Universität Reykjavik - Universität Stuttgart

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Universität Reykjavik - Universität Stuttgart
Erfahrungsbericht ERASMUS
Reykjavik, Island (August 2010 - Dezember 2010)
von Grigory Stanskiy
Studieren am Polarkreis?
Ich habe 2010 ein Semester auf Island verbracht. Was? - fragten die meisten, als sie davon
hörten - Island? Wo ist das überhaupt? Ist es da sehr kalt? Hattest du keine Angst wegen dem
Vulkan? Isst man da echt nur Wale und Fische? Kann man da überhaupt studieren? Durch solche
und viele andere Vorurteile muss man sich durchkämpfen, wenn man nach Island gehen will.
Tatsache ist, dass Island ein modernes europäisches Land ist, klar, mit seinen Eigenarten, aber das
Leben dort ist alles andere als eine Polarstation am Rande der Welt. Gerade aber wegen der
Vorurteilen sammelten sich unter Erasmus-Studenten dort viele außergewöhnliche Menschen, denen
die meisten anderen Länder für ein Auslandssemester zu "normal" erschienen. Es gab aber auch
solche, für die Island das beste Ziel für ihr Studienfach war. Ich erinnere mich an viele Studenten
der Geologie, Energietechnik, aber auch einige Jura-, Politik- und Linguistikstudenten. Island hat
neben der Universität Island (Háskóli Íslands) und der privaten Universität Reykjavik, die sich
beide in der Hauptstadt Reykjavik befinden, noch einige Universitäten in anderen Städten, was für
die kleine (300 Tausend) Population schon beeindruckend viel ist.
Ich selber studiere Linguistik und habe an der Universität Island Kurse in der Anglistik
besucht. Island war für mich ursprünglich "zweite Wahl", nach den Ländern, in den Englisch als
Muttersprache gesprochen wird, z.B. England oder Irland. Aber das war überhaupt nicht berechtigt.
Die meisten meiner Dozenten in Island waren Engländer und an Praxis im Englischen mangelte es
mir nie. Obwohl fast ein Drittel der Erasmus-Studenten aus Deutschland kamen, gab es fast immer
"gemischte" Gruppen und es wurde fast immer Englisch gesprochen. So musste ich mir eher darum
Sorgen machen, ob ich überhaupt Isländisch lerne, denn diese Sprache war auch mit der Grund,
nach Island zu gehen. Isländisch ist eine sehr alte Sprache, sehr nah am Alt-Nordischen und
außerdem ist sie linguistisch sehr interessant, da sie (ebenso wie das Deutsche) in viele moderne
linguistische Theorien nicht hineinpasst. Das Problem ist aber, dass fast alle Isländer sehr gutes
Englisch sprechen und Isländisch nur ungern mit Ausländern sprechen. Andersrum kann jemand,
der die nicht einfache isländische Sprache nicht lernen will, ohne sie in Island perfekt auskommen.
Die Vorbereitung
Wer sich letztendlich für Island entschieden hat, muss sich bei der Vorbereitung auf einige
gute und schlechte Überraschungen einstellen. Die erste Überraschung: an der Universität Island
läuft absolut alles online ab. Und zwar, reibungslos. Sobald die ersten Online-Formulare ausgefüllt
sind, bekommt man ständige Emails von der Univerwaltung, in denen einem Schritt für Schritt
erklärt wird, was zu tun ist. Da hat man eigentlich kaum Gelegenheit, etwas zu verpassen. Der
einzige Schritt, bei dem man sich beeilen muss, ist die Unterkunft. In einer der Emails wird eine
Liste der Studentenunterkünfte geschickt. Das sind keine Wohnheime, sondern meist
"Guesthouses", die immer private Vermieter haben und je nach Fall an ein Hotel, eine
Jugendherberge oder private Wohnungen erinnern. Da empfiehlt es sich, selbst anzurufen, und zwar
so schnell wie möglich - die Vermieter antworten sehr spät auf Emails, wenn überhaupt. Allerdings,
falls die "guten" Adressen schon vergriffen sind, muss man nicht in Panik verfallen, und alles
nehmen, egal wie schlecht oder teuer es ist. Ich kenne viele Studenten, die schon in Island privat
Unterkünfte gefunden haben, sogar besser und preiswerter als die von der Liste. "Ferngesteuert" aus
Deutschland ist es aber nicht sehr einfach. Die zweite absolut empfehlenswerte Sache ist der
dreiwöchige Sprachkurs in Núpur in den Westfjörds, der immer im August stattfindet. Dabei wird
man in isländische Sprache und Kultur eingeführt und bekommt etwa 90 Freunde mit dazu. So
muss man sich bei der Ankunft in Reykjavik keine Sorgen mehr um die Integration in das
"Erasmus-Leben" machen. Diese intensive Zeit in Núpur zählt zu meinen absolut besten
Erfahrungen in Island, wo die ganze isländische Zeit schon sehr aufregend und bunt wie ein Traum
war. Noch eine kleine Anmerkung: Ich weiß nicht warum, aber mit einer isländischen SIM-Karte
drin reicht der Akku im Handy nur noch für einen Tag. Keine Panik, mit eurem Handy ist nichts
passiert. Wenn die isländische SIM-Karte wieder raus ist, tut der Akku so lang wie vorher. Ich weiß
nicht, warum das so ist, vielleicht verdienen die Isländer am Recycling der Handys, wenn sie alle
von Ausländern erstmal weggeschmissen werden.
