die theatermacher 25 05 2012

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die theatermacher 25 05 2012
no. 15
Heute Augsburg – Zeitung der 30. Bayerischen Theatertage 2012
25. Mai 2012
Die Attraktivität der Untoten
Das Staatstheater am Gärtnerplatz präsentiert Poes Gruselgeschichte
„Der Untergang des Hauses Usher“ als atmosphärisch dichte Oper
Geisteskrankheit, Opiumrausch, die
Liebe unter nahen Verwandten, das Lebendigbegrabensein, das Wiederauferstehen von den Toten. Und natürlich
der Tod einer schönen jungen Frau.
Das Oeuvre von Edgar Allan Poe ist wahrlich nicht arm an Schreckensszenarien.
Doch es gibt kaum eine andere Geschichte, die so finster ist, wie die
vom „Untergang des Hauses Usher“.
Das Münchener Staatstheater am Gärtnerplatz inszeniert diese Gruselge-
Horror frei Haus
schichte als düstere Oper in zwei Akten.
Das Haus des sterbenden Adelsgeschlechts Usher scheint ein mystisches
Eigenleben
zu
führen.
Dort wohnt der seelisch zerrissene Roderick Usher, der sich in einem leiderfüllten Hilferuf an sei-
nen alten Freund William, den
Ich-Erzähler der Geschichte, wendet.
Dieser eilt ihm zuhilfe, doch nicht
einmal Geschichten und alte Erinnerungen vermögen es, den Hausherren aus seiner Apathie zu reißen.
Dann stirbt plötzlich Madeleine, die
Zwillingsschwester Rodericks – und
wird im Keller des Hauses begraben.
Doch Madeleine kehrt zurück – Tote
und Untote scheinen eine unwiderstehliche Anziehung auf alles Lebende im
Foto: Archiv
Haus Usher auszuüben. Inzest, Mord
und Übernatürliches hängen in der
Luft – doch wie viel davon setzt der Zuschauer sich selbst im Kopf zusammen?
Der Venezuelaner Carlos Wagner begegnet diesem dunklen Kosmos
als Regisseur mit der hierzulande
fremd anmutenden Körpersprache
des japanischen Butoh-Tanztheaters.
Es ist ein hochexpressives, abgründiges
Konzept, das den Eindruck von einer
„anderen Welt“ gespensterhaft verstärkt.
Das Bühnenbild stammt von Rifail Ajdarpasic, hier wird der Verfall, der Untergang in jeder Spinnwebe sichtbar.
In bläuliche Dunkelheit getaucht, steht
dort ein zu hohen gotischen Bögen
gewölbtes Gerippe – die Säulen und
Wände des Schlosses, unter dessen
Dach sich das Geschehen abspielt.
Die Morbidität der Bewohner spiegelt
sich eindrücklich in der Ausstattung
wieder – das Haus selbst scheint ein
Protagonist dieser Inszenierung zu sein.
Das Libretto stammt von Arhur Yorkins, die Musik hat Philipp Glass geschrieben. Traumwandlerisch, assoziativ, geradezu soghaft nähern sich
die immer wiederkehrenden musikalischen Motive des Minimalisten dem
durch und durch düsteren Geschehen.
Die von kleinsten musikalischen Strukturen geprägte Melodie ist durchdrungen
von scheinbar endlosen Wiederholungen,
die sich aber nach und nach verändern.
Elly Tyrans Sopran vermittelt Madeleines Hysterie und Zerissenheit, in
Harrie van der Plas‘ Tenor spiegelt sich
die Gequältheit Roderick Ushers und
Gregor Dalals Bariton bemüht eine heile Welt, die den Untergang doch nicht
aufhalten kann. Zusammen genommen entsteht so eine ungeheuer dynamische Spannung. Pierre Jarawan
KRITIK
geschichte aus dem Alten Testament
zeigt, wie das Familienoberhaupt Mendel Singer im Angesicht der größtmöglichen Verluste, anfängt an der
Existenz und Güte Gottes zu zweifeln.
