in El Gouna und
der Technischen Universität Berlin mit eigenen
Geldern finanziere. Meine Brüder und ich haben davon profitiert, gute Universitäten besuchen zu dürfen. Diese Chance möchten wir auch
denen geben, die dafür nicht das Geld haben. Bildung ist für mich der Schlüssel zum Erfolg.
In El Gouna planen Sie, Umweltingenieure
für den ganzen Nahen Osten auszubilden.
Möchten Sie mit dem neuen Bildungsstandort
die etablierten amerikanischen Universitäten
der Region herausfordern?
Wir haben auch Wassertechniker und Städteplaner. Wir beschränken uns nicht auf eine einzelne Sparte, sondern wählten die Themenbereiche, in denen die TU Berlin führend ist.
Gleichzeitig sind diese Disziplinen für El Gouna von essenzieller Bedeutung. Die Stadt liegt in
der Wüste. Wasser ist knapp im Nahen Osten.
Die Förderung von Wasseringenieuren ist die
einzig logische Entscheidung. Eine Konkurrenz
zu anderen Universitäten möchte ich auf keinen Fall erreichen. Die liegen alle in wohlhabenden Staaten, die sich solchen Luxus leisten
können. Sie finden dort zu 98 Prozent ausländische Studenten, während wir in Ägypten
tatsächlich einen Bedarf haben.
Sie sind nun 53 Jahre alt. Für gewöhnlich
entdecken Unternehmer gegen Ende
ihrer Karriere ihre soziale Ader.
Planen Sie schon Ihren Ruhestand?
Ich kann mir gut vorstellen, dass ich langsam damit beginnen muss, zwischen Arbeiten und Ruhe abzuwägen. Außerdem hat sich die Organisation meines Unternehmens in den letzten Jahren so weit verbessert, dass ich immer mehr
delegieren kann. So finde ich die Zeit, etwas
Neues anzufangen.
Ihre Ehefrau kommt aus Ecuador. Haben
Sie bereits mit dem Gedanken gespielt, in
Südamerika einen Standort zu eröffnen?
Das ist mir etwas zu weit. Wenn ich Glück habe, verliebe ich mich dort nicht in ein Stück
Land, denn sonst müsste ich dort etwas bauen.
Das wäre ein Problem, weil ich stets vor Ort sein
müsste, um mitzubekommen, wie sich das Projekt entwickelt.
Verbringen Sie ihren Familienurlaub
in den eigenen Hotels?
Nein, dafür nehme ich immer meine Yacht.
zenith 5/2010
29
ISLAM IST IN
KRISTIANE BACKER, 45, GROSSBRITANNIEN
»Reden kann man
nur mit Menschen,
nicht mit einer
Religion«
Sie war das Gesicht der ersten MTVGeneration in Deutschland. Von Pop und
Glamour wandte sie sich ab und entdeckte
den Islam: Kristiane Backer ist die Ikone
der sanftmütigen Konvertiten
Interview: Elisabeth Knoblauch
zenith: Frau Backer, Sie sprechen oft
von der Spiritualität des Islams.
Was genau meinen Sie eigentlich damit?
Kristiane Backer: Die Spiritualität des Islams
ist im Westen weitgehend unbekannt, dabei
spielt sie eine zentrale Rolle im Islam. Die Seele braucht Nahrung genau wie der Körper oder
der Geist. Wir schenken unserer Seele heute
kaum Bedeutung, so dass sie durch unseren hektischen Lebensstil häufig verkümmert. Das
äußert sich beispielsweise in Depressionen, Einkaufs- oder Vergnügungssucht oder asozialem
Verhalten. Der Islam sorgt dafür, dass Körper,
Geist und Seele in Harmonie sind. Er ist eine
ganzheitliche Religion. Selbst die Gebete laufen
nicht nur in Kopf oder Herzen ab, der gesamte
Körper ist beteiligt. Das Fasten im Ramadan und
die Pilgerfahrt sind auch spirituelle Übungen.
Diese Dimension des Islams, die auch das
Herz des Islams genannt wird, ist der Sufismus. Im Sufismus ist eine Weisheit begründet,
die wie ein Labsal für unsere Seele ist, uns
Frieden gibt, unsere Beziehung zu Gott nährt
und das Beste in uns fördert. »Ein Sufi ist, wer
sein Herz rein hält«, lautet eine alte Weisheit
des Sufismus.
30
zenith 5/2010
Wie wird man denn ein solcher Sufi?
Es geht darum, sich durch spirituelle Praktiken
und tugendhaftes Verhalten von Innen zu reinigen, damit der Spiegel des Herzens so blank
wird, dass er das Heilige Licht reflektieren kann.
Auf dem Weg der Sufis entdecken wir nicht nur
unser göttliches Selbst, sondern reisen zu Ihm.
Dazu müssen sich die Schleier der Gedanken
lüften, denn nur im Herzen, im Zentrum unseres Selbst finden wir die Heiligkeit und somit die
Wurzel zum höheren Selbst. Diese innere Reise
ist mit harter Arbeit verbunden, spiritueller Anstrengung, sowie Freude und Glück.
Das Ziel ist zu erkennen, wer wir wirklich
sind, woher wir kommen und wohin wir gehen.
»Wahrhaftig, wir kommen von Gott und zu Ihm
kehren wir zurück«, erklärt uns der Koran. Damit ist auch das Auslöschen des Egos verbunden,
wie es der berühmte Ausspruch »stirb bevor Du
stirbst« fordert, den sinngemäß ja so gut wie alle großen spirituellen Traditionen und Propheten vermitteln.
Das heißt, wir geben unseren eigenen Willen
auf für den Willen Gottes. Dann können wir
unsere Rolle als Diener oder Stellvertreter Gottes auf Erden erfüllen.
Und Sie sind auf dieser Stufe angekommen?
Für mich persönlich war die Spiritualität des Islams der entscheidende Grund, die Religion anzunehmen, denn genau diesen Weg wollte ich
versuchen zu beschreiten. Ich fühle mich nun innerlich erfüllt, wie ich es ohne diesen festen
Glauben und Gott im Herzen nicht tat.
Viele Menschen empfinden den Islam als
etwas Einengendes, Beschwerendes.
Die meisten Bücher zum Islam handeln derzeit
eher von Frauen, die unter dessen religiöser
Tradition gelitten haben. In Ihrem Buch ist
davon aber überhaupt nicht die Rede.
Ich brauche jetzt keinem Trend mehr hinterher
zu laufen oder anderen gesellschaftlichen Normen zu folgen, sondern einzig und allein Gott.
Das ist befreiend!
Foto: Stefanie Herrmann
ISLAM IST IN
Sagen Sie: Wie stellen Sie
sich Gott vor?
Gott sprengt jede Vorstellungskraft! Die zentrale Idee
des Islams ist Gottes Einheit,
tawhid. Es gibt einen einzigen
Gott. Gott ist absolut und allmächtig, unendlich gut, barmherzig und immer wieder vergebend. Gott ist transzendent
und immanent, das heißt
überall und in unseren Herzen. Gott ist größer als alles,
was wir uns vorstellen können,
und uns »näher als die eigene
Halsschlagader« – so steht es
im Koran. Alles, was existiert,
und alles, was geschieht, geht
von Ihm aus. Es gibt keine
Kraft im Himmel oder auf
der Erde, die unabhängig von
Gott ist.
»Ich brauche
keinem Trend
mehr hinterher zu laufen,
sondern nur
noch Gott!«
Und Sie stehen im
Austausch mit ihm?
Gott wird im Islam nie personifiziert, denn keine Darstellung würde Ihm je gerecht
werden. Die Assoziation mit
anderen Gottheiten oder Kräften bezeichnet man als shirk,
als die schlimmste aller Sünden. Als der Prophet einmal
aufgefordert wurde, Gott zu beschreiben, wurde ihm diese Antwort offenbart: »Er ist Gott,
der Einzige – Gott, der allein Anzuflehende –
Weder zeugt Er noch ist Er gezeugt worden –
Ihm gleicht niemand.«
Sie scheinen einen hohen
Anspruch an sich selbst zu haben.
Zweifeln Sie nie?
Doch klar, und immer wieder hilft mein Glaube – die Gebete oder Lektüre etwa des Korans
oder anderer Bücher, die zu meiner Seele sprechen. Oder Gespräche mit gläubigen Menschen,
meiner Familie und guten Freunden. Manchmal lese ich im Koran und bekomme die Antwort auf mein Problem beim Lesen. Es ist unglaublich aber wahr. Der Koran spricht mit
demjenigen, der sich ihm aufrichtig zuwendet.
Sie sprechen von »dem Islam«. Die größte
Schwierigkeit dabei ist wohl, dass der Islam
eine sehr individuelle und wenig organisierte
Religion mit sehr unterschiedlichen
Erscheinungsformen ist.
Ja, das stimmt wohl, es gibt keine Führungskraft
wie es der Papst beispielsweise im Katholizismus ist. Aber es gibt Gelehrte. Die Gelehrten
der Universität Al-Azhar in Kairo nehmen dabei eine Art Führungsposition ein, doch es gibt
noch einige andere. Das hat Nachteile aber auch
Vorteile. Der Koran hält uns immer wieder an,
unsere Vernunft anzuwenden, das heißt: Jeder
Einzelne ist gefragt, die Dinge für sich selbst zu
klären. Letztendlich muss sich ja auch jeder individuell vor Gott verantworten. Hinzu kommt,
dass der Islam nicht monolithisch ist, sondern
von vielen verschiedenen Kulturen geprägt ist,
die der religiösen Praxis ihre eigene Färbung geben. Ich fühle eine innere Verbundenheit zu chinesischen, arabischen oder türkischen Muslimen, obwohl ich natürlich nicht unbedingt alle ihre kulturellen Praktiken teile. Wichtig ist, zu
differenzieren zwischen der jeweiligen Kultur
und der Essenz des Islams. Denn die teilen wir
alle. Reden kann man ja sowieso nur mit Menschen, nicht mit einer Religion. Wenn man in
Europa mit Muslimen in einen Dialog treten
möchte, dann sollte man am besten bei den europäischen Muslimen beginnen.
Der Islam als Weg des Herzens.
Warum ich Muslima bin
Kristiane Backer
Ullstein Verlag, Berlin 2010,
424 Seiten, 9,95 Euro
Kristiane Backer
wurde 1965 in Hamburg geboren.
Mit 24 Jahren wurde sie die erste deutsche
MTV-Moderatorin – unter anderem
sagte sie den Coca-Cola Report und die
European Top 20 an. 1991 lernte sie
den pakistanischen Cricket-Star Imran Khan
kennen. Während einer Pakistanreise mit
Khan kam sie nach eigenen Angaben dem
Islam der einfachen Leute näher. 1995,
einige Monate nachdem Khan und sie sich
wieder getrennt hatten, wurde sie selbst
Muslima.
zenith 5/2010
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Matiullah Khan, der Herr
der Südprovinzen im Kreis seiner
Gesellen: Im Chaos von
Afghanistan zählt er zu den
neuen Machthabern.
MATIULLAH KHAN, 40, AFGHANISTAN
Der Raubritter von Uruzgan
Er beherrscht die Straßen Südafghanistans. Matiullah Khan
gilt als Krimineller – und Verbündeter der Nato. Ein Warlord,
an dem sich die Widersprüche des Afghanistankriegs zeigen,
und dessen Aussichten für die Zukunft glänzend sind
Von Christoph Reuter
Der Mann hat nicht einmal ein offizielles Amt – und doch ist Matiullah Khan
einer der mächtigsten Männer Südafghanistans. Nicht obwohl, sondern gerade weil er jenseits jeder staatlichen
oder militärischen Ordnung steht. Ein
Warlord, gewachsen aus den Wirren des
Krieges. Genau damit verkörpert er den
Prototypen der kommenden Mächtigen
in Afghanistan.
Angefangen hat der knapp 40-Jährige vor drei Jahren als Chef einer Behörde, die bei seinem Antritt bereits so gut
wie aufgelöst war: die »Highway Police«,
Afghanistans wohl korrupteste Polizeitruppe, die mit Schmiergeldern und
Schutzgelderpressungen reich wurde
und exakt das Gegenteil von dem bewirkte, wozu sie einst geschaffen worden war: die Straßen sicher zu machen.
Doch während die Einheit auf Druck
32
zenith 5/2010
des US-Militärs in Kabul offiziell abgeschafft wurde, trat Matiullah seit Anfang 2008 als deren Kommandeur in der
Südprovinz Uruzgan auf – sehr zum
Leidwesen der niederländischen Armee,
der die Kontrolle der Provinz oblag.
»Wir kennen seine Morde, seine Methoden, wir halten ihn für einen Kriminellen«, sagte einer der Offiziere in
»Camp Holland« im Hauptort Tarin
Kowt im März 2009.
Matiullah Khan sah das schon damals
anders. Er empfing seine Besucher nicht
nach afghanischer Tradition auf Polstern
am Boden, sondern auf goldenen BarockSesseln und mit einem besonders kitschigen Tee-Service vor sich. Er sei Kommandeur, erklärte Matiullah, denn seine
fast 1000 Mann würden doch vom Innenministerium in Kabul bezahlt und bildeten eine erfolgreiche Truppe.
Diese Truppe existierte nicht nur. Sie
war mit Abstand die bestausgerüstete und kampfstärkste afghanische Einheit in der ganzen Provinz. Denn Matiullah hat den Krieg privatisiert: Seine Männer kontrollieren die einzige
Verbindungsstraße zwischen Uruzgan
und Kandahar und damit die Versorgungsroute für alle Militärlager der
Südprovinz. An einem Tag in der Woche, den Matiullah allein bestimmt,
ist »security day«. Dann können die
Konvois der Amerikaner, Australier,
der privaten Firmen und Hilfsorganisationen fahren, beschützt von seinen Männern. Und auch nur dann:
Wer versucht, an anderen Tagen
durchzukommen, wird beschossen,
angeblich von den Taliban.
Strauchdieb
oder Polizeichef?
Matiullahs Service kostet: zwischen
800 und 3000 US-Dollar – pro Lkw,
pro Fahrt. Damit allein verdient er
nach amerikanischen Schätzungen 2,5
Millionen Dollar im Monat. Doch anders als der offizielle Polizeichef der
Provinz, Juma Gul, der noch die Pensionen getöteter Polizisten unterschlägt, investiert Matiullah klug: Zusätzlich zu den rund 200 US-Dollar,
die jeder seiner Männer in der Tat vom
Innenministerium erhält, gibt es noch
eine Prämie von 200 bis 300 Dollar aus
Matiullahs Kasse. Werden sie verletzt,
bezahlt der Chef ihre Behandlung.
Legendär in ganz Uruzgan ist der Fall
eines Kämpfers, den Matiullah in ein
Krankenhaus nach Indien fliegen ließ,
um dessen im Gefecht verletztes Auge
operieren zu lassen.
Seine Männer sind loyal, gut ausgerüstet – und sorgen dafür, dass
tatsächlich nur jene Konvois durchkommen, deren Besitzer zahlen. So wie
die Versorgungstrucks der amerikanischen und australischen Armee, die
Verträge mit ihm abgeschlossen haben. Und ihn gleichzeitig verdächti-
Foto: Thorne Anderson
W E R S O L C H E F R E U N D E H AT . . .
Foto: Marcel Mettelsiefen
W E R S O L C H E F R E U N D E H AT . . .
gen, mit den Taliban zu kooperieren.
Wie aus den jüngst veröffentlichten
geheimen Dokumenten der US-Armee
hervorgeht, hielten 100 Bewaffnete vergangenen Sommer einen Nato-Treibstoff-Konvoi an und verlangten bis zu
3000 Dollar pro Tanklaster. Stundenlang dachten die US-Offiziere in Kabul,
es handele sich um einen Überfall der
Taliban. Bis sich herausstellte, dass Matiullahs Männer dahinter steckten. Offiziell preisen die Amerikaner ihn als
Verbündeten. Sie brauchen ihn.
Schritt für Schritt ist Matiullah
mächtiger geworden, hat mittlerweile
mehr als 3000 Mann unter Sold. Die
Niederländer, die ihn absetzen wollten
und widerwillig duldeten, sind abgezogen. Die australische Armee hat begonnen, seine Männer sogar in Australien auszubilden. Dass Matiullah
gleichzeitig lokale Konkurrenten aus
dem Weg räumt und seit 2002 immer
wieder Bauern ermorden ließ, die sich
weigerten, ihm ihr Land und gelegentlich auch ihre Töchter abzutreten,
wird übergangen.
Und Matiullah selbst investiert sein
Geld in Macht: Er hat bereits 70 Moscheen in der Provinz bauen lassen,
unterstützt Bedürftige, die sich bei öffentlichen Sitzungen an ihn wenden
wie früher an den König. Er empfängt
Delegationen aus anderen Städten und
schlichtet Stammesfehden. In diesem
Land, das weder die Kabuler Regierung, noch die Taliban, noch die ausländischen Streitkräfte kontrollieren,
ist Matiullah damit ein Machtmagnet.
Mittlerweile ist er der stärkste Mann
der Region, beliefert die Nato-Truppen
mit Kies für ihre Lagerwälle und erweitert seine Kontrolle der Versorgungsrouten weit über Kandahar
hinaus. Er hat potenzielle Rivalen ausgeschaltet, mehrere Mordversuche überlebt und seine Machtbasis gesichert –
unabhängig davon, wer künftig in
Afghanistan herrscht. Er, der Kommandeur einer offiziell nicht existenten
Polizeitruppe, ist einer der kommenden
Mächtigen des Landes.
Angeblich besaß er keinen
richtigen Familiennamen
und schrieb seinen Vornamen
deshalb einfach doppelt:
Abdullah Abdullah während
eines Wahlkampfauftritts
im Jahr 2009.
ABDULLAH ABDULLAH, 50, AFGHANISTAN
Dieser Herr
kommt uns
bekannt vor
er könne die ethnischen Gräben im Vielvölkerstaat
Afghanistan überbrücken. Nach der ersten Abstimmung im August 2009 sollte es im Oktober zu
einer Stichwahl kommen – aber Abdullah zog sich
zurück. Nach den zahlreichen, von ausländischen
Beobachtern bestätigten »Unregelmäßigkeiten« der
ersten Runde sei klar: Gegen Karzais gedungene
Wahlfälscher werde er nicht ankommen. So lautete seine Begründung.
Nach einer glanzvollen
Kampagne verschwand der
Noch jung genug
Präsidentschaftskandidat und für die Revanche
Herausforderer Hamid Karzais
von der Bildfläche. Kriegt er
Seitdem schien Abdullah aus dem politischen Leben des Landes fast verschwunden. Oppositionsnoch eine zweite Chance?
