definition der zeitgeist-bewegung

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definition der zeitgeist-bewegung
DEFINITION DER
ZEITGEIST-BEWEGUNG
DIE REALISIERUNG EINES NEUEN
GEDANKENGANGS
IN BEARBEITUNG
Letzte Aktualisierung: 31.08.2013
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Danke für deine Hilfe!
„Die enormen und sich weiterhin beschleunigenden Entwicklungen in Wissenschaft
und Technik wurden nicht von einer gleichen Entwicklung in sozialen, wirtschaftlichen
und politischen Bereichen begleitet. [...] Wir beginnen nun [...] gerade erst das
Potenzial zu entdecken, welches uns ermöglicht unsere Kultur außerhalb von
Technologie, speziell in den gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen
Bereichen zu entwickeln. Man kann mit Sicherheit sagen, dass [...] gesellschaftliche
Erfindungen, wie moderner Kapitalismus, Faschismus und Kommunismus, im
Anbetracht der Anpassung einer modernen Gesellschaft an moderne Methoden, als
primitive Experimente gelten werden.“
- Dr. Ralph Linton
www.zeitgeistmovement.de
www.thezeitgeistmovement.com
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DEFINITION DER ZEITGEIST-BEWEGUNG
von Peter Joseph
Englisches Original
http://thezeitgeistmovement.com/orientation
Ehrenamtlich übersetzt vom TZM Linguistik Team Deutschland
und zahlreichen weiteren Helfern.
http://www.zeitgeistmovement.de/mitmachen/teams/linguistik-team/
Projektkoordination:
Wolfram Kalkofen
[email protected]
2
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
1) Vorwort
Teil 1 - Eine Einleitung
2) Überblick
3) Das wissenschaftliche Weltbild
4) Optimierte Lösungen
5) Logik vs. Psychologie
6) Das Plädoyer für menschliche Einheit
7) Das letzte Argument: Die Menschliche Natur
Teil 2 - Gesellschaftskrankheit & die Anti-Ökonomie
8) Definition der Volksgesundheit
9) Wirtschaftsgeschichte
10) Markteffizienz vs. technische Effizienz
11) Wertesystem-Störung
12) Struktureller Klassismus, der Staat & Krieg
Teil 3 - Ein neuer Gedankengang
13) Einleitung zu nachhaltigem Denken
14) Echte wirtschaftliche Faktoren
15) Post-Knappheits-Trends, Möglichkeiten und Effizienz
16) Die industrielle Regierung
17) Lifestyle, Freiheit und der Menschheitsfaktor
Teil 4 - Die Zeitgeist-Bewegung
18) Das Zeitalter der Destabilisierung
19) Übergang & die Hybrid-Ökonomie
20) Die Zeitgeist Bewegung werden
Anhang
21) A: Glossar
22) B: Die wissenschaftliche Methode
23) C: Literaturverzeichnis
24) D: TZM: Struktur und Prozesse
3
Vorwort
Vorwort
„Das Ergebnis einer jeden ernst zu nehmenden Recherche kann nur das Hervorgehen von zwei
Fragen aus einer Einzelnen sein.“
- Thorstein Veblen
Herkunft des Namens
„Die Zeitgeist-Bewegung“ (TZM - The Zeitgeist Movement) fasst eine soziale
Bewegung zusammen, die im Folgenden weiter beschrieben wird. Der Name hat
keinen besonderen historischen Bezug zu etwas kulturell Spezifischem und ist nicht
mit zuvor existierenden Phänomenen mit ähnlichen Bezeichnungen zu verwechseln.
Vielmehr basiert der Name auf der direkten Bedeutung der Begriffe.
Das Wort „Zeitgeist“ wird wie folgt definiert: „Das intellektuelle, moralische und
kulturelle Klima einer Zeit“. Das Wort „Bewegung“ beinhaltet „Veränderung“.
Demzufolge ist die „Zeitgeist-Bewegung“ eine Organisation, die Veränderung im
vorherrschenden intellektuellen, moralischen und kulturellen Klima anstrebt.