Nachdem man dem einen Sohn ein
besseres Leben in Amerika verspricht,
entschließt sich die Familie ihm zu
folgen. New York- das neue Jerusalem, ein Ort, an dem alles gut werden
könnte, wäre da nicht der Krieg, der
unbarmherzig seine Opfer fordert.
In der Vorfreude auf den Neuanfang,
lässt man Menuchim zurück - der Anfang vom Ende. Simons verdeutlicht den
Dominoeffekt an Schicksalsschlägen,
die Mendel Singer wiederfahren vor allem durch die herausragende Leistung
seines Ensembles. André Jung als Familienvater, macht den Abend zuweilen
zu einer One-Man Show. Permanent
ist er auf der Bühne, die Wandlung seiner Figur zum Zweifler und Verächter
aus der Asche, einen gelungenen Kontrast zu Jungs Figur zu bieten. Nachdem
die Söhne im Krieg fallen, die Mutter
an ihrer Trauer stirbt, die Tochter wahnsinnig wird und man auch dem behinderten Sohn keine Überlebenschancen
mehr zurechnet, zieht sich Mendel Singer ganz in seinen einstigen Lebensentwurf zurück. Doch es fehlt ihm die
Kraft, zu leben, so ganz ohne Familie
– und ohne Glauben. Die Fragen nach
dem Punkt, an dem er sein trauriges
Schicksal hätte abwenden können, zermürben den einstmals frommen Mann.
Der totgeglaubte Menuchim jedoch,
nun berühmter Komponist, der seine
Krankheit überwinden konnte, findet
seinen alten Vater. Dieser Moment, als
Lebensmüdigkeit auf Lebensmunterkeit
trifft, ist der emotionale Höhepunkt des
Abends. Die fassungslose Wiedersehensfreude und die Unsicherheit der Annäherung, nachdem man sich ein Leben lang
Das neue Jerusalem
HIOB in der Inszenierung von Johan Simons: Ein Theaterabend
großer Gefühle, getragen von einem noch größeren Ensemble
Man lebt zusammen und doch aneinander vorbei. In einem alten, kaputten
Karussell versucht sich die Familie des
jüdisch-orthodoxen
Dorfschullehrers
Mendel Singer an einem Lebensentwurf,
den es für sie eigentlich gar nicht gibt.
Wie Ausstellungsobjekte auf einem Jahrmarkt, der schon längst keine Besucher
mehr hat, sitzen sie auf ihren Plastikstühlen und starren ins Leere. Man schwört
auf familiären Zusammenhalt, obwohl
man sich längst auseinander gelebt hat.
Die Mutter verdrängt die Entfremdung
von ihrem Mann und flüchtet sich in die
Vergangenheit. Der Vater gibt vor, das
Beste für die Familie zu wollen, ist jedoch letztendlich der größte Egoist. Die
Eltern kapseln sich so sehr von der Außenwelt ab, dass auch die Kinder keinen
Anschluss finden und geistig zurückgeblieben wirken. Während die beiden älteren Söhne wenigstens noch Fernweh
haben, genügt es der einzigen Tochter,
sich den Soldaten der Stadt als Sexobjekt
anzubieten. Das jüngste Kind, Menuchim,
ein Epileptiker, wird aufgrund seiner Behinderung zur Last für die ganze Familie.
Johan Simons Inszenierung an den
Münchner Kammerspielen basiert auf
Joseph Roths Roman von 1930, der in
Anlehnung an die Hiobs- und Josephs-
des Lebens spielt er so glaubhaft und
facettenreich, dass sich die Intensität
der zunehmenden Hoffnungslosigkeit
tief ins Herz der Zuschauer einkerbt.