Zu Afghanistans Präsidentenwahl 2009 legte Abdullah Abdullah eine Kampagne hin, die viele westliche Beobachter beeindruckte. Er wurde hoch gehandelt: als Hoffnungsträger und Alternative zum
Regime von Präsident Karzai, das sich korrupt und
unbeweglich zeigte. »Er wird am Hindukusch respektiert, weil er als vernünftig, bescheiden und
intelligent gilt«, lobte die Welt den ehemaligen Augenarzt und zeitweiligen Außenminister der afghanischen Post-Taliban-Regierung. Abdullah,
Sohn einer tadschikischen Mutter und eines paschtunischen Vaters, weckte im Ausland die Hoffnung,
führer in Afghanistan ist gewiss kein Prominentenjob. Ein Deal mit Karzai um Machtbeteiligung,
wie ihn manche Journalisten erwartet hatten, blieb
aus. Wollte Abdullah lieber – mit 50 noch jung genug dafür – auf die nächste Gelegenheit warten?
»Abdullah ist abgeschrieben, wahrscheinlich wäre
aus ihm nur ein zweiter Karzai geworden«, sagt ein
deutscher Beobachter in Kabul. Von ihm sei nichts
mehr zu erwarten. Immerhin: Im November 2010
brachte sich der Oppositionspolitiker noch einmal
in die internationalen Medien. Bei der Parlamentswahl vom September, deren Stimmenauszählung zwei Monate gedauert hatte, gewann die
»afghanische Opposition« rund ein Drittel der Sitze. Diese Männer und Frauen wisse er hinter sich,
verkündete Abdullah.
dge
zenith 5/2010
33
SALAM FAYYAD, 58, PALÄSTINA
»Wir haben uns
diese Prüfung selbst
auferlegt«
zenith: Herr Premierminister, seit Wochen
touren Sie durch die Westbank, eröffnen
Einkaufszentren oder Schulen. Sie lassen sich
gern bei der Olivenernte fotografieren. Ist das
schon der Auftakt Ihrer Wahlkampagne?
Salam Fayyad: Es stimmt – üblicherweise verbindet man solche Aktivitäten mit Wahlkampf. Aber
wir haben keine Wahlen, auch wenn ich wünschte, wir könnten welche haben. Eine Kampagne
führen wir dennoch: Es geht darum, in Palästina
Staatlichkeit aufzubauen und dafür zu werben.
Außerdem gehört es zum Job eines Politikers, nahe bei den Menschen zu sein. Manche Probleme
kann man einfach und schnell lösen, wenn man
den Leuten zuhört. Außerdem verschafft uns das
die Glaubwürdigkeit, die wir brauchen.
In der Westbank wird derzeit viel über Ihren
Regierungsstil gesprochen – den »Fayyadismus«. Das klingt nach einer neuen Ideologie.
Was verstehen Sie selbst darunter?
Eigentlich sollten Sie diese Frage dem Journalisten Thomas Friedman stellen, der hat das Wort
ja erfunden. Ich denke, er beschreibt damit die
Leistungsbezogenheit unserer Regierung. Wir
verlagern den Akzent auf handfeste Ergebnisse,
weg von abstrakten Ideologien. Es ist eigentlich
sehr einfach: Wir bringen hier und jetzt unseren Staat voran.
Einen Staat, den es nicht gibt.
Wir bauen Staatlichkeit, damit wir einmal einen Staat bekommen. Wir bauen die Institutionen eines Staates. Damit verbessern wir unsere
Möglichkeiten, die israelische Besatzung abzuschütteln. Wir schaffen Tatsachen, die langfristig
nicht ignoriert werden können.
Das klingt nach einer israelischen Strategie:
Stück für Stück Tatsachen zu schaffen, um auf
deren Grundlage die eigene Verhandlungsposition zu verbessern. Haben Sie von den Israelis
gelernt?
Das ist nicht unbedingt eine israelische Strategie; und wir passen uns der Strategie der Israe-
34
zenith 5/2010
Der Premierminister der Palästinensischen
Autonomiebehörde hat angekündigt:
Im Sommer 2011 ist sein Land bereit für
die Unabhängigkeit. Im zenith-Gespräch
erklärt Fayyad seine Strategie und nimmt
Stellung zu dem Vorwurf, seine Regierung
baue einen Polizeistaat auf
Interview: Daniel Gerlach und Robert Chatterjee
lis auch nicht an. Wir entwickeln unsere Politik
lediglich anhand der Gegebenheiten, ob diese
uns nun passen oder nicht. Im Prinzip legen wir
gerade eine Art Prüfung ab – ein selbst auferlegtes Examen. Wir wissen: Wir müssen Bedingungen erfüllen, um unsere Freiheit zu erlangen.
Das ist zwar nicht fair, aber so ist es eben. Anhand der Prüfungsaufgabe wollen wir herausfinden, ob wir jemals in der Lage sein werden,
uns selbst zu regieren.
Die wirtschaftliche Entwicklung lässt sich
vorzeigen. Die Stadt Ramallah zum Beispiel
hat sich sehr verändert. Auf den Straßen
fahren Neuwagen. Immer mehr Cafés und
Restaurants eröffnen.
Ja, aber schauen Sie doch mal nach Nablus. Diese Stadt hat sich im Vergleich noch viel mehr verändert. Vor ein paar Jahren herrschte dort noch
ein völliges Chaos.
Geht der wirtschaftliche Aufschwung im Westjordanland nicht auf Kosten Ost-Jerusalems?
Je mehr Sie investieren, desto mehr Palästinenser aus Jerusalem kommen nach Ramallah.
Das können Sie von mir aus so sehen. Ich glaube nicht, dass Jerusalem geholfen wäre, wenn
Ramallah oder Nablus ärmer blieben. Im Gegenteil: So können wir unsere Position stärken,
um die Besatzung loszuwerden. Das bedeutet
nicht, dass wir auf Jerusalem verzichten. Ich
glaube, diese Politik schafft die besten Voraussetzungen, um später einmal Kontrolle über den
Teil Jerusalems zu gewinnen, der 1967 besetzt
wurde. Ohne Jerusalem als Hauptstadt wird es
keine Lösung geben.
US-Außenministerin Hillary Clinton
soll einmal in kleinem Kreis gesagt haben,
Sie seien derzeit der einzige Mensch, dem sie
die Regierungsarbeit in Palästina zutraue.
Glauben Sie, dass die Amerikaner einen Staat
Palästina anerkennen, wenn Sie ihnen geben,
was sie wollen?
Die Amerikaner können das sicher selbst beantworten – und das von Ihnen erwähnte Zitat
ist mir im Übrigen unbekannt. Wir machen das
hier nicht für die Amerikaner, sondern für uns.
Unsere nationalen Interessen diktieren uns den
Weg. Auch für unsere israelischen Nachbarn ist
die Tatsache, dass wir in unserem eigenen Interesse handeln, die beste Rückversicherung.
Unser Plan bedroht niemanden: Er zielt auf Aufbau, Frieden und Nachbarschaft und schafft positive Fakten.
Um sich beim Staatsaufbau nicht stören zu
lassen, gehen Sie unerbittlich gegen Ihre Geg-
Foto: dge
S TA AT S G R Ü N D E R
S TA AT S G R Ü N D E R
Salam Fayyad
wurde 1952 im Dorf Deir Ghusun nahe
der palästinensischen Stadt Tulkarem
geboren. 1967 zog seine Familie nach
Jordanien. Fayyad studierte Volkswirtschaft
in den USA und forschte zu Geldkreisläufen und Währungspolitik. In den 1980er
und 1990er Jahren arbeitete Fayyad für den
Internationalen Währungsfonds und war
unter anderem für die Kontrolle der
Finanzreformen der Palästinensischen
Autonomiebehörde zuständig.
2007, nach dem annullierten Wahlsieg
der Hamas und bürgerkriegsähnlichen
Zuständen in Gaza und im Westjordanland, ernannte Präsident Mahmud
Abbas ihn zum Regierungschef. Fayyad
ist nicht Mitglied der Fatah-Bewegung
von Abbas, sondern gründete 2005 seine
eigene Partei »Dritter Weg«. Er ist
verheiratet und hat drei Kinder.
»Wir verzichten nicht auf
Jerusalem, sondern stärken
unsere Position!«
ner vor. Vertreter der Hamas beschweren sich
über Verhaftungen und Gesinnungsverfolgung,
aber auch andere Oppositionelle warnen:
Palästina wird ein arabischer Polizeistaat. Ist
das der Preis Ihres Erfolges?
Sehen Sie, ich habe heute in Nablus eine Schule
eröffnet – gemeinsam mit dem Bürgermeister, der
ein Hamas-Mann ist. Ich verstehe mich mit ihm,
arbeite mit ihm. Aber es gibt einige, die glauben,
sie könnten auf eigene Rechnung arbeiten. Wir
wissen, wohin das führt. Wenn die Hamas denkt,
es obliege ihr zu entscheiden, ob sie Gewalt anwendet oder nicht, können wir da keine Nachsicht walten lassen. Wir sind die Regierung! Das
ist nicht verhandelbar und auch keine Ansichtssache. Ein solches Verhalten gefährdet die Fundamente unserer Politik. Natürlich haben wir keine
funktionierende parlamentarische Demokratie.
Aber unser Gewaltmonopol ist in hohem Maße
mitverantwortlich für die derzeitigen Erfolge. Ohne es stünde es schlimm um uns.
Nehmen Ihre Sicherheitsleute ihren Job nicht
etwas zu ernst?
Ich möchte nicht leugnen, noch hätte es irgendeinen Sinn zu leugnen, dass die Dinge noch
nicht so sind, wie sie sein sollten. Aber bis vor
kurzem waren die Menschen hier in der Westbank regelrecht am Ende. Sie lebten in täglicher
Angst vor Krieg, Belagerung und Checkpoints
und fühlten sich nicht einmal im eigenen Haus
sicher. Gewaltexzesse und Übergriffe …
… Sie meinen: durch Ihre Sicherheitsleute?
Diese Exzesse sind nicht das Produkt unserer
Politik, sondern der Verrohung der letzten Jahre. Ich bedaure, dass es Verletzungen der Menschenrechte gab und gibt. Schauen Sie: Der
Sicherheitsaufwand um mich herum wirkt
wahrscheinlich exzessiv. Das macht mir an und
für sich kein Vergnügen, aber anders geht es
leider nicht. Ich hoffe, dass wir gut vorankommen und solche Dinge demnächst nicht mehr
geschehen. So wie in einem reifen Land. Klagen gegen Verletzungen der Menschenrechte
wurden hier früher überhaupt nicht ernst genommen. Wir aber tun das. Missbrauch und
Misshandlungen – seien sie psychisch oder physisch – sind verboten. Wir haben auch einige
Offiziere gefeuert, die sich nicht daran halten
wollten.
Im Gaza-Streifen herrscht die Hamas.
Von einer wirtschaftlichen Entwicklung wie
hier im Westjordanland ist nichts zu sehen.
Haben Sie Gaza aufgegeben?
Sicher nicht! Wir müssen hart daran arbeiten,
uns wieder zu versöhnen. Wenn die Menschen
in Gaza sehen, dass unser Weg die Lebensumstände verbessert, ist das eine gute Kulisse für die
Aussöhnung mit der Hamas. Wir werben dafür,
dass Geldgeber in den Aufbau von Schulen,
Energie und Wasserversorgung in Gaza investieren. Wir sollten da keine Zeit verlieren und
nicht warten, bis die Aussöhnung vollendet ist.
Wären Sie am Ende mit einer
Dreistaatenlösung einverstanden – Israel,
Gaza und Westjordanland?
Nein. Es wird keinen Staat Palästina ohne Versöhnung mit der Hamas geben. Wir müssen daran arbeiten, dass das Land vereint wird.
zenith 5/2010
35
TAMIR PARDO, 57, ISRAEL
Sag niemals wie
lIllustration: Hadinugroho
KAMERADEN
Der neue Boss des Mossad: Tamir Pardo soll den israelischen
Auslandsgeheimdienst leiten. Die größte Herausforderung für den
ehemaligen Elitensoldaten bleibt das iranische Atomprogramm
Sein Name war »T«. Jahrelang. Vor wenigen Wochen nun wurde daraus Tamir Pardo – der neue
Direktor des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad, ernannt von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Der 57-jährige verheiratete
Vater von zwei Kindern gilt als Fachmann für die
»Frontstaaten«: die arabischen Länder und Iran.
Seit mehr als 20 Jahren soll er sich sukzessive hochgearbeitet haben im »Institut für Aufklärung und besondere Aufgaben« – dafür steht
das Akronym Mossad. Besondere Meriten hat
sich Pardo offenbar an der Spitze einer internen
Untersuchungskommission verdient, als er Pannen und schlechte Planung bei Mossad-Aktionen aufdeckte, unter anderem beim gescheiterten Attentat auf den politischen Führer der Hamas Khaled Mashaal 1997 im jordanischen
Amman. Aber auch vor seiner Karriere als Geheimdienstmann diente der »Bulldozer« und
»Pusher«, wie er in öffentlich gewordenen Geheimdokumenten bezeichnet wird, dem jüdischen Staat. Als Verbindungsoffizier in der Eliteeinheit »Sayeret Matkal – Späher des Generalstabs« war Pardo 1976 am Kommandounternehmen in Uganda beteiligt, bei dem es um die
Befreiung von Geiseln ging. Luftpiraten der
»Volksfront zur Befreiung Palästinas« und der
deutschen »Revolutionären Zellen« hatten eine
Maschine der Air France entführt und auf ein
Rollfeld in Entebbe gebracht. Die Operation
zählte zu den Glanzleistungen israelischer Geheimdienste und Militärs.
Nun wird Pardo, der im vornehmen ScharonDistrikt an der Mittelmeerküste leben soll, als
neuer Mossad-Direktor eine nicht minder komplexe Aufgabe zu bewältigen haben: das iranische
Atomprogramm aufhalten und herausfinden,
wie eng die Beziehungen zwischen dem Mul-
lah-Regime und dem kommunistischen Nordkorea wirklich sind. Durch die Wikileaks-Veröffentlichungen im vergangenen November war
bekannt geworden, dass Teheran angeblich 19
Raketen, die mit Atomsprengköpfen bestückt
werden können, in Pjönjang gekauft hat.
Das Vertrauen von Netanjahu und Verteidigungsminister Ehud Barak für diese Aufgabe ist
ihm jedenfalls sicher. Sie priesen ihren ehemaligen Kommandokameraden als »Mann der Tat
Dominik Peters
zur richtigen Zeit«.
AHMAD SHUJA PASHA, 58, PAKISTAN
Liebesgrüße aus Islamabad
lIllustration: Amatir
Zum ersten Mal steht ein Feind der Taliban an der Spitze des
pakistanischen Geheimdienstes. Und auch das Verhältnis zum
verhassten Nachbarn Indien versucht er zu entspannen
Wäre alles nach Vorschrift abgelaufen, hätte
Ahmad Shuja Pasha am Nachmittag des 18. März
2010 seinen Schreibtisch geräumt und zum letzten Mal sein Büro in Islamabad verlassen. An diesem Tag wurde Pasha 58 Jahre alt und hätte damit altersgemäß seinen Posten an der Spitze des
pakistanischen Militärgeheimdienstes ISI aufgeben müssen. Doch kurz vor dem Geburtstag beschloss die Armeeführung, die Amtszeit des Geheimdienstchefs »zum Wohle der Kontinuität«
um ein weiteres Jahr zu verlängern. Der Generalleutnant hat eine militärische Bilderbuchkarriere hinter sich. Er befehligte zunächst Truppen
in Abbottabad an der Grenze zu Kaschmir und
leitete später die Militärakademie in Quetta. Von
2001 bis 2002 war er Kommandeur der UN-Mission in Sierra Leone.
Diese Bürgerkriegserfahrung nützte ihm schon
bald im eigenen Land. Ab 2006 leitete Pasha die
pakistanischen Militäroperationen gegen die Taliban und al-Qaida in Waziristan und dem SwatTal. Umso überraschender kam seine Ernennung
zum ISI-Chef zwei Jahre später, denn der Geheimdienst war bis dahin eher ein Förderer als ein
Gegner der islamistischen Milizen.
Mit Pasha steht seither zum ersten Mal ein
erklärter Feind der Taliban an der ISI-Spitze.
Allen voran die USA sollen 2008 auf die Ablösung seines Vorgängers Nadeem Taj gedrängt
haben, dem Doppelzüngigkeit beim Umgang
mit Taliban und al-Qaida vorgeworfen wurde.
Seither hat Pasha die Ausrichtung seines Dienstes verändert und am Feindbild Indien gerüttelt. Für Aufsehen sorgte er, als er im Ramadan
2009 an einem Iftar-Mahl des indischen Gesandten in Pakistan teilnahm.
Die Entscheidung, ob Pashas Amtszeit um ein
weiteres Jahr verlängert wird, liegt in den Händen von Armeechef Ashfaq Parvez Kayani. Ihm
werden politische Ambitionen nachgesagt. Kayani und Pasha gelten laut Wikileaks als Vertraute – und potenzielle Gegner von Präsident Asif
Ali Zardari. Rückt Kayani nach oben, könnte
Pasha seine Funktion übernehmen. Gut möglich
also, dass Ahmad Shuja Pasha noch ein wenig auf
syd
seine Rente warten muss.
Foto: Anson Smart for La Mamounia
KÜCHENCHEF
RACHID AGOURAY, 38, MAROKKO
Last der Legende
Er ist Chefkoch im Hotel »La Mamounia«
in Marrakesch.
Einst dinierten dort Winston Churchill
oder Marcello Mastroianni.
Der famose Ruf des Hauses ist
Rachid Agourays größtes Problem:
Er kann sich keine Fehler leisten
Von Fabian Wagener
Zunächst geht es durch acht Hektar Garten. Palmen, Kakteen und Orangenbäume säumen den
Weg, zwei Männer in weißer Livrée pflücken
Rosmarin und Thymian. Hinter einem Wasserbecken zeigt sich ein kleiner Prachtbau mit
Innenhof, ein Riad: »Le Marocain«, eines von
drei Restaurants des berühmten Hotels »La Mamounia« in Marrakesch. Rachid Agouray ist der
Chef im »Marocain« und schlendert gelegentlich durch den Speisesaal, um den Gästen zuzunicken. Sein Name mag bekannt sein, sein
Gesicht ist es nicht. Denn Agourays Reich liegt
unter der Erde. Hinter einer unscheinbaren
Holztür führt eine schmale Treppe in den Keller, vorbei an Weinregalen in die Küche.
