ANALYSE EINES LITERARISCHEN TEXTES „Iphigenie auf Tauris
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ANALYSE EINES LITERARISCHEN TEXTES „Iphigenie auf Tauris
ANALYSE EINES LITERARISCHEN TEXTES „Iphigenie auf Tauris“; 4. Aufzug, 3. Auftritt Gliederung A) Epochale Einordnung des vorliegenden Dramas B) Analyse des literarischen Textes I) informative Einführung der unmittelbaren Vorgeschichte II) gedanklicher Aufbau der Textstelle IV, 3 1) Stellenwert des äußeren Geschehens 2) Deutung der Handlung auf psychologischer Ebene III) sprachliche Gestaltung als Mittel des Ausdrucks C) Bedeutung im weiteren Handlungszusammenhang In der Klassik, einer sowohl geistes- als auch kunstgeschichtlichen Epoche, ist humanitäres Denken und Handeln als höchstes Ideal erachtet worden. Dieser Kerngedanke beinhaltet vor allem die Forderung nach einer edlen, aufrichtigen Gesinnung und einem auf Wahrheit und Ehrlichkeit ausgelegten Charakter; sittliche Vollkommenheit soll durch harmonische Verbindung von Verstand und Gefühl erlangt werden. Da Iphigenie, die zentrale Figur in Goethes gleichnamigem Werk „Iphigenie auf Tauris“ die Verkörperung dieses Ideals ist, kann das Drama der klassischen Epoche zugeordnet werden. In der vorliegenden Textstelle jedoch, die im Folgenden erörtert werden soll, wird Iphigenies Humanität auf den Prüfstand gestellt. Die unmittelbare Vorgeschichte ist hierfür ein wichtiger Auslöser. Iphigenie führt nämlich vor dem zu behandelnden Monolog ein Gespräch mit Arkas, dem Boten des Taurerkönigs, in welchem sie sich gemäß Pylades’ Anweisung verstellt, um den Fluchtplan nicht zu gefährden. Sie gibt vor, einer der Fremden sei mit einem Verwandtenmord belastet und habe dadurch den Tempel der Diana entweiht. Aus diesem Grund müsse sie das Bild der Göttin Diana im Meer säubern, um durch diesen Vorwand Pylades und Orest freilich die Flucht zu ermöglichen. Der Argwohn, den Arkas daraufhin hegt, ist der entscheidende Faktor für Iphigenies Gefühlslage im folgenden Auftritt. Grundlegend ist in Bezug auf das äußere Geschehen festzustellen, dass es extrem spärlich, ja im Grunde nicht vorhanden ist, da die innere Handlung essenziell ist. Schon die Tatsache, dass Iphigenie im Monolog spricht, ist ein Hinweis darauf, dass der Auftritt zentral für das gesamte Drama ist und sich im Innern der Sprecherin Regungen vollziehen. Diese resultieren daraus, dass Arkas’ Argwohn sie beeinflusst und „das Herz im Busen auf einmal umgewendet“ (IV, 3, V. 1504f) hat. Davor schien Iphigenie, sich für Pylades entschieden zu haben, nun aber äußert sie: „Ich erschrecke!“ (IV, 3, V. 1505) und leidet unter dem Konflikt, der sich auf psychologischer Ebene entwickelt. „O bleibe ruhig, meine Seele!“ (IV, 3, V. 1526) appelliert sie im Monolog an sich selbst. Dies ist insofern ein bezeichnender Wendepunkt im Drama, als Iphigenie sich zuvor allein durch ihre edle, tolerante Gesinnung und ihren vollkommenen Charakter ausgezeichnet hat, nun aber schwer ins Wanken kommt aufgrund ihrer Verstellung gegenüber Arkas. Für den Zuschauer beziehungsweise Leser des Dramas ist diese Situation Iphigenies ungewohnt und überraschend, da er die Ideenträgerin zuvor ausschließlich als Verkörperung des Ideals wahrgenommen hat. Auch für die Figur selbst ist die Gefühlslage außergewöhnlich, sie fragt sich: „Beginnst du nun zu schwanken und zu zweifeln?