die theatermacher 25 05 2012
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die theatermacher 25 05 2012
no. 15 Heute Augsburg – Zeitung der 30. Bayerischen Theatertage 2012 25. Mai 2012 Die Attraktivität der Untoten Das Staatstheater am Gärtnerplatz präsentiert Poes Gruselgeschichte „Der Untergang des Hauses Usher“ als atmosphärisch dichte Oper Geisteskrankheit, Opiumrausch, die Liebe unter nahen Verwandten, das Lebendigbegrabensein, das Wiederauferstehen von den Toten. Und natürlich der Tod einer schönen jungen Frau. Das Oeuvre von Edgar Allan Poe ist wahrlich nicht arm an Schreckensszenarien. Doch es gibt kaum eine andere Geschichte, die so finster ist, wie die vom „Untergang des Hauses Usher“. Das Münchener Staatstheater am Gärtnerplatz inszeniert diese Gruselge- Horror frei Haus schichte als düstere Oper in zwei Akten. Das Haus des sterbenden Adelsgeschlechts Usher scheint ein mystisches Eigenleben zu führen. Dort wohnt der seelisch zerrissene Roderick Usher, der sich in einem leiderfüllten Hilferuf an sei- nen alten Freund William, den Ich-Erzähler der Geschichte, wendet. Dieser eilt ihm zuhilfe, doch nicht einmal Geschichten und alte Erinnerungen vermögen es, den Hausherren aus seiner Apathie zu reißen. Dann stirbt plötzlich Madeleine, die Zwillingsschwester Rodericks – und wird im Keller des Hauses begraben. Doch Madeleine kehrt zurück – Tote und Untote scheinen eine unwiderstehliche Anziehung auf alles Lebende im Foto: Archiv Haus Usher auszuüben. Inzest, Mord und Übernatürliches hängen in der Luft – doch wie viel davon setzt der Zuschauer sich selbst im Kopf zusammen? Der Venezuelaner Carlos Wagner begegnet diesem dunklen Kosmos als Regisseur mit der hierzulande fremd anmutenden Körpersprache des japanischen Butoh-Tanztheaters. Es ist ein hochexpressives, abgründiges Konzept, das den Eindruck von einer „anderen Welt“ gespensterhaft verstärkt. Das Bühnenbild stammt von Rifail Ajdarpasic, hier wird der Verfall, der Untergang in jeder Spinnwebe sichtbar. In bläuliche Dunkelheit getaucht, steht dort ein zu hohen gotischen Bögen gewölbtes Gerippe – die Säulen und Wände des Schlosses, unter dessen Dach sich das Geschehen abspielt. Die Morbidität der Bewohner spiegelt sich eindrücklich in der Ausstattung wieder – das Haus selbst scheint ein Protagonist dieser Inszenierung zu sein. Das Libretto stammt von Arhur Yorkins, die Musik hat Philipp Glass geschrieben. Traumwandlerisch, assoziativ, geradezu soghaft nähern sich die immer wiederkehrenden musikalischen Motive des Minimalisten dem durch und durch düsteren Geschehen. Die von kleinsten musikalischen Strukturen geprägte Melodie ist durchdrungen von scheinbar endlosen Wiederholungen, die sich aber nach und nach verändern. Elly Tyrans Sopran vermittelt Madeleines Hysterie und Zerissenheit, in Harrie van der Plas‘ Tenor spiegelt sich die Gequältheit Roderick Ushers und Gregor Dalals Bariton bemüht eine heile Welt, die den Untergang doch nicht aufhalten kann. Zusammen genommen entsteht so eine ungeheuer dynamische Spannung. Pierre Jarawan KRITIK geschichte aus dem Alten Testament zeigt, wie das Familienoberhaupt Mendel Singer im Angesicht der größtmöglichen Verluste, anfängt an der Existenz und Güte Gottes zu zweifeln. Nachdem man dem einen Sohn ein besseres Leben in Amerika verspricht, entschließt sich die Familie ihm zu folgen. New York- das neue Jerusalem, ein Ort, an dem alles gut werden könnte, wäre da nicht der Krieg, der unbarmherzig seine Opfer fordert. In der Vorfreude auf den Neuanfang, lässt man Menuchim zurück - der Anfang vom Ende. Simons verdeutlicht den Dominoeffekt an Schicksalsschlägen, die Mendel Singer wiederfahren vor