Seit der Wiedereröffnung des Hotels Ende
2009 leitet Agouray das marokkanische Restaurant. Drei Jahre waren die Pforten des »Mamounia« geschlossen, ein französischer Architekt
hatte das Interieur des 1923 errichteten Prunkbaus von Grund auf renovieren lassen. Für Chefkoch Agouray war das Jahr nach der Eröffnung
eine große Herausforderung: »Wir hatten unseren Platz als Nummer eins und unseren Ruf
zu verteidigen.«
Tatsächlich hatte das Hotel in den Jahren vor
der Schließung eher von seinem legendären Ruf
als vom herausragenden Komfort profitiert:
Stammgast Winston Churchill verfasste hier seine Memoiren, Alfred Hitchcocks »Der Mann,
der zuviel wusste« spielt in dem Hotel. Der französische General Charles de Gaulle übernachtete
hier ebenfalls – in Marrakesch geht seitdem die
Geschichte um, das Hotel habe eigens für den
1,90 Meter großen Staatsmann ein passendes
Bett anfertigen lassen. Prominente aus der Filmszene verbrachten ihre freien Tage im »Mamounia«: Charlton Heston, Omar Sharif, Marcello
Mastroianni, Alain Delon oder Sharon Stone.
Agourays Lebensgeschichte ist für einen Chefkoch in Marokko eher untypisch, denn anders
als die meisten Stars der Branche wurde er nicht
aus dem Ausland eingekauft: 1972 in Marrakesch geboren, erlernte er bei seiner Mutter die
Grundzüge der marokkanischen Küche. Mit 16
Jahren fing er im »Mamounia« an, zunächst als
Servierer, dann als Küchengehilfe. Bei Reisen
nach Frankreich und Italien kam er mit der europäischen Kochkunst in Berührung. Aber:
Agouray nutzt ausschließlich Zutaten aus Marokko, was den ansonsten nicht sehr originellen
Namen seines Restaurants erklärt. Er verbindet
die traditionelle marokkanische Küche mit internationalen Trends.
Steinbutt mit
pürierten
Kichererbsen
für 42 Euro –
seine Gäste
können es sich
leisten
Die Hummerpastillas mit dem klassischen
marokkanischen Argan-Öl kosten umgerechnet
um die 32 Euro, der Steinbutt mit Kichererbsenpüree an die 42 Euro. Doch wer im »Mamounia« wohnt und speist, hat ohnehin andere Sorgen als den Kontostand. Das weiß auch Agouray: »La Mamounia ist eine Ikone. Unsere Gäste
haben häufig sehr spezielle Wünsche – und wir
wollen ihre Erwartungen immer übertreffen.«
zenith 5/2010
37
LAUFSTEG
LEYLA PIEDAYESH, 40, DEUTSCHLAND
Königin der Maschen
Vor sieben Jahren hat Leyla Piedayesh mit selbstgestrickten
Pullovern angefangen – mittlerweile ist der Erfolg ihres Modelabels
»Lala Berlin« nicht mehr aufzuhalten. Auf dem roten Teppich
sieht man ihre edlen Stoff-Kreationen immer häufiger
Interview: Silke Brandt
38
zenith 5/2010
Fotos: Prag PR
LAUFSTEG
zenith: Sie sind eine Meisterin im Stricken.
Wann haben Sie beschlossen, ein Label zu
gründen und die Mode zum Beruf zu machen?
Leyla Piedayesh: Am Anfang widmete ich mich
dem Thema Modedesign nur theoretisch. Erst
nachdem ich meinen Job als Redakteurin beim
Musiksender MTV und als Mitinitiatorin des
dortigen Fashion-Formats »Designerama« aufgab, habe ich im Herbst 2003 selbst zu kreieren
begonnen. Zunächst vertrieb ich selbst gestrickte
Unikate unter eigenem Namen. Meine Wollkreationen fanden reißenden Absatz, so dass ich
bereits Anfang 2005 eine umfangreiche DebütKollektion auf der Berliner Modemesse Premium präsentieren konnte. Mein individuelles
Konzept einer Symbiose aus urbaner Lässigkeit
und edlem Chic ging auf. Seitdem befindet sich
Lala Berlin auf Expansionskurs.
So richtig bekannt geworden sind Sie ja mit
den »Pali-Tüchern« aus Kaschmir.
Haben Sie auf diese Entwürfe auch mal
negative Reaktionen bekommen?
Nein, überhaupt nicht! Wir haben das KaffiehMuster leicht abstrahiert eingesetzt – nicht aufgrund der politischen Aussagekraft im Übrigen,
sondern eher wegen meiner persischen Herkunft. Im Iran bin ich mit diesem Symbol aufgewachsen. Ich sehe es als Teil meiner Tradition
Urbane Lässigkeit
und edler Chic
und meiner orientalischen Identität. Und zu
guter Letzt liebe ich die einfache graphische Darstellung.
Was bedeutet Mode für Sie?
Mode ist Zeitgeist. Sie gibt gesellschaftliche,
geistige und kulturelle Strömungen wieder. Ich
versuche jedoch, dem Zeitgeist immer einen
kleinen Schritt voraus zu sein und eine Interpretation zu wagen. Mode ist auch ein Kommunikationsmittel. Sie gibt uns die Möglichkeit
zu sagen, wer wir sind. Wichtig ist, dass Kleidung
nicht unsere Identität bestimmt, sondern vielmehr unsere Identität die Kleidung!
Was tragen Sie selbst am liebsten?
Also welchen Stil bevorzugen Sie?
Die Ansprüche, die ich selbst an meine Kleidung stelle, gelten auch für meine Kollektionen.
Ich muss mich darin wohlfühlen können, deshalb sind meine Schnitte tragbar für alle Frauen und meine Materialien nie unangenehm auf
der Haut. Meinen Stil erkennt man am Besten
in meiner Mode, denn ich bin Lala Berlin.
Haben Sie ein besonderes Lieblingsstück?
Ja, ein Stück aus der neuen Sommer-Kollektion
2011: Ein bodenlanger, schwarzer LochstrickCardigan in Netzoptik, gefertigt aus 20 Metern
Seidentüll, der zunächst zerrissen und dann zu
diesem außergewöhnlichen Stück zusammengestrickt wurde.
Wie würden Sie die Mode von Lala Berlin
selbst auf den Punkt bringen?
Mein Design folgt meiner Lebensphilosophie:
immer man selbst sein. In Lala Berlin fühlt man
sich wohl. Das wiederum überträgt sich auch
auf die innere Haltung und die Ausstrahlung. Ich
verarbeite ausschließlich hochwertige Fasern. Es
geht nicht um einen Prestigegewinn für die Trägerin, sondern um das Lala-Berlin-typische Erlebnis durch einen edlen Look und erstklassige
>>
Qualitätsstoffe.
zenith 5/2010
39
LAUFSTEG
Leyla Piedayesh
wurde 1970 im Iran geboren und kam
mit sieben Jahren nach Deutschland.
Nach einem BWL-Studium und sieben
Jahren als Journalistin beim Fernsehen
machte sie 2003 ihr Hobby zum Beruf:
Stricken. Nicht erst seit ihrer erfolgreichen Show auf der Berliner Fashion
Week 2010 tragen immer mehr Stars
die entspannte Mode von Lala Berlin.
Das Wort Lala im Labelnamen ist Leyla
Piedayeshs Spitzname aus Kindertagen,
Berlin steht dort, weil die Stadt für
sie und ihre Familie zur Heimat
geworden ist.
Wie groß ist die Nachfrage aus dem
arabischen Raum?
Dort ist noch einiges zu holen. Wir haben bisher vor allem Anfragen aus dem Oman, Kuwait
und Bahrain.
Kurt Cobain
auf Tour in Afrika
Was ist das Thema Ihrer aktuellen Kollektion?
Die aktuelle Sommer-Kollektion 2011 basiert
auf folgendem Bild: ein Bus, fünf Groupies und
Kurt Cobain auf Tour in Afrika: Rock’n’Roll und
ein außergewöhnlicher Reiseplan. In Verbindung mit dem Thema »Dynamik der Oberfläche« habe ich anhand dessen die nächste LalaBerlin-Kollektion geschaffen.
Kontrast und Bewegung bilden den Kern der
Kollektion. Keylooks sind Seidenkaftane in neonorange, nude oder mit wildem Muster, slim-fitted Seiden-Anzüge in schwarz-weiß gestreift
oder gemustert, kurze Leoajur-Jäckchen, netzgestrickte Minikleider, silberscheinende Hosen
in Sommer-Brokat, ein nachtblauer Seidenoverall oder massive Strickmäntel mit stroboskopischen Mustern.
Was sollte jede Frau unbedingt im
Kleiderschrank haben?
Natürlich einen Kaschmirschal von Lala Berlin.
40
zenith 5/2010
Frauen ist fast immer kalt. Schals und Tücher
sind einfach sehr vielfältige Accessoires. Damit
kann man schlichte Grundelemente zu den verschiedensten Looks stylen, ganz individuell und
unkompliziert.
Man sollte außerdem mindestens ein Paar unserer Schuhe im Kleiderschrank haben, sowie
ein Basic aus der exklusiven Kollektion »Atelier
Lala Berlin«.
Bei welchem Star haben Sie sich am meisten
gefreut, dass er oder sie Ihre Mode trägt?
Ich freue mich über jede Lala-Berlin-Trägerin,
ob berühmt oder nicht. Erst vor kurzem habe ich
auf einem Blog entdeckt, dass eine ganz tolle,
moderne Pariserin ein Kaschmir-Triangle von
Lala Berlin auf der Straße trug. Das fand ich
großartig. Trotzdem freue ich mich sehr, wenn
Claudia Schiffer, Jessica Alba oder Heike Makatsch meine Mode mögen und tragen. Oder
auch Heidi Klum. Natürlich.
Sie haben ja bereits einen Store in Kuwait.
Gibt es weitere Pläne, auf dem arabischen
Markt zu expandieren?
Der arabische Raum ist ein Markt, den wir ab
nächster Wintersaison angehen werden. Wir gehen mit unseren Expansionsplänen sehr systematisch vor. Im Moment sind wir noch dabei,
den Markt im Nahen und Mittleren Osten genau zu eruieren. Für die Expansion brauchen
wir auf jeden Fall einen zuverlässigen Partner.
Eine Idee wäre es, Monolabel-Stores in den arabischen Großstädten zu eröffnen und die Kollektion für den dortigen Markt zu erweitern,
vor allem für Saudi Arabien. Die exklusive Kollektion »Atelier Lala Berlin« ist schon sehr passend für den arabischen Raum.
Würden Sie sagen, dass Sie Ihr
Herkunftsland Iran und seine Kultur
Ihre Arbeit irgendwie beeinflussen?
Bin ich Iranerin mit deutschen Wurzeln oder
bin ich deutsch mit iranischen Wurzeln? Ich
glaube nach über 30 Jahren, die ich mit iranischen Eltern in Deutschland lebe, ist das schwierig zu sagen. Aber ich denke, mein Temperament, meine Großzügigkeit, das tiefliegende
Herz der Philosophen – und mein Aussehen –
sind schon sehr persisch. Das überträgt sich
natürlich auf mein gesamtes Leben und Arbeiten: ein großes Herz mit viel Temperament und
viel Energie.
HOFFNUNGSTRÄGER
SALVA KIIR MAYARDIT, 59, SUDAN
Ein Krieger am Verhandlungstisch
Foto: Vereinte Nationen
Im nächsten Jahr stimmt die Bevölkerung ab –
wenn alles so läuft, wie er es sich vorstellt, wird Salva Kiir
der erste Präsident eines neuen Staates: Südsudan
Er trat kein leichtes Erbe an. Der Sudan hatte gerade durch ein umfassendes Friedensabkommen
einen jahrzehntelangen blutigen Bürgerkrieg beendet, da kam am 30. Juli 2005 der »Erste Vizepräsident« des Landes und Präsident der Region
Südsudan, John Garang, bei einem Helikopterabsturz ums Leben. Als dessen Stellvertreter übernahm Salva Kiir alle Ämter von ihm, mit einer unzweideutigen Agenda. Sieht der Friedensfahrplan
von 2005 vor, dass die Bevölkerung am 9. Januar
2011 in einem Referendum darüber entscheidet,
ob der Südsudan autonome Region bleibt oder zu
einem unabhängigen Staat wird, ließ Kiir keine
Zweifel daran, dass es für ihn nur eine Option
gibt: »Mit diesem Referendum haben wir die Wahl,
weiterhin Bürger zweiter Klasse zu sein oder freie
Bürger in einem unabhängigen Staat.«
Bereits mit 17 Jahren schloss sich Kiir, ein Christ
aus dem Volk der Dinka, 1967 dem südsudanesischen Widerstand gegen den dominierenden mus-
limischen Norden an. Nach der Gründung der Bewegung »Sudan People’s Liberation Movement«
(SPLM) 1983 gehörte er rasch zu deren Führung.
Ein Kämpfer durch und durch übernahm er später das Kommando über den militärischen Arm
der SPLM und war einer der wenigen Köpfe, die
Garang neben sich duldete. Der Unterschied zwischen beiden war überdeutlich: Garang hatte eine akademische und militärische Ausbildung in
den USA genossen und war mit Staatsoberhäuptern per Du, Kiir kannte sein Leben lang nur das
Kriegshandwerk im Busch.
Nun liegt die Verantwortung bei ihm. Vieles hat
sich seit dem Friedensschluss getan im Süden, aber
die größten Herausforderungen stehen dem Mann,
den man selten ohne Hut sieht, noch bevor. Nach
dem sicheren Ausgang des Referendums für die
Unabhängigkeit muss es Kiir gelingen, die blutigen Rivalitäten zwischen den einzelnen Stämmen
im Süden beizulegen und Verhandlungen mit
Khartum über das Erdöl in den umstrittenen
Grenzregionen zum Erfolg zu führen. Noch glaubt
niemand daran, dass Sudans Präsident Omar alBashir den Süden ohne weiteres gehen lässt. Keine leichten Aufgaben für einen Mann, dem das
Charisma seines Vorgängers zu fehlen scheint. Im
nächsten Jahr wird sich entscheiden, ob Salva
Kiir die Durchsetzungskraft und Stärke besitzt,
sb
neues Blutvergießen zu verhindern.
Ein Held im Wartezimmer
Gestern gefeiert, heute totgeschwiegen: Der Kopf der »grünen
Revolution« hat Hoffnungen auf einen neuen Iran geweckt. Kann er
neue Kräfte mobilisieren? Oder steckt er zu tief im System?
Wer hätte gedacht, dass ein 67-jähriger Politrentner zum Hoffnungsträger der iranischen Opposition und zum Star der Internet-Gemeinde aufsteigen würde? Viel ist über diesen denkwürdigen
Wahlsommer 2009 geschrieben worden, zu Recht,
denn die Erinnerung an jene Wochen wird sich in
den nächsten Jahrzehnten Bahn brechen, aber das
braucht noch Zeit. Umso rasanter wurde Mir Hossein Musavi zum unscheinbaren Architekten einer
postislamischen Revolution stilisiert, ob ihm das
nun recht war oder nicht. Der letzte Premier des
Irans – das Amt wurde 1989 abgeschafft – weckte
Hoffnungen auf einen politischen und gesellschaftlichen Wandel, die er kaum erfüllen konnte.
Sicher, das Regime macht es ihm nicht leicht, zieht
seine Kreise enger und verbannt ihn aus der Öffentlichkeit. Musavi macht trotzdem weiter, trifft
sich regelmäßig mit Ex-Präsident Mohammad
Khatami und dem Kleriker Mehdi Karroubi – das
Triumvirat des neu gegründeten »Wegs der grünen
Hoffnung«, das der Opposition einen organisatorischen Rahmen geben will. Für viele Iraner ist das
zu wenig, sie hatten mehr erwartet. »Ich bin bereit,
für meine Überzeugungen zum Märtyrer zu werden«, hatte Musavi auf dem Scheitelpunkt der Proteste verkündet. Er wurde es nicht. Das hätte einen
Bruch mit einem System verlangt, dessen Kind der
Azeri aus dem Nordost-Iran ist.
Musavi prangert die diktatorischen Auswüchse
der Islamischen Republik an – zum System bekennt er sich aber ausdrücklich. Seine Kritik zielt
auf die verfehlte Wirtschaftspolitik seines Kontrahenten Mahmud Ahmadinedschad.
Musavi könnte es gelingen, sich wieder zum Anführer neuer Proteste zu machen. Aber der Weg
vom Katalysator des Widerstands zum Motor des
Wandels ist holprig. Die Dynamik, das Gefühl ist
vergangen. Und in den internationalen Medien
überstrahlt der Atom-Streit längst wieder das Interesse an der innenpolitischen Situation im Iran.
Dass Musavi vom Time Magazine zu einer der
»100 einflussreichsten Personen 2010« gewählt
wurde, mag wie ein verspäteter Wellenschlag des
Medienhypes erscheinen. Aber Musavi hat Geduld,
schon einmal hat er 20 Jahre gewartet, bis er in
den politischen Ring zurückkehrte. Die nächste
Welle kommt. Und wer weiß, ob sie einen wie Muchat
savi nicht doch wieder nach oben spült.
Foto: Mardetanha/Wikimedia Commons/lizensiert gemäß Creative Commons Attribution-ShareAlike 3.0
MIR HOSSEIN MUSAVI, 68, IRAN
GHAZI AL-GOSAIBI, (1940-2010), SAUDI-ARABIEN
lIllustration: Hadinugroho
DICHTER UND DENKER
Tod eines Kritikers
Der saudische Poet, Schriftsteller und
Politiker Ghazi al-Gosaibi hinterlässt
ein spannendes literarisches und ein
ambivalentes politisches Erbe
Von Philipp Dehne
Mit dem Tod von Ghazi al-Gosaibi hat eine
der spannendsten und in mancher Hinsicht
kontroversesten Persönlichkeiten Saudi-Arabiens die öffentliche Bühne des Landes verlassen. Dichter, Schriftsteller und Politiker sind die
drei Schlagworte, mit denen er in der Regel
charakterisiert wird. Gosaibi wurde 1940 in
Hofuf im Osten Saudi-Arabiens geboren. Er
wuchs hier und später in Bahrain auf, bevor er
sein Studium an anderen Orten begann: Jura
im Kairo der späten 1950er Jahre, internationale Beziehungen in Los Angeles. Später promovierte er auf diesem Feld an der University of London.
Gut die Hälfte seines Lebens hat er verschiedene Regierungsämter besetzt, darunter vier Ministerien geleitet und zwei Botschafterposten inne gehabt. Doch verband ihn eine ambivalente
Beziehung zum saudischen Regierungsapparat.
Einerseits stand er den Herrschenden nahe, andererseits war er ein kritischer Geist, der seine
Kritik oftmals offen äußerte, in mündlicher wie
in schriftlicher Form.
Zweimal gab seine Dichtung Anlass, ihn von
einem Posten zu entbinden. 1984 musste er das
Amt des Gesundheitsministers räumen, nachdem er in Versen die Korruption unter König
Fahd kritisiert hatte. 2002 wurde er als Botschafter aus London abgezogen: In einem Gedicht hatte er das Selbstmordattentat der jungen
Palästinenserin Ayat Akhras gelobt. Auch war
manchen Mitgliedern der saudischen Herrscherfamilie ein Teil seiner Gedichte und Romane zu kritisch oder freizügig. Sie standen im
Königreich jahrelang auf dem Index. Dieses Verbot hob der Informationsminister erst zwei Wochen vor seinem Tod auf.