Dokumentstruktur
Der folgende Text wurde verfasst, um so knapp und doch so umfassend wie möglich
zu sein. Seine Struktur besteht aus einer Reihe von Texten, die nach einem
bestimmten Schema angeordnet sind, sodass sie in
einem größeren Zusammenhang gesehen werden können. Obwohl jeder Einzeltext
auch für sich selbst steht, ergibt sich der größere Kontext dadurch, dass
alle Texte zusammen weit gefasste Gedankengänge im Sinne einer möglichst
effizienten Organisation der Menschheit unterstützen. Lesern dieser Texte
werden Wiederholungen auffallen. Diese sind beabsichtigt, denn
Wiederholungen und Betonungen werden als hilfreich angesehen, da
sie Menschen mit weniger Bezug zu solchem Material den Einstieg erleichtern.
Außerdem wurde viel Energie dafür investiert, mit Quellenverweisen in Form von
Fußnoten und Anhängen in den Texten auf weitere Recherchen zu verweisen, die für
eine detaillierte Analyse unabdingbar sind. Zudem wird - angesichts der Bezüge
zwischen den Texten und deren Inhalten - ermöglicht, die Verständlichkeit zu
erhalten und dem Leser weiterführende und selbstständige Recherche offen zu
legen, sofern daran Interesse besteht.
Der Organismus des Wissens
Wie bei jeder Form von Forschungsergebnissen handelt es sich
um aufeinander aufbauende Informationsbestandteile. Deren Sichtung,
Bewertung, Dokumentation und Integration in anderes bereits existierendes oder
zukünftiges Wissen ist die Methode, durch die sich sämtliche differenzierbare Ideen
entwickeln.
Es ist von großer Wichtigkeit, dieses Kontinuum zu verstehen, weil es
zusammenfasst, wie wir denken und an was wir glauben und auch warum wir dies
tun. Denn Informationen sind immer separat von ihrem Autor - ob Einzelperson oder
Institution - zu sehen. Informationen können nur richtig bewertet werden, indem man
sie einem systematischen Prozess von Vergleichen mit anderen
physikalisch verifizierbaren Beweisen aussetzt. Dies führt dazu, dass jene
4
Vorwort
Informationen, abhängig von der Beweislage, sich entweder als wahr oder unwahr
herausstellen.
Dieses erwähnte Kontinuum beinhaltet außerdem, dass es keinen empirischen
„Ursprung“ von Ideen gibt. Von einem wissenschaftstheoretischen Standpunkt aus,
wird Wissen meist durch Kommunikation innerhalb unserer Spezies bearbeitet,
erweitert und zu seiner Entstehung gebracht. Ein jedes Individuum, mit seinen oder
ihren grundsätzlich verschiedenen Erfahrungen und Neigungen, dient als spezieller,
verarbeitender Filter, der eine Idee verändern kann. Gemeinsam bilden wir
Individuen das, was man als „Gruppenverstand“ bezeichnen könnte. Dieser stellt
einen größeren gesellschaftlichen Prozessor dar, durch den sich idealerweise die
Bestrebungen von Individuen verbinden. Die traditionelle Methode von Datentransfer
beispielsweise durch die Literatur, nämlich das Weitergeben von Büchern von einer
Generation an die Folgende, war ein bemerkenswerter Pfad dieser
„Gruppenverstands“-Interaktion.1
Isaac Newton hat diese Tatsache womöglich am besten mit folgenden Worten
ausgedrückt: „Wenn ich weiter sehen konnte, so deshalb, weil ich auf den Schultern
von Riesen stand.“2 Dies wird hier erwähnt, um den Leser erneut auf die kritische
Abwägung von Informationen aufmerksam zu machen, weil es, genau genommen,
eine vermeintliche „Quelle“ im empirischen Sinne nicht gibt. Nur für temporäre,
traditionelle Muster unserer Kultur, wie zum Beispiel den Anhang eines Buches als
Referenz für spätere Recherchen, ist solch ein Vorgehen von Bedeutung.
Demnach ist keine Aussage irrtümlicher als „Dies ist meine Idee“. Solche Ansichten
sind Nebenprodukte der materialistischen Kultur, die uns nach materiellen
Belohnungen streben lässt – normalerweise nach Geld im Austausch gegen die
Illusion der „eigenen“ Kreationen. Sehr oft liegen auch Ego-Assoziationen vor, wenn
jemand Ansehen für sein „Mitwirken“ an einer Idee oder Erfindung verlangt.