Neben ihm überzeugt vor allem Sylvana Krappatsch als Menuchim. Anfangs
gefangen in der Epilepsie ihrer Figur,
zappelt sie sich beeindruckend über
die Bühne, um schließlich, als Phönix
Auf der Flucht vor der Zukunft
so fremd war, ist trotz der bemühten
Nüchternheit der Situation dank der beiden Schauspieler herzzerreißend. „Ruh
dich aus. Wenn du wieder aufwachst,
werde ich da sein“, sagt Menuchim zu
seinem alten Vater. Nun ist er der Starke,
der mit der Schwäche und dem Weltschmerz, den sein Vater in sich trägt, klar
kommen muss. Hanna Pfaffenwimmer
Fotos: Andreas Pohlmann
HINTERGRUND
Zuckerwatte Ewigkeit
ICH VERSPEISE HIMMEL: Lyrik, vorgetragen von
zwei Schauspielern und einem Ein-Mann-Orchester.
„Wenn ich schreibe, habe ich immer das
Gefühl, jemand steht hinter mir und
schneidet Grimassen. Deshalb hüte ich
mich,so gut ich kann,vor großen Worten“,
erklärte die polnische Dichterin Wislawa
Szymborska über ihr lyrisches Schaffen.
Das ist außergewöhnlich für einen Dichter. Liebt der nicht gerade das große, ja
das größte aller Worte? Für gewöhnlich
schon. Die Größe seiner Worte verführt
oft zur selbst ernannten Größe der eigenen Person, zu einer vermessenen Überhöhung des eigenen Ichs. Doch nicht bei
Szymborska, über die Marcel Reich-Ranicki urteilte: „Sie ist die namhafteste Dichterin ihres Landes, deren sehr durchdachte, ironische Lyrik etwas in Richtung
der philosophischen Lyrik tendiert.“
Und das, obwohl sie 1996 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, „für ihr Werk, das ironisch-präzise
den historischen und biologischen Zusammenhang in Fragmenten menschlicher Wirklichkeit hervortreten lässt“.
Die Polin bleibt bei ihrer Bescheidenheit, bei ihrer Haltung, die
sie stets an sich selbst zweifeln
lässt, ganz anders als viele Dichter.
Grimassen
werden
Über den Wolken
nun
tatsäch-
Dunkle Gestalten und rotes Licht
lich geschnitten, wenn das Stadttheater Fürth die Gedichte der
Polin in der Aufführung ICH VERSPEISE HIMMEL auf der brechtbühne der
bayerischen Theatertage in Augsburg
präsentiert. Es sind Jutta Czurda und Michael Vogtmann, die sich in diesen lyrischen Welten von Szymborska verlieren.
Czurda machte sich bereits einen
Namen als Sängerin und Schauspielerin, vor allem aber etablierte sie
sich im Bereich des Tanztheater.
Vogtmann war als Schüler der OttoFalckenberg-Schule bereits zu sehen
an den Münchner Kammerspielen und
der Bühne des Staatstheaters am Gärtnerplatz. Von 1987 bis 1993 zählte er
zum festen Bestandteil des Ensembles des bayerischen Staatsschauspiels.
Später sah man sein Gesicht in einigen Filmund Fernsehproduktionen wie „Forsthaus Falkenau“ oder „Der Bergdoktor“.
In ICH VERSPEIES HIMMEL treten die
beiden mal in einen hitzig-ironischen
Dialog, dann wiederum verliert sich
ein einzelner im monologischem Taumel. Doch immer dringt das so banal
klingende Wort zu den Grenzen der
menschlichen Unergründlichkeit vor.
Fotos: Stadttheater Fürth
Denn das zeichnet diese lyrische Sprache aus: Sparsam wird mit den Worten
umgegangen, einfach und anschaulich kommen sie daher, und verlieren
sich am Ende doch in den Abgründen menschlicher Gedankenwelten.
Wenn auf der Bühne also vermeintlich fröhlich Zuckerwatte gegessen wird, verrät der Titel des Stücks
doch
das
eigentliche
Sinnbild.
In insgesamt 22 Gedichten der polnischen Lyrikerin entlarven Czurda und
Vogtmann in den kleinen Alltäglichkeiten des Lebens die großen Wahrheiten des menschlichen Daseins.
