Mythos Aralsee - Hu

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Mythos Aralsee - Hu
forschung
Foto: Archiv des Heimatkundemuseums Nukus
zentralasien
THOMAS LOY / INGEBORG BALDAUF
Wüste geworden. Zwischen der Stadt und dem
Wasser liegen inzwischen über einhundert Kilome-
Mythos Aralsee
ter Salzkrustenböden und Ausblasungsflächen des
ehemaligen Seegrundes – die sogenannte Aralkum
[2]. Hier in Muynak wollen wir den Erinnerungen
Das Wasser und die Bewohner des Amudarya-Deltas
der Menschen an den Aralsee und an ihr vom Verschwinden des Wassers geprägtes Leben nachge-
Das Verlanden und Verschwinden des Aralsees ist eine der größten Umweltka-
hen.
tastrophen des 20. Jahrhunderts. Vor allem in den 1980er Jahren erregte es
weltweite Aufmerksamkeit. Auch in der aktuellen Klimadebatte spielt das
Mittelasien – Zweistromland zwischen
Schicksal des Aralsees wieder eine gewichtige Rolle. Bisherige Forschungen in
Hochgebirge, Steppen und Wüsten
Bezug auf den Aralsee waren vornehmlich naturwissenschaftlich oder medizi-
Die Flüsse Mittelasiens münden nicht in Weltmee-
nisch motiviert. Eine regional- und kulturwissenschaftliche Herangehensweise
re. Die meisten von ihnen enden in einem Binnen-
verspricht jedoch zusätzliche Einblicke und Erkenntnisse. Wie erinnern und
delta oder versanden in der Steppe, nachdem ihr
verarbeiten die von der Naturkatastrophe betroffenen Menschen die drasti-
Wasser in weitverzweigten Bewässerungssystemen
schen Veränderungen ihrer Lebenswelt und welche Strategien entwickeln sie,
der Oasenstädte zur Landwirtschaft genutzt wurde.
um unter den neuen Bedingungen ihre Zukunft zu gestalten? Diese Fragestellung stand im Mittelpunkt eines von der DFG geförderten und gemeinsam
Nur die zwei größten Flüsse Mittelasiens, der
vom Zentralasien-Seminar der Humboldt-Universität und der Karakalpaki-
Amu- und der Syrdarya, durchqueren die Steppen-
schen Filiale der Akademie der Wissenschaften Usbekistans durchgeführten
und Wüstengebiete der ehemaligen Sowjetrepubli-
Forschungsprojekts. [1]
ken Tadschikistan, Kirgistan, Kasachstan, Turkmenistan und Usbekistan und finden ihren natür-
Abb. 1 (oben)
Die Fischereiflotte in den
1960er Jahren.
Baumwollfelder, soweit das Auge reicht. Im Sep-
lichen Abfluss im Aralsee. Bis in die 1960er Jahre
tember 2009 fahren wir zusammen mit Mitarbei-
war dieser Steppenendsee eines der größten Bin-
tern der Abteilung Ethnologie der Karakalpaki-
nengewässer der Welt. Sein Wasser bedeckte eine
schen AdW von Nukus, der Hauptstadt der Auto-
Fläche so groß wie Belgien und die Niederlande zu-
nomen Region Karakalpakstan, nach Norden in
sammen. Bis in diese Zeit gab es entlang der bei-
Richtung Aralsee. In dieser Jahreszeit führen der
den Flussläufe, vor allem im Deltabereich, noch ar-
Amudarya und sein verzweigtes Kanalsystem seit
tenreiche Auenwälder, ausgedehnte Schilfgebiete
jeher wenig Wasser. Aber seit dem Ende der So-
und große Rinderherden. Von all dem ist heute so
wjetunion kommt hier, im Deltagebiet des größten
gut wie nichts mehr übrig.