allem durch die herausragende Leistung seines Ensembles. André Jung als Familienvater, macht den Abend zuweilen zu einer One-Man Show. Permanent ist er auf der Bühne, die Wandlung seiner Figur zum Zweifler und Verächter aus der Asche, einen gelungenen Kontrast zu Jungs Figur zu bieten. Nachdem die Söhne im Krieg fallen, die Mutter an ihrer Trauer stirbt, die Tochter wahnsinnig wird und man auch dem behinderten Sohn keine Überlebenschancen mehr zurechnet, zieht sich Mendel Singer ganz in seinen einstigen Lebensentwurf zurück. Doch es fehlt ihm die Kraft, zu leben, so ganz ohne Familie – und ohne Glauben. Die Fragen nach dem Punkt, an dem er sein trauriges Schicksal hätte abwenden können, zermürben den einstmals frommen Mann. Der totgeglaubte Menuchim jedoch, nun berühmter Komponist, der seine Krankheit überwinden konnte, findet seinen alten Vater. Dieser Moment, als Lebensmüdigkeit auf Lebensmunterkeit trifft, ist der emotionale Höhepunkt des Abends. Die fassungslose Wiedersehensfreude und die Unsicherheit der Annäherung, nachdem man sich ein Leben lang Das neue Jerusalem HIOB in der Inszenierung von Johan Simons: Ein Theaterabend großer Gefühle, getragen von einem noch größeren Ensemble Man lebt zusammen und doch aneinander vorbei. In einem alten, kaputten Karussell versucht sich die Familie des jüdisch-orthodoxen Dorfschullehrers Mendel Singer an einem Lebensentwurf, den es für sie eigentlich gar nicht gibt. Wie Ausstellungsobjekte auf einem Jahrmarkt, der schon längst keine Besucher mehr hat, sitzen sie auf ihren Plastikstühlen und starren ins Leere. Man schwört auf familiären Zusammenhalt, obwohl man sich längst auseinander gelebt hat. Die Mutter verdrängt die Entfremdung von ihrem Mann und flüchtet sich in die Vergangenheit. Der Vater gibt vor, das Beste für die Familie zu wollen, ist jedoch letztendlich der größte Egoist. Die Eltern kapseln sich so sehr von der Außenwelt ab, dass auch die Kinder keinen Anschluss finden und geistig zurückgeblieben wirken. Während die beiden älteren Söhne wenigstens noch Fernweh haben, genügt es der einzigen Tochter, sich den Soldaten der Stadt als Sexobjekt anzubieten. Das jüngste Kind, Menuchim, ein Epileptiker, wird aufgrund seiner Behinderung zur Last für die ganze Familie. Johan Simons Inszenierung an den Münchner Kammerspielen basiert auf Joseph Roths Roman von 1930, der in Anlehnung an die Hiobs- und Josephs- des Lebens spielt er so glaubhaft und facettenreich, dass sich die Intensität der zunehmenden Hoffnungslosigkeit tief ins Herz der Zuschauer einkerbt. Neben ihm überzeugt vor allem Sylvana Krappatsch als Menuchim. Anfangs gefangen in der Epilepsie ihrer Figur, zappelt sie sich beeindruckend über die Bühne, um schließlich, als Phönix Auf der Flucht vor der Zukunft so fremd war, ist trotz der bemühten Nüchternheit der Situation dank der beiden Schauspieler herzzerreißend. „Ruh dich aus. Wenn du wieder aufwachst, werde ich da sein“, sagt Menuchim zu seinem alten Vater. Nun ist er der Starke, der mit der Schwäche und dem Weltschmerz, den sein Vater in sich trägt, klar kommen muss. Hanna Pfaffenwimmer Fotos: Andreas Pohlmann HINTERGRUND Zuckerwatte Ewigkeit ICH VERSPEISE HIMMEL: Lyrik, vorgetragen von zwei Schauspielern und einem Ein-Mann-Orchester. „Wenn ich schreibe, habe ich immer das Gefühl, jemand steht hinter mir und schneidet Grimassen. Deshalb hüte ich mich,so gut ich kann,vor großen Worten“, erklärte die polnische Dichterin Wislawa Szymborska über ihr lyrisches Schaffen. Das ist außergewöhnlich für einen Dichter. Liebt der nicht gerade das große, ja das größte aller Worte? Für gewöhnlich schon. Die Größe seiner Worte verführt oft zur selbst ernannten Größe der eigenen Person, zu einer vermessenen Überhöhung des eigenen Ichs. Doch nicht bei Szymborska, über die Marcel Reich-Ranicki urteilte: „Sie ist die namhafteste Dichterin ihres Landes, deren sehr durchdachte, ironische Lyrik etwas in Richtung der philosophischen Lyrik tendiert.