Dabei durchwandern sie insgesamt
vier Kapitel, die Meilensteine eines
Menschseins: „Im Himmel“, „Kindheit“,
„Die Liebe“ und „Tod und Sterben“.
Musikalisch begleitet werden die zwei
Schauspieler auf ihrer Reise durch das
Ein-Mann-Orchester von Norbert Nagel.
So darf man einen facettenreichen
Abend erwarten, bei dem getanzt und
musiziert wird, es werden Gedichte erklingen und es werden sich Gesichter zu
Grimassen verzerren und kleine Worte
werden am Ende zu ungeahnter Größe heranwachsen. Anabel Schleuning
HINTERGRUND
Wie im Märchen
Das Theater des Pippo Delbono
Behinderte auf eine Theaterbühne zu stellen, ist ein grundsätzlich heikles Unterfangen. Zumindest seit die Aufklärung
und allen voran Lessing im 17. Jahrhundert ihr Unbehagen bekundeten,
dass Kleinwüchsige oder körperlich
Behinderte dem Lachen des Publikums
preisgegeben wurden. Wenn daher
heute ein Theaterregisseur mit Behinderten arbeitet, fällt das meist in eine
von zwei Kategorien: Entweder ist eine
Provokation im Stile von Schlingensief
beabsichtigt oder es handelt sich um
ein gutgemeintes Förderungsprojekt.
Der italienische Regisseur und Schauspieler Pippo Delbono jedoch passt mit
seinen Inszenierungen, die seit dreißig
Jahren in Europa erfolgreich sind, in
keine der beiden Kategorien. Zu seiner
Kompagnie gehören seit 1997 Gianluca
Ballare, der das Down-Syndrom hat, und
der taubstumme Bobò. Ballare und Bobò
treten in fast allen Stücken Delbonos auf
und stehen beispielhaft für seine Auffassung vom Theater: Ihn fasziniert, dass
sie aus ihren körperlichen Beeinträchtigungen heraus einzigartige Bewegungen auf der Bühne ausführen können.
auf das Herz der Zuschauer zielt. Auch
seine eigene Person umgibt er mit der
Aura von Märchenhaftigkeit. Dazu zählen die Erzählungen, wie er seine HIV-Erkrankung durch Meditationen überwinden konnte. Und dazu gehört vor allem
die Geschichte, wie er Bobò kennenlernte.Wie er diesen in einer psychiatrischen
Anstalt traf, wo Bobò 45 Jahre gelebt hatte, ohne sich mit jemandem verständigen
zu können. Erst er sei zu ihm durchgedrungen und habe ihn aus der Psychiatrie herausgeholt. Seitdem sei Bobò sein
ständiger Begleiter, der ihn nicht nur auf
der Bühne immer wieder überrasche.
Gleichgültig, ob Laien wie Bobò oder
Profischauspieler – bei Delbono hat
jeder aus dem Ensemble aktiv Anteil
an der Entstehung der Theaterabende.
Die Schauspieler sind aufgefordert, zu
improvisieren und sich selbst einzubringen. Vorgegeben ist meist nur ein
Titel wie LA RABBIA (DIE WUT), LA
MENZOGNA (DIE LÜGE) oder GUERRA (KRIEG) als Orientierungspunkt.
Von diesem geht Delbono aus, um Collagen aus unterschiedlichsten Texten
und Musikstücken zu erarbeiten. Nach
dem anfangs offenen Entstehungsprozess liegt die letzte Entscheidung, wie
die Aufführung aussehen soll, bei ihm.
Seinem Konzept blieb Delbono auch bei
seiner ersten deutschsprachigen Inszenierung ERPRESSUNG für das Münchner
Residenztheater treu. Dieses Mal verzichtete er fast völlig auf sein eigenes Ensemble und griff auf hauseigene Darsteller
zurück. Lediglich Bobò, mittlerweile 75
Jahre alt, taucht kurz in einer Filmprojektion auf, so wie auch der Regisseur
selbst sich immer wieder über Video
zu Wort meldet und über seine Arbeit
reflektiert. Die Entscheidung, ob der Bilderreigen überzeugt und berührt, überlässt er ausdrücklich dem Zuschauer.