Flusses in Zentralasien, so wenig Wasser an wie
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nie zuvor. Als die Baumwollfelder karger und weni-
Vor allem die seit den 1950er Jahren enorm gestei-
ger werden, beginnt der Sand. Langsam nähern wir
gerte Produktion von Baumwolle führte zu einer
uns der ehemaligen Küstenregion des Aralsees.
fundamentalen Wasserknappheit in der gesamten
Unser Ziel ist das Bezirkszentrum Muynak. Aus
Region. Das gleichzeitige Anwachsen der Bevölke-
der Inselstadt von einst ist längst eine Stadt in der
rung und der massive Einsatz von Düngemitteln
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»Der Aralsee ist weg. Er kommt auch nicht
wieder. Aber der See interessiert uns hier nicht.
Den hat keiner hier jemals gesehen. Was uns
fehlt ist das Wasser im Fluss.«
(Runder Tisch, Nukus, Karakalpakstan, 2009)
und Pestiziden verschärften diese Problematik. [3]
damit höher als beim Toten Meer. Der südliche Ar-
Die sowjetischen Planer und Politiker nahmen die
alsee war ebenfalls geteilt in ein westliches (tieferes)
zerstörerischen Konsequenzen ihrer Handlungen
und in ein östliches Becken. Letzteres trocknete im
billigend in Kauf. Im ariden Klima Zentralasiens
Jahr 2009 vollständig aus. [4] (Vgl. Abb. 6 und 7)
Abb. 2
Deltaregion bei Shimbay, 2009.
konnte der reduzierte Wasserzulauf den Wasserverlust durch Verdunstung nicht mehr ausglei-
Mit dem Zerfall der Sowjetunion wurden aus dem
chen. Der See begann zu schrumpfen.
Amu- und dem Syrdarya grenzüberschreitende
Wasserläufe. Mangelhaftes nationales und regionales Wassermanagement haben die ›geerbten‹ Pro-
see«, der ausschließlich auf kasachischem Territori-
bleme nicht beseitigt, sondern eher verschärft. Seit
um liegt (mit dem Zufluss Syrdarya), und den süd-
den 1990er Jahren ist die Wassernutzung nicht
lichen Aralsee (mit dem Zufluss Amudarya). Seit ei-
mehr zentral geregelt und Quoten für die Wasser-
nigen Jahren verhindert ein von der kasachischen
entnahme werden von den Anliegerstaaten nicht
Regierung errichteter Staudamm den Abfluss vom
mehr eingehalten. Die Baumwolle blieb staatlich
»kleinen Aral« in das südliche Becken. Dies führte
verordnetes Hauptanbauprodukt. Die negativen
in den letzten Jahren zu einer Stabilisierung seines
Auswirkungen sind vor allem an den Unterläufen
Wasserspiegels und einer Verringerung des Salzge-
der Flüsse, d.h. in den Deltaregionen zu spüren. So
halts. An manchen Stellen des südlichen Sees ist
wird bis heute fast die Hälfte des Amudarya über
der Salzanteil mittlerweile bei 100–120 g/l und liegt
den Karakum-Kanal bei Kerki nach Turkmenistan
© Burul Shaimkulova
1988 teilte er sich in den nördlichen »kleinen Aral-
Abb. 3
Für Touristen aufgereihte Schiffswracks bei Muynak. Die meisten
anderen gestrandeten Schiffe sind
mittlerweile zerschnitten und als
Altmetall ins Ausland verkauft,
Muynak, 2009.
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Abb. 4
Kanal mit Schilf. 1930er Jahre.
abgezweigt. Im Schnitt gelangt nur noch alle fünf
des Sees und das Deltagebiet des Amudarya liegen
Jahre Wasser bis zum südlichen Teil des Aralsees.