Das heißt aber nicht, keine Dankbarkeit oder keinen Respekt jenen gegenüber zu
zeigen, die Engagement und Ausdauer für die Erweiterung des Wissens gezeigt
haben. Auch heißt dies nicht, die Notwendigkeit und Wichtigkeit derer abzuwerten,
die einen erfahrenen und spezialisierten „Expertenstatus“ in einem bestimmten
Gebiet erreicht haben. Die Beiträge brillanter Wissenschaftler, Denker und
Ingenieure unserer und auch vergangener Tage werden in diesem Text zitiert und
dienen als Teil des größeren Datenkomplexes, den Du im Begriff bist, zu lesen.
Besonders zu erwähnen sind hier: R. Buckminster Fuller, Jacque Fresco, Jeremy
Rifkin, Ray Kurzweil, Robert Sapolsky, Thorstein Veblen, Richard Wilkinson, Dr.
James Gilligan, Carl Sagan, Nicola Tesla, Stephen Hawking und viele weitere
Wissenschaftler. Allen engagierten Köpfen, die zu einer besseren Welt beitragen, sei
an dieser Stelle große Dankbarkeit ausgesprochen. Wenn es um den Grad des
Verständnisses geht, sei ein weiteres Mal gesagt, dass Informationen selbst keine
Quelle, keine Loyalität, keinen Preis, kein Ego und keine Voreingenommenheit
besitzen. Sie entstehen, korrigieren und entwickeln sich selbst - wie ein Organismus durch unseren „Gruppenverstand“, an dem wir alle teilhaben.
1
Carl Sagan schrieb in seinem Werk „Cosmos“ im Bezug auf die Zerstörung der Bibliothek von Alexandria, die
als größte und bedeutendste Bibliothek der antiken Welt angesehen wird: „Es war, als ob die gesamte Zivilisation
sich einer selbst-verschuldeten Hirn-Operation unterzogen hätte und all ihre Erinnerungen, Entdeckungen, Ideen
und Leidenschaften irreparabel zerstört wurden. „ Cosmos, Sagan, Books, New York, 1980, Kapitel 13
2
„The Correspondence of Isaac Newton“, 1. Auflage, bearbeitet von HW Turnbull, 1959, Seite 416
5
Vorwort
Demzufolge beansprucht die Zeitgeist-Bewegung nicht, die Quelle der Ideen zu sein.
Sie ist am ehesten als eine aktivistische bildende Institution zu verstehen, die
versucht, ein gemeinsames Dach zu schaffen, unter dem bereits existierende und
noch entstehende wissenschaftliche Resultate zu einem gemeinsamen
gesellschaftlichen Imperativ zusammengefasst werden können.
Webseiten und Materialien
Die folgenden zehn Websites sind offiziell mit den weltweiten Aktionen der ZeitgeistBewegung zu assoziieren:

Globaler Hauptknotenpunkt: http://www.thezeitgeistmovement.com
Dies ist die Hauptseite und Knotenpunkt für TZM-bezogene
Aktionen/Ereignisse/Updates.

Globaler Chapter-Knotenpunkt: http://www.tzmchapters.net/
Dies ist der globale Hauptknotenpunkt für Informationen und Material
der Chapter. Er bietet Karten, Chapter-Werkzeuge und Weiteres.

Globaler Blog: http://blog.thezeitgeistmovement.com/
Dies ist der offizielle Blog, der das Einsenden von in einem redaktionellen Stil
geschriebenen Texten bietet.

Globales Forum: http://www.thezeitgeistmovementforum.org/
Dies ist unser offizielles Forum für Mitglieder, um über Projekte zu diskutieren
und Ideen weltweit zu teilen.

Zeitgeist Media Project: http://zeitgeistmediaproject.com/
Die Seite des ZMP stellt Links zu diversen hörbaren, visuellen oder
literarischen Werken unserer Mitglieder zu Verfügung. Nutzer stellen ihre
Werke zur Verfügung und verwenden die Seite oft als Werkzeug für FlyerGrafiken, Video-Präsentationen, Logo-Animationen und dergleichen.

ZeitNews: http://www.zeitnews.org/
ZeitNews ist ein Nachrichtenservice, der in sozial relevanten Artikeln über
Fortschritte in Wissenschaft und Technologie berichtet.

Weltweiter Zeitgeist Tag („ZDay“): http://zdayglobal.org/
Diese Seite wird alljährlich aktiv, um unseren globalen „ZDay“ zu ermöglichen,
der jedes Jahr im März stattfindet.