Marius Nobach
EINE LIEBESGESCHICHTE
Es geht Delbono nicht um einen Tabubruch. Provokationen auf der Bühne interessieren ihn ebensowenig wie
Naturalismus, psychologische Rollenerarbeitung oder vorgefertigte Texte. Wenn der rundliche Mann mit den
Bartstoppeln über seine Theaterarbeit
spricht, fällt häufig das Wort Liebe. Das
Publikum wird von Delbono eingeladen, sich von einprägsamen Bildern
verzaubern und überwältigen zu lassen.
Der Italiener sieht sich in der Tradition von Jerzy Grotowskis Entwurf des
„armen Theaters“ und insbesondere
von Pina Bausch. Tanz und Bewegung
gelten ihm als einzig wahre Möglichkeit, sich auf der Bühne auszudrücken.
Große Gefühle und Leidenschaften bis an
den Rand des Kitsches und gelegentlich
darüber hinaus – Pippo Delbono macht
keinen Hehl daraus, dass er zuallererst
Traumpaar Bobò und Pippo Delbono
Foto: Archiv
KRITIK
sich dabei reichlich dämlich anstellt,
kommt ihm der Pakt mit dem Bösen ganz
gelegen. Flugs erhält er magische Kugeln,
die ihr Ziel nie verfehlen. Nur die letzte
Kugel, die zu lenken, behält der Teufel
sich vor. Und so muss am Tag der Hochzeit das arme Käthchen dran glauben.
Ungelenk, wie aufziehbare Figuren
agieren die Protagonisten. Man mag da
gar nicht von Bewegungen sprechen,
eher Verrenkungen sind das. Ein bisschen erinnert das an die Vorstellung
von Olimpia, dem Frauenautomat aus
E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“.
Seelenlose Roboter. Und in ihren ländlichen
Gespenstergewändern
und
mit den wirren Frisuren sehen sie aus
wie zombieähnliche Punks. Schräg ist
das, aber herrlich anzusehen, mit welchem pantomimischen Spielwitz die
Darsteller sich ganz dem Geschehen
und den Klängen von Tom Waits‘ ohrwurmverdächtiger Musik hingeben.
Was ein Jägermeister alles anrichten kann!
Foto: Belacqua. Theater Wasserburg
Gut gezielt, Zombies!
Die Freischützsage als Schauermärchen: THE
BLACK RIDER in der Inszenierung des Belacqua.
Theater Wasserburg
Selbst der Hase ist zum Gruseln. Ach, der
ganze Wald ist ein einziges Schauergewirr aus totem Geäst! Und das Dorf erst!
Schiefe, eingestürzte Dächer, Spinnweben an den Fenstern und leere Gassen.
Alles aufgemalt, auf blutrotem Hintergrund. Und dann öffnen sich versetzt
einzelne Fenster in dieser Wand, mannshoch, und darin stehen die Figuren.
Aus jeder Ecke dieser Bühne trieft
der elegische Glanz des Grotesken.
Und als die Band zu spielen beginnt,
ist es endgültig vorbei mit der Ruhe.
Die nächsten zwei Stunden regieren
hier nichts als Tod und Verwüstung.
Uwe Bertram,Theaterleiter des Belacqua.
Theater Wasserburg hat sich dem Musiktheaterstück THE BLACK RIDER des Dreiergespanns Tom Waits, Robert Wilson
und William S. Burroughs höchstselbst
angenommen. Die Handlung des Gruselmärchens fußt auf der Volkssage des
„Freischütz“, auf der auch Carl Maria von
Webers Oper DER FREISCHÜTZ basiert.
Waits schrieb die Musik, Burroughs die
Texte und Wilson führte Regie. 1990 wurde das Stück unter dem Titel THE BLACK
RIDER: THE CASTING OF THE MAGIC
BULLETS in Hamburg uraufgeführt.