heute in Karakalpakstan, einer autonomen Region
des seit 1991 unabhängigen Usbekistan. Derzeit le-
Diese Problematik wird sich in den nächsten Jah-
ben dort etwa 1,5 Mio. Menschen. Karakalpaken,
ren sogar noch zuspitzen, wenn auch Afghanistan,
Kasachen und Aral-Usbeken bilden den Großteil
das bisher noch kaum Wasser aus dem Amudarya
der Bevölkerung dieser Region, die am stärksten
entnimmt, seinen Teil für die landwirtschaftliche
vom Ausbleiben des Wassers und vom Austrock-
Entwicklung entlang des Flusses einfordert. Zu-
nen des Aralsees betroffen ist. Selbst in Nukus, der
Nukus, September 2009 – ein Interview (Auszug)
Schulbüchern. Unser Lehrer zeigte eines Tages
»In der achten Klasse [1983] hatten wir einen et-
zum Himmel und fragte uns, was wir dort
was sonderbaren Lehrer. Er hörte viel Radio. Er
sähen. Wir sahen nichts. Der Himmel sah aus
war es, der uns zum ersten Mal etwas über den
wie immer. Dann machte er uns auf den breiten
Aralsee und sein Verschwinden erzählte. Vorher
braunen Streifen aufmerksam, der damals stän-
hatten wir noch nie davon gehört. Unser Dorf
dig am Horizont zu sehen war. Er sagte, dass
lag etwa 100 km vom Aralsee entfernt und wir
das Sand sei, den der Wind vom Boden des aus-
hatten sogar Verwandte in Muynak. Aber auch
getrockneten
als wir sie besuchten, wurde zumindest vor den
schmutzige Schleier war das erste, was ich vom
Kindern nicht darüber gesprochen, dass hier
Verschwinden des Aralsees wahrnahm. Heute
mal der See war. Den kannten wir nur aus den
ist dieser Streifen nicht mehr zu sehen.«
Aralsees
aufwirbelt.
Dieser
dem stellen die großen Staudammprojekte am
Hauptstadt Karakalpakstans, wird für die knapp
Oberlauf der Flüsse (in Tadschikistan und Kirgi-
250.000 Einwohner das Wasser auch in wasserrei-
stan) weitere Eingriffe in den ohnehin prekären
cheren Jahren nur stundenweise freigegeben. Auf
Wasserhaushalt der gesamten Region Zentralasien
den Dörfern und in den nördlich gelegenen Gebie-
dar und führen zur Verschärfung der zwi-
ten sieht es noch schlechter aus.
schenstaatlichen Spannungen. [5]
Hier kann die Wasserversorgung nur durch Hand-
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Von all dem interessiert die Menschen am Unter-
pumpen gewährleistet werden. Auf einhundert Fa-
lauf des Amudarya nur die Tatsache, dass ihnen
milien kommen zwei Pumpen. Das Wasser, das
das Wasser kaum zum Leben reicht. Das Südufer
aus einer Tiefe von 7 bis 12 Metern geholt wird, ist
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Abb. 5
Kanal zwischen Shimbay und Kasachdarya, 2009 . Bis in die 1950er
Jahre gab es auf diesem Kanal
Schiffsverkehr.
oftmals stark belastet und nicht für den Verzehr ge-
krankungsraten, Fehlgeburten und Behinderun-
eignet. Nur noch die Älteren erinnern sich an die
gen bei Neugeborenen.
Stellen, an denen auch früher schon Brunnen standen. Zumeist sind es diese Orte, an denen auch
In Taschkent interessiert man sich jedoch vor al-
jetzt noch trinkbares Wasser gefunden wird. Auf-
lem für die Rohstoffe Karakalpakstans. Öl- und
grund der Umweltbelastungen und der gleichzeiti-
Gasvorkommen unter dem verlandeten Seeboden
gen Armut der Bevölkerung kommt es in der ge-
sowie an dessen Westküste, dem Ustyurt-Plateau,
samten Deltaregion zu vergleichsweise hohen Er-
versprechen hohe Einnahmen. Den Bewohnern
bietet die usbekische Regierung den Umzug in die
wasserreicheren Baumwollanbaugebiete Zentral-
Wasservolumen
100%
89%
59%
26%
19%
12%
usbekistans an. Dass die Deltabewohner relativ we-
Salzgehalt
o,9%
1,0%
1,7%
3,5%
4,3%
ca. 7–9%
(Gr. Arals.)
nig mit den Menschen in der Region Taschkent
oder im Ferghanatal verbindet, spielt bei diesen
staatlichen Überlegungen keine Rolle.
© Siegmar W. Breckle/Bielefeld
© Siegmar W. Breckle/Bielefeld
1969:
1970:
1980:
1990:
2000:
2003:
Wasserfläche
100%
90%
76%
66%
40%
30%
Abb. 6 (links)
Großer Aralsee, Kleiner Aralsee
und Aralkum-Wüste, 2003.