Iceland - wo ist das Eis nur geblieben?
Und nun zum Wetter. Island liegt knapp unter dem Polarkreis, und das lässt extreme Kälte
und viel Schnee das ganze Jahr über vermuten. Es stimmt überhaupt nicht. Island liegt mitten im
Ozean und außerdem am Golfstrom. Es ist dort kaum kälter als 0 Grad im Winter und etwa 10 Grad
im Sommer. Die Unterschiede zwischen Tag und Nacht sind auch kaum spürbar. Das wirklich
andere sind die starken Winde, die vor allem in der kalten Jahreszeit aufkommen. Wenn es
außerdem noch regnet, kann es schon sehr unangenehm werden, dürfte sich aber nicht viel
schlimmer als ein windiger Tag an der Nordsee oder an sonst irgendeiner Küste anfühlen.
Regenschirme sind also in Island wirklich fehl am Platz, man sollte eher an Regenjacken denken.
Wer aber nicht wie ein Tourist aussehen will, sollte vor allem normale Kleidung einpacken, also
auch T-Shirts und leichte Schuhe. Leute, die so aussehen, als würden sie jede Sekunde in die Berge
aufbrechen, fallen in Islands Städten extrem auf, selbst Erasmus-Studenten schimpfen nach einigen
Monaten auf "diese Touristen". Das Wetter in Island ist nicht extrem, sondern vor allem
wechselhaft. Eine wochenlange Wolkendecke wie in Deutschland wird man da vergeblich suchen,
es kann aber auch im Oktober einfach so aus der Laune heraus kurz schneien. Wer sich diese Insel
außerhalb der Städte genauer anschauen will, der wird schon viele Extreme erleben. Auf Islands
Gletschern kann es auch mal -40 Grad werden, in der Nähe von Vulkanen andererseits extrem heiß,
und fast das gesamte Hochland (alles was über 200 Meter liegt, also drei Viertel des Landes) ist eine
Wüste, die nur mit einem Jeep befahrbar ist. Diese Gegenden sind aber mit Berechtigung fast
unbewohnt. Man sollte sich aber davon nicht abschrecken lassen: wer in Island, auch wenn nicht als
Tourist, längere Zeit verbringt und seine Schönheit nicht kennen lernt, hat damit extrem viel
verpasst und sollte das für immer bereuen. Kleine Tipps am Rande: Isländer sind reich an
Geschäftsideen und so veranstalten sie viele teure und nicht besonders aufregende Fahrten mit
Namen wie "Whale Watching" oder "Golden Circle Day Tour". Sie sind vor allem an Amerikaner
orientiert, die auf dem Zwischenstopp zwischen Europa und New York, sie steigen in Keflavík um,
noch kurz was sehen wollen. Es ist viel besser, ein Auto zu mieten und mit Freunden einfach zu
einem der Ziele rauszufahren und dort in einer Hütte zu übernachten. Die Ziele heißen
Snæfellsness, Landmannalaugar, Vík, Mývatn, Dimmuborgir, Vestfirðir oder Vestmannaeyjar. Und
egal wohin ihr geht, vergesst nie euer Badezeug und ein Handtuch. Schwimmbäder und heiße
Quellen gibt es in Island fast an jeder Ecke.