Wilhelm, der wackere Schriftsteller, der
das Käthchen liebt, hat sich mit dem Teufel eingelassen. Obwohl der Schwiegervater in spe ihn noch gewarnt hat: „Whatever you do, don‘t sell your you!“ Dabei
war es eben dieser Schwiegervater, der
Wilhelm in diese Lage gebracht hat: Einen echten Jäger wollte er für seine Tochter, einen, der mit dem Gewehr schießen
kann wie kein Zweiter. Und weil Wilhelm
Hier herrscht die typische Musical-Herrlichkeit, der klassisch abwechslungsreiche Waits-Soundtrack, der sich von Jazzelementen über U-Musik im Stile der 20er
und 30er Jahre bis hin zu einer HeavyMetal-Einlage schwingt. Die Lieder passen perfekt zu der dämonischen Atmosphäre, rauchige Klänge unterstreichen
diese finstere Varietévariante, die in ihrer
Atmosphäre ständig zwischen ROCKY
HORROR PICTURE SHOW und der Bilderwelt Tim Burtons schwankt. Der tolle
Gesang der Darsteller tut sein Übriges.
In Waits‘ WOYZECK-Bearbeitung ist der
Übergang vom deutschen Stück- zum
englischen Liedtext eher störend und
gewöhnungsbedürftig. Hier hingegen
denkt man kaum darüber nach, was vor
allem daran liegt, dass selbstironisch
damit umgegangen wird. Deutsch und
Englisch wird einfach vermischt und
so ruft der Teufel Wilhelm einmal zu:
„Well, my young boy, das Glück ist dir
nicht treu!“ Das ist herrlich dämlich.
Klar biedert sich diese unkomplizierte, völlig unsperrige Inszenierung dem
Publikumsgeschmack an. Aber selbst
das muss man auf diese Art und Weise
erst mal so hinbekommen. Wie sagt Wilhelm einmal? „Wer denkt, taugt nichts
als Mann!“ Und groß denken muss
man hier auch gar nicht. Die schaurige
Bildflut ist so gewaltig, dass man sich
gerne von ihr überschwemmen lässt.
Pierre Jarawan
KOLUMNE
Heute Augsburg
Unterwegs mit C. Bernd Sucher
15. PENDLERTAG: SO GEHT DIE WELT!
IC erwischt und Herrn Sütterlin wieder getroffen. Große Freude. Er hat
alle unsere Zeitungen gelesen. Und
sie gefallen ihm. Alle. Schön. Werde ich den Studenten berichten.
Dann erzählt er, dass er sich das weiße
Suhrkamp-Bändchen Nummer 1000 gekauft habe. Eben Samuel Becketts „Mehr
Prügel als Flügel“. „Sie hatten ja gestern
Belacqua erklärt. Sie sehen, ich pass auf.
Übrigens, der andere Titel gefällt mir besser. Geil: Mehr Schwänze als Tänze.“ –
„Und wie finden Sie den Band?“ – „Also
erst einmal habe ich den Klappentext
gelesen. Mach ich immer so. Hab mich
gefreut über das Urteil von James Joyce. Der schreibt einfach: Er hat Talent!“
Ich erkläre Sütterlin, dass Beckett ein
Joyce-Fan war und dem Meister alles
nachmachte. Er trank wie Joyce nur
Weißwein – und zwar nicht in homöopathischen Dosen. Er zog immer zu kleine
Lederschuhe an und las, was Joyce las.