“ Und das, obwohl sie 1996 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, „für ihr Werk, das ironisch-präzise den historischen und biologischen Zusammenhang in Fragmenten menschlicher Wirklichkeit hervortreten lässt“. Die Polin bleibt bei ihrer Bescheidenheit, bei ihrer Haltung, die sie stets an sich selbst zweifeln lässt, ganz anders als viele Dichter. Grimassen werden Über den Wolken nun tatsäch- Dunkle Gestalten und rotes Licht lich geschnitten, wenn das Stadttheater Fürth die Gedichte der Polin in der Aufführung ICH VERSPEISE HIMMEL auf der brechtbühne der bayerischen Theatertage in Augsburg präsentiert. Es sind Jutta Czurda und Michael Vogtmann, die sich in diesen lyrischen Welten von Szymborska verlieren. Czurda machte sich bereits einen Namen als Sängerin und Schauspielerin, vor allem aber etablierte sie sich im Bereich des Tanztheater. Vogtmann war als Schüler der OttoFalckenberg-Schule bereits zu sehen an den Münchner Kammerspielen und der Bühne des Staatstheaters am Gärtnerplatz. Von 1987 bis 1993 zählte er zum festen Bestandteil des Ensembles des bayerischen Staatsschauspiels. Später sah man sein Gesicht in einigen Filmund Fernsehproduktionen wie „Forsthaus Falkenau“ oder „Der Bergdoktor“. In ICH VERSPEIES HIMMEL treten die beiden mal in einen hitzig-ironischen Dialog, dann wiederum verliert sich ein einzelner im monologischem Taumel. Doch immer dringt das so banal klingende Wort zu den Grenzen der menschlichen Unergründlichkeit vor. Fotos: Stadttheater Fürth Denn das zeichnet diese lyrische Sprache aus: Sparsam wird mit den Worten umgegangen, einfach und anschaulich kommen sie daher, und verlieren sich am Ende doch in den Abgründen menschlicher Gedankenwelten. Wenn auf der Bühne also vermeintlich fröhlich Zuckerwatte gegessen wird, verrät der Titel des Stücks doch das eigentliche Sinnbild. In insgesamt 22 Gedichten der polnischen Lyrikerin entlarven Czurda und Vogtmann in den kleinen Alltäglichkeiten des Lebens die großen Wahrheiten des menschlichen Daseins. Dabei durchwandern sie insgesamt vier Kapitel, die Meilensteine eines Menschseins: „Im Himmel“, „Kindheit“, „Die Liebe“ und „Tod und Sterben“. Musikalisch begleitet werden die zwei Schauspieler auf ihrer Reise durch das Ein-Mann-Orchester von Norbert Nagel. So darf man einen facettenreichen Abend erwarten, bei dem getanzt und musiziert wird, es werden Gedichte erklingen und es werden sich Gesichter zu Grimassen verzerren und kleine Worte werden am Ende zu ungeahnter Größe heranwachsen. Anabel Schleuning HINTERGRUND Wie im Märchen Das Theater des Pippo Delbono Behinderte auf eine Theaterbühne zu stellen, ist ein grundsätzlich heikles Unterfangen. Zumindest seit die Aufklärung und allen voran Lessing im 17. Jahrhundert ihr Unbehagen bekundeten, dass Kleinwüchsige oder körperlich Behinderte dem Lachen des Publikums preisgegeben wurden. Wenn daher heute ein Theaterregisseur mit Behinderten arbeitet, fällt das meist in eine von zwei Kategorien: Entweder ist eine Provokation im Stile von Schlingensief beabsichtigt oder es handelt sich um ein gutgemeintes Förderungsprojekt. Der italienische Regisseur und Schauspieler Pippo Delbono jedoch passt mit seinen Inszenierungen, die seit dreißig Jahren in Europa erfolgreich sind, in keine der beiden Kategorien. Zu seiner Kompagnie gehören seit 1997 Gianluca Ballare, der das Down-Syndrom hat, und