42
zenith 5/2010
Die zweimalige Entbindung von seinen Aufgaben bedeutete keineswegs das Ende Gosaibis politischer Karriere. Er blieb Teil des Establishments. Nach seiner Kritik an der Korruption
wurde er 1984 als Botschafter nach Bahrain geschickt. Nach seinem Abzug vom Botschafterposten in London wurde er zurück nach SaudiArabien gerufen, wo er das Amt des Wasserministers erhielt, das er bis 2005 inne hatte.
In den letzten fünf Jahren führte er dann das
Arbeitsministerium, was eine eher undankbare
Aufgabe ist. Insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit nimmt dramatisch zu, während gleichzeitig die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte
im Land weiter steigt. Ihre Anzahl wird derzeit
auf über sechs Millionen geschätzt, ihr Anteil
an der Arbeitnehmerschaft im Privatsektor soll
um die 90 Prozent betragen. Gosaibi versuchte
die »Saudisierung«, die Ersetzung nicht-saudischer Arbeitnehmer durch einheimische, voranzutreiben. Zum einen wollte er das Ausbildungssystem verbessern, zum anderen die Erwerbsquote unter den Frauen steigern und
soziale Vorbehalte gegenüber »einfachen Tätigkeiten« abbauen. So servierte er 2008 drei Stunden lang Hamburger in einem der vielen FastFood-Restaurants in Dschiddah – eine Arbeit,
die derzeit vor allem von Nicht-Saudis ausgefüllt
wird – um zu zeigen, dass dies keine unehrenwerte Arbeit sei. Ein paar Monate später sorgte
er mit seiner Aussage, dass Saudis »arrogant und
rassistisch« geworden seien, für Aufregung. Er erhielt viel Zustimmung. Doch gibt es auch Stimmen, die meinen, dass soziale Vorbehalte eher
zweitrangig seien: Wenn das Servieren von Hamburgern nicht annähernd die Lebenshaltungskosten decke, sei dies wohl das größere Problem.
Sein Loblied
auf eine
Attentäterin
kostete ihn
den Job in der
Regierung –
vorübergehend
Die Einführung eines Mindestlohns war im Gespräch, allerdings hat sich schließlich auch der
Arbeitsminister und nicht nur Wirtschaftsvertreter dagegen ausgesprochen. Ein Journalist der
saudischen Arab News meint, dass Gosaibi in
seinem letzten Amt vieles versucht und auch ein
wenig erreicht habe. Er habe zumindest teilweise die Einhaltung von Regeln und Saudisierungsvorgaben verbessern können und sei dafür
bei Wirtschaftsvertretern nicht gerade beliebt
gewesen. Doch das Ignorieren und Umgehen
der Vorgaben ist weiterhin sehr verbreitet.
Nach dem Tod von Ghazi al-Gosaibi am 15.
August 2010 bleiben nicht nur Erinnerungen
und seine Schriften erhalten. Sein Nachlass beinhaltet vor allem auch das ungelöste, massive
Problem des saudischen Arbeitsmarktes und der
sich daraus ergebenden sozialen Verwerfungen.
Foto: Rita Castelnuovo
DICHTER UND DENKER
SARI NUSSEIBEH, 61, PALÄSTINA
»Annektiert uns doch!«
Der Philosoph setzte sich für eine Zweistaatenlösung in Nahost ein,
als das noch gar nicht populär war. Jetzt verlangt er Alternativen
Sari Nusseibeh kokettiert mit dem Image des
wuschelköpfigen, weltfremden Forschers. Wenn
der Präsident der Al-Quds-Universität in Jerusalem über den Konflikt zwischen Israelis und
Palästinensern spricht, dann verweist er auf die
Gedankengebäude von David Hume und Immanuel Kant. Nusseibeh ist Philosoph, und das bedeutet für ihn, dass keine Idee zu absurd ist, um
nicht von vorne bis hinten durchgespielt zu werden. Es war eine solche Idee, die ihn 1986 mit
einem Schlag berühmt gemacht hat.
Im Fernsehen bat er, der Palästinenser, darum,
Israeli werden zu dürfen. Er rief Israel auf, das
Westjordanland und Gaza zu annektieren, dann
malte er das Bild eines gemeinsamen multi-ethnischen Staates. Für Friedensromantiker vielleicht eine schöne Aussicht, nicht aber für Nusseibeh. Er wollte vor allem zeigen, dass kein Weg
an einer damals noch nicht so populären Zweistaatenlösung vorbeiführt. Nusseibehs Überle-
gungen sind hochpolitisch, auch wenn er sie oft
in akademische Sprache hüllt. Er sagt, »dass die
Palästinenser immer wieder der eigenen Rhetorik auf den Leim gegangen sind«. Weniger träumen, mehr handeln, heißt das. Anfang der
1990er, während der Osloer Friedensgespräche,
entwarf er in Jerusalem mit Kollegen eine Schattenregierung, zunächst ohne die Unterstützung
Jassir Arafats. Grundzüge für den Aufbau künftiger Ministerien entstanden so, wenn auch erst
einmal nur auf dem Papier. In Ausschüssen wurde detailliert über Sicherheit, Wirtschaft und
Tourismus eines künftigen Staates getüftelt. »Der
Hauptgrund, warum die Leute so unermüdlich
arbeiteten«, schreibt Nusseibeh in seiner Autobiografie, »lag in unserer Überzeugung, den Staat
aus seinen Institutionen heraus aufzubauen, und
nicht umgekehrt.« Nusseibeh sieht in einem
Palästinenser-Staat keinen Selbstzweck, sondern
ein Vehikel, um den Palästinensern mehr Rech-
DEUTSCHLANDS
MUSLIME UND
EUROPÄISCHER
ISLAM
21. Januar 2011
Debattenabend | Eintritt frei
te zu verschaffen. Das geschieht, laut Nusseibeh,
heute noch nicht. Auch die neuen Friedensgespräche sieht er skeptisch. »Die Zeit für eine
Zweistaatenlösung läuft ab«, sagt Nusseibeh und
regt an, über Alternativen nachzudenken. Am
28. September erhielt Nusseibeh gemeinsam mit
Amos Oz den Siegfried-Unseld-Preis – für sein
MB
Werk »Es war einmal ein Land«.
19 H DIE MUSLIMISIERUNG DES
ANDEREN
Cem Özdemir Bundesvorsitzender Bündnis 90/Die
Grünen Sema Kaygusuz Schriftstellerin Hilal
Sezgin Journalistin Sawsan Chebli Grundsatzreferentin für interkulturelle Angelegenheiten in der Senatsverwaltung
für Inneres und Sport
Caroline Fetscher Journalistin „Der
Tagesspiegel“ | Übersetzung aus dem Türkischen: Sabine
Adatepe Publizistin
Moderation:
John-Foster-Dulles-Allee 10
10557 Berlin
030 – 39 78 71 75
20.30 H ISLAM IN EUROPA
www.hkw.de
Tariq Ramadan Professor für Contemporary Islamic
Studies an der Oxford University Dan Diner Professor
U-/S-Hauptbahnhof, U-/S-Brandenburger Tor,
U-Bundestag, Bus 100 und M85
für Neuere Geschichte an der Hebrew University, Jerusalem
In Kooperation mit der Allianz Kulturstiftung
und dem Berliner Künstlerprogramm des DAAD
Gudrun Krämer Islamwissenschaftlerin Freie
Universität Berlin
B O U L E VA R D
RIMA FAKIH, 25, USA
»Ich bin nicht Miss Religion«
Foto: Miss Universe Organization
»Terrorbraut« oder »Stangenluder«? Rima Fakihs
Wahl zur »Miss USA« am 16. Mai 2010 sorgte
für jede Menge Wirbel und unflätige Kommentare der amerikanischen Boulevardpresse. Die
25-Jährige aus Dearborn, Michigan, hat als erste arabische Amerikanerin den Schönheitswettbewerb gewonnen. Kaum hatte Fakih ihr Krönchen auf den Nachttisch gelegt, gingen die Spekulationen los. War die dunkelhaarige Schönheit
etwa als verkappte Agentin der libanesischen
Hizbullah angetreten?
Die rechtskonservative Kommentatorin Debbie Schlussel vermutete noch am Tag der Misswahl in ihrem Blog, Fakih stecke mit der Hizbullah unter einer Decke. Schlussel zählte sodann zahlreiche Verwandte Fakihs auf, die
Positionen in der »Partei Gottes« besetzen – ohne eine Verbindung zum Mannequin nachwei-
Die Hizbullah
beurteilt
Frauen nach
anderen
Kriterien!
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sen zu können. Rima Fakih stammt aus einer
weit verzweigten schiitischen Familie im Libanon. Mit sieben Jahren kam sie in die USA und
besuchte in New York eine katholische Schule.
Für Aufregung ganz anderer Art sorgten Bilder, die Fakih als Gewinnerin des »Poledance«Wettbewerbs eines Lokalsenders in Detroit zeigen. Darf eine Muslima ihre nackten Beine lasziv um eine Stange legen? Rima Fakih selbst
scheint relativ unbeeindruckt von den Diskussionen, die ihre Krönung ausgelöst hat. Sie sei
ja nicht zur Wahl der »Miss Religion« angetreten. Und ob sie die erste Muslima sei, die den Titel »Miss USA« gewonnen hat, wisse sie gar nicht.
Die Glaubensfrage sei ja bei früheren Wahlen
auch nie gestellt worden. Die Fakihs hätten
außerdem ein recht unverkrampftes Verhältnis
zum Thema Religion. Es gebe Christen und
Muslime in der Familie und gefeiert würden alle heiligen Feste, auch Weihnachten.
Die neue »Miss USA« stellt also einiges auf
den Kopf. Und was meint die Partei Gottes zu
ihrem Sieg? Der Hizbullah-Abgeordnete Hassan Fadlallah kommentierte lapidar: »Die Kriterien, nach denen wir hier Frauen beurteilen,
sind etwas anders als im Westen.« Rima jedenfalls freut sich, dass sie mit dem Stipendium,
das sie durch die Wahl zur »Miss USA« erhält,
nun endlich ihr Jurastudium beginnen kann –
nach ihrer einjährigen Regentschaft. Um zur
Wahl zur »Miss Michigan« antreten zu können,
hatte sie noch ihr Auto verkaufen müssen. Die
finanziellen Sorgen zumindest dürften fürs erste gelöst sein.
lIllustration: Amatir
Eine Schiitin ist die erste arabischstämmige »Miss USA«.
Nie zuvor löste die Krönung einer Schönheitskönigin in Amerika
einen solchen Affenzirkus aus
Von Silke Brandt
B O U L E VA R D
Nach ihrer Wahl tauchten
geheimnisvolle Bilder eines
Stangentanzes auf.
Amerika fuhr aus der Haut.
Sieht so eine Agentin der
Hizbullah aus?
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NAHOSTKONFLIKT
Gesicht der
unbekannten
Macht
Ungeliebt aber unersetzlich: Khaled Mashaal ist Schmuddelkind
und Schattenmann des Nahost-Friedensprozesses.
Der Politbürochef der Hamas überrascht seine Besucher:
Sie finden keinen fanatischen Hassprediger, sondern einen
schillernden Strategen
Von Robert Chatterjee
CNN, Newsweek, Huffington Post, Charlie Rose
von PBS – Khaled Mashaal stand 2010 dem
»Who is Who« der amerikanischen Medien Rede und Antwort. Nun ist der 54-Jährige beileibe nicht medienscheu – schließlich ist der Politbüro-Chef der Hamas auch Aushängeschild
und Sprachrohr der islamistischen Organisation. Dabei betont diese immer wieder ihre basisdemokratische Struktur – in bewusster Abgrenzung zum Konkurrenten Fatah. Dennoch,
so gefragt wie er dürfte in diesem Jahr kaum
ein Exilpolitiker gewesen sein: Khaled Mashaal
ist der Schattenmann des Nahostfriedensprozesses. Statt am Verhandlungstisch in Washington sitzt er in seinem schwer bewachten Domizil in Damaskus – auf eine Einladung der Amerikaner hat er vergeblich gewartet. Westlichen
Journalisten gegenüber bedauert er das, besonders zu beunruhigen scheint es ihn nicht. Bisher
saß Mashaal noch immer am längeren Hebel.
Was auf den Fluren in Washington zähneknirschend erkannt wird, erklärt Mashaal seinen
Gästen unumwunden: Ohne die Hamas wird es
keinen tragfähigen Frieden in Nahost geben.
»Wir sind nicht ganz Palästina, aber wir repräsentieren einen wichtigen Teil der Palästinenser. Man kann uns nicht einfach ignorieren.«
Nicht nur Journalisten, sondern auch viele offizielle und inoffizielle Unterhändler, die in Sa-
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chen Friedensprozess und palästinensischer Aussöhnung durch die Welt reisen, wissen: An diesem Mann führt derzeit kein Weg vorbei. Für seine Gesprächspartner, denen die Hamas als unberechenbareres Gebilde mit verschiedenen
Machtzentren und unklaren Kompetenzen erscheint, ist Mashaal eine willkommene, weil verlässliche Konstante. Gewissheit bedeutet sein
Bild im Fernsehen auch für die Israelis: Für sie
ist Mashaal der Kopf an der Spitze – ein Staatsfeind und legitimes Anschlagsziel.
Für Pressevertreter wie Diplomaten ein Drahtseilakt, denn einem, der von der US-Regierung
als »globaler Terrorist« bezeichnet wurde, will
man nicht unbedingt Legitimität verleihen.
Mashaal trägt seine Argumente mit ruhiger
Stimme, deutlich und klar strukturiert vor. Er
klingt nicht wie der Demagoge der Organisation, die Israel von 2000 bis 2003 mit einer Welle des Terrors überzogen und sich 2007 in Gaza blutig an die Macht geputscht hat. Nein,
Mashaal spricht wie der Physiklehrer, der er einst
war, von 1978 bis 1984, bevor er sein Leben ganz
der Hamas widmete. Das scheint bei den Journalisten, die Mashaal empfängt, seine Wirkung
nicht zu verfehlen. Immer wieder fragen sie ihn
nach seiner Vergangenheit, wollen wissen, wie er
der geworden ist, der er heute ist. Mashaal gewährt Einblick – persönlich, aber als referiere er
vor Publikum über die geostrategische Lage im
Vorderen Orient.
Infolge des Sechstagekrieges 1967 – Mashaal
war damals elf Jahre alt – siedelte seine Familie
aus seinem Heimatdorf Silwad bei Ramallah
nach Kuwait über, wo damals viele Palästinenser Arbeit fanden. Der Vater, einst Dorf-Imam,
erzog seine elf Kinder sehr religiös. Khaled studierte Physik, schloss sich später der Muslimbruderschaft an, die auf ihn offenbar aufrichtiger und authentischer wirkte als Jassir Arafats
PLO. Die transarabische, islamistische Bewegung entdeckte die Befreiung Palästinas früh als
Thema, um unter den Exilanten in den Golfstaaten Mitglieder zu werben. Der palästinensische Arm der Muslimbrüder trat dann 1986 erstmalig öffentlich in Erscheinung – unter dem
Akronym Hamas, was für »Islamische Widerstandsbewegung« steht. Mashaal wird heute der
Gründergeneration der Hamas zugerechnet. Er
schrieb auch mit an der Hamas-Charta von
1988, die die Vernichtung des Staates Israels fordert, aber damals kaum wahrgenommen wurde. Zur gleichen Zeit tobte im Heiligen Land
die Intifada – Mashaal beobachtete den Aufstand der Palästinenser aus der Ferne.
Ein Frontkämpfer war er nie. Das Exil prägte seinen Lebensstil; und nicht immer konnte er
auf die Nachsicht seiner Gastgeber zählen. Nach
Foto: Trango/Wikimedia Commons/lizensiert gemäß Creative Commons Attribution 3.0 Unported
KHALED MASHAAL, 54, SYRIEN
NAHOSTKONFLIKT
Der Emir von Kuwait
warf ihn hinaus, König Hussein
rettete sein Leben
der Befreiung Kuwaits von den irakischen Invasionstruppen 1991 ließ der Emir des Golfstaats rund 400 000 Palästinenser ausweisen –
als Quittung dafür, dass sich PLO-Chef Arafat
demonstrativ auf die Seite Saddam Husseins gestellt hatte. Mashaal zog nach Jordanien, wo er
zum Chef des Hamas-Politbüros aufstieg und
ein verfehltes Attentat ihn im Jahr 1997 zur
Berühmtheit machte.
Als Touristen getarnte Agenten des israelischen Geheimdienstes Mossad hatten ihm auf
offener Straße in Amman eine Giftspritze ins
Ohr gesetzt, wurden aber von der jordanischen
Polizei gefasst. Erst als König Hussein dem Auftraggeber, dem damaligen Ministerpräsidenten
Benjamin Netanjahu mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen drohte, lenkte dieser
ein und ließ das Gegengift in das jordanische
Krankenhaus schicken, in dem Mashaal im Sterben lag. »Mein Leben liegt in Gottes Hand, nicht
in Netanjahus«, verkündete der Genesene spä-
ter, »Netanjahu ist nicht mein Feind, weil er versucht hat, mich zu töten, sondern weil er mein
Volk tötet.«
Im Gegensatz zu den Hamas-Führern in Gaza, dem Westjordanland und den israelischen
Gefängnissen besitzen Mashaal und seine Kollegen im Damaszener Exil Reisepässe. Seit dem
Umzug in die syrische Hauptstadt verfolgt Mashaal im Prinzip zwei Strategien: Auf der einen
Seite schmiedet er von Beirut bis Teheran eine
regionale Allianz, die »Achse des Widerstandes«,
Seite an Seite mit der libanesischen Hizbullah
und ihren iranischen Patronen. Innerhalb der
Hamas-Führung gilt Mashaal aber vor allem als
Mediator, der die geografisch und ideologisch
zerstreuten Parteiflügel zusammen halten und
nach außen vertreten soll. Dass dabei in den
vergangenen Jahren ein neuartiger Pragmatismus zutage tritt, ist also in erster Linie Ausdruck
der innerparteilichen Kräfteverhältnisse. Dennoch trägt sie deutlich den Stempel des Reise-
diplomaten und Exilstrategen Khaled Mashaal.
»Es gibt eine Position und ein Programm, das
alle Palästinenser teilen«, sagt Mashaal zu der
Vereinbarung, die Hamas und Fatah im Westjordanland während der kurzen gemeinsamen
Regierungszeit im Frühjahr 2007 geschlossen
haben: »Wir akzeptieren einen palästinensischen
Staat in den Grenzen von 1967 mit Jerusalem
als Hauptstadt«, sagte Mashaal in zahlreichen
Interviews – ein deutlicher Bruch mit der
Hamas-Charta von 1988, auf den ersten Blick.
