Tina Truong

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Tina Truong
Tina Truong, 9d, 14 Jahre
Die List der offenen
Stadttore
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„Reiche wachsen und schwinden. Staaten kommen und vergehen. Als sich die
Herrschaft des Kaiserhauses Zhou ihrem Ende näherte, stritten sieben Staaten um
die Macht und das Fürstenhaus von Qin blieb Sieger. Als die Macht der Qin erlosch,
kämpften die Fürstenhäuser von Chu und Han um den Vorrang und der Thron fiel
an das Haus Han. Fast vier Jahrhunderte währte, schon, die glorreiche Herrschaft
der Han, da begann auch sie zu verfallen und ihr Glanz zu verbleichen.“
–Zitat: Luo Guanzhong: „Die Geschichte der Drei Reiche“
Im Reich der Mitte bilden sich so drei Fraktionen, die sich um die Herrschaft Chinas
streiten: Wei im Norden, Wu im Süden und Shu im Osten.
Die Epoche der drei Reiche ist ein verbreitetes Thema von vielen Büchern, Filmen,
Serien, und anderem und wird immer wieder neu interpretiert.
Der folgende Ausschnitt behandelt eine der bekanntesten Szenen: die List der offenen
Stadttore, einer der 36 Strategeme, in welcher der Angreifer sich, im Versuch, den
anderen zu durchschauen, in den eigenen Gedanken verstrickt und getäuscht wird.
Wu ist bereits besiegt worden und Weis General und Stratege Sima Yi rückt mit
einer großen Streitmacht an die Stadt Xicheng an, in welcher sich Zhuge Liang, auch
,der schlafende Drache' genannt, verschanzt hatte. Dieser ist bekannt für seine
Intelligenz und zahlreichen Strategien, ohne die Shu niemals existiert hätte.
„Meister Zhuge Liang! Sima Yis Armee wurde in der Nähe gesichtet! Er
rückt mit General Sima Zhao an! Wir schätzen ihre Zahl auf einhundertundfünzigtausend Mann. Sie müssten innerhalb der nächsten paar Stunden die
Stadtmauern erreichen! Was sollen wir nur tun?“
„Bewahrt Ruhe“, sprach Zhuge Liang langsam und versuchte die
schlagartige Beklemmung zu unterdrücken, die ihn bei der plötzlichen
Meldung des Kundschafters schier zu erdrücken schien. Einen Angriff hatte
er nicht vorhergesehen.
Betont gelassen zupfte er an seinem langen Spitzbart. Der weite Ärmel seines
Gewandes floss in ausgeprägten Falten.
„Wie viele Truppen stehen uns zur Verfügung?“, fragte er endlich.
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Ihm war bewusst, dass ihm die Antwort darauf nicht gefallen würde.
„Ungefähr eintausendundfünfhundert Soldaten. Selbst wenn wir auch die
Verletzten miteinrechnen sind es höchstens zweitausend.“
Zhuge Liang nickte, während er sich bedächtig zufächerte. Die prächtigen
Schwanenfedern seines Fächers wehten sanft.
Schließlich ergriff der Kundschafter das Wort.
„Wenn Ihr jetzt den Befehl gebt zu flüchten, gewinnen wir möglicherweise
noch genügend Vorsprung um zu entkommen.“
Zhuge Liang schüttelte ablehnend den Kopf. Wenn sie es mit Sima Yi zu tun
haben werden, dann könnte er vielleicht...
Seine Überlegungen wurden jäh unterbrochen, als auf einmal ein zweiter
Kundschafter in die Kammer stürmte.
„Meister Zhuge Liang! Die feindlichen Späher werden binnen kürzester
Zeit unsere Mauern erreichen!“
Nun blieb ihm keine Zeit mehr. Er musste handeln.
„Öffnet die Tore!“
Abrupt stoppte Sima Yi sein Pferd. Er streckte seinen Arm aus um den Befehl
zu signalisieren, sofort anzuhalten.
„Das werde ich mir selbst ansehen!“, rief er aus und preschte los. Sein
Sohn Sima Zhao folgte ihm schweigend, aber mit fragendem Blick.
Und tatsächlich war es, wie seine Kundschafter berichtet hatten.
Was für einen Komplott schmiedest du, schlafender Drache?, dachte Sima Yi
argwöhnisch.
Die Flaggen über den Mauern, die sonst die Anwesenheit von Soldaten
der eigenen Reihen signalisierten, waren eingezogen.
Dennoch war die Stadt nicht leer.
Im Gegenteil, die Stadttore waren weit geöffnet und boten bequemen und
freien Durchgang, welcher von zwei betagten Männern gefegt wurde, die
sich nicht um die feindlichen Generäle zu scheren schienen.
Sogleich verließ auch ein Hirte mit einer gesamten Schafsherde die Tore und
schritt gelassen seines Weges.
Doch das war noch nicht das, was den Strategen am meisten irritierte.