der taubstumme Bobò. Ballare und Bobò treten in fast allen Stücken Delbonos auf und stehen beispielhaft für seine Auffassung vom Theater: Ihn fasziniert, dass sie aus ihren körperlichen Beeinträchtigungen heraus einzigartige Bewegungen auf der Bühne ausführen können. auf das Herz der Zuschauer zielt. Auch seine eigene Person umgibt er mit der Aura von Märchenhaftigkeit. Dazu zählen die Erzählungen, wie er seine HIV-Erkrankung durch Meditationen überwinden konnte. Und dazu gehört vor allem die Geschichte, wie er Bobò kennenlernte.Wie er diesen in einer psychiatrischen Anstalt traf, wo Bobò 45 Jahre gelebt hatte, ohne sich mit jemandem verständigen zu können. Erst er sei zu ihm durchgedrungen und habe ihn aus der Psychiatrie herausgeholt. Seitdem sei Bobò sein ständiger Begleiter, der ihn nicht nur auf der Bühne immer wieder überrasche. Gleichgültig, ob Laien wie Bobò oder Profischauspieler – bei Delbono hat jeder aus dem Ensemble aktiv Anteil an der Entstehung der Theaterabende. Die Schauspieler sind aufgefordert, zu improvisieren und sich selbst einzubringen. Vorgegeben ist meist nur ein Titel wie LA RABBIA (DIE WUT), LA MENZOGNA (DIE LÜGE) oder GUERRA (KRIEG) als Orientierungspunkt. Von diesem geht Delbono aus, um Collagen aus unterschiedlichsten Texten und Musikstücken zu erarbeiten. Nach dem anfangs offenen Entstehungsprozess liegt die letzte Entscheidung, wie die Aufführung aussehen soll, bei ihm. Seinem Konzept blieb Delbono auch bei seiner ersten deutschsprachigen Inszenierung ERPRESSUNG für das Münchner Residenztheater treu. Dieses Mal verzichtete er fast völlig auf sein eigenes Ensemble und griff auf hauseigene Darsteller zurück. Lediglich Bobò, mittlerweile 75 Jahre alt, taucht kurz in einer Filmprojektion auf, so wie auch der Regisseur selbst sich immer wieder über Video zu Wort meldet und über seine Arbeit reflektiert. Die Entscheidung, ob der Bilderreigen überzeugt und berührt, überlässt er ausdrücklich dem Zuschauer. Marius Nobach EINE LIEBESGESCHICHTE Es geht Delbono nicht um einen Tabubruch. Provokationen auf der Bühne interessieren ihn ebensowenig wie Naturalismus, psychologische Rollenerarbeitung oder vorgefertigte Texte. Wenn der rundliche Mann mit den Bartstoppeln über seine Theaterarbeit spricht, fällt häufig das Wort Liebe. Das Publikum wird von Delbono eingeladen, sich von einprägsamen Bildern verzaubern und überwältigen zu lassen. Der Italiener sieht sich in der Tradition von Jerzy Grotowskis Entwurf des „armen Theaters“ und insbesondere von Pina Bausch. Tanz und Bewegung gelten ihm als einzig wahre Möglichkeit, sich auf der Bühne auszudrücken. Große Gefühle und Leidenschaften bis an den Rand des Kitsches und gelegentlich darüber hinaus – Pippo Delbono macht keinen Hehl daraus, dass er zuallererst Traumpaar Bobò und Pippo Delbono Foto: Archiv KRITIK sich dabei reichlich dämlich anstellt, kommt ihm der Pakt mit dem Bösen ganz gelegen. Flugs erhält er magische Kugeln, die ihr Ziel nie verfehlen. Nur die letzte Kugel, die zu lenken, behält der Teufel sich vor. Und so muss am Tag der Hochzeit das arme Käthchen dran glauben. Ungelenk, wie aufziehbare Figuren agieren die Protagonisten. Man mag da gar nicht von Bewegungen sprechen, eher Verrenkungen sind das. Ein bisschen erinnert das an die Vorstellung von Olimpia, dem Frauenautomat aus E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“. Seelenlose Roboter. Und in ihren ländlichen Gespenstergewändern und mit den wirren Frisuren sehen sie aus wie zombieähnliche Punks. Schräg ist das, aber herrlich anzusehen, mit welchem pantomimischen Spielwitz die Darsteller sich ganz dem Geschehen und den Klängen von Tom Waits‘ ohrwurmverdächtiger Musik hingeben. Was ein Jägermeister alles anrichten kann! Foto: Belacqua. Theater Wasserburg Gut gezielt, Zombies! Die Freischützsage als Schauermärchen: THE BLACK RIDER in der Inszenierung des Belacqua. Theater Wasserburg Selbst der Hase ist zum Gruseln. Ach, der ganze Wald ist ein einziges Schauergewirr aus totem Geäst! Und das Dorf erst! Schiefe, eingestürzte Dächer, Spinnweben an den Fenstern und leere Gassen. Alles aufgemalt, auf blutrotem Hintergrund. Und dann öffnen sich versetzt einzelne Fenster in dieser Wand, mannshoch, und darin stehen die Figuren. Aus jeder Ecke dieser Bühne trieft der elegische Glanz des Grotesken. Und als die Band zu spielen beginnt, ist es endgültig vorbei mit der Ruhe. Die nächsten zwei Stunden regieren hier nichts als Tod und Verwüstung. Uwe Bertram,Theaterleiter des Belacqua. Theater Wasserburg hat sich dem Musiktheaterstück THE BLACK RIDER des Dreiergespanns Tom Waits, Robert Wilson und William S. Burroughs höchstselbst angenommen. Die Handlung des Gruselmärchens fußt auf der Volkssage des „Freischütz“, auf der auch Carl Maria von Webers Oper DER FREISCHÜTZ basiert. Waits schrieb die Musik, Burroughs die Texte und Wilson führte Regie. 1990 wurde das Stück unter dem Titel THE BLACK RIDER: THE CASTING OF THE MAGIC BULLETS in Hamburg uraufgeführt. Wilhelm, der wackere Schriftsteller, der das Käthchen liebt, hat sich mit dem Teufel eingelassen. Obwohl der Schwiegervater in spe ihn noch gewarnt hat: „Whatever you do, don‘t sell your you!“ Dabei war es eben dieser Schwiegervater, der Wilhelm in diese Lage gebracht hat: Einen echten Jäger wollte er für seine Tochter, einen, der mit dem Gewehr schießen kann wie kein Zweiter. Und weil Wilhelm Hier herrscht die typische Musical-Herrlichkeit, der klassisch abwechslungsreiche Waits-Soundtrack, der sich von Jazzelementen über U-Musik im Stile der 20er und 30er Jahre bis hin zu einer HeavyMetal-Einlage schwingt. Die Lieder passen perfekt zu der dämonischen Atmosphäre, rauchige Klänge unterstreichen diese finstere Varietévariante, die in ihrer Atmosphäre ständig zwischen ROCKY HORROR PICTURE SHOW und der Bilderwelt Tim Burtons schwankt. Der tolle Gesang der Darsteller tut sein Übriges. In Waits‘ WOYZECK-Bearbeitung ist der Übergang vom deutschen Stück- zum englischen Liedtext eher störend und gewöhnungsbedürftig. Hier hingegen denkt man kaum darüber nach, was vor allem daran liegt, dass selbstironisch damit umgegangen wird. Deutsch und Englisch wird einfach vermischt und so ruft der Teufel Wilhelm einmal zu: „Well, my young boy, das Glück ist dir nicht treu!“ Das ist herrlich dämlich. Klar biedert sich diese unkomplizierte, völlig unsperrige Inszenierung dem Publikumsgeschmack an. Aber selbst das muss man auf diese Art und Weise erst mal so hinbekommen. Wie sagt Wilhelm einmal? „Wer denkt, taugt nichts als Mann!“ Und groß denken muss man hier auch gar nicht. Die schaurige Bildflut ist so gewaltig, dass man sich gerne von ihr überschwemmen lässt. Pierre Jarawan KOLUMNE Heute Augsburg Unterwegs mit C. Bernd Sucher 15. PENDLERTAG: SO GEHT DIE WELT! IC erwischt und Herrn Sütterlin wieder getroffen. Große Freude. Er hat alle unsere Zeitungen gelesen. Und sie gefallen ihm. Alle. Schön. Werde ich den Studenten berichten. Dann erzählt er, dass er sich das weiße Suhrkamp-Bändchen Nummer 1000 gekauft habe. Eben Samuel Becketts „Mehr Prügel als Flügel“. „Sie hatten ja gestern Belacqua erklärt. Sie sehen, ich pass auf. Übrigens, der andere Titel gefällt mir besser. Geil: Mehr Schwänze als Tänze.“ – „Und wie finden Sie den Band?“ – „Also erst einmal habe ich den Klappentext gelesen. Mach ich immer so. Hab mich gefreut über das Urteil von James Joyce. Der schreibt einfach: Er hat Talent!