Tatsächlich wurde diese Charta, zu deren Autoren Mashaal zwar gehörte, nie vom so genannten Schura-Rat, dem Beschlussgremium
der Hamas, verabschiedet. Mashaal muss sich
also nicht daran gebunden fühlen. Vielleicht gereicht es ihm dabei zu Vorteil, dass die institutionellen Organe der Hamas, Politbüro und
Schura-Rat, unter den gegeben Umständen
kaum geregelt tagen können. Wer ihnen genau
angehört und wie oft sie sich treffen, ist nicht öffentlich bekannt, aber gerade diese Unschärfe
macht Mashaal eben flexibel und zum Meister
der informellen Vermittlung. Er kann seine Rolle hochspielen – nach außen und nach innen. Er
bewirbt sich für den Verhandlungstisch, will sich
die Bedingungen aber nicht aufzwingen lassen.
Gewalt gehört für ihn zum politischen Repertoire, daraus macht er keinen Hehl: »Wir Palästinenser haben noch nie etwas geschenkt bekommen, deshalb müssen wir kämpfen.« Der
Widerstand der Hamas werde erst aufhören,
wenn »die Besatzung« ende. Bis zu diesem Tag
werden wohl noch einige Journalisten und Unterhändler in Mashaals Damaszener Versteck
vorbeischauen und vielleicht auch wieder ein
Spezialkommando des Mossad – für ein Attentat oder ein diskretes Treffen.
In Sachen Israel lässt Mashaal sich nämlich
großen Spielraum: Er spricht von Palästina in
den Grenzen von 1967, aber nie von einer Zweistaatenlösung oder der Anerkennung Israels.
Seine offizielle Begründung: Israel gehe ihn
nichts an.
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PROTESTROCK
»Das Regime zwingt den
Menschen seine Kultur auf«
Die Band »Kiosk« ist die Stimme vieler Exiliraner.
Ihr Blues-Rock war den Mullahs zu politisch,
sie verboten sämtliche Veröffentlichungen.
Frontmann Arash Sobhani spricht mit zenith über
Musizieren im Untergrund und die Teheraner Kulturpolitik
Interview: Nils Metzger
zenith: Sie sind gerade auf einer EuropaTournee unterwegs. Ist das Auftreten hier
etwas Besonderes – verglichen mit Nordamerika ist Kiosk hier weit weniger populär.
Arash Sobhani: Es ist in dem Maße anders, als
dass es in den USA Städte mit einer großen iranischen Community gibt. In Europa hingegen
leben sie überall verteilt. Außerdem erleben wir,
dass die Menschen in Europa offener sind für
musikalische Experimente. Sie gehen zu verschiedenen Konzerten. Das ist in Amerika weniger ausgeprägt.
Profitieren Sie in Europa von der großen
Popularität des Weltmusik-Genres?
Genau kann ich das nicht beantworten. Ich vermute, dass die Migranten hier deutlich mehr
Verbindungen in ihre alte Heimat besitzen. Die
USA sind da viel isolierter.
Zurzeit wohnen Sie in den USA. Bezeichnen
Sie sich trotzdem als ausschließlich iranischen
Musiker oder findet auch westliche Kultur
Widerhall in Ihren Stücken?
Die Grundlage unserer Band ist Rock. Unser
erstes Album war reiner Blues-Rock. Dire Straits,
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zenith 5/2010
Pink Floyd, solche Gruppen. Anschließend haben wir dann andere Stile hinzugefügt. Wir haben mit vielen Künstlern gespielt, die ihre Gypsy- und Jazz-Einflüsse mitbrachten. Es hat sich
langsam entwickelt.
Spielen Sie mit dem Gedanken, irgendwann
wieder in den Iran zurückzukehren?
Das hoffen wir tatsächlich. Wir wollen dort wieder leben und auftreten können. Wir haben noch
immer Freunde und Verwandte, die im Iran leben.
Können Sie während dieser ganzen Zeit
Kontakte zu anderen Teheraner Bands
aufrecht erhalten?
Als wir das letzte Mal im Iran waren, haben wir
viele Untergrund-Studios besucht. Viele unserer
Freunde haben dort Arbeit gefunden – obwohl
sich viele auch gezwungen sahen, das Land zu verlassen. Trotzdem gehen viele junge Musiker das
Risiko ein, eine eigene Band zu gründen – selbst
in Kleinstädten. Das Internet ist dabei eine große
Hilfe. Hier treffen wir uns und tauschen uns aus.
Welche Linie verfolgt die staatliche iranische
Kulturpolitik? Und welche Gruppen finden die
offizielle Zustimmung der Regierung?
Der Regierung im Iran geht es darum, die islamischen Werte zu preisen. Wie man das im alltäglichen Leben aber umsetzt, verraten sie nicht.
Stattdessen fördern sie die billigste und kitschigste Popmusik. Sie haben sogar ihre eigenen
Künstler. Einzige Bedingung für eine Veröffentlichung ist, dass es unmöglich ist, auf deren Musik richtig abzutanzen. Der Staat baut ihnen Aufnahmestudios, Magazine schreiben über sie –
manche werden sogar auf Auslandstourneen geschickt. Dort wird auf den Konzerten dann auch
Alkohol ausgeschenkt. Ihnen geht es darum, bestimmen zu können, wen die Jugendlichen als
Idol verehren, und sie wollen sicher gehen, dass
kein Geld an unabhängige Künstler fließt. Sie
sind wie die Mafia, die den Markt, die Medien
und das Leben der Künstler kontrolliert.
Soll so eine künstliche Kulturlandschaft
geschaffen werden?
Ganz klar. Das Regime hat seine eigene Kultur
erfunden, die es jetzt den Menschen aufzwingt.
Stellen Sie sich vor, sie leben in einem Dorf, verstehen nur wenig Englisch, und im Radio wird
ständig diese Musik gespielt. Sie ist nicht illegal,
Foto: Lida Sh.
ARASH SOBHANI, 40, IRAN
PROTESTROCK
Arash Sobhani
macht seit seinem 17. Lebensjahr Musik.
Seine ersten beiden Bands, »Tatar 2«
und »Raaz-e Shab – Rätsel der Nacht«,
gehörten zu den Pionieren der iranischen
Rock-Szene in den Achtziger und Neunziger
Jahren. 2003 gründete Sobhani (im Bild
der zweite von rechts) die Band Kiosk.
2005 ging die fünfköpfige Band ins Exil
nach San Francisco. Im Oktober 2010
erschien ihr viertes Studioalbum
»Triple Distilled: Live At Yoshi's«.
»Der Staat
ist eine
Mafia«
wie so vieles Andere, und man kann sie überall
kaufen. Also ja, zu einem gewissen Grad ist
diese Politik erfolgreich.
Erhielten Sie Unterstützung von
amerikanischen Plattenfirmen,
nachdem Sie 2006 ihre neue Heimat
in den USA gefunden haben?
Nein, wir mussten ein eigenes Label gründen.
Um anderen Gruppen diese Hürde zu ersparen,
haben wir versucht, weitere iranische Bands im
Land selbst und im Exil zu fördern. Dabei hat
uns sehr geholfen, dass wir bereits sehr gute Beziehungen zu vielen Radiostationen aufgebaut
haben. Als die Band im vergangenen Jahr einige Veränderungen durchlebte, mussten wir das
Vorhaben leider einstellen. Trotzdem bemühen
wir uns weiterhin, zwischen Bands und Plattenfirmen zu vermitteln. An einem Wettbewerb
für junge iranische Bands, den wir mit organisiert haben, nahmen zum Beispiel über 60 Gruppen teil. Ich saß in der Jury, und den Gewinnern schenkten wir Zeit in einem richtigen
Tonstudio in Teheran, so dass sie eine CD aufnehmen konnten. Unter der Oberfläche passiert
mehr, als man zunächst glauben mag.
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M AT C H P O I N T
lIllustration: Hadinugroho
DHAHI KHALFAN TAMIM, 59, VEREINIGTE ARABISCHE EMIRATE
Supercop
Dubais erfolgreicher Polizeikommandeur muss seit drei Jahren
gegen blutige Schlagzeilen kämpfen
Der Mann hat einen exzellenten Ruf zu verlieren:
Dhahi Khalfan Tamim ist Polizeichef von Dubai,
das eine äußerst niedrige Kriminalitätsrate genießt.
»Es kann keine Rate Null geben«, sagt Tamim.
»Aber die Statistiken sind äußerst ermutigend. Auf
100000 Menschen kommt nur ein Mord, sogar
unter den Gastarbeitern.« Die Polizei der Millionenstadt ist sein Aufbauwerk. 1967, nur drei Jahre bevor Tamim die Polizeiakademie Jordaniens
absolvierte, besaß Dubai 430 Ordnungshüter. 1980
wurde Tamim Polizeichef. Heute befehligt er 15000
Beamte. Die »progressivste arabische Polizei« führte als erste in der arabischen Welt forensische DNATests und elektronische Fingerabdruckregistrierung ein. Satelliten unterstützen die Funkstreifen.
Britische Tradition zeigt sich in Tamims Zivilität:
Der Hobbypoet hat sich vorgenommen, Dubai mit
einer Million Bäumen zu begrünen. Doch während
seine Behörde unter den Emiratis hohes Ansehen
genießt, bleiben die Gastarbeiter skeptisch. Nur in
fünf Prozent aller Fälle unterstützen die Migranten polizeiliche Ermittlungen. Generalleutnant
Tamims Versicherung, die Anonymität jedes Zeugen zu schützen, fruchtet nicht.
Indes ist das saubere Image Dubais in Gefahr:
Zu oft haben prominente Morde in der Golfmetropole Schlagzeilen gemacht, zuletzt die Liquidierung des Hamas-Waffenkäufers Mahmud alMabhuh im Fünf-Sterne-Hotel Al Bustan am 19.
Januar. Tamim griff den Skandal auf, um öffentlichkeitswirksam die vermuteten Täter anzukreiden: »Mit 99 Prozent Wahrscheinlichkeit steckt der
Mossad hinter dem Mord.« Sollte sich dieser Verdacht bestätigen, müsse Interpol einen Haftbefehl
gegen den israelischen Geheimdienstchef Meir
Dagen unterstützen. Schon das dritte Mal in drei
Illustration: Amatir
SHAHAR PEER, 23, ISRAEL
Kleine Wilde
Für Spitzensportler ist Israel
eigentlich nicht bekannt.
Shahar Peer ist eine Ausnahme.
Mit 23 Jahren gehört sie zu
den besten Tennisspielerinnen
der Welt
Als Kind aß Shahar Peer am liebsten Maissuppe und
die koschere Schokoladenmousse ihrer Mutter. Von
ihrem Vater wurde sie liebevoll »Yassir Arafat« gerufen, weil sie im Elternhaus allerlei zerstörte.
Aber das ist lange her. Das wilde Mädchen aus Maccabim, einem kleinem Städtchen in der Nähe von Tel
Aviv, wollte eigentlich Sängerin werden. Auf einer
Bühne steht sie heute nicht, dafür aber auf Platz 13
der Weltrangliste im Damentennis. Das mit Spitzensportlern wenig gesegnete Land feiert sein Idol: egal
ob bei Turnieren in Prag, Paris oder Pattaya City – die
heimischen Medien übertragen jedes Spiel ihrer Hoffnungsträgerin, die bereits mit 17 Jahren Profi wurde.
Bisher gewann die 23-Jährige die Junior Australian Open, fünf WTA-Tuniere, nahm 2008 an der
Olympiade in China teil und hat mehr als drei Mil-
Jahren gibt es einen solchen Fall: 2009 wurde ein
Rivale des tschetschenischen Präsidenten von Häschern aus Grosny auf einem Parkplatz in Jumeirah kaltgemacht. 2008 erstach ein Killer die libanesische Popsängerin Suzanne Tamim in ihrem
Apartment in der Jumeirah Beach Residence.
Erst im September dieses Jahres wurde der ExLiebhaber und Auftraggeber, der ägyptische Multimillionär Hisham Talaat Mustafa, endgültig für
schuldig befunden. Eine kleine Genugtuung für
Dhahi Khalfan Tamim, der wohl Meir Dagan nicht
mmo
ins Kittchen liefern wird.
lionen US-Dollar Preisgelder erspielt – Erfolge, die
das Resultat einer Erziehung zu eiserner Disziplin
sind. Ihre kleine »Morgenröte«, wie Shahar übersetzt ins Deutsche heißt, weckten die ehrgeizigen
Eltern, die selbst Leistungssportler waren, meist
bevor die Sonne aufging. Dreimal die Woche musste die kleine Schülerin morgens um halb sechs trainieren, bevor die Schule losging.
Ihr großes Vorbild Monica Seles hat die Ausnahmeathletin zwar noch lange nicht erreicht, aber
sie ist jung – und spielt unter anderen Bedingungen als ihre Konkurrenz. Oder auch gar nicht. Die
Vereinigten Arabischen Emirate verweigerten der
Israelin 2009 die Einreise. Trotzdem entschloss sie
sich, im Folgejahr wieder anzutreten und hoffte,
dieses Mal das Visum zu erhalten; sie bekam es. An
Hochleistungssport unter normalen Bedingungen
war dennoch nicht zu denken.
Wenige Wochen vor dem Turnier war Mahmud
al-Mabhuh, hochrangiges Hamas-Mitglied, von
mutmaßlichen Mossad-Agenten in einem Hotel
in Dubai ermordet worden – Peer galt als spielende Zielscheibe und wurde von 30 arabischen
Bodyguards bis auf den Tennisplatz begleitet. Sie
schaffte es dennoch bis ins Halbfinale, wo sie gegen Venus Williams verlor. Die erklärte nach
ihrem Sieg: »Ich könnte mir nicht vorstellen, unter diesen Umständen so gut wie Shahar zu spielen. Ich denke, niemand anderes könnte das tun,
Dominik Peters
was sie kann.«
TEMPELRETTER
HOURIG SOUROUZIAN, 61, ÄGYPTEN
Die Prinzessin
von Theben
Sie gilt als eine der weltbesten Kennerinnen altägyptischer Kunst:
Seit zehn Jahren kämpft Hourig Sourouzian für die Rettung eines
monumentalen Tempels. Aber auch die Zeitgeschichte des Nahen
Ostens spiegelt sich in ihrem Leben wider
Von Faris Sikander
folg betrachten müssen, herrscht Sourouzian
über die monumentalen Hinterlassenschaften
eines goldenen Zeitalters – der 18. Dynastie. Ihr
Grabungsplatz ist groß, wirkt aber aus der Ferne unscheinbar. Dennoch halten dort alle Touristenbusse, die ins Tal der Könige von Luxor
kommen. Denn dort stehen die Memnon-Kolosse: zwei sitzende Königsstatuen, deren zerschlagene Gesichter greifenhaft anmuten. Rund
18 Meter hoch und sagenumwoben seit der klassischen Antike.
Einen ähnlich kolossalen Amenhotep hat Sourouzian vor einigen Jahren ausgegraben. Erdbeben und Überschwemmungen hatten ihn auf
den Rücken geworfen. Die Statue der schönen
Pharaonengattin Tije, die dem Koloss zur Seite
stand und aus demselben Stein geschlagen wurde, liegt nun obenauf: Zärtlich aber ehrfürchtig
wischt Sourouzian ihr mit der Hand den feinen
Staub aus dem Gesicht, so wie es einst die Kammerzofen taten.
»Eine solche Schönheit kann man sich kaum
ausdenken«, sagt Sourouzian, »sie muss tatsächlich so anmutig gewesen sein.« Sourouzian ist
Ägyptologin und Kunsthistorikerin – eine ebenfalls sehr angesehene Kollegin nennt sie »die
größte lebende Kennerin der ägyptischen
Kunst«. An der Pariser Ecôle du Louvre studierte
Sourouzian Kunstgeschichte, Archäologie und
Epigrahie, bevor sie in den Orient kam – oder
genauer gesagt: in den Orient zurückkehrte.
Fotos: dge
Am Westufer des Nils spielt sich an diesem Morgen im Frühjahr 2010 ein pharaonisches Spektakel ab: Rund 60 Arbeiter ziehen einen kolossalen Schädel an einem Strick hinter sich her. Einer gibt den Takt vor. Auf »zugleich« wandert der
Statuenkopf – vom Kinn bis zur Krone zwei
Mannsbilder hoch – in gemächlichen Schüben
voran. Pharao Amenhotep III., in antiken Quellen auch Amenophis genannt, hätte dieses
Schauspiel wohl mit Genugtuung betrachtet –
wäre das Gesicht der Statue, die vor fast 3500
Jahren nach seinem Ebenbild gemeißelt wurde,
nicht so erheblich ramponiert.
Aus der Höhe eines Stahlgerüstes wacht Hourig Sourouzian über die Ereignisse am Totentempel. »Seid vorsichtig, passt auf Eure Füße
auf«, ruft sie, den oberägyptischen Dialekt der
Einheimischen nachahmend. Die Warnung ist
Routine, die Direktorin des »Amenhotep III
Temple Conservation Project« wirkt nicht angespannt. Sie scheint ihrer Mannschaft zu vertrauen. Seit Jahren bewegen diese Männer die
Steinquader und Statuen, manche davon wiegen
einige hundert Tonnen. Kein Grabungsschauplatz ist so verwöhnt mit gigantischen Artefakten, die dort im Wochentakt gefunden werden.
Meist sind es Statuen ägyptischer Götter oder des
Bauherrn höchstpersönlich.
Während andere Archäologen detektivisch im
Staub kratzen und die Entdeckung einer Erdverfärbung oder eines Knochens schon als Er-
>>
zenith 5/2010
51
TEMPELRETTER
»Wer glaubt, dieser Tempel
sei das Werk eines Angebers,
hat nichts verstanden«
Rainer Stadelmann gehört selbst zu den
berühmtesten Ägyptologen. Aber auf dieser
Grabung führt seine Frau das Regiment.
Denn Sourouzian wurde in Bagdad geboren, als
Tochter eines Armeniers, dessen Familie im Jahr
1915 einem Massaker der Truppen des Osmanischen Reiches gegen die ungeliebte Minderheit
zum Opfer gefallen war. Später zog ihre Familie in den Libanon und nach Kanada.
Viele Sprachen zu beherrschen, war für das
orientalische Bildungsbürgertum nicht ungewöhnlich: Sourouzian spricht Armenisch,
Arabisch, Englisch, Französisch und Deutsch.
Wenn sie sich nicht im Grabungshaus von Theben oder in ihrer Wohnung auf der Kairoer Nilinsel Zamalek aufhält, wohnt sie in München.
