Die Verlandung des Aralsees
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Die Verlandung des Aralsees
Die Verlandung des Aralsees Eine anthropogen herbeigeführte Umweltkatastrophe Matthias Reitinger 28. Januar 2011 Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung 1 2 Die ökologische Katastrophe am Aralsee 1 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 Geologische und klimatische Ausgangsbedingungen Austrocknung des Aralsees . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ökologische Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . Gegenmaßnahmen und Rettungsversuche . . . . . . . 3 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 4 5 8 9 1 Einleitung „Mit dem Wasser kommt das Leben“ – so lautet eine alte usbekische Redensart in Anlehnung an die traditionsreiche Bewässerungspraxis des Landes. Durch die künstliche Bewässerung von Wüsten und Halbwüsten entsteht Ackerland und damit Leben, wo es vorher keines gab. Im Umkehrschluss entsteht aus dem Sprichwort die Aussage „ohne Wasser vergeht alles Leben“ – eine passende Beschreibung der momentanen Situation am Aralsee, der zum Teil in Usbekistan liegt. Einst ein riesiges Binnenmeer nahezu von der Fläche Bayerns, schrumpfte der See innerhalb der letzen 50 Jahre auf ein Achtel seiner ursprünglichen Größe und auf weniger als ein Zehntel seines Volumens zusammen und hinterließ ein lebensfeindliches Wüstengebiet. Die Folgen für Mensch und Natur sind weitreichend und schwerwiegend. Von der UNO wurde die Region um den ehemaligen Aralsee sogar als „größtes ökologisches Katastrophengebiet neben Tschernobyl“ bezeichnet. In der westlichen Welt findet diese Umweltkatastrophe allerdings nur wenig Beachtung. Diese Arbeit soll einen Überblick über die Aralseekrise verschaffen. Der Hauptteil gliedert sich wie folgt: nach der Erläuterung der geologischen und klimatischen Ausgangsbedingungen der Region (2.1) wird auf den Verlauf und die Ausmaße des Verlandungsprozesses eingegangen (2.2). Anschließend werden die Ursachen der Austrocknung erörtert (2.3) und deren weitreichende Auswirkungen auf die Umwelt behandelt (2.4). Mögliche Gegenmaßnahmen und umgesetzte Rettungsversuche sind Gegenstand des abschließenden Abschnitts (2.5). 2 Die ökologische Katastrophe am Aralsee 2.1 Geologische und klimatische Ausgangsbedingungen Der Aralsee („Meer der Inseln“) liegt in der Mitte des eurasischen Kontinents (45◦ N 60◦ O) im Tiefland von Turan. Er wird eingegrenzt von der Barsuki-Wüste im Norden, den Sandwüsten Kysylkum und Karakum im Osten bzw. Südwesten und der UstyurtHochebene im Westen. Politisch teilen sich die beiden ehemaligen Sowjetstaaten Kasachstan und Usbekistan die Gebietsherrschaft über der Aralsee. Mit einer ursprünglichen Fläche von knapp 69.500 km2 war er einst das viertgrößte Binnenmeer der Erde. Gespeist wird der Aralsee hauptsächlich von den Flüssen Amu Darja im Süden und Syr Darja im Nordosten. Aufgrund seiner Beckenlage verfügt er über keinerlei Abflüsse, verliert aber einen Großteil seines Wassers durch Verdunstung. 