Abb. 7 (rechts)
Großer Aralsee, Kleiner Aralsee
und Aralkum-Wüste, 2010.
(Abdruck der beiden Karten mit
freundlicher Genehmigung von
Siegmar W. Breckle)
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Im Rahmen eines DFG-Pilotprojekts im Jahr 2009
Ein erstes durchaus überraschendes Ergebnis die-
wurden zwei Workshops (in Berlin und in Nukus)
ser Arbeit war, dass der Aralsee in den Erinnerun-
durchgeführt. Die beteiligten karakalpakischen
gen und den Überlegungen der meisten Menschen
und deutschen Wissenschaftler sollten dabei ein
Karakalpakstans heute überhaupt keine Rolle
methodisches Instrumentarium erarbeiten und
spielt. Eine Ausnahme bilden natürlich die Perso-
Ansätze für die Untersuchung dessen diskutieren,
nen, deren Leben und Wirtschaftsweise früher di-
wie sich die Veränderungen der Lebenswelt, insbe-
rekt mit dem See verbunden war. Aber diese Grup-
sondere die räumlichen Veränderungen, auf die
pe, vor allem ehemalige Fischer, Seeleute und Ar-
Erinnerungen der Menschen in Karakalpakstan
beiter in den Fischereikombinaten entlang der Küste, ist vergleichsweise klein. Und sie wird immer
kleiner. Viele von ihnen, Russen und Kasachen etwa, haben die Region nach dem Ende der Sowjetunion verlassen. Diejenigen, die nach 1970 geboren wurden, haben den See nicht mehr mit eigenen Augen gesehen, selbst wenn sie in der vormaligen Hafenstadt Muynak zur Welt gekommen
sind. Für sie alle zählt nur der akute Wassermangel. Ob darüber hinaus auch noch Wasser bis in
das ehemalige Seegebiet fließt, ist dabei nur von
nachrangigem Interesse.
Selbst in der ehemaligen Hafenstadt Muynak erinnern sich heute nur noch die Ältesten an den See.
Einst Kurort, war Muynak bekannt für sein frisches
Seeklima, selbst im Hochsommer. Jetzt gibt es hier
seit Jahren fast täglich Sand- und Salzstürme, vor
denen sich die Bevölkerung kaum schützen kann.
Abb. 8
Karte Zentralasien mit den seit
1991 gültigen Grenzen. Zeichnung
U. Gebauer.
(Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Melanie Krebs)
auswirken, und wie sich diese Phänomene sinnvoll
In den 1960er Jahren lebten hier über 30.000 Men-
dokumentieren und erforschen lassen. In einer ge-
schen, und die örtliche Konservenfabrik verarbeite-
meinsamen Feldforschung in Muynak und an an-
te 48.000 Tonnen Fisch im Jahr, darunter Welse,
deren Orten des Amu-Deltas wurden diese theore-
Zander und Störe. 16 Millionen Dosen Fisch ver-
tischen Überlegungen dann erstmals praktisch
sorgten die gesamte Sowjetunion. Dann musste die
umgesetzt. Mit Angehörigen verschiedener Volks-
Fischerei eingestellt werden und die Fabriken wur-
gruppen wurden Erinnerungsgespräche geführt
den geschlossen. Nur etwa 8000 Menschen sind
und aufgezeichnet. Unter anderem wurde getestet,
hier geblieben, vor allem Kasachen und Karakalpa-
wie sich »Interviews in Bewegung« realisieren las-
ken.
sen und welchen Nutzen sie haben könnten bei ei-
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nem Thema, das stark an Umweltzerstörung und
Das Leben der Menschen der übrigen Deltaregion
die dadurch veränderte Raumwahrnehmung und
war seit jeher enger an den Fluss und sein Kanalsy-
Raumnutzung gekoppelt ist.