“ (IV, 3, V. 1527). Weshalb sie sich hin- und hergezogen fühlt, versucht sie im Selbstgespräch zu beantworten. Iphigenie äußert nämlich im Verlauf er Textstelle, dass sie allein von dem starken Wunsch, ihren Bruder Orest zu retten und damit ihre Familie vom Tantalidenfluch zu befreien, getrieben worden ist. Iphigenie wird sich bewusst: „Nur sie [die Familie] zu retten drang die Seele vorwärts.“ (IV, 3, V. 1519) und „so lag Tauris hinter mir.“ (IV, 3, V. 1522) Dadurch, dass ihr Bestreben nach Rettung der Familie und ihre Sehnsucht nach Rückkehr in die Heimat, ins Land der Humanität, übermächtig geworden sind, hat sie ihre zweite Bestimmung vernachlässigt. Ihre Aufgabe ist es nämlich außerdem, das Taurervolk zur Humanität zu erziehen, was mit der Abschaffung der Menschenopfer schon einen glücklichen Anfang genommen hat. Glücklicherweise hat ihr das Gespräch mit Arkas aber wieder bewusst gemacht, „dass ich [sie] auch Menschen hier verlasse [...]“(IV, 3, V. 1524) und verantwortlich für das Wohl des Volkes, insbesondere Thoas’ sei. So befindet sie sich nun also in einem unlösbaren Konflikt, der, egal wie Iphigenie sich entscheidet, einen Verrat zur Folge haben wird. Bleibt sie weiterhin in Pylades’ Fluchtplan involviert, hintergeht sie Thoas, der wie ein zweiter Vater für sie ist. Bleibt sie ihm treu, liefert sie ihren Bruder Orest und Pylades der Opferung aus. Wie zentral dieser Gewissenskonflikt ist, zeigt sich auch an der sprachlichen Gestaltung, die mittels eines hohen Grades an Bildhaftigkeit und Metaphorik vollzogen worden ist. Besonders die beiden Vergleiche (vgl- IV, 3, V. 1506-1508 und IV, 3, V. 1520f.) eröffnen anschaulich einen Einblick in Iphigenies Gefühlswelt. Weiterhin setzt sie in ihrem Monolog Metaphern ein. So erwähnt sie, wie „eine Wolke“ (IV, 3, V. 1511) sie schon zu retten schien. Dabei denkt Iphigenie sicherlich an die Göttin Diana, die sie schon vor Aulis in eine ebensolche Wolke hüllte, um die Ideenträgerin vor dem drohenden Opfertod zu bewahren. Wie erregt sie in ihrer mentalen Situation ist, wird vor allem an den letzten Versen des Monologs, der durchgehend im Blankvers verfasst ist, deutlich. Hier treten nämlich Ausrufe- und Fragesätze im Wechsel auf, die Iphigenies Hin- und Hergerissenheit, ihren Konflikt zwischen Tauris und der Familie, symbolisieren: „O bleibe ruhig, meine Seele! Beginnst du nun zu schwanken und zu zweifeln?“ (IV, 3, V. 1526f.) Abschließend soll versucht werden, die bisherigen Ergebnisse in den weiteren Handlungszusammenhang einzuordnen. Iphigenie hält mit ihrem Monolog insofern das Geschehen auf, als durch ihre Unentschlossenheit und ihre skeptische, schwankende Haltung der Fluchtplan gefährdet wird, den Pylades als Motor der äußeren Handlung und des inneren Konflikts so beharrlich und unbeirrt vorantreibt. Die betrachtete Textstelle ist demnach äußerst zentral, weil Iphigenie als Verkörperung der von der Klassik geforderten Humanität in Bezug auf ihre Idealität geprüft wird. Betrachtet man den weiteren Verlauf des Dramas, so stellt man jedoch fest, dass Iphigenie dieser Prüfung standhalten kann und ihrem idealen Wesen treu bleibt, ja durch ihren auf Wahrheit ausgelegten Charakter sogar den Grundkonflikt löst. Dies gelingt ihr durch den Wandel von Vision zu Illusion, sie wird als Folge davon eigenverantwortlich tätig. Sie vertraut völlig auf Thoas’ Menschlichkeit und bringt ihn zu einer friedlichen Lösung, die die Rückkehr nach Griechenland nach sich zieht. Somit kommt Iphigenie in ihrer humanitären Verantwortung zur Geltung und beendet das Drama als ideale Figur, genau wie von der Klassik gefordert. Helen Weiß