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Hoch oben, auf den Mauern der Stadt, thronte Zhuge Liang auf einem
Hocker und entlockte seiner Zither eine fröhliche Melodie.
„Unverschämter...! Wir sollten sofort angreifen!“, lärmte Sima Zhao.
„Nicht so hastig“, unterbrach Sima Yi seinen Sohn. „Es könnte eine
Falle sein.“ „Es ist doch offensichtlich Vater!“, erwiderte dieser ungeduldig.
„Der schlafende Drache ist bekannt für seine List. Er möchte uns zeigen, dass
er keine Soldaten hat, die die Stadt bewachen. Aber er weiß auch, dass du
schlau bist, weswegen er meint, dass du denkst, dass es ein Hinterhalt sei
und er doch Truppen hat, damit wir uns zurückziehen. In Wirklichkeit jedoch
hat er keine Falle.“
Sima Yi schüttelte missmutig den Kopf.
„So einfach ist das nicht. Er ist viel zu gerissen für eine derart veraltete
Täuschung. Ich bin sicher, er weiß, dass wir so denken würden. Außerdem“,
erklärte er, „ist er viel zu vorsichtig, als dass er so riskant handeln würde.“
Er kniff die Augen zusammen. Vermutlich erwartete Zhuge Liang von ihm,
dass Sima Yi von seinem Gegenüber meinte, dass dieser genau diese
Handlung vorhergesehen hatte, weswegen er angreifen würde. Deswegen
wäre es schlauer, sich zurückzuziehen. Allerdings könnte er aber auch so
weit gedacht haben, dass...
Der Stratege seufzte entnervt. Auf diese Weise würde er nicht weit kommen.
Er überlegte.
„Was tust du denn jetzt?“, lärmte Sima Zhao.
„Ich versuche mich zu konzentrieren. Du musst mehr nachdenken,
Sohn“, schalt er ihn. „Benutze deinen Verstand! Wir wissen nicht, was er
vorhat, also müssen wir uns bemühen, es herauszufinden. Das können wir
tun, indem wir dem Spiel seiner Zither lauschen. Musik spiegelt die
Gemütslage jener Person wider, die sie spielt. Hättest du recht und er blufft
tatsächlich nur, so könnten wir das hören.“
Mit diesen Worten schwieg er und horchte regungslos der unbeschwerten Melodie. Nachdenklich beobachtete er, wie die Finger Zhuge Liangs elegant über die Saiten tänzelten und ihn zu verspotten schienen.
Sima Zhao rutschte unruhig auf seinem Sattel hin und her.
Indes überkam Sima Yi eine Erkenntnis. Ruckartig richtete er sich auf,
sein Blick undurchsichtig.
„Was ist denn? Greifen wir also an oder nicht?“, quengelte sein Sohn.
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„Wir ziehen uns zurück“, gab der Stratege bekannt und wandte sich ab.
Mit pochendem Herzen verfolgte Zhuge Liang aus den Augenwinkeln,
wie Sima Yi sich langsam umdrehte und von dannen zog. Wie erwartet, denn
Zhuge Liang wusste von seinem Feind, dass dieser sehr viel nachdachte und
besonders argwöhnisch war, weswegen er sich in seinen eigenen Überlegungen verstricken würde, und sich so dazu entschließen würde sich zurückzuziehen.
Trotzdem ließ die Beklemmung ihn nicht los, denn irgendetwas in dem
Blick des Strategen, kurz bevor dieser sein Pferd wandte, alarmierte ihn.
Er hatte das Gefühl, dass Sima Yi ihn durchschaut hatte.
Seine Hand verspannte und er musste erschrocken beobachten, wie eine der
Saiten geräuschvoll riss.
Entsetzt blickte er auf, doch zum Glück war sein Gegner bereits außer
Hörweite getrabt.
Er atmete tief aus. Erleichterung breitete sich in ihm aus.
„Meister Zhuge Liang, das war großartig! Wir verbeugen uns vor
Eurer Schläue! Sie sind abgezogen. Eure List hat funktioniert!“
Zhuge Liang nickte und zupfte nachdenklich an seinem Bart.
„Hätten wir die Stadt aufgegeben und wären geflüchtet, so wären wir gewiss
nicht weit gekommen. Allerdings“, sagte er leise, als er endlich verstand, und
seine Worte waren an keine bestimmte Person gerichtet,
„...allerdings hat Sima Yi gewusst oder zumindest geahnt, dass ich
keinen Hinterhalt vorbereitet hatte. Er hat lediglich erkannt, dass sein Posten
als Stratege sich noch nicht gefestigt hat und er seinen Rang nur einnehmen
darf, weil sie jemanden brauchen, der sich mit mir messen kann.
Wäre ich hier besiegt worden...“
Er betrachtete die Staubwolke, die von den Hufen des davongaloppierenden Pferdes aufgewirbelt wurde und sich langsam aufzulösen begann.
„hätten sie sich seiner einfach entledigen können.“
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