stem angepasst. Die meisten kennen den See nur
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aus dem Schulunterricht. Als viertgrößter Binnen-
Gruppen nach Karakalpakstan deportiert oder ka-
see der Welt gehörte er zum Schulstoff, auch noch
men freiwillig in die damalige Boomregion. Aimi-
in den 1980er Jahren, als sein Verschwinden längst
ra Nakayeva hat in Muynak lebensgeschichtliche
nicht mehr aufzuhalten war. Davon hörten die mei-
Erinnerungsgespräche mit Angehörigen dieser
sten erst in den späten 1980er Jahren, zu Zeiten
Gruppen geführt.
von Glasnost. Auch dass auf den Kanälen, die noch
immer das Land durchziehen, einst große Segel-
Gemeinsam mit Makset Karlibaev, dem Leiter der
schiffe und Lastkähne fuhren, ist für die heute 40-
Ethnologische Abteilung der AdW in Nukus, haben
jährigen nicht mehr vorstellbar. Bilder aus den
Olaf Guenther und Thomas Loy versucht, kasachi-
ner anderen Welt; und sie sind es auch. »Unsere
Söhne lachen nur und schütteln ungläubig den
Kopf, wenn ich ihnen erzähle, dass hier auf diesem
© Anne-Laure Py
1930er und 1940er Jahren muten da an wie aus ei-
Kanal Segelschiffe fuhren und Lastkähne gezogen
wurden, als ich hier aufwuchs. Aber so war es. Wir
lebten mit dem Wasser. Heute leben wir ohne«, erzählte uns Mambet Agha, dessen Lebensgeschichte wir auf dem Weg nach Shimbay, dem Dorf seiner Kindheit, aufzeichneten. (Vgl. Abb. 5)
Burul Shaimkulova, Masterstudentin am Zentralasienseminar, hat sich in ihrer Abschlussarbeit mit den
Erinnerungen und Perspektiven der Karakalpaken
aus Muynak auseinandergesetzt. [6] Ein großer Teil
dieser »Muynakchi« genannten Personen lebt mittlerweile am Rand der Haupstadt Nukus, zweihundert Kilometer südlich von Muynak. Diese Men-
sche und karakalpakische Lebenswelten und Erfah-
schen hat Burul Shaimkulova auf ihren Fahrten von
rungen in der südlichen Aralregion zu erschließen
und nach Muynak begleitet und dabei mit ihnen
und die lokalen Archive und Museen nach Materia-
über ihre Vergangenheit und Zukunft gesprochen.
lien (vor allem historischen Fotografien) für eine
Abb. 9
Junge Kasachen kommen an ihrem
freien Tag von den Ölfeldern auf
ihren Motorrädern an das, was
vom Aralsee übrig ist, 2009.
zukünftige wissenschaftliche Dokumentation und
Eine weitere Masterarbeit beschäftigt sich mit dem
Aufarbeitung der veränderten Umweltbedingun-
Schicksal der wenigen in Muynak verbliebenen
gen und Lebensweisen im Delta durchsucht. Dabei
Russen und Ural-Kosaken. Der Großteil der Ural-
wurden mehrere lebensgeschichtliche »Interviews
Kosaken kam zwischen 1871 und 1873 als Zwangs-
in Bewegung« geführt. Die Erinnerungsgespräche
umsiedler an die Küste des Aralsees. Sie brachten
fanden statt und wurden aufgezeichnet, während
als Erste bestimmte europäische Techniken, unter
man mit den befragten Personen Orte ihres Lebens
anderem den russischen Hausbau und den Ofen-
(von der Kindheit bis heute) aufsuchte. Interessant
bau, mit in das Gebiet. Aber auch in sowjetischer
war hierbei vor allem, welche Routen gewählt und
Zeit wurden Ural-Kosaken, Russen und andere
welche Assoziationen und spontanen Erinnerun-
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gen unterwegs ausgelöst und hervorgerufen wur-
Bahro, G. / Betke, D. (Hg.): Umweltzerstörungen in
den – an heute verlassenen und menschenleeren
Trockengebieten Zentralasiens. Stuttgart 1998,
Orten, im Meer der Baumwollfelder, inmitten der
S. 55–119.
Wüste oder an anderen Stellen, an denen die Ver-
Giese, E. / Sehring, J.: Konflikte ums Wasser. Kon-
gangenheit unserer Gesprächspartner spielte und
kurrierende Nutzungsansprüche in Zentralasien.