Reykjavik - der Mittelpunkt der Welt
Die meiste Zeit aber werdet ihr in Reykjavik verbringen. Es ist für unsere Verhältnisse eine
kleine Stadt, doch für Island machen die 150.000 Einwohner sie zu einer Metropole. Und mit den
Nachbarstädten bildet es ein Ballungsgebiet, in dem drei Viertel der Isländischen Bevölkerung lebt.
Man ist also vom Ozean, sehr dünn besiedeltem Land und Wüste umgeben, aber das Paradoxe ist,
dass man sich in Reykjavik gerade deswegen nicht einsam und verlassen, sondern im Mittelpunkt
der Welt fühlt. Wenn man auf dem Laugavegur, der Fußgängerzone von Reykjavik spazieren geht,
ist es unmöglich, irgendwelche bekannten Gesichter nicht zu sehen. Sollte es nicht der Fall sein,
trifft man sich auf jeden Fall in Bónus (der Lebensmittelkette mit fast schon einer Monopolstellung
in Island, über die Herzen der Austauschstudenten auf jeden Fall) oder an der Hallgrimskirkja.
Diese Kirche ist auch das einzige wirklich hohe Gebäude im Zentrum von Reykjavik, also dem
Gebiet mit der Postleitzahl 101. Praktischerweise stehen direkt neben der Kirche viele der
"Guesthäuser", in denen die ausländischen Studenten ihre Tage verbringen. In unmittelbarer Nähe
sind auch die besten und gemütlichen Cafés der Welt (fragt nach dem Käsekuchen!) und zwei
Buchläden, um die sich euer Leben in Reykjavik tagsüber drehen wird. Nachts wandert das Leben
an das andere Ende von Laugavegur, in die vielen Bars und Klubs, in denen Eintritt immer frei und
Alkohol immer teuer ist, das typisch isländische Gedränge vorherrscht, und die Stimmung ziemlich
wild ist. Schaut euch einfach den Film 101 Reykjavik an. Das ist das wirklich typische dort, nicht
nur das Gedränge auf Partys, die ganze Bevölkerung ist dort "verdichtet". Praktisch jeder ist mit
jedem verwandt, jeder kennt auch jemanden, der im Parlament ist, man kann das Auto des
Präsidenten oft auf den Straßen sehen und solchen Leuten wie Björk oder Bandmitglieder von Sigur
Rós zu begegnen, wird wirklich Normalität. Isländische Bands gehen übrigens nicht auf Tour,
sondern treten einfach im jeden erdenklichen Ort in Reykjavik auf: nicht nur in den Bars (Clubs wie
wir sie hier kennen gibt es dort eigentlich nicht), sondern auch in den Buchläden oder einfach auf
der Straße. Die Stadt selbst fühlt sich jung und angenehm an, zumindest das Stadtzentrum. Man
sieht wohin das Auge reicht das bunte Wellblech der Häuser, manche Wände sind mit Graffiti
bemalt und oben sieht man sehr viel Himmel, kaum ein Gebäude reicht über 3 Stockwerke - die
ganze Stadt wirkt wie oben abgesägt, im Vergleich zu den deutschen Städten. Das heißt auch, kaum
ist man auf einem Hügel, hat man eine tolle Aussicht, wie übrigens überall auf Island, mangels
Bäume, die die Sicht versperren. Am Ende vom Laugavegur gibt es eine Kreuzung mit der
Lækjargata, die nach links über den Teich, der im Winter sehr schön zufriert, zur Universität führt.
Alle in diesem Absatz erwähnten Orte befinden sich übrigens auf einem Quadratkilometer und sind
eigentlich auch zu Fuß, oder über 2-3 Bushaltestellen erreichbar. So etwas wie Tram oder Bahn gibt
es auf Island überhaupt nicht. Keinen Zentimeter Schiene.
Unileben, Erasmusleben
Die Universität Island befindet sich auf einem Feld direkt hinter dem Tjörmin, dem Teich.