Sie ist mit einem Bayern aus Oettingen im Landkreis Donau-Ries verheiratet: Rainer Stadelmann, 77, früher Chef des Deutschen Archäologischen Instituts in Kairo und einer der weltweit bekanntesten Pyramidenforscher und
Ägyptologen, unterstützt seine Frau seit seiner
Pensionierung bei den Ausgrabungen am Totentempel des Amenhotep. Wohl keine Archäologin auf der Welt hat einen derart prominenten Assistenten vorzuweisen.
»Das hier ist bislang die erste Darstellung des
Mittelmeervolkes der Ionier in der Geschichte«,
sagt Stadelmann, während er im ehemaligen
Theben ein Prunkrelief in Rosengranit untersucht. Der Pharao habe zeigen wollen, dass die
ganze Welt ihm huldigte, von Afrika bis Asien.
52
zenith 5/2010
»Das war wohl etwas übertrieben, die Hethiter
wären damit wohl nicht einverstanden gewesen.« Als Stadelmann zu einem Referat ansetzt,
hallt sein Vorname über den Grabungsplatz.
»Wir haben das Glück, dass es sich beruflich
ausgeht und wir unsere Leidenschaften teilen«,
sagt Stadelmann mit einem sanften Lächeln und
folgt dem Ruf seiner Gemahlin. Viele Archäologen verbringen jährlich mehrere Monate im
Jahr auf »Kampagne«, wie sie die Grabung nennen. Glückliche oder zumindest ungeschiedene
Ehen sind in der Branche selten. Auch wenn Stadelmann am Grabungsplatz den gleichen Hut
wie seine Frau trägt, ist sie der Chef.
Auch bei den Studenten, die auf der Anlage
die Funde auswerten, zeichnen und mit Inventarnummern versehen, ist Sourouzian beliebt.
»Eine Lady«, sagt ein Student während der Mittagspause. Archäologen seien Alpha-Tiere. Gerade im begehrten, hart umkämpften Grabungsland Ägypten müssten sie sich durchbeißen. Die Einsamkeit hier draußen und das
Gefühl, sich als Autorität behaupten zu müssen,
mache die Forscher schrullig – der Stress mit
Behörden oder Kollegen werde nicht selten an
Untergebenen ausgelassen. »Hourig löst so etwas mit Charme«, fügt der Student hinzu.
Jeden Donnerstag überreicht Sourouzian den
Arbeitern eigenhändig den Wochenlohn. Sie
kennt die Männer ausnahmslos mit Namen. Der
Reihe nach treten sie vor, deuten einen Diener
an und nehmen ihr Geldbündel entgegen. Auf
Sourouzians Tapeziertisch stapeln sich die Scheine, aber das Jahresbudget der Grabung, die sie
Fotos: dge
TEMPELRETTER
Die beiden Memnon-Kolosse zählen zu den
Wahrzeichen von Theben – einst waren sie Teil
des Totentempels von Pharao Amenhotep III.
seit 13 Jahren leitet, ist mit rund 250 000 Euro
eher klein. Das Geld kommt von privaten Spendern: Die Cognac-Erbin Monique Hennessy und
die Münchner Juristin und Ägyptenfreundin
Ursula Lewenton haben für die Rettung des
Totentempels einen Förderverein gegründet.
Es ist insofern eine Rettung, als die gewaltigen Memnon-Kolosse und die gesamte Anlage
schon mehrfach zu versinken drohten. Die Archäologen kämpfen gegen Bodenerosion und
gegen das Grundwasser, das fortwährend mit
schweren Pumpen aus den Grabungsschnitten
gesaugt wird. Sourouzians Team besteht aus Ingenieuren, Archäologen, Architekten, Zeichnern
und Arbeitern. Insgesamt 280 Helfer sind
während der Saison am Werk. Sie stammen aus
Ägypten, Europa und Amerika, einige sogar aus
den ehemaligen Sowjetrepubliken im Kaukasus
– international wie einst das Personal des Pharaos Amenhotep.
Die Rekonstruktion des Tempels ist noch
längst nicht abgeschlossen. Anders als die Tempel von Luxor und Karnak am östlichen Nilufer,
die zu den bekanntesten ägyptischen Touristenattraktionen zählen, ist von der Architektur dieser Anlage kaum etwas geblieben. Und doch vermuten die Forscher, dass kein religiöses Bauwerk jener Zeit die Suche der Pharaonen nach
der Verbindung mit der Götterwelt so veran-
Sourouzians Helfer bewegen tonnenschwere
Pharaonenköpfe – nach altbewährter Methode. Keine Grabung
ist so verwöhnt mit monumentalen Kunstschätzen.
Archäologen
sind Alpha-Tiere.
Im umkämpften
Grabungsland
Ägypten müssen
sie sich durchbeißen
schaulichen kann wie der Totentempel des
Amenhotep.
»Viele Besucher und Journalisten meinen, diese Kunst und Architektur zeuge von maßloser
Selbstverherrlichung«, sagt Sourouzian, »sie
glauben, dass diese gigantischen Statuen das
Werk eines Angebers seien. Aber sie haben nichts
verstanden: Der Pharao erfüllte seine Aufgabe,
als Mensch den Göttern so nahe zu treten, wie
es ihm möglich war.« Nur wenn sie Amenhotep,
den zweiten Mann in ihrem Leben, gegen derartige Anwürfe verteidigt, schimmert ein Hauch
von Angriffslust in ihren Augen.
Amenhotep III. starb im Jahr 1351 vor Chris-
tus und hinterließ ein Reich von Glanz und
Größe: Goldreserven aus den Bergen Nubiens,
Handelsrouten nach Zentralasien und eine florierende Landwirtschaft am Nil machten es möglich. Sein Sohn und Nachfolger, Pharao Amenhotep IV., brach, so heißt es, mit den Traditionen seines Vaters. Er nannte sich Echnaton,
machte die Sonnenscheibe zur höchsten Gottheit und gründete in Mittelägypten eine neue
Hauptstadt. Dem Gedenken des Vaters machte
Echnaton wenig Ehre, aber auf der Rangliste der
bekanntesten Pharaonen verdrängte er ihn allemal – nicht zuletzt weil seine Halbschwester und
Gattin Nofretete bis heute als schönste First Lady Ägyptens gilt.
Auf einem umgestürzten Architrav des Tempels prangt ein kleines Relief: Es zeigt ein
Schwimmbecken, in dem zwei nackte Kinder
baden. Während Sourouzian einige hundert Meter weiter in einem Pulk fröhlicher Arbeiter steht
und eine neu entdeckte Pharaonenstatue inspiziert, steht Stadelmann andächtig vor dem idyllischen Motiv. »Wenn Sie etwas Rummel auslösen wollen, dann können Sie schreiben, Sie
hätten den kleinen Echnaton und Nofretete als
Kinder nackt im Bad gesehen«, raunt Stadelmann mit verschwörerischem Zwinkern. »Aber
sagen Sie Hourig bloß nicht, ich hätte Ihnen
diesen Floh ins Ohr gesetzt.«
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Fotos: Gigi Roccati
SEX AND THE CITY
ZENA AL-KHALIL, 32, LIBANON
Barbies und
Kalaschnikows
Ihre Kunst ist bunt und verstörend.
Bekannt geworden aber ist sie
durch ihre Berichte aus Beirut unter
israelischen Bombenangriffen
Von Marina Khatibi
Zena al-Khalil trägt einen knallpinken Schal
im braunen Haar. Die dichte Mähne legt sich
sanft auf ihre schmalen Schultern. »Es ist
wirklich unglaublich, dass nun die ganze Welt
weiß, wann und mit wem ich meine Jungfräulichkeit verloren habe«, sagt die Autorin
bei einer Lesung ihres Buches »Beirut, I love
you« in London. Es ist eine Liebeserklärung
an die libanesische Hauptstadt, die »Hure,
an der alle teilhaben möchten«, aber auch
eine Anklage und ein Aufschrei. Das Buch
liest sich wie ein einziger Gedankenstrom,
der durch Khalils Hand aufs Papier geflossen ist. »Ich bin keine Schriftstellerin, ich bin
Künstlerin«, sagt sie über sich selbst.
Begonnen hat sie ihre Karriere als Installationskünstlerin. Geboren in London, aufgewachsen in Nigeria und England, ging sie
im Alter von achtzehn Jahren nach Beirut in
die Stadt ihrer Eltern. An der American University lernte sie ihre beste Freundin Maya
kennen. Wenige Jahre später schon starb
Maya an Krebs – eine schmerzhafte Erfahrung für Zena. Ihr Kunststudium setzte sie
in den USA fort und machte den Abschluss
an der Schule für Visuelle Kunst in New York.
Dort gründete sie auch zusammen mit anderen Künstlern »xanadu«, ein Projekt, das
junge Künstler fördert.
Khalil ist Drusin und glaubt an Wiedergeburt. Sie ist überzeugt, dass sie auch viele
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zenith 5/2010
Sorgen und Nöte aus früheren Leben mit
sich trägt. Sie braucht ein Ventil für diese
Gefühle, für diese Leben, die sie in sich trägt.
Ihr Ventil ist die Kunst. Sie sei Künstlerin
um zu überleben und die Kunst ermögliche
ihr, das Erlebte zu verarbeiten.
Um mit der Welt zu kommunizieren, begann Khalil ihren Blog beirut update zu
schreiben, als im Juli 2006 der Libanon unter israelischem Bombenbeschuss stand. Eine Journalistin des britischen Guardian entdeckte Khalils Blog und die Nachrichten, die
sie aus dem Kriegsgebiet schrieb. Ihre Einträge wurden schnell auch in anderen internationalen Medien abgedruckt. Eine englische Literaturagentin rief Khalil an und riet
ihr, ein Buch zu schreiben. Es ist weder ein
Roman noch ein Tagebuch geworden – »Magischer Realismus«, wie Khalil selbst sagt.
Das Buch beschreibt die persönlichen Erfahrungen Khalils in Beirut während der
Bombardierung.
So grell wie die Farbe ihres Schals sind
auch Khalils Installationen. 2009 stellte sie in
Turin einen riesigen Schriftzug »Allah«,
zusammengesetzt aus Spiegel-Mosaiksteinen,
in einer Kirche aus. Bei ihren Werken gibt es
viel zu sehen: Barbiepuppen mit Kalaschnikows und Kaffiehs, der palästinensischen
Kopfbedeckung, bunte Farben, Tand und
Glitzer. Eine Bilderserie zeigt die Köpfe be-
»Es ist süß,
es ist klebrig,
mir wird
schlecht
davon«
kannter libanesischer Politiker, zum Beispiel
den des Hizbullah-Chefs Hassan Nasrallah.
Die Gesichter sind umrandet von rosa Blumen, Schmucksteinen, Strass und Perlen.
Diese Art von Bildern ist typisch für ihre
Kunst. Material für ihre Arbeit sucht und
findet sie in Beirut.
Das Pink, das Khalils Arbeiten dominiert,
wirkt oft verstörend. »Es ist süß, es ist klebrig, mir wird schlecht davon«, erklärt Khalil
ihre Leidenschaft für diese Farbe. »Ich bin
aufgewachsen mit der Popkultur der 1980er
Jahre. Ich bin ein Kind der Generation MTV.«
Khalils Kunst ist gefragt. Galerien in New
York, London, Turin, München oder Paris
haben ihre provokanten Werke bereits aus-
SEX AND THE CITY
MIRAL AL-TAHAWI, 42, ÄGYPTEN
Das Beduinenkind
Die ägyptische Schriftstellerin beweist mit
»Brooklyn Heights« einmal mehr, dass sie zu den
großen Hoffnungen des Nahen Ostens zählt.
Ihr Schreiben sei ein Akt der Befreiung, sagt sie
Beirut, I love you.
A Memoir
Zena al-Khalil
Saqi Books, London 2009,
218 Seiten, 11,99 Euro
stellerinnen des Nahen Ostens zu sein. Als erste
Frau erhielt sie im Jahre 2000 den Ägyptischen
Förderpreis für Literatur. »Brooklyn Heights« steht
nun auf der Shortlist des Internationalen Buchlizk
preises für Arabische Belletristik 2011.
»Man kann
der eigenen
Vergangenheit
nur schwer
entrinnen«
Fotos: Juergen-Bauer.com
gestellt. Neben ihrer Kunst beschäftigt
sie aber immer noch das Buchprojekt.
Geplant ist, »Beirut, I love you« auch in
andere Sprachen zu übersetzen – auf Arabisch ist es bisher nicht erschienen.
Khalil schreibt und spricht überwiegend Englisch. »Das Buch ist eine Gelegenheit, das Bild der modernen arabischen Frau in der Öffentlichkeit gerade
zu rücken und Stereotype zu hinterfragen«, sagt sie. Aber kann jemand, der in
London geboren wurde, außerhalb der
arabischen Welt aufgewachsen und erst
als junge Frau nach Beirut gezogen ist,
von sich behaupten, eine arabische Frau
zu sein? Khalil spricht nur gebrochen
Arabisch. Auch deshalb möchte sie das
Buch noch nicht in der Sprache ihrer Eltern veröffentlichen. Einem möglichen
Spektakel in den arabischen Medien will
sie vorbeugen und möglichst wortgewandt entgegentreten. Dafür braucht sie
Zeit. »Mein Projekt ist in Arbeit. Ich bin
nicht in Eile.«
Dass Hind in New York unglücklich sein würde,
war nicht vorhersehbar gewesen. Sie hatte Ägypten verlassen, sowie den untreuen Ehemann, der
sie mit all ihren Freundinnen betrogen hatte. Sie
wollte den Neubeginn in der amerikanischen
Großstadt. Doch die Protagonistin Hind in Miral
al-Tahawis soeben erschienenem Roman »Brooklyn Heights« findet sich nicht nur mit all den Problemen konfrontiert, denen arabische Einwanderer in den USA begegnen, wie Armut und wenig
Chancen aufzusteigen. Auch ihre Vergangenheit
belastet sie schwer. In Brooklyn trifft sie auf Frauen in ähnlichen Situationen.
Miral al-Tahawi beschreibt einige dieser Frauenschicksale von frühester Kindheit bis zu dem Entschluss, auszuwandern im Kontext von Familie
und Gesellschaft, Staat und Religion und Missbrauch. Ihr Blick ist scharf und nah, ihre Sprache
leicht und flüssig, die verschiedenen Ebenen erschreibt sie sich spielend.
New York scheint der 42-jährigen Autorin, die
hier seit 2008 als Dozentin lebt, äußerst gut zu
tun. Auch wenn in ihrem neuen Roman, wie in
ihren drei vorhergehenden, die beduinische Kultur, der sie selbst entstammt, eine Rolle spielt,
scheint sie sich gelöst zu haben von dem engen
Blick darauf, von der traumhaften Verschränkung
zwischen Gegenwart und Vergangenheit.
Ihre literarische Arbeit war von Anbeginn ein
Akt der Befreiung. »In meinen drei Romanen habe ich immer nur über die Nöte meiner Existenz
geschrieben«, erklärte sie einmal. Tahawi kam als
jüngstes von sieben Geschwistern in einem Dorf
im östlichen Nildelta zur Welt. Ihren Vater, einen
Chirurgen, und die Lebenswelt, in der er verkehrt,
kennt sie kaum. Noch während ihrer Zeit als Dozentin an der Universität wurde sie von einem ihrer Brüder zur Aufsicht begleitet. Mit ihrem neuen Roman bricht Tahawi Tabus, schreibt offen
über Religion und Sexualität und wird ihrem Ruf
gerecht, eine der spannendsten jüngeren Schrift-
zenith 5/2010
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ELIE SAAB, 46, LIBANON
Fotos: Eli Saab Haute Couture
STILIKONE
Mit Sinn
für Weiblichkeit
Halle Berry, Salma Hayek und
Königin Rania von Jordanien
tragen seine Kleider. Jetzt fördert
Elie Saab arabische Jungdesigner
Von Ulrike Gasser
Er hat es geschafft: Der libanesische Modedesigner schickt internationale
Stars in seinen aufwändig gearbeiteten Kreationen über die roten Teppiche dieser Welt und verbindet so Stilempfinden und Eleganz spielerisch
mit seiner Herkunft, dem Nahen Osten.
»Für mich ist Mode eine Lebenseinstellung. Es ist wichtig, elegant und
schick zu sein«, sagt Elie Saab. Eine Überzeugung, die der Modeschöpfer
geschickt umzusetzen versteht, mit seinen noblen, fließenden Kleidern.
Schon mit neun Jahren, während andere Kinder spielen, fertigt der kleine
Elie Skizzen und Schnittmuster aus Zeitungspapier an und beginnt damit
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zenith 5/2010
STILIKONE
»Frauen
sollen sich
sinnlich
fühlen,
wenn sie
meine
Kleider
tragen«
seine Schwestern einzukleiden. Seine Eltern, die
Mutter Hausfrau, der Vater Holzgroßhändler,
sind davon wenig begeistert. »Sie wollten, dass
ich Arzt oder Anwalt werde, aber dann haben
beide verstanden, dass ich fest entschlossen war
Mode zu entwerfen.«
Zweifelsohne ist es die Beharrlichkeit im Wesen von Saab und sein Talent, die dem Sohn
christlich-maronitischer Eltern zu seiner Ausnahmekarriere verhalfen. Heute rangiert sein
Label »Elie Saab« unter den Topmarken auf dem
internationalen Modemarkt und erzielt Spitzenpreise.
Vor allem seine glamourösen Abend- und
Hochzeitskleider mit modernen Schnitten machen auch Frauen ohne Traummaße zu wahren
Kurvenwundern. »Für mich ist die Silhouette
einer Frau das Wichtigste, denn die Schönheit
liegt in ihrer Weiblichkeit. Ich möchte, dass
Frauen sich sinnlich fühlen, wenn sie meine >>
zenith 5/2010
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Fotos: Eli Saab Haute Couture
STILIKONE
Kleider tragen.« Gelernt hat der Libanese sein
Handwerk in Paris und durch lebenslange Selbstschulung. 1982, mit gerade mal 18 Jahren, kehrt
der Jungdesigner Saab aus Frankreich zurück
und eröffnet in Beirut sein erstes Atelier mit
zehn Angestellten und einer Menge Optimismus. »Am Anfang war es nicht leicht, denn damals hat mein Beruf im Libanon überhaupt
nicht existiert. Selbstverständlich gab es Schneider, aber Designer zu sein, das war etwas vollkommen Neues.«
Der junge Modekünstler macht sich dennoch
schnell einen Namen in der arabischen Welt und
es dauert nicht lange, bis ihn die heimische Presse begeistert als »Genie« feiert – in einer Zeit, in
der Beirut noch als Kriegsgebiet gilt. Die von
ihm benötigten Stoffe und Materialien müssen
unter schwierigsten Bedingungen eingeführt
werden, und Saab liefert seine ersten Bestellungen ins Ausland via Fähre nach Zypern. Bis sie
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zenith 5/2010
STILIKONE
»Beirut hält
meine
Kreativität
am Leben«
tatsächlich angekommen waren, bangte Saab
um die wertvolle Ladung.