Zeitgeist Media Festival: http://zeitgeistmediafestival.org/
Diese Seite wird alljährlich aktiv, um unser globales „Zeitgeist Media Festival“
zu ermöglichen, welches jedes Jahr im August stattfindet.

Globales Institut für Neugestaltung: http://www.globalredesigninstitute.org/
Das Globale Institut für Neugestaltung ist ein virtuelles Grafik-Interface nach
dem „Denkfabrik“-Modell, welches ein System aus Karten und Daten nutzt, um
6
Vorwort
technische Änderungen im Sinne des Gedankengangs von TZM in diversen
Regionen darzustellen.

Soziales Netzwerk der Bewegung: http://tzmnetwork.com/
Dieses Netzwerk ist eine verflochtene Website, die viele bekannte soziale
Netzwerke miteinander verbindet, indem sie einen zentralen Knotenpunkt
durch viele verschiedene Medien erschafft.
Allgemeine soziale Netzwerke
TZM Global auf Twitter: http://twitter.com/#!/tzmglobal
TZM Global auf Facebook: http://www.facebook.com/tzmglobal
TZM Global Youtube: http://www.youtube.com/user/TZMOfficialChannel
7
Überblick
Teil 1: Eine Einleitung
Überblick
„Weder die großen politischen und wirtschaftlichen Mächte, noch die überspezialisierten Experten,
noch die allgemeine Bevölkerung erkennt, dass [...] es bereits heute äußerst machbar ist, jedem
Menschen auf dieser Welt einen besseren Lebensstandard, als wir jemals gekannt haben‘ zu
garantieren. Es muss nicht mehr heißen: „Entweder Du oder ich“. Egoismus, wie durch den
Überlebenskampf vorgegeben, ist unnötig und folglich immer eher unvernünftig. Krieg ist überholt.“3
- R. Buckminster Fuller
Über uns
Die 2008 gegründete Zeitgeist-Bewegung ist eine sich
für Nachhaltigkeit einsetzende Gruppe, die durch ein Netzwerk
aus regionalen Chaptern, Projektteams, öffentlichen Events,
Medienveröffentlichungen und Wohltätigkeitsarbeit agiert.
Der Aktivismus von TZM basiert ausschließlich auf gewaltfreien
Kommunikationsmethoden mit dem Hauptfokus darauf, die Öffentlichkeit über den
wahren Ursprung vieler persönlicher, gesellschaftlicher und ökologischer Probleme
aufzuklären. Damit geht auch das Potenzial der Technologie einher, Lösungen zu
finden und eine Verbesserung des menschlichen Daseins zu ermöglichen, welches
jedoch bisher aufgrund der Barrieren in unserem Gesellschaftssystem nicht
angewendet werden kann.
Obwohl die Bezeichnung „Aktivismus“ wörtlich genommen zutreffend ist, sollte man
die Öffentlichkeitsarbeit der Zeitgeist-Bewegung nicht missverstehen und den
traditionellen aktivistischen Protestaktionen, wie wir sie in der Geschichte gesehen
haben, zuordnen. Vielmehr drückt sich TZM durch gezielte, rational bildende Projekte
aus, die nicht versuchen aufzuzwingen, vorzuschreiben oder blind zu überzeugen.
Stattdessen geht es darum, einen Gedankengang anzustoßen, der logisch
selbsterschließend ist, wenn die grundlegenden Überlegungen zu „Nachhaltigkeit“4
und „Volksgesundheit“5 durch eine wissenschaftliche Perspektive in Betracht
gezogen werden.
Nichtsdestotrotz ähnelt das Streben der Zeitgeist-Bewegung den traditionellen
Bürgerrechtsbewegungen der Vergangenheit darin, dass sie die wahrhaftig unnötige
Unterdrückung in unserem Gesellschaftssystem enthüllen, die strukturell und
3
Critical Path, R. Buckminster Fuller, St. Martin's Press, 1981, Introduction, xxv
Der Begriff Nachhaltigkeit wird allgemein wie folgt definiert: „Prinzip, nach dem nicht mehr verbraucht werden
darf, als jeweils nachwachsen, sich regenerieren, künftig wieder bereitgestellt werden kann“
(http://www.duden.de/rechtschreibung/Nachhaltigkeit ).