von denen viele heute keine oder kaum mehr sicht-
In: Osteuropa, 57. Jg., 8–9, S. 483–496.
bare Spuren dieser verlorenen Zeit tragen. [7]
Thomas Loy, M.A.
studierte Mittelasienwissen-
Anmerkungen
schaften und Kulturwissen-
[1] Mittlerweile liegt als erstes Ergebnis dieser Ar-
schaften an der Humboldt-Uni-
beit eine Ausstellung vor, die vom 20. Mai bis zum
versität zu Berlin. 2004–2008
03. Oktober 2010 im Mauritianum Altenburg zu se-
Mitarbeiter im Forschungspro-
hen war. 2011 soll die Ausstellung dann auch in
jekt »Bukharan Jews: Making
der Humboldt-Universität gezeigt werden.
Meaning of Memories and
[2] Neben der Karakum (Schwarzsandwüste) und
Identity« am Zentralasien-Se-
der Kyzylkum (Rotsandwüste) bildet heute die Ar-
minar. Seit 2009 Wissenschaft-
alkum die dritte Wüstenlandschaft in der Region.
licher Mitarbeiter am Zentralasien Seminar. Arbeitsschwerpunkte:
[3] Heute leben im Einzugsgebiet der beiden Flüs-
Migration und Oral History in Zentralasien, Tadschikisch.
se und ihrer Zuläufe ca. 57 Mio. Menschen, davon
Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Asien- und Afrika-
26 Mio. in Usbekistan. Laut Prognosen der Aralsee-
wissenschaften, Zentralasien-Seminar
Stiftung wird die Bevölkerung der Region bis ins
E-Mail: [email protected]
Jahr 2035 auf etwa 75 Mio. anwachsen. Vgl. etwa
www2.hu-berlin.de/zentralasien/index.php
Projektpartner in
Giese 1998.
Karakalpakstan:
[4] Vgl. Breckle / Wucherer 2005.
Prof. Dr. Ingeborg Baldauf
Dr. Makset Karlibaev
[5] Vgl. Giese / Sehring 2007.
lehrt seit 1995 am Bereich Spra-
Institut für Geschich-
[6] Burul Shaimkulova: »Gründe zu bleiben. All-
chen und Kulturen Mittelasiens
te, Karakalpakische Fi-
tags- und Lebensgeschichten von Bewohnern am
des Zentralasien-Seminars der
liale der Akademie der
Aralsee«. MA Thesis (2010).
Humboldt-Universität. Promo-
Wissenschaften Uzbe-
[7] Die Ergebnisse der Forschung nach dieser Me-
tion 1982, Habilitation 1992;
kistans, Nukus. Hum-
thode werden in einem Sammelband publiziert.
Berufstätigkeit als Lektorin für
boldt-Stipendiat am
Türkisch, Forschungs- und Uni-
Zentralasien-Seminar
Literatur
05.2007–01.2008
Breckle, S. W. / Wucherer W.: Hat der Aralsee eine
Forschungsschwer-
Zukunft? In: Lozán, J. L. / Graßl, H. / Hupfer, P. /
sorin für Islamwissenschaft an der Universität Freiburg; seit 1977
punkte:
versitätsassistentin in Wien,
Freiburg und Bamberg; Profes-
und
Menzel, L. / Schönwiese, Ch. D.: Warnsignal Kli-
zahlreiche Forschungsaufenthalte in Russland, Uzbekistan und Af-
Glaube im heutigen
ma: Genug Wasser für alle?, Universität Hamburg
ghanistan.
Karakalpakstan
2005, S.83–86.
Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Asien- und Afrika-
http://www.aknuk.uz
Ernst Giese: Die ökologische Krise des Aralsees und
wissenschaften, Zentralasien-Seminar
sci.net/history.html
der Aralregion (West- und Ost-Turkestan). Ursa-
E-Mail: [email protected]
chen, Auswirkungen, Lösungsansätze. In: Giese, E. /
www2.hu-berlin.de/zentralasien/index.php
56
Kult
humboldt-spektrum
3/2010