„Schon ein komischer Vogel, oder?“, fragt
Sütterlin. „Und trotzdem ein wahnsinnig
guter Fußballer; passt komischerweise
zusammen“, füge ich hinzu. „Torwart
wie Manuel Neuer – aber viel besser.“
Ich möchte wissen, wie Sütterlin denn
nun die Erzählung „Dante und der Hummer“ gefallen hat. Sütterlins Augen leuchten. Aus seiner braunen Aktentasche,
Modell 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, zieht er sein neues Buch. „Sehen Sie die besten Passagen habe ich mit
meinem Marker gelb gemalt.“ Ich gucke
in das Buch – finde wenige Stellen, die
Sütterlin nicht angepinselt hat. „Scheint
Ihnen alles zu gefallen.“ – „Stimmt.Wahr-
scheinlich auch, weil ich dem Belacqua
ein bisschen ähnle. Ich mag wie er Stinkekäse.“ Gleich darauf liest Sütterlin vor,
sehr langsam. Seite 12. „Ein zarter Verwesungsduft. Er brauchte kein Bouquet,
er war kein Trüffelschwein verdammt
noch mal, er brauchte einen ehrlichen
Gestank. Einen ehrlich grünen, verstunkenen und verfaulten Klumpen Gorgonzola brauchte er, in dem es wimmelte.“
ze zu lenken, die er nicht markiert hatte.
1. Es war Vormittag, und Belacqua hatte
sich im ersten Mondcanto festgelesen.
Sütterlin grinst breit. Gleich darauf
schwärmt er von der Hummer-Geschich-
3. Die Zachs, bestehend aus Mister, Missis und Ruby, ihrem Augenstern, wohnten in einem kleinen Haus in Irishtown.
2. Mein weiland Freund Belacqua brachte dadurch Schwung in das Endstadium
seines Solipsismus, bevor er dann klein
beigab und Geschmack fand an der
Welt, dass er einen ständigen Ortswechsel für das Tunlichste zu halten anfing.
4. BEL, BEL mein einziger Geliebter, allweil und auf ewig mein!!
5. Schlag fünf kam die Nachtschwester hereingeplatzt und machte Licht.
6. Shua, Belacqua, unerwartet, in einer
Heilanstalt.
Er ist rot, also schon gekocht,
Foto: Archiv
te, findet es ganz toll, was er zuvor nicht
gewusst hat: Hummer schmeißt man
lebendig in kochendes Wasser. Dann
schmecken sie richtig gut. Wirkliche
Sadisten werfen sie ins kalte Wasser
und erhöhen langsam die Temperatur.
„Werd’ ich probieren mit meiner Frau,
am Hochzeitstag, dem 21ten. – „Wollen
Sie wirklich mit einem Mord feiern?“
Mir macht es nun die allergrößte Freude,
Sütterlins Augenmerk und seine Aufmerksamkeit auf die Beckettschen Anfangssät-
„Sehen Sie, Herr Sütterlin, jeder erster
Satz, ob extrem lang oder extrem kurz,
birgt mindestens ein Geheimnis. Meistens mehrere. Becketts erste Sätze sind
wie ein Sog. Sie ziehen den Leser in
den Text – und geben ihn nimmer frei.“
– „Die letzten sind aber nicht minder
stark“, hielt mir Sütterlin entgegen. „ >So
geht die Welt!< Was für ein Schlusssatz!“
Der IC wurde langsamer. „Nächster Halt
ist Augsburg Hauptbahnhof!“ Auch ein
starker Schlusssatz, denke ich! Kaufen Sie sich Rimbauds „Das trunkene
Schiff“, rate ich dem Sütterlin noch,
bevor ich aussteige: „Ich träumte grüne Nächte, Schnee, geblendet; sah
Küsse steigen still am Auge der See!“
IMPRESSUM
Die Theatermacher ist ein Projekt des
Studiengangs Theater-, Film- und Fernsehkritik der HFF München in Kooperation mit der Bayerischen Theaterakademie
Layout: Otto Dzemla
Herausgeber:
Theater Augsburg
V.i.S.d.P.: Prof. Dr. C. Bernd Sucher
Wir danken unseren Unterstützern
Redaktion: Pierre Jarawan, Lena Kettner (Redaktionsleitung), Arne Koltermann, Claudio Musotto, Marius Nobach,
Hanna Pfaffenwimmer, Anabel Schleuning, Britta Schwem, Lukas Wilhelmi

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