Der Begriff wird heute oft in einem ökologischen Kontext benutzt/verstanden. TZMs Kontext geht darüber hinaus,
indem die kulturellen und verhaltenswissenschaftlichen Nachhaltigkeitsaspekte mit einbezogen werden, bei dem
die Wertigkeit eines Glaubenssystems evaluiert wird und dessen, oft komplexe, nicht offensichtliche
Kausalzusammenhänge.
5
Der Begriff „Volksgesundheit“ (auch öffentliche Gesundheit) wird oft wie folgt definiert: „Hygiene und Öffentliche
Gesundheit verstehen sich als die Wissenschaft und Lehre von der Erhaltung und Förderung der Gesundheit
sowie der Verhütung und Kontrolle von Krankheiten sowohl für den Einzelnen als auch für die Bevölkerung“.
http://de.wikipedia.org/wiki/Volksgesundheit
In diesem Text wird sie als Messinstrument für körperliches, psychologisches und demnach gesellschaftliches
Wohlergehen einer Bevölkerung gesehen. Dies wird als ultimativer Maßstab für den Erfolg oder Misserfolg eines
angewandten Gesellschaftssystems gesehen.
4
8
Überblick
soziologisch menschliches Wohlergehen und Potenzial für einen Großteil der
Weltbevölkerung einschränkt. Ganz zu schweigen von der Unterdrückung weit
gefasster, grundlegender Verbesserungen aufgrund der etablierten Methoden.
Wie in späteren Kapiteln näher beschrieben wird, weist das aktuelle
Gesellschaftsmodell nicht nur enorme Ausmaße an zerstörerischer, wirtschaftlicher
Ineffizienz auf, es stellt zudem eine ökonomische Gruppe oder „Klasse“ von
Menschen über andere, wodurch ein technisch unnötiges Ungleichgewicht und
relative Armut erzeugt wird. Das könnte man angesichts seiner Auswirkungen als
„wirtschaftlichen Fanatismus“ bezeichnen. Die hieraus resultierenden Konsequenzen
sind nicht weniger tückisch als die Diskriminierung von Menschen wegen ihres
Geschlechts, ihrer Ethnie, Religion oder Überzeugung.
Dieser, unserem System inhärente „Fanatismus“ ist nur ein Teil eines großen
Problems, welches man „strukturelle Gewalt“6 nennen könnte. Dadurch wird ein
weites Spektrum an „eingebautem“ Leid, Unmenschlichkeiten und Mangel erzeugt,
welches heutzutage von der unwissenden Masse einfach als „Normalität“
hingenommen wird. Diese Form der „Gewalt“ zieht sich weiter und tiefer als viele sich
vorstellen können. Das Ausmaß, indem unser sozioökonomisches System
unnötigerweise unsere Volksgesundheit mindert und den Fortschritt unterdrückt,
kann nur klar erkannt werden, wenn man eine objektiv-distanzierte „technische“ oder
„wissenschaftliche“ Sichtweise auf diese gesellschaftlichen Belange hat und an den
traditionellen - oft blendenden - Gewohnheiten vorbei sieht.
Die relative Natur unseres Bewusstseins fällt oft Annahmen vermeintlicher
„Normalität“ zum Opfer. Dadurch erscheint beispielsweise Mangel und Armut von
über 3 Milliarden Menschen7 als natürlicher unveränderbarer gesellschaftlicher
Zustand. Zumindest für diejenigen, die sich nicht der tatsächlich produzierten Menge
an Lebensmitteln bewusst sind, wo diese enden oder verschwendet werden und sich
nicht über die rein technische Natur der reichhaltigen Möglichkeiten moderner,
effizienter Lebensmittelproduktion im Klaren sind.
Diese ungesehene „Gewalt“ kann auch auf kulturelle Memen8 übertragen werden.