Saabs Kreationen sind aus hochwertigen Materialien genäht und der Designer versteht es, sie
detailreich mit Stickereien, Pailletten oder Perlen zu verzieren. Der Preis für ein Kleid aus der
Hand des Meisters beginnt bei 10 000 und endet bei 1,8 Millionen Euro, wie seine Kreation
für eine Prinzessin aus Katar, reich mit Smaragden und Diamanten bestickt. Saab selbst
merkt mit einem Augenzwinkern an, sein Unternehmen sei wohl der größte Abnehmer von
Swarovski-Kristallen.
Nachdem Saab 1997 als erstes nicht-italienisches Mitglied in die Modekammer »Camera
Nazionale de la Moda« aufgenommen wurde
und so erfolgreich in Europa debütierte, gelang
ihm der internationale Durchbruch fünf Jahre
später. 2002 erhielt Halle Berry den Oscar als
beste Hauptdarstellerin, gekleidet in eine transparente Elie-Saab-Robe mit Blumenstickereien,
die gerade das Nötigste verdeckten. Die Begeisterung in Hollywood war groß. Aber der wirkliche Ritterschlag erfolgte ein Jahr darauf: Saab
wurde in die ehrwürdige Modeinstitution
»Chambre Syndicale de Haute Couture« und
damit in den Pariser Modeolymp aufgenommen. Seitdem steigen die Verkaufszahlen rasant.
Stars wie Angelina Jolie, Scarlett Johansson, Sal-
ma Hayek oder Beyonce Knowles geben sich in
seinen Boutiquen die Klinke in die Hand.
Doch der talentierte Couturier hat nicht vergessen, woher er kommt. Sein Hauptatelier befindet sich trotz des weltweiten Erfolges noch immer in Beirut. »Nur hier kann ich schöpferisch
sein, hier fühle ich mich als ganzer Mensch, denn
Beirut hält meine Kreativität am Leben.« Er ist
Haus- und Hofschneider von Königin Rania
von Jordanien, und für seine arabischen Kundinnen näht der Designer auf Wunsch die Ausschnitte zu oder lange Ärmel an die eleganten
Kleider.
Kürzlich tauschte der Modeschöpfer für eine
Weile Nadel und Faden gegen ein Mikrofon. Die
Sendung »Mission Fashion« suchte den besten
Jungdesigner der arabischen Welt, und Saab half
kräftig dabei mit: »Wenn wir unseren Kindern
nicht beibringen, dass sie ihre Träume und Visionen auch in der Heimat verwirklichen können, geht hier alles den Bach runter.«
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SCHIITEN
lIllustration: Hadinugroho
NURI AL-MALIKI, 60, IRAK
Opposition ist Mist!
2010 bewies Nuri al-Maliki, dass er Meister des Überlebensspiels ist.
Zugetraut haben es ihm nur wenige – noch weniger gönnen es ihm
Ein strahlender Sieger sieht anders aus – in Siegerpose sieht man Nuri al-Maliki ohnehin selten. Gegen alle Unkenrufe hat sich der irakische
Ministerpräsident behauptet, nicht besonders
ansehnlich und bestimmt auch nicht ganz sauber. 2009 stand seine Koalition, die ihn 2006 ins
Amt gehievt hatte, vor dem Aus. Die Rückkehr
der Anschlagsserien, Zank über Öleinnahmen
mit den Kurden, Stress mit alten Baath-Kadern
– alles lastete auf den Schultern des 60-jährigen
Schiiten und trübte seine politischen Aussichten.
Das wurde an der Wahlurne in diesem Jahr
quittiert – die Allianz seines Konkurrenten Iyad
Allawi wurde vor Malikis »Rechtsstaatskoalition« stärkste Kraft im Parlament. Das achtmonatige Warten auf eine neue Regierung, das es
bis ins Guinness-Buch der Rekorde schaffte,
nahm der Chef der Dawa-Partei in Kauf und
spielte auf Risiko. Maliki bewies sich als Meister
in der Kunst der Reise- und Hinterzimmerdiplomatie – und überraschte mit seiner Mischung aus Durchsetzungskraft, Allianzenschmieden und Taktieren: Fähigkeiten, die ihm
während seiner ersten Amtszeit nicht selten abgesprochen wurden. Zähneknirschend mussten
sich seine Konkurrenten ihm anschließen, allen
voran der vermeintliche Aufsteiger der irakischen Politik, der Kleriker Muqtada al-Sadr.
Dabei hat Maliki schon oft bewiesen, dass er
ein Überlebenskünstler ist, sonst wäre er erst
gar nicht im Nachkriegsirak angelangt. Bis dahin hatte er 24 Jahre im Exil verbracht, die meisten davon in Teheran und Damaskus. Dort koordinierte er den Kampf gegen das BaathRegime, aber auch die Unterstützung für die
Hizbullah im Auftrag seiner Gastgeber. Für die
HASAN MUSA AL-SAFFAR, 52, SAUDI-ARABIEN
Wer randaliert, fliegt raus!
lIllustration: Hadinugroho
Seine Glaubensgenossen halten den Kopf der saudischen Schiiten,
Hasan al-Saffar, oft für zu zögerlich. Aber genau deshalb ist er wie
geschaffen für seine Mission
Der saudische Kleriker Hasan al-Saffar gehörte
2010 zu den einflussreichsten Muslimen der
Welt. So sieht es zumindest das »Zentrum für
muslimisch-christliche Verständigung« der Universität von Georgetown in den USA. Die Urheber der Studie führen gute Gründe an für ihre Einschätzung. Immerhin handelt es sich bei
Saffar um die politische Führungsfigur der saudiarabischen Schiiten, die im weltweit ölreichsten
Landstrich – der Ostprovinz – etwa die Hälfte
der Bevölkerung stellen. Auch die starke Medienpräsenz spricht für die Bedeutung des 52-Jährigen. Ob auf der eigenen Website oder in seiner
wöchentlichen Kolumne in einer saudischen
Tageszeitung: Saffars Plädoyers für Reformen
sowie für inter- und intrareligiöse Toleranz
erreichen eine große Öffentlichkeit. Selbst bei
den von König Abdullah initiierten nationalen
Dialogforen ist der geistliche Politiker zumeist
als einziger Schiit vertreten. Von der saudischen
Amerikaner eigentlich keine Musterbewerbung,
dennoch schaffte es Maliki, die Regierung Bush
von sich zu überzeugen. Die Vorwürfe seiner
Gegner sind vielfältig: Für Sadr, dessen Miliz er
2008 den Garaus machte, ist er eine Marionette der USA, für Washington, die Saudis und alAllawi ein Strohmann Irans und für einige Kurden ein neuer Saddam. Maliki scheint das nicht
viel auszumachen. Besonders beliebt war er nie,
gefürchtet wie Saddam allerdings auch nicht.
Maliki hat seinen Weg gefunden: nicht besonchat
ders schön, aber erfolgreich.
Regierung wird Saffar deshalb gerne als gut integrierter Vorzeige-Schiit präsentiert.
Ein Blick auf die Beteiligung der Minderheit
an Macht und Geld fällt nüchtern aus: schiitische Minister oder Öl-Tycoons – Fehlanzeige.
Außerdem werden Saffar und seine Glaubensgenossen im streng-religiösen Königreich von
manchen Geistlichen der staatstragenden wahhabitisch-islamischen Strömung als Ungläubige verunglimpft. Trotzdem sucht Saffar Kontakt
zu moderaten Wahhabiten. Durch sein versöhnliches Verhalten ist es ihm zumindest gelungen, Ressentiments zwischen Sunniten und
Schiiten abzubauen. So gelingt es ihm die Minderheit aus ihrer Isolation zu befreien.
Gleichzeitig fordert Saffar öffentlich die Trennung von Staat und Religion als Vorbedingung
für eine Demokratisierung des Königreichs –
ein gewagter Schritt angesichts der jahrhundertelangen Zweckehe zwischen dem Herrscherhaus der Al Saud und dem Wahhabitenklerus.
Dies wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar
gewesen. Aus der persona non grata – bis in die
1980er Jahre hatte al-Saffar die systemfeindliche
»Organisation der Islamischen Revolution für
die Befreiung Arabiens« angeführt – ist ein kalkulierender Pragmatiker geworden. Hierin liegt
Saffars Stärke: Soweit zu gehen, wie es im autoritären System der Al Saud möglich ist. Keinen
dink
Schritt weiter.
NEUER FEMINISMUS
JOUMANA HADDAD, 40, LIBANON
»Eine Frau tanzt
bis nachts um vier
und denkt, sie
sei emanzipiert!«
Die libanesische Journalistin Joumana Haddad
gibt das erste erotische Magazin in arabischer
Sprache heraus und kämpft für ein Frauenleben
ohne Kompromisse
Foto: Michel Sayegh
Interview: Silke Brandt
zenith: Der Titel Ihres aktuellen Buchs lautet
auf Deutsch »Ich tötete Scheherazade«. Wie ist
dieser Titel zu verstehen?
Joumana Haddad: Scheherezade ist zum Inbegriff der Frau geworden, die Kompromisse
macht, die ihr Schicksal verhandelt. Um am Leben zu bleiben muss sie dem König jeden Abend
eine Geschichte erzählen. Aber keine Frau sollte irgendwelche Kompromisse oder Zugeständnisse machen, was ihr Leben betrifft. Deshalb
musste ich Scheherazade töten.
Sie waren gerade in Berlin, um ihr neues Buch
vorzustellen. Was ist der Unterschied zwischen
der deutschen und der arabischen Frau?
Also zunächst glaube ich nicht, dass es »die deutsche Frau« und »die arabische Frau« gibt. Es
gibt so viel Vielfalt und jede Frau ist einzigartig. Keine Verallgemeinerung könnte da treffend
sein. Aber wenn Sie mich mit einer deutschen
Frau vergleichen, gibt es schon Dinge die uns unterscheiden. Ich bin in einer sehr konservativen
katholischen Familie aufgewachsen und in einer
sehr einschränkenden Gesellschaft, die Frauen
diskriminiert. Ich bin außerdem im Krieg groß
geworden. All das unterscheidet mich von einer
deutschen Frau. Trotzdem haben wir viele Dinge gemeinsam, wenn wir zum Beispiel Berlin
und Beirut vergleichen. Berlin war in Ost und
West geteilt und auch in Beirut hat es die Teilung in den westlich muslimischen und in den
östlich christlichen Teil gegeben. Aber Berlin hat
diese Trennung überwunden und ist nun ein
Ganzes. Das haben wir in Beirut noch nicht geschafft, es gibt immer noch das Ost-Beirut und
das West-Beirut in den Köpfen. Hier schwelen
immer noch Konflikte unter der Oberfläche.
Ihnen wird häufig vorgeworfen, in Ihrer
Heimat als Christin viel mehr Freiheiten zu
>>
Joumana Haddad
wurde 1970 in Beirut geboren. Sie ist Journalistin, Dichterin und Feuilleton-Redakteurin
bei der Tageszeitung An-Nahar. Seit 2008 gibt
Haddad Jasad heraus, das erste erotische Magazin in arabischer Sprache. Wegen der provokanten Texte und Bilder rund um das Thema
»Körper« darf das Magazin in der arabischen
Welt nur im Libanon verkauft werden. Haddad hat zwei Söhne aus erster Ehe. Sie ist in
zweiter Ehe verheiratet. Ihr Mann und sie verzichten aber bewusst auf eine gemeinsame
Wohnung.
zenith 5/2010
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NEUER FEMINISMUS
genießen als muslimische Frauen. Gibt es denn
einen Unterschied zwischen arabischen christlichen und muslimischen Frauen?
Nein, eigentlich nicht. Natürlich gibt es die optischen Merkmale, dass muslimische Frauen das
Kopftuch tragen zum Beispiel. Aber im Grunde
genommen wachsen wir alle in einer diskriminierenden patriarchalischen Gesellschaft auf.
Hier im Libanon herrscht ein System, das keine Strukturen zum Schutz der Frauen kennt. Es
gibt die Illusion von Freiheit. Die Frauen kleiden sich sexy und freizügig, gehen zur Universität, tanzen in den Clubs bis morgens um vier
und fühlen sich sehr emanzipiert. Sie merken gar
nicht, dass sie sich selbst zum Accessoire des
Mannes machen. Unter allen monotheistischen
Religionen ist das so, sei es das Christentum,
der Islam oder das Judentum. Es gibt immer eine Einmischung des religiösen Systems in das
Privatleben, das gewalttätig gegenüber den Frauen ist.
Ein geschmackvolles
Skandalblatt. Vor zwei
Jahren gründete Joumana
Haddad das Magazin
»Jasad«. Es handelt laut
Angaben des Verlags
von »Literatur, Kunst
und der Wissenschaft
des Körpers«.
Sie bezeichnen sich selbst häufig
als Post-Feministin. Wie leben Sie diese
Einstellung im Alltag?
Das, wofür ich kämpfe, will ich nicht gegen die
Männer durchsetzen, sondern auch für die Männer und mit Ihnen zusammen. Es sind nämlich
nicht nur die Männer, die das patriarchalische
System stützen, es sind häufig auch die Frauen
selbst, die ihr eigenes Geschlecht zurückweisen.
Ich denke, dass eine bessere Welt nur dann möglich ist, wenn wir die Männer nicht als ultimativen Feind betrachten. Post-Feministin zu sein,
bedeutet für mich, für mein eigenes Schicksal
verantwortlich zu sein und zu kämpfen.
Wie haben Ihre Familie und Umwelt
Ihre Persönlichkeit geprägt?
Beides hatte einen sehr wichtigen Einfluss auf
meine Entwicklung. Zunächst bin ich in einer
sehr konservativen Familie aufgewachsen. Mein
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zenith 5/2010
Männer
sind nicht
der
ultimative
Feind
Vater war sehr religiös und streng. Außerdem
war ich 14 Jahre lang auf einer katholischen,
von Nonnen geführten Schule. All das hat in
mir die Rebellion gegen all die Neins geweckt,
gegen all die Einschränkungen und Verbote ohne überzeugende Begründung. Ich habe mich
gegen alles aufgelehnt, was ich nicht sagen oder
tun durfte. Ich habe in einer Atmosphäre gelebt, die sehr feindselig gegenüber meiner persönlichen Freiheit war. Aber Freiheit war für
mich sehr wichtig. Außerdem bin ich in einer
Stadt groß geworden, in der Bürgerkrieg herrschte. Dies hat mich zu einer Kämpferin und
zu einer Überlebenden gemacht. Ich habe mich
immer gegen all die Probleme und Hindernisse aufgelehnt.
Welche Rolle hat die Literatur für
Ihre Befreiung gespielt?
In der Literatur habe ich immer einen Rückzugsort gefunden. Literatur war aber auch das
erste Element meiner Emanzipation. Durch
Bücher konnte ich der einengenden Umwelt und
meiner schwierigen Kindheit entfliehen.
Sie geben das Magazin Jasad heraus,
das sich auch mit Erotik beschäftigt. Wie kam
Ihnen die Idee zu diesem Magazin?
Die Idee hatte ich vor etwa drei Jahren. Ich wollte ein ganz neues kulturelles Magazin, das sich
mit einem alten, aber sehr wichtigen Thema beschäftigt – nämlich dem menschlichen Körper.
Dieses Thema ist ja immer noch ein Tabu in der
arabischen Gesellschaft, obwohl es sehr frühe
Schriften gibt, die sich ganz ausführlich und
sehr explizit damit befassen.
Wie sind die Reaktionen auf das Magazin?
Es gibt natürlich sehr viele, die das Magazin ver-
teufeln. Die meiste Kritik kommt aus SaudiArabien. Es ist eigentlich überall in der arabischen Welt auf dem Index und darf nur im Libanon verkauft werden. Aber trotzdem gibt es
jede Menge Abonnenten aus vielen arabischen
Ländern. Ich würde sagen Ablehnung und Zuspruch stehen in einem gesunden Verhältnis zueinander.
Wie erklären Sie sich den Widerspruch,
dass Ihr Magazin von Teilen der
libanesischen Gesellschaft verurteilt wird,
aber gerade im Libanon die Sängerinnen
und Schauspielerinnen beliebt sind, die sehr
freizügig in der Öffentlichkeit auftreten?
Ja, das ist furchtbar bei uns. Wenn Sie den Fernseher einschalten dreht sich alles, was Sie sehen,
um Sexualität. Die Frauen zeigen sich halbnackt
auf dem Bildschirm und die Menschen akzeptieren das. Aber diese Art von Sexualität ist eben
nicht gefährlich, es ist ein oberflächlicher Tabubruch. Das, wovor die Menschen Angst haben,
ist die Diskussion. Für die, die den Status quo
aufrecht erhalten wollen, scheint die Diskussion um den Körper und die Sexualität in meinem
Magazin viel gefährlicher.
Aber sind diese jungen Frauen für Sie nicht
Schwestern im Geiste, die sich von
erdrückenden gesellschaftlichen Konventionen
gelöst haben?
Nein, diese Frauen sind etwas ganz anderes. Sie
haben ein sehr unvollständiges Bild ihrer eigenen Weiblichkeit. Sie sehen alle wie Kopien voneinander aus, nichts geht ohne Schönheits-OPs.
Als Frau brauchst du das Vertrauen in dich
selbst, eine starke Frau zu sein. Das fehlt diesen
Stars und Sternchen völlig.
Was ist Ihr nächstes Projekt?
Ich habe gerade einen Vertrag mit der deutschen
Tageszeitung Die Welt abgeschlossen. Alle zwei
Wochen werde ich meine eigene Kolumne haben und mich ganz unterschiedlichen Themen
widmen. Ich freue mich schon sehr auf diese
Zusammenarbeit.
Wie ich Scheherazade tötete.
Bekenntnisse einer zornigen arabischen Frau
Joumana Haddad
Hans Schiler Verlag, Berlin 2010,
130 Seiten, 18,00 Euro
NACHRUFE
Eine Ära geht zu Ende
Gleich fünf berühmte Geisteswissenschaftler,
die das Denken über den Orient und Europa geprägt
haben, sind 2010 gestorben. Ihre Gedanken haben
auch zenith beeinflusst. Ein Abschied
GERNOT ROTTER, 14. MAI 1941 – 9. JUNI 2010
Er erlebte den Bürgerkrieg im Libanon und befreite
die Orientalistik aus dem Elfenbeinturm
lIllustration: Hadinugroho
»Als Orientalist sollte man natürlich ein durchaus kritisches Orientbild haben, aber man sollte sich auch dem Gedanken verpflichtet fühlen,
dass man Verständnis und Verständigung
sucht«, sagte Gernot Rotter einmal im Gespräch
mit zenith. Rotter war ein solcher Orientalist –
ein Mann, der nicht nur die Sprachen, Kultu-
ren und Geschichten des Vorderen Orients studiert hatte, sondern sich dabei von Leidenschaft
und Abenteuerlust antreiben ließ.