“ Ich erkläre Sütterlin, dass Beckett ein Joyce-Fan war und dem Meister alles nachmachte. Er trank wie Joyce nur Weißwein – und zwar nicht in homöopathischen Dosen. Er zog immer zu kleine Lederschuhe an und las, was Joyce las. „Schon ein komischer Vogel, oder?“, fragt Sütterlin. „Und trotzdem ein wahnsinnig guter Fußballer; passt komischerweise zusammen“, füge ich hinzu. „Torwart wie Manuel Neuer – aber viel besser.“ Ich möchte wissen, wie Sütterlin denn nun die Erzählung „Dante und der Hummer“ gefallen hat. Sütterlins Augen leuchten. Aus seiner braunen Aktentasche, Modell 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, zieht er sein neues Buch. „Sehen Sie die besten Passagen habe ich mit meinem Marker gelb gemalt.“ Ich gucke in das Buch – finde wenige Stellen, die Sütterlin nicht angepinselt hat. „Scheint Ihnen alles zu gefallen.“ – „Stimmt.Wahr- scheinlich auch, weil ich dem Belacqua ein bisschen ähnle. Ich mag wie er Stinkekäse.“ Gleich darauf liest Sütterlin vor, sehr langsam. Seite 12. „Ein zarter Verwesungsduft. Er brauchte kein Bouquet, er war kein Trüffelschwein verdammt noch mal, er brauchte einen ehrlichen Gestank. Einen ehrlich grünen, verstunkenen und verfaulten Klumpen Gorgonzola brauchte er, in dem es wimmelte.“ ze zu lenken, die er nicht markiert hatte. 1. Es war Vormittag, und Belacqua hatte sich im ersten Mondcanto festgelesen. Sütterlin grinst breit. Gleich darauf schwärmt er von der Hummer-Geschich- 3. Die Zachs, bestehend aus Mister, Missis und Ruby, ihrem Augenstern, wohnten in einem kleinen Haus in Irishtown. 2. Mein weiland Freund Belacqua brachte dadurch Schwung in das Endstadium seines Solipsismus, bevor er dann klein beigab und Geschmack fand an der Welt, dass er einen ständigen Ortswechsel für das Tunlichste zu halten anfing. 4. BEL, BEL mein einziger Geliebter, allweil und auf ewig mein!! 5. Schlag fünf kam die Nachtschwester hereingeplatzt und machte Licht. 6. Shua, Belacqua, unerwartet, in einer Heilanstalt. Er ist rot, also schon gekocht, Foto: Archiv te, findet es ganz toll, was er zuvor nicht gewusst hat: Hummer schmeißt man lebendig in kochendes Wasser. Dann schmecken sie richtig gut. Wirkliche Sadisten werfen sie ins kalte Wasser und erhöhen langsam die Temperatur. „Werd’ ich probieren mit meiner Frau, am Hochzeitstag, dem 21ten. – „Wollen Sie wirklich mit einem Mord feiern?“ Mir macht es nun die allergrößte Freude, Sütterlins Augenmerk und seine Aufmerksamkeit auf die Beckettschen Anfangssät- „Sehen Sie, Herr Sütterlin, jeder erster Satz, ob extrem lang oder extrem kurz, birgt mindestens ein Geheimnis. Meistens mehrere. Becketts erste Sätze sind wie ein Sog. Sie ziehen den Leser in den Text – und geben ihn nimmer frei.“ – „Die letzten sind aber nicht minder stark“, hielt mir Sütterlin entgegen. „ >So geht die Welt!< Was für ein Schlusssatz!“ Der IC wurde langsamer. „Nächster Halt ist Augsburg Hauptbahnhof!“ Auch ein starker Schlusssatz, denke ich! Kaufen Sie sich Rimbauds „Das trunkene Schiff“, rate ich dem Sütterlin noch, bevor ich aussteige: „Ich träumte grüne Nächte, Schnee, geblendet; sah Küsse steigen still am Auge der See!“ IMPRESSUM Die Theatermacher ist ein Projekt des Studiengangs Theater-, Film- und Fernsehkritik der HFF München in Kooperation mit der Bayerischen Theaterakademie Layout: Otto Dzemla Herausgeber: Theater Augsburg V.i.S.d.P.: Prof. Dr. C. Bernd Sucher Wir danken unseren Unterstützern Redaktion: Pierre Jarawan, Lena Kettner (Redaktionsleitung), Arne Koltermann, Claudio Musotto, Marius Nobach, Hanna Pfaffenwimmer, Anabel Schleuning, Britta Schwem, Lukas Wilhelmi