Ebenso können gesellschaftliche Traditionen und deren psychologische
Auswirkungen - ohne schädliche Absicht - für den Menschen schädliche Folgen
hervorrufen. Es gibt beispielsweise einige religiöse Kulturen, die jegliche Form der
medizinischen Behandlung ablehnen.9 Viele würden sich über die moralischen und
ethischen Werte einer Kultur streiten, in der ein Kind an einer gewöhnlichen
Krankheit stirbt, die durch fortschrittliche wissenschaftliche Anwendungen hätte
behoben werden können, wenn sie nur zugelassen würde. Wir würden alle
6
Der Begriff „strukturelle Gewalt" wird für gewöhnlich Johan Galtung zugeschrieben, der diesen in dem Artikel
„Gewalt, Frieden und Friedensforschung" (Journal of Peace Research, Vol. 6, No. 3, 1969, pp. 167-191)
verwendete. Der Begriff bezieht sich auf eine Form der Gewalt, bei der eine gesellschaftliche Struktur oder
gesellschaftliche Institution den Menschen schadet, indem sie sie daran hindert ihre Grundbedürfnisse zu decken.
Später machte der Kriminalpsychologe Dr. James Gilligan folgende Trennung zwischen „verhaltensbedingter-"
und „struktureller" Gewalt: „Die tödlichen Effekte von struktureller Gewalt wirken kontinuierlich, anstatt impulsiv,
da Morde, Suizide...Kriege und andere Formen der verhaltensbedingten Gewalt zu einem Zeitpunkt geschehen."
(James Gilligan, Violence, G.P. Putnam, 1996, p192)
7
http://www.globalissues.org/article/26/poverty-facts-and-stats (Sourcing 2008 World Bank Development
Indicators)
8
Ein Mem bezeichnet einen einzelnen Bewusstseinsinhalt (zum Beispiel einen Gedanken), der durch
Kommunikation weitergegeben und damit vervielfältigt werden kann. (http://de.wikipedia.org/wiki/Mem )
9
http://uk.lifestyle.yahoo.com/religious-parents-causing-suffering-sick-kids-says-report-115021612.html
9
Überblick
übereinstimmen, dass der Tod des Kindes in diesem Fall nicht durch die Krankheit
bewirkt wurde, sondern durch die gesellschaftlichen Bedingungen, die es nicht
erlaubten, eine Lösung anzuwenden.
Als umfassenderes Beispiel: Es wurden einige Studien zum Thema „soziale
Ungleichheit“ und deren Auswirkungen auf die Volksgesundheit durchgeführt. Wie in
weiteren Kapiteln ausgeführt wird, gibt es ein breites Spektrum an physischen sowie
mentalen Gesundheitsproblemen, die aus diesen Bedingungen resultieren,
einschließlich Neigungen zu physischer Gewalt, Herzkrankheiten, Depressionen,
Bildungsdefiziten und viele weitere Schäden - Schäden, die letztendlich drastische
gesellschaftliche Folgen für uns alle haben.10
Diese Kausalitäten bestehen oft durch existierende Traditionen, die durch die Kultur
etabliert worden sind, ungehindert und unnötigerweise fort. Das heißt unterm Strich:
Wenn wir einen Schritt zurücktreten und unsere neu gewonnenen Erkenntnisse über
diese Kausalitäten und die schädlichen Auswirkungen auf das menschliche Dasein
bedenken, so landen wir unweigerlich im Kontext der „Bürgerrechte“ und
gesellschaftlicher Nachhaltigkeit.
Diese neue Bürgerrechtsbewegung macht es sich zum Ziel, unser Wissen und
technische Fähigkeiten zu teilen, um nicht nur Probleme zu lösen, sondern auch ein
wissenschaftlich hergeleitetes Gesellschaftssystem zu ermöglichen, das unser
Potenzial und Wohlbefinden tatsächlich optimiert. Alles andere wird in
Ungleichgewicht und gesellschaftlicher Destabilisierung resultieren, da das Abweisen
solcher Missstände lediglich eine versteckte Form der Unterdrückung ist.
Um den Gesamtkontext nicht außer Acht zu lassen: TZM arbeitet nicht nur daran,
das Bewusstsein über solche Probleme und deren wahre Ursache zu wecken,
sondern auch daran, unser Potenzial, noch weitreichender als solche direkten
Problemlösungen, aufzuzeigen. Hierdurch werden dann zum einen die menschlichen
Bedingungen deutlich verbessert werden und zum anderen Probleme gelöst werden,
die noch nicht einmal wirklich erkannt worden sind.11
Dies wird durch die Anerkennung wissenschaftlicher Begründungen und der
Anwendung der wissenschaftlichen Methode erreicht, wobei ein nahezu empirischer
Gedankengang etabliert wird, der alles andere unter sich stellt. Ein Gedankengang,
durch den die gesellschaftliche Organisation einen deutlicheren Zusammenhang für
Nachhaltigkeit finden kann, den es so noch nie gegeben hat.