Sich selbst zu schonen war nicht Rotters Sache: Er trank gern Wein, rauchte viel und
schrieb oft nächtelang. Vier Jahre leitete Rotter
das Orient-Institut der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft in Beirut. »Wir alle bewunderten ihn damals«, berichtet ein Kollege
aus der Beiruter Zeit, »er sprach besser Arabisch als die meisten von uns und hatte immer
eine Gruppe Zuhörer um sich versammelt.«
Für Orientalisten waren die Jahre im libanesischen Bürgerkrieg eine Art Ritterschlag. Rotter
schloss sich nach seiner Rückkehr den Grünen
und der Friedensbewegung an und saß einige
Jahre im Landtag von Rheinland-Pfalz. Er wurde später Professor an der Universität Hamburg, stand aber weiterhin im Mittelpunkt der
Beirut-Connection, zu der auch manche Journalisten zählten.
Auch zenith gäbe es ohne Rotter nicht. Die
Gründer des Magazins waren seine Studenten,
sie lernten sich 1999 am »Institut für Kultur
und Geschichte des Vorderen Orients« in Ham-
burg kennen. Rotter zeigte in seinen Zeitungsartikeln, seinen TV- und Radio-Auftritten: Wissenschaftler müssen sich einmischen und sollten den öffentlichen Diskurs über den Islam
oder den Nahen Osten nicht sich selbst und
geltungsbedürftigen Publizisten überlassen. Er
beschrieb diese Haltung einmal so: »Nicht jedem liegt’s, aber wenn man merkt: an diesem
oder jenem Punkt habe ich etwas zu sagen,
dann sollte man das auch tun.«
Professor, Politiker, Poet
Man mag ihn als Professor, Friedenspolitiker oder
Publizisten in Erinnerung behalten – aber selbst
vielen Kollegen mag entgangen sein, dass Rotter
auch ein Dichter war. Er übertrug unter anderem
Werke des persisch-arabischen Spottpoeten AlHamadhani ins Deutsche, und die von ihm verfasste Reimprosa ist ein eigenes Meisterwerk. Sie
entstand zu einem Großteil während der nächtlichen, kriegsbedingten Ausgangssperren in
Beirut. Gernot Rotter, der am 14. Mai 1941 im
sudetischen Troppau geboren wurde, starb am
dge >>
9. Juni 2010 im Alter von 69 Jahren.
zenith 5/2010
63
lIllustration: Hadinugroho
MOHAMMED ARKOUN, 1. FEBRUAR 1928 – 14. SEPTEMBER 2010
Er hinterfragte
schonungslos die
Begriffe, die wir uns
vom »Islam«, dem
»Westen« und ihrem
wechselseitigen
Verhältnis machen.
Und zwar lange, bevor
diese Art Kulturkritik
in die Mode kam
Mohammed Arkoun war wohl der erste arabischsprachige Wissenschaftler, der sich Gehör
in Europas Medien verschaffte und als Fachmann Anerkennung fand – lange bevor die Islam-Experten begannen, die TV-Studios zu
überrennen.
Arkoun kam 1928 in einem kleinen Dorf in
der algerischen Kabylei zur Welt. 1968 zum
Doktor der Philosophie promoviert, lehrte er
von 1972 bis 1992 an der Pariser Sorbonne.
Konsequent setzte er das Erscheinen des politischen Islams in Bezug zur Moderne, der Postmoderne, später der Globalisierung.
Das mag heute Mainstream sein – in den
1980er Jahren kümmerte sich noch kaum jemand darum. Jeden dieser Begriffe unterzog
er seiner philosophischen Kritik, was aufgrund
seiner hochgestochenen Wortwahl nicht im-
mer einfach zu verstehen war. Arkoun suchte
offenbar zeitlebens nach neuen begrifflichen
Fundamenten für die Beschäftigung mit dem
Islam und seiner Wahrnehmung im Westen.
Den politischen Islam betrachtete er etwa als
logische Begleiterscheinung des Kapitalismus.
Arkoun griff aber auch die autoritären Strukturen der islamischen Welt an. Dass seine Heimat Algerien in den 1990er Jahren in den Krieg
zwischen Armee und islamistischem Untergrund abglitt, wunderte ihn nicht: »Die Gewalt
wird mit den Ideen genährt, die man unseren
Kindern von klein auf vermittelt«, erklärte er
damals.
Arkouns Kritik war umfassend, doch er war
kein Kulturpessimist. Sein kritischer Geist
machte ihn im Gegenteil zu einem Versöhner.
»Das, was da zusammenprallt, sind nicht die
Kulturen, sondern grundlegend ignorante Systeme«, kommentierte Arkoun einst die Kulturkampf-Thesen Samuel Huntingtons. »Sprache macht uns zu ihrem Gefangenen, bis wir
uns nicht mehr bewegen können.« Für Arkoun
selbst galt das nicht. Nun ist seine Stimme für
immer verstummt. Am 14. September 2010 verstarb Mohammed Arkoun im Alter von 82 Jahvr
ren in Paris.
NASR HAMID ABU ZAID, 10. JULI 1943 – 5. JULI 2010
Dass der Koran von Gott auf den Menschen herabgesandt worden sei, hat er nie öffentlich bestritten. Aber für Nasr Hamid Abu Zaid war die
heilige Schrift der Muslime auch ein Stück
menschlicher Literatur. »Der Text stammt von
Gott, aber er steht in einem historischen Zusammenhang – und ist geprägt von der menschlichen
Kultur und Gesellschaft seiner Entstehungszeit«,
pflegte er zu sagen. Mit dieser Haltung versuchte Abu Zaid, das islamische Schriftgelehrtentum
und Textforschung zu versöhnen – inspiriert von
der kritischen Bibelexegese, die auch die moderne christliche Theologie prägte.
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zenith 5/2010
Abu Zaid bezog sich dabei auch auf eine kritische Denkschule des 9. Jahrhunderts und deren Forderung, die Botschaft des Korans nicht
über die Vernunft zu stellen und der Überlieferung mit etwas Skepsis zu begegnen. Diese
Schule der so genannten Mutaziliten konnte
sich nicht gegen die Macht der Traditionalisten
durchsetzen – ebenso ging es Abu Zaid. 1995
wurde der Kairoer Professor des Abfalls vom Islam bezichtigt und verklagt. Als »überführter
Nicht-Muslim« wurde er von seiner muslimischen Frau zwangsgeschieden. Beide verließen
Ägypten und zogen in die Niederlande. Abu
Zaid lehrte in den Universitätsstädten Leiden
und Utrecht.
Seine Ideen haben nicht nur die westliche
Koranforschung beeinflusst, sondern auch muslimische Gelehrte, etwa in Südostasien und den
Maghreb-Staaten. Abu Zaid reiste viel – in den
vergangenen fünf Jahren auch wieder nach
Ägypten, wo Regierungspolitiker sogar Bedauern zeigten, einen so berühmt gewordenen Denker davongejagt zu haben. 1943 wurde Abu
Zaid im kleinen Dorf Tanta im Nildelta geboren. Am 5. Juli 2010, fünf Tage vor seinem 67.
Geburtstag, starb er in einem Krankenhaus im
Kairo. Ägyptischen Medien zufolge litt Abu
Zaid an einer Hirnhautentzündung, die er sich
während eines mehrwöchigen Lehraufenthalts
dge
in Indonesien zugezogen hatte.
lIllustration: Hadinugroho
Das Exil machte den
Ägypter weltberühmt.
Auch muslimische
Denker folgen heute
seinen Ideen – und zwar
mehr als es öffentlich
zugeben würden
NACHRUFE
Der berühmte
israelische Soziologe
galt als »Max Weber
der Gegenwart«.
Der Moderne traute er
nicht über den Weg
lIllustration: Hadinugroho
Wenn ein Soziologe von Kollegen bewundernd
als »Max Weber der Gegenwart« bezeichnet
wird, kann das nur eines bedeuten: Seine Werke gehen die ganz großen Themen an. Der Israeli Shmuel Noah Eisenstadt nahm zeitlebens
Anstoß an der »Moderne« und der herkömmlichen Vorstellung, sie sei ein Geschenk der
westlichen Kultur an den Planeten.
Eisenstadt, der 1940 an der Hebräischen Universität in Jerusalem studierte und später dort
Professor für Soziologie wurde, analysierte die
politischen Systeme großer Imperien: Byzanz,
das spanische Weltreich, China oder Persien.
Er blickte hinter die Legenden von Glanz und
Untergang, Aufstieg und Verfall. Sein Ergebnis:
Es gab viele »Modernen« und Erneuerungsprozesse – und sie laufen nicht, wie uns Histo-
lIllustration: Hadinugroho
SHMUEL EISENSTADT, 10. SEPTEMBER 1923 – 2. SEPTEMBER 2010
riker früher glauben ließen, nach dem gleichen
Schema ab wie in Europa. Eisenstadt erkannte
das Anfang der 1960er Jahre – der große Michel Foucault, Begründer der Diskursanalyse
und Idol einer ganzen Generation von Soziologen, war da noch ein kleiner Professor in der
französischen Provinz.
Der in Warschau geborene Sohn polnischer
Einwanderer erlebte die Gründung Israels und
den Ersten Nahostkrieg 1948 als Soldat. Als Soziologe erforschte er auch die »Transformation der israelischen Gesellschaft« durch das Aufeinandertreffen verschiedener Immigrantengruppen. Das Werk mit diesem Titel erschien
1987 auf Deutsch.
Eisenstadt mischte sich nicht in die Tagespolitik ein. Aber die religiöse Definition des Judentums, wie sie die orthodoxen Gruppen und
Parteien in Israel verbreiten, lehnte er ab. Judentum, das war für ihn vor allem eine Zivilisation. »Bis zum Schluss beeindruckte er durch
eine fast jugendliche Offenheit, die ihn auf den
Jahrmärkten der akademischen Eitelkeiten herausragen ließ«, schrieb die Historikerin Birgit
Schäbler in einem Nachruf auf Eisenstadt, der
am 2. September 2010 mit fast 87 Jahren in Jedge
rusalem starb.
FRED HALLIDAY, 22. FEBRUAR 1946 – 26. APRIL 2010
Sein Gespür für politische Entwicklungen im
Nahen Osten war verblüffend – seine Deutung des
Imperialismus erzürnte zahlreiche Kollegen
»Shocked and awed – erschrocken und verschüchtert«, so lautet der Titel des letzten Werkes von Fred Halliday, das in diesen Tage posthum
erscheint. Er spielt auf einen populären Strategiebegriff der US-Armee an. Halliday beschreibt
darin, wie sich die englische Sprache durch den
Sicherheitsjargon des »Kriegs gegen den Terror«
nach 2001 verändert hat. Für einen Professor der
Internationalen Beziehungen ein äußerst originelles Werk – und Originalität war wohl der »rote Faden« in Hallidays Karriere. Rot auch deswegen, weil der Historiker nach seinem Studium an der Elite-Schmiede Oxford lieber die
linksintellektuelle New Left Review herausgab
und durch die Welt reiste, als in altehrwürdigen
Bibliotheken zu versauern.
Halliday, 1946 in Dublin geboren, hatte ein
Gespür für zukünftige Hotspots im Vorderen Orient. Sein 1978 erschienenes Buch »Iran: Dicta-
torship and Development« etwa deutete schon
auf die revolutionären Entwicklungen hin, die
aus westlicher Sicht ein Jahr später völlig überraschend kamen. Erst 1985 erhielt Halliday den
Lehrstuhl für Internationale Beziehungen an der
London School of Economics, den er bis 2008
innehatte.
Der bekennende Sozialist irritierte mit seinen
undogmatischen Urteilen aber auch linke Weggefährten und Studenten. So befürwortete Halliday manche militärische Interventionen in der
Dritten Welt, sowjetische wie amerikanische. Dem
Imperialismus sprach er gar »eine progressive
Rolle für die Transformation der Welt« zu. Den
Weltkongress der Nahoststudien im Sommer
2010 in Barcelona, wo er die letzten zwei Jahre
verbracht hatte, erlebte der krebskranke Halliday nicht mehr. Mit 64 Jahren starb er am 26.
chat
April in der katalanischen Metropole.
zenith 5/2010
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EVERGREEN
zenith
MUAMMAR AL-GADDAFI, 68, LIBYEN
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Meier, Veit Raßhofer, Jörg Schäffer, Reiner Sprenger
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IMPRESSUM
Eine Familie
der Superlative
Gaddafis Libyen ist für zwei Dinge
berühmt: für seinen Ölreichtum und seine
Herrscherfamilie, auch bekannt als die
vielleicht langlebigste Seifenoper der Welt
VERANTWORTLICH FÜR DIESES HEFT
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Von Kamila Klepacki
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Bettina David, Wiebke Eden-Fleig, Sven Hirschler,
Kamila Klepacki, Elisabeth Knoblauch, Matthias Naue,
Veit Raßhofer, Miriam Shabafrouz,
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Nr. 1 vom 1. Januar 2010
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Erhältlich unter www.zenithonline.de
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Ein hübsches französisches Bonmot besagt, dass
ein Volk genau die Regierung bekommt, die es
verdient. Demnach müssen die Libyer ganz schön
unartig gewesen sein. Denn Libyen, ein ansonsten unscheinbarer Flecken Wüste, ist nicht nur für
einen ansehnlichen Vorrat an Erdöl bekannt, sondern auch für den impertinentesten Herrscher
unserer Zeit: Revolutionsführer und Oberst
Muammar al-Gaddafi.
Seit über 40 Jahren bestimmt der selbsternannte
»Führer der arabischen Führer, König der Könige Afrikas und Imam aller Muslime« über das
Schicksal seines Landes und ist damit länger an
der Macht als jeder andere derzeitige König, Präsident oder Diktator. Legendär sind nicht nur
Gaddafis prachtvolle Outfits, sein ungekünstelter
Größenwahn und seine unzähligen Marotten,
sondern auch die grenzenlose Liebe zu seiner Familie. Wir erinnern uns: Als die Genfer Polizei
im Juli 2008 den Gaddafi-Sohn Hannibal und
dessen Frau Aline vorübergehend festnahm – die
beiden hatten zwei ihrer Bediensteten misshandelt – bekam die Schweiz, die sich sonst penibel
aus jedem Streit heraushält, diese angebliche Anmaßung hundertfach vergolten.
Diplomatische Narrenfreiheit
Nach dem Motto »Trittst du mir auf die Zehen,
brech’ ich dir die Beine« begann ein Rachfeldzug,
wie ihn nur ein Gaddafi fertig bringt: Er verhängte ein umfassendes Wirtschaftsembargo, ließ zwei
Schweizer Geschäftsleute, die das Pech hatten, sich
zu dem Zeitpunkt auf libyschem Boden aufzuhalten, kurzerhand hops nehmen und reichte bei der
Uno einen Antrag auf Zerschlagung des »mafiösen« Alpenlandes ein.
Dies war allerdings nicht das erste Mal, dass Hannibal, Nummer fünf von insgesamt acht leiblichen
Gaddafi-Kindern, sich von seiner brutalen Seite
zeigte, und auch nicht das letzte. Mal schlug er ein
paar römische Polizisten krankenhausreif, dann waren es wieder Journalisten. 2004 bretterte er mit 140
Sachen betrunken und gegen die Fahrtrichtung über
die Champs-Elysées in Paris. 2009 sorgte er für diese festliche Überschrift: »Hannibal Gaddafi bricht
seiner Frau an Weihnachten die Nase« (Bild). Die
beständige Serie an Peinlichkeiten und fragwürdigen Entscheidungen des Gaddafi-Clans liest sich
wie die Handlung einer Seifenoper. Schnell Autofahren und Fäuste schwingen kann auch Saif 28,
ehemaliger Student an der TU München. Schwester Aischa, 34, setzte sich als damals frisch diplomierte Juristin gegen 1500 Casting-Bewerber durch
und ergatterte einen der begehrten Plätze im Verteidigungsstab von Saddam Hussein. Al-Saadi, 37,
der Superstar der libyschen Fußballnationalmannschaft, kaufte sich 2003 in die italienische
Profiliga ein und saß fortan auf der Ersatzbank.
Gedopt hat er trotzdem.
Der Liebling der Klatschpresse ist jedoch immer
noch Vater Gaddafi persönlich. International erfreut er sich längst diplomatischer Narrenfreiheit.
Die neueste sinnträchtige Erkenntnis verdanken wir
den aktuellen Enthüllungen von Wikileaks. Der
»Bruder Führer«, wie ihn das libysche Volk liebevoll
zu nennen hat, sei nämlich ausgesprochen ängstlich,
weigere sich, offenes Gewässer zu überfliegen, und
verreise nur in Begleitung einer gewissen dickbusigen Krankenschwester. Ein weiteres Teil in einem
Puzzle, das am Ende gar kein Bild ergibt.
Denn so gut die Welt auch über die Familie Gaddafi Bescheid zu wissen glaubt, eine Frage ist noch
immer ungeklärt: Wer wird eigentlich Nachfolger
des 68-jährigen Gaddafi? In dieser Hinsicht hält
sich schon seit Jahren wacker ein Gerücht: Der
zweitälteste Sohn Saif al-Islam wird hinter den Kulissen systematisch zum Nachfolger geformt, was
er selbst freilich immer wieder dementiert. Immerhin gibt es über den Ingenieur und Architekten eigentlich nichts Empörendes zu berichten –
außer vielleicht, dass er als Künstler viel weniger
Talent besitzt, als er glaubt. Unklar ist aber nicht
nur das »Wer«, sondern auch, was da theoretisch
zu erben wäre. Denn ein offizielles Regierungsamt
oder einen Titel besitzt das de facto Staatsoberhaupt Libyens nicht.
Vielleicht ist der permanente Strom von Ausfällen und Albernheiten also auch eine gezielte PRKampagne, die die Welt schon einmal auf das vorbereiten soll, was irgendwann nach dem Ableben
von Gaddafi senior in Libyen regiert: das Chaos.
Sie sind Öl-Scheich
und wollen die
Branche wechseln?
Im Nahen Osten und in Nordafrika wächst der Bedarf nach deutschem Know-How –
ein Markt mit Chancen, aber auch vielen Risiken.
Was steckt hinter den visionären Großprojekten Desertec und Masdar City?
Wie lange kann der Nil Ägypten noch bewässern?
Und werden die Öl-Scheichs bald Öko-Strom herstellen?
Der zenith-BranchenReport 2010
Wasserwirtschaft und Umwelttechnik
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als eine Art Superschweiz im Kleinformat: Die Berge sind hier niedriger, die Ansprüche an feine
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