1 Jahr und Bereich des Sees Wasserhöhe über N.N. [m] Fläche [km2 ] Volumen [km3 ] Salinität [ g/`] 1960 (gesamt) 1970 (gesamt) 1980 (gesamt) 1989 (gesamt) Großer Aralsee Kleiner Aralsee Sep. 2009 (gesamt) Großer Aralsee (West) Großer Aralsee (Ost) Kleiner Aralsee Golf von Tschebas 53,41 51,42 45,76 68000 60900 51400 39734 36930 2804 8409 3702 857 3487 363 1088,34 962,32 647,92 364 341 23 84 56 0,64 27 0,51 10 11 16,5 39,1 40,2 26,5 26,5 42 28 30 30 100 200 10–14 100 Tabelle 1: Hydrologische Dynamik des Aralsees von 1960 bis 2009 (Quellen: 1960–1980: Klötzli 1996, 116; ab 1989: Micklin 2010, 195) Dies ist auf das aride Klima der Region zurückzuführen: die geringen Niederschlagsmengen von maximal 20mm/Monat und 100mm/Jahr stehen einer potentiellen Verdunstung von bis zu 1040mm/Jahr gegenüber.1 Der Aralsee ist also in hohem Maße auf die Wassermengen seiner Zuflüsse angewiesen, um den Verdunstungsverlust ausgleichen zu können. 2.2 Austrocknung des Aralsees Zu Beginn der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts setzte ein Wandel des Aralsees ein, bei dem sich Wasserstand, Fläche und Volumen des Sees teils drastisch veränderten (siehe Tabelle 1). Innerhalb von 30 Jahren sank der Wasserspiegel um 13 m, die Oberfläche ging um über 40% zurück. Vom ursprünglichen Wasservolumen blieb Ende der Achtziger nur noch rund ein Drittel. Durch die Kontraktion der Küstenlinie (siehe Abbildung 1) lag die ehemalige Hafen- und Fischerstadt Aral zwischenzeitlich bis zu 100 km vom Ufer des Aralsees entfernt. 1987 zerfiel das Binnenmeer schließlich in zwei Hauptteile, den südlich gelegenen Großen Aralsee (knapp 37.000 km2 ) und den nördlichen Kleinen Aralsee (etwa 2.800 km2 ). Wegen des seitdem weiter gesunkenen Wasserspiegels teilte sich der Große Aralsee 2000 wiederum in ein West- und ein Ostbecken. Im September 2009 bildete sich außerdem der Golf von Tschabas als eigenständiger See. Diese vier Einzelgewässer umfassen heute mit ca. 8.400 km2 nur noch 1 Vgl. Lohman 1999 2 1960 1970 1980 1990 2000 2009 Abbildung 1: Veränderung der Küstenlinie des Aralsees von 1960 bis 2009 (Quelle: in Anlehnung an Wikipedia, die freie Enzyklopädie. In: http:// de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Aralsee.gif, zugegriffen am 22.01.2011) 3 ein Achtel der ursprünglichen Fläche und mit 56 km3 nicht einmal 8% der ehemaligen Wassermenge des Aralsees. Das Ostbecken des Großen Aralsees besitzt eine maximale Wassertiefe von eineinhalb Metern und trocknete 2009 zwischenzeitlich sogar komplett aus. 2.3 Ursachen Für die Austrocknung des Aralsees lassen sich mehrere Ursachen identifizieren, von denen die meisten zumindest indirekt auf anthropogene Einflussnahme zurückzuführen sind. In den 1950er Jahren führte die sowjetische Regierung unter Chruschtschow im Rahmen der „Neulandkampagne“ ein Programm zum Ausbau der Landwirtschaft in Zentralasien ein. Wachstumsperioden von 204 bis 288 Tagen und das günstige Klima machten diese Region zum idealen Standort für den Anbau wärmeliebender Pflanzen wie Baumwolle, Mais oder Reis.2 Um die an sich fruchtbaren, aber trockenen Böden für die Landwirtschaft nutzbar zu machen, mussten diese intensiv bewässert werden. Als Irrigationsquelle dienten die scheinbar unerschöpflichen Reserven des Amu Darja und Syr Darja. Zur massiven Ausweitung der Bewässerungsfläche im Einzugsbereich des Aralsees (von 4,7 Mio. Hektar im Jahr 1950 auf 7,9 Mio. Hektar im Jahr 1990) kommt erschwerend hinzu, dass ein Großteil des Wassers wegen der schlechten Qualität der Kanäle in diesen versickert oder in Speicherseen verdunstet und somit nie auf den Feldern ankommt. Bezeichnend hierfür ist der 1.400 km lange Karakum-Kanal (heute: Türkmenbaşy-Kanal) in Turkmenistan mit einem Versickerungsverlust von rund einem Drittel des zugeführten Wassers. Er zweigt 15 km2 pro Jahr vom mittleren Amu Darja ab und ist damit für 40% des Wasserverlustes des Aralsees verantwortlich.3 Ein weiterer Grund für die massive Wassernutzung und -verschwendung sind die übermäßigen Wasserverbrauchsraten. In Zentralasien liegen diese um 60 bis 70% über den üblichen Normen, da große Mengen Wasser zum Auswaschen des versalzten Bodens benötigt werden.4 Die Versalzung ist einerseits natürlichen Ursprungs (primäre Salinisierung), andererseits aber auch Folge von salzbelastetem Bewässerungs- und Grundwasser (sekundäre Salinierung). Die hohen Versickerungsverluste und mangelhaften Drainagen der Bewässerungskanäle führen zu einer weiträumigen Bodenvernässung und damit zum Anstieg des Grundwasserspiegels. Verdunstet das minerali2 Vgl. Klötzli 1996, 102f. Klötzli 1996, 106f. 4 Vgl. Klötzli 1996, 106f. 3 Vgl. 4 sierte Grundwasser, bleiben Salze in den oberen Bodenschichten zurück. Zum Auswaschen dieser Salze wird oft bereits mineralisiertes Wasser verwendet, was in einem enormen Wasserverbrauch resultiert (je schlechter das Wasser, desto mehr wird davon benötigt).5 Die Bewässerungsmaßnahmen entlang des Amu Darja und Syr Darja entzogen diesen Flüssen also einen Großteil ihrer Wassermassen, bevor diese in den Aralsee fließen konnten. Zeitweise versickerten die Flüsse sogar in der Wüste, sodass ihre Wasserzufuhr zum Aralsee komplett abgeschnitten war. Dessen Wasserbilanz, die in hohem Maße von seinen Zuflüssen abhängig ist, wurde so in ihrem Gleichgewicht gestört. In unmittelbarer Folge verringerten sich Wasservolumen, -tiefe und Fläche des Aralsees und der im vorherigen Abschnitt beschriebene Verlandungsprozess setzte ein. Verstärkt wurde diese Entwicklung zusätzlich noch durch einen Rückkopplungsprozess: je niedriger der Wasserspiegel, desto höher ist das Verhältnis von eingestrahlter Sonnenenergie zu dadurch erwärmtem Seewasser. Daher steigt die Temperatur und in Folge dessen die spezifische Humidität an der Wasseroberfläche, was in einer erhöhten Verdunstungsrate resultiert.6 Außerdem beschleunigten eine Reihe von trockenen Niedrigwasserjahren in den siebziger und frühen achtziger Jahren die Austrocknung.7 Obwohl für die Verlandung des Aralsees auch natürliche Prozesse eine Rolle spielen, sind sich die Wissenschaftler einig, dass ohne den massiven menschlichen Eingriff in das hydrologische System des Aralseebeckens die Katastrophe ausgeblieben wäre. Der Wasserspiegel unterliegt zwar seit jeher natürlichen Schwankungen, allerdings betrugen diese nur wenige Meter. Die Austrocknung des Aralsees ist also eine direkte Auswirkung menschlichen Eingreifens in die Natur. 2.4 Ökologische Auswirkungen Die Auswirkungen der intensiven Bewässerung in Zentralasien beschränken sich nicht nur auf die Verlandung des Aralsees. Darüber hinaus gingen und gehen auch eine Vielzahl von ökologischen Problemen mit dieser Entwicklung einher. Da der Aralsee über keinerlei Abflüsse verfügt und sein Wasserverlust auf Verdunstung zurückzuführen ist, stieg seine Salinität (Salzgehalt) mit sinkendem Wasserspiegel (vgl. Tabelle 1). War der See 1960 mit 10g/` noch brackisch, erreichte er 1989 mit 5 Vgl. Klötzli 1996, 112f. Thompson 2008 7 Vgl. Klötzli 1996, 118 6 Vgl. 5 30g/` einen mit Meerwasser vergleichbaren Versalzungsgrad. Für die an weniger salzreiches Wasser angepasste lokale Fischpopulation bedeutete dies zusammen mit dem Verschwinden von seichten Brutgebieten das langsame Aussterben. Dem in der Mitte der 1970er im Aralsee ausgesetzten Schwarzmeer-Flunder (Platichthys flesus lulscus) ereilte das gleiche Schicksal, als die Salinität 2003 auf über 70g/` stieg.8 Die Austrocknung des Aralsees wirkt sich auch auf die angrenzenden Ökosysteme aus. So sind die Flussdeltas von Amu Darja und Syr Darja von fortschreitender Desertifikation betroffen. Dies ist auf geringere Wasserdurchflussraten, das Ausbleiben von Überschwemmungen und den um 3 bis 5 Metern abgefallenen Grundwasserspiegel zurückzuführen.9 Allein im Amu-Darja-Delta ist die Fläche von Kleinseen zwischen 1960 und 1980 von 49.000 km2 auf 8.000 km2 zurückgegangen. Die Auswirkungen auf Flora und Fauna der Flussdeltas blieben nicht aus: Halophyten (salztolerante Pflanzen) und Xerophyten (trockenheitstolerante Pflanzen) haben die einheimischen Pflanzen verdrängt. Sich ablagernde Mineralsalze führten zur Bildung von vegetationslosen Salzböden. Von den 70 Säugetierarten und 319 Vögelarten, die 1960 in den Flussdeltas beobachtet wurden, verbleiben heute nur noch 32 von ersteren und 160 von letzteren.10 Die Verringerung der Wasseroberfläche des Aralsees bedingt eine Veränderung des regionalen Mikroklimas. Das maritim gemäßigte Klima, für das die Wassermassen des Aralsees als thermischer Ausgleichsfaktor eine entscheidene Rolle spielten, wurde inzwischen durch ein kontinentaleres Klima abgelöst. Die mittlere Temperatur im Sommer erhöhte sich zwischen 1960 und 2000 um 2–6◦ C. Gleichzeitig verringerte sich die Lufttemperatur im Winter, vor allem südwestlich des Aralsees. Die Nordost-Winde, die früher von der hohen Verdunstung gebremst wurden, haben an Intensität zugenommen. Das Resultat sind heißere, trockenere Sommer und längere, kältere Winter, sowie sinkende Niederschlagsmengen.11 Weitläufige Bereiche des ausgetrockneten Aralseebodens haben sich in eine unfruchtbare Salz- und Staubwüste verwandelt. Im Fluss- und Grundwasser gelöse Salze und toxische Rückstände aus der in Monokultur betriebenen Bewässerungslandwirtschaft (Düngemittel, Herbizide, Pestizide) wurden Jahrzehnte lang in das Aralseebecken eingetragen. Durch die Verlandung entstand ein Salzboden mit einem lockeren Gemisch aus Staub und verschiedenen Salzen (hauptsächlich Natron, Natriumchlorid und Natriumsulfat). Geschätzte 40 bis 150 Millionen Tonnen dieses giftigen Gemisches werden jährlich durch Winderosion abgetragen und über weite Strecken transportiert. In trockener Form oder in Niederschlägen gelöst erreicht es so Gebiete im Umkreis von bis 8 Vgl. Micklin 2010, 202 Klötzli 1996, 118f. 10 Vgl. Micklin 2010, 203 11 Vgl. Thompson 2008 9 Vgl. 6 Abbildung 2: Riesiger Salz-/Staubsturm über dem Aralsee am 8. April 2008. Die Staubwolke erstreckt sich über 600 km in West-Ost-Richtung. (Quelle: MODIS Rapid Response System Gallery, http://rapidfire.sci.gsfc. nasa.gov/gallery/) zu 600 km um den Aralsee. In Abbildung 2 ist eine Satellitenaufnahme eines solchen Salz-/Staubsturms zu sehen. 12 Die Umweltkatastrophe am Aralsee hat weiterhin schwerwiegende Auswirkungen auf die Bevölkerung in der Region. Neben der hohen Arbeitslosenrate durch den Zusammenbruch der Fischindustrie in den achtziger Jahren leiden die Menschen vor allem unter akuten gesundheitlichen Problemen. Das Einatmen oder Verschlucken des giftigen Salz-Staub-Gemischs begünstigt Erkrankungen der Atemwege und Verdauungsorgane bis hin zu Speiseröhrenkrebs. Als weiterer Auslöser schwerer Krankheiten ist der direkte Kontakt mit giftigen Chemikalien in der Bewässerungslandwirtschaft (wie Pestizide oder Entlaubungsmittel auf Baumwollplantagen) zu nennen. Das stark salzhaltige Trinkwasser weist eine hohe Kontamination mit Bakterien auf und ist damit vermutlich für das häufige Auftreten von Hepatitis, Typhus, sowie Leber- und Nierenerkrankungen mit verantwortlich. Tuberkulose und Anämie sind weit verbreitet, vor allem bei Schwangeren. Die Säuglingssterblichkeit stieg zwischen 1965 und 1986 von durchschnittlich 45h auf 72h. In einigen Gebieten entlang der ehemaligen Küstenlinie des Aralsees wurden sogar Werte von 80h bis zu über 100h verzeichnet (Deutsch12 Vgl. Klötzli 1996, 119f.; Micklin 2010, 203f. 7 land: 4h). Insgesamt sind Morbidität und Mortalität in der Aralseeregion signifikant höher als der Landesdurchschitt.13 2.5 Gegenmaÿnahmen und Rettungsversuche Angesichts der weitreichenden Auswirkungen der Umweltkatastrophe auf Mensch und Natur stellt sich die Frage, ob – und falls ja, mittels welcher Maßnahmen – die Region noch gerettet werden kann. Die Wiederherstellung der Zuflussraten vor 1960 und eine Steigerung des Wasserspiegels wären offensichtlich erstrebenswert. Erste Überlegungen zur Erhöhung der Wasserzufuhr wurden bereits zur Zeit der Sowjetunion angestellt. Die Vorschläge reichten von der Umleitung sibirischer Flüsse über den Bau eines Kanals vom Kaspischen Meer bis zum Schmelzen der Gletscher im Pamir-Gebirge. Diese Vorhaben wurden wegen des immensen finanziellen Aufwands und der ungewissen Auswirkungen auf die Gebiete, denen Wasser entnommen werden sollte, nie umgesetzt. Mit dem Amtsantritt Gorbatschows im März 1985 und seinem erklärten Ziel „Glasnost“ (Offenheit, Transparenz, Informationsfreiheit) ging ein Umdenken der Sowjetregierung einher. Die Ausmaße der Aralseekatastrophe gelangten erstmals an die Weltöffentlichkeit. Konzepte zur nachhaltigen Verbesserung der ökologischen und humanitären Situation wurden ausgearbeitet, wie eine Modernisierung der Bewässerungssysteme, den Stopp der Kultivierung neuer Felder, eine Reduzierung der Baumwollanbauflächen und wirtschaftliche Umstrukturierungen der Region. Wegen des Zusammenbruchs der Sowjetunion Anfang der neunziger Jahre konnten diese Pläne jedoch nicht umgesetzt werden.14 Die Verantwortung für die Rettung des Aralsees fielen nach der UdSSR-Ära an die jetzt unabhängigen Staaten Kasachstan, Usbekistan, Kirgistan, Turkmenistan und Tadschikistan. Deren Staatsoberhäupter beschlossen insgesamt über 150 Abkommen und Resolutionen, in denen unter anderem die ökologischen Folgen der Krise und ein entsprechender Handlungsbedarf anerkannt werden. Die Zusammenarbeit gestaltet sich aufgrund unterschiedlicher politischer, finanzieller und sozioökonomischer Interessen allerdings schwierig. Den Verträgen fehlt es an konkreten Zusagen und verbindlichen Regelungen.15 Als sich zwischen den betroffenen Staaten kein Konsens für eine gemeinsame Lösung abzeichnete, setzte Kasachstan mit finanzieller Unterstützung der Weltbank den 13 Vgl. Klötzli 1996, 121f.; Micklin 2010, 204 Sehring 2002, 6f. 15 Vgl Klötzli 1996, 183–185 14 Vgl. 8 Bau eines Staudamms um. Der 2003 begonnene und im August 2005 fertig gestellte Kokaral-Damm verläuft entlang der ehemaligen Berg-Meerenge zwischen Kleinem und Großem Aralsee, nahe des Syr-Darja-Zuflusses. Mit ihm wird verhindert, dass Wasser vom Kleinen Aralsee in das Ostbecken des Großen Aralsees abfließt und dort unnütz versickert oder verdunstet. Erste Auswirkungen waren bereits 2006 zu verzeichnen: der Wasserspiegel im Kleinen Aralsee stieg wieder, während Salinität und Toxizität sanken. Heute haben sich Wasserspiegel und Salzgehalt auf etwa 42 m über N.N. und 10–14g/` stabilisiert. Die ökologische Situation im Kleinen Aralsee erfuhr damit eine signifikante Verbesserung, sodass sogar die Fischerei in kleinem Umfang wieder aufgenommen werden konnte. Das Ufer ist inzwischen wieder auf 20 km an die ehemalige Fischerstadt Aral herangewachsen; ihr Hafen soll mit dem Bau eines Kanals wieder mit dem See verbunden werden. Die Auswirkungen auf den Großen Aralsee fielen dagegen weniger erfreulich aus. Von einem seiner Zuflüsse abgeschnitten wurde dessen Austrocknung durch den Damm eher beschleunigt, sodass sein Ostbecken seit 2009 teils überhaupt kein Wasser mehr führte. Der Golf von Tschebas wird wahrscheinlich bis zum Ende des Jahrzehnts ausgetrocknet sein. Salinitätswerte von über 100g/` im Westbecken und 200g/` im Ostbecken lassen eine baldige Rückkehr der Fischpopulation im Großen Aralsee unwahrscheinlich erscheinen.16 3 Zusammenfassung und Ausblick Die Krise am Aralsee zeigt überdeutlich, wie drastisch der Mensch seine Umwelt beeinflussen kann. Die ab 1960 einsetzende massive Ausweitung von Bewässerungsflächen entlang der Flussläufe von Amu Darja und Syr Darja zerstörten das hydrologische Gleichgewicht des Aralsees und ließen das einst viertgrößte Binnengewässer der Erde auf einen Bruchteil seiner ehemaligen Ausdehnung schrumpfen. Die Auswirkungen auf die angrenzenden Ökosysteme – vom Artensterben über die Entstehung einer giftbelasteten Salz- und Staubwüste bis hin zur Veränderung des Klimas und einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung ganzer Landstriche – können nur als katastrophal bezeichnet werden. Eine ganzheitliche Rettung des Aralsees ist bis heute nicht in Sicht. Lediglich der nördliche Kleine Aralsee konnte im vergangenen Jahrzehnt durch den Kokaral-Damm eine Verbesserung erfahren. Ob und wie der Große Aralsee wieder mit ausreichend Wasser versorgt werden kann ist ungewiss. Optimistische Szenarios sagen voraus, dass bei entsprechend hoher Wasserzufuhr der Aralsee frühestens in 30–40 Jahren auf einen mit 1960 vergleichbaren Wasserspiegel wiederhergestellt werden könnte. Dazu wären aber Investitionen in zwei- bis dreistelliger Milliardenhöhe und eine enge Kooperation 16 Vgl. Micklin 2010, 205 9 der betroffenen Staaten notwendig. Woher diese Mittel kommen sollen und wie man die unterschiedlichen Interessen der Anrainerstaaten vereinen kann ist aber noch völlig unklar. Es bleibt also abzuwarten, welches Sprichwort in weiteren 50 Jahren besser auf die Aralseeregion passt: „Mit dem Wasser kommt das Leben“ oder „Ohne Wasser vergeht alles Leben“? Literatur [Klötzli 1996] Klötzli, S. (1996): Umweltzerstörung und Politik in Zentralasien: eine ökoregionale Systemuntersuchung. Diss., Zürich 1996. [Micklin 2010] Micklin, P. P. (2010): The past, present, and future Aral Sea. In: Lakes & Reservoirs: Research & Management, Vol. 15 (2010) Nr. 3, S. 193–213. [Thompson 2008] Thompson (2008): The Aral Sea Crisis. In: http://www.columbia. edu/~tmt2120/environmental%20impacts.htm, zugegriffen am 22.01.2011. [Lohman 1999] Lohmann, D. (1999): Aralsee: Chronik einer anthropogen verursachten Katastrophe. In: http://www.g-o.de/ dossier-detail-55-6.html, zugegriffen am 22.01.2011. [Sehring 2002] Sehring, J. (2002): Kooperation bei Wasserkonflikten: Die Bemühungen um nachhaltiges Wassermanagement in Zentralasien. Institut für Politikwissenschaft, Mainz 2002. 10