Fokus
TZMs Aktivitäten können folgendermaßen zusammengefasst werden:
Diagnostizieren, Bilden und Erschaffen
Diagnostizieren:
Die Diagnose ist die Identifizierung einer Gegebenheit und der Grund für etwas. Um
die Kausalität hinter den vielen gesellschaftlichen und ökologischen Problemen, die
wir heute haben, zu entschlüsseln, reicht Beschweren oder Kritisieren der Aktionen
von Menschen oder bestimmten Institutionen nicht aus. Eine tatsächliche Diagnose
10
11
Literaturempfehlung: The Spirit Level von Richard Wilkinson und Kate Pickett, Penguin, March 2009
Mehr zu dieser Thematik im Kapitel „Optimierte Lösungen“
10
Überblick
muss den kleinsten gemeinsamen Nenner identifizieren und von dieser Ebene aus
die Lösung begründen.
Das Problem heutzutage ist, dass oft ein „verzerrter Bezugsrahmen“ wahrgenommen
wird, bei dem eine kurzsichtige Fehldiagnose eines bestimmten Problems anhält.
Zum Beispiel ist die traditionell etablierte Lösung für die Reformation von
menschlichem Verhalten für viele vermeintliche „kriminelle Aktivitäten“ eine
bestrafende Inhaftierung. Doch dies sagt nichts über die tieferen Motivationen des
„Kriminellen“ aus und was ihn zu solch einer Tat führte.
Aus dieser Perspektive wird jedoch eine Lösung komplexer und abhängig von den
symbiotischen Beziehungen und deren physischen und kulturellen Aspekten, die
sich über einen längeren Zeitraum angehäuft haben.12 Das ist nichts anderes, als
wenn eine Person an Krebs stirbt. Es ist nicht im direkten Sinne der Krebs, der ihn
tötet, sondern die Faktoren, die zu dem Krebs geführt haben.
Bilden:
Wir als eine Bildungsbewegung agieren unter der Annahme, dass Wissen das
mächtigste Werkzeug ist, um lang anhaltende, wichtige gesellschaftliche
Veränderungen in der weltweiten Gemeinschaft zu erschaffen. Demnach gibt es für
uns nichts Wichtigeres, als die Qualität der persönlichen Bildung und die Fähigkeit,
diese Ideen effektiv und konstruktiv an andere zu kommunizieren.
Bei TZM geht es nicht darum, starren festgelegten Ideen zu folgen. Solche
begrenzten und geschlossenen Ansichten sind typisch für religiöse und politische
Sekten, die nicht die Emergenz anerkennen, die TZMs „Anti-Establishment“13-Natur
zugrunde liegt. TZM zwingt in diesem Sinne nichts auf. Es ist eher so, dass daran
gearbeitet wird, den Menschen einen offenen Gedankengang klar zu machen,
dessen Wichtigkeit dann möglichst selbst, auf einem eigenen Level und im eigenen
Tempo, verstanden wird.
Weiterhin ist Bildung nicht nur ein Leitbild für die, die mit dem Gedankengang und
den Anwendungsmöglichkeiten14 von TZM noch nicht vertraut sind, sondern ebenso
für die, die diese bereits kennen. Genauso wie es kein „Utopia“ gibt, gibt es kein
Endstadium von Erkenntnissen.
Erschaffen:
Obwohl Bildung wichtig ist, um die Werte der Menschen anzupassen, so dass alle
Menschen die Bedeutung solcher gesellschaftlicher Veränderungen erkennen,
arbeitet TZM ebenso daran, wie ein Gesellschaftssystem aussehen könnte, welches
12
Die Verbindung zwischen menschlichem Verhalten (in diesem Kontext das asoziale Verhalten, wie durch die
Gesetze der Gesellschaft vorgeschrieben) und den Umwelteinflüssen durch die Erziehung/Erfahrungen einer
Person steht nun außer Frage. Ein Begriff, der in diesem Kontext wichtig zu erwähnen wäre ist: Die „Bio-PsychoSoziale“-Natur des menschlichen Organismus.