Unter den vielen Gebäuden der Uni ist das Wichtigste der Háskólatorg, ein dunkles Glasgebäude. In
der großen Halle im Erdgeschoss gibt es eine Mensa, das Essen ist zwar teurer als an meiner
deutschen Uni, dafür aber das Wasser für umsonst. In der selben Halle stehen auch viele Stühle und
Tische, an denen Studenten sowohl essen, als auch sich zu Lerngruppen versammeln. Es gibt auch
eine kleine Bühne, auf der hin und wieder Konzerte oder irgendwelche Ansprachen stattfinden,
rechts gibt es einen Buchladen, der nur durch eine Glaswand getrennt ist, und geht man etwas tiefer
in das Gebäude hinein, findet man den Weg zur Univerwaltung, Studienberatung und zu einen
Computerraum. Übrigens sind in der ganzen Uni an den Wänden Macs zerstreut, an denen man
jederzeit und problemlos ins Internet gehen kann. Im Untergeschoss gibt es ein paar
Vorlesungsräume und den etwas labyrinthartigen Weg in die anderen Unigebäude. Dort befinden
sich auch, wieder nur durch eine Glaswand getrennt, die riesigen Arbeitsräume, die sich vor allem
zur Prüfungszeit füllen. Ich habe nicht übertrieben, als ich anmerkte, dass an der Uni Island absolut
alles online abläuft. Die Ugla (der Eule, der Onlineportal der Uni), ist des isländischen Studenten
der treuester Freund. Auf Ugla kann man sich alle Vorlesungen anhören, sie alle werden
aufgezeichnet. Dort finden auch die Examen statt. Bis zur Endprüfung muss man also in der Uni
überhaupt nicht körperlich anwesend sein, und selbst da sitzt man in einem Computerraum der Uni
und muss unter Überwachung eines Lehrers an einem der allgegenwärtigen Macs den Online-Test
machen. Diese übertriebene Modernität zieht sich durch das ganze Leben der Isländer: Jede
Gruppenarbeit macht man über Google Docs, und auf Facebook sind nicht nur alle Bars und Läden
vertreten (die oft keine andere Homepage außer vielleicht Myspace haben), sondern auch ganze
Familien, und jeder der noch so jungen Geschwister, der kleinen -sons und -dottirs, ist verlinkt. Das
sind übrigens keine Familiennamen (die haben Isländer nicht), sondern Vatersnamen mit dem
Anhängsel "Sohn von" bzw. "Tochter (dottir) von". So ist es auch unter Erasmus-Studenten auf
Island der Brauch, sich auf Facebook auf die Isländische Art und Weise umzubenennen.
Ja, kaum jemand widersteht dort der Anziehung des sozialen Netzwerks: alle
Veranstaltungen, Partys und Ausflüge werden darüber organisiert. Nach einiger Zeit auf Island
bekommen die meisten Studenten auch ihr typisches Profilfoto: in der Luft springend vor einem
Gletscher. Oder zumindest tiefsinnig schauend und im Hintergrund die Schönheit der isländischen
Natur. Die am meisten Kreative fotografieren, wie Guðstein Eyjólfsson sich dir Kravatte zubindet
oder eine andere Zeichnung auf Reykjaviks Wänden. Auch ist es nicht zu vermeiden, in Island nicht
nur das "jau" und "nei" ständig zu benutzen, sondern auch bei Zustimmung wie jeder anständige
Isländer tief einzuatmen oder um jeder Lebenssituation mehr Bedeutung zu verleihen, sehr ernst
gucken und ein "jajja" ausstoßen - selbst wenn man kein einziges Wort Isländisch kann. Auch
typisch ist, dass ein Erasmus-Student, vor allem wenn der Winter naht, wenn er weiblich ist, zu
stricken beginnt, und wenn er männlich ist, auf dem Platz vor der Kirche Fußball spielt. Wobei die
Frauen auch immer wieder das Stricken den Männern (vergeblich) überlassen wollen, es ist sowieso
eine ursprünglich männliche Sache auf Island, und selbst gerne Fußball spielen. So viel zu dem
Kampf der Geschlechter. Dass es schon von Anfang an zu speziellen "Erasmus-Beziehungen" und
Freundschaften kommt, die typisch für jedes Auslandssemester sind, egal in welchem Land,
brauche ich nicht zu erwähnen. Auch wenn manche davon ein trauriges Ende erwartet, bleiben viele
der Freundschaften und manch eine Liebe bestehen, man schreibt einander und besucht sich in ganz
Europa, und so wird Island für einen, der dort ein Semester verbracht hat, für immer zum
Mittelpunkt der Welt.