13
Der Begriff „Anti-Establishment“ wird für gewöhnlich im Zusammenhang mit direkter Opposition gegen die
aktuelle etablierte Gruppe benutzt. Hier ist der Kontext eher wörtlich, da TZM selbst daran arbeitet, sich selbst als
Einheit nicht zu institutionalisieren, sondern eher als ein Ausdruck; ein Symbol einer neuen Art zu Denken oder
Weltansicht zu verstehen, die einfach keine Grenzen hat.
14
Die Begriffe „Gedankengang“ und „Anwendungsmöglichkeiten“ werden in diesem Text häufiger vorkommen, da
sie miteinander verbunden sind. Bitte schau dir das Glossar Anhang A für weitere Ausführungen an.
11
Überblick
konkret mit optimaler wirtschaftlicher Effizienz15 - auf der Basis unseres aktuellen
Stands der technischen Möglichkeiten - aussehen und funktionieren würde.
Nur ein Beispiel sind Programme wie das „Globale Institut für Neugestaltung“16. Dies
ist ein digitales „Denk-Fabrik“-Projekt, das daran arbeitet, die gesellschaftliche
Infrastruktur aufzuzeigen, die mit dem heutigen Stand der Technologie möglich wäre.
Dabei sollen technische Möglichkeiten mit dem wissenschaftlichen Gedankengang
kombiniert werden, um so die effizientesten technischen Infrastrukturen in einer
bestimmten Region aufzuzeigen.
Es ist wichtig, kurz zu erwähnen, dass TZMs „Regierungs“-Ansatz wenig mit den
heutigen oder historischen Methoden von Regierung zu tun hat. Er entspringt eher
einem interdisziplinären Zusammenspiel verschiedener bewiesener
Optimierungsmethoden, vereint über einen ausgewogenen Systemansatz, der
flexibel gegenüber Verbesserungen ist17.
Welcher Bezugsrahmen ist zu jedem Zeitpunkt „am ehesten vollständig“? Derjenige,
der das größte interagierende beobachtete System mit einbezieht. Dies wird später
weiter erläutert. Das ist die Natur der Ursache- und Wirkungs-Synergie, die die
technische Basis für eine wahrhaftig nachhaltige Wirtschaft darstellt.
Naturgesetz/Ressourcenbasierte-Wirtschaft
Heute gibt es mehrere Begriffe, um diese grundlegend logische Basis für ein stärker
wissenschaftlich orientiertes Gesellschaftssystem in verschiedenen Gruppen zu
beschreiben. Dies beinhaltet Titel wie: „Ressourcenbasierte Wirtschaft“ oder
„Naturgesetz-Wirtschaft“. Obwohl diese Titel bestimmte vergangene Gegebenheiten
zitieren und teilweise beliebig zu wählen sind, wird hier der Titel „Naturgesetz/Ressourcenbasierte Wirtschaft“ (NGRBW) benutzt, um dieses Konzept zu
beschreiben, da er die genaueste semantische Grundlage bietet18.
Eine Naturgesetz-/Ressourcenbasierte Wirtschaft wird wie folgt definiert: „Ein
adaptives sozio-ökonomisches System, das aktiv - direkt aus den herrschenden
wissenschaftlichen Gesetzen der Natur - abgeleitet wird.“
Allgemein gesagt ist die Beobachtung, dass wir - unter Zuhilfenahme von
soziologisch gezielten Forschungen und getesteten Erkenntnissen in Wissenschaft
und Technik - nun in der Lage sind, logisch bestimmte gesellschaftliche Methoden zu
erreichen, die menschliche Bedürfnisse viel effektiver decken können. Wir sind nun in
der Lage, die Volksgesundheit drastisch zu verbessern und unseren Lebensraum
besser zu erhalten. Weiterhin können wir viele gesellschaftliche Probleme, an denen
15
Bitte schau dir das Glossar - Anhang A für weitere Ausführungen dieses Begriffes an. Weitere Erläuterungen in
Teil III.
16
http://www.globalredesigninstitute.org
17
Weitere Erläuterungen zum Thema „Regierung“ in Teil III
18
Der Begriff „Ressourcenbasierte Wirtschaft“ kann wörtlich interpretiert werden als „eine Wirtschaft, die auf
Ressourcen basiert“. Das hat in der Vergangenheit zu Verwirrung geführt, da man argumentieren könnte, alle
„Ökonomien“, „basierten“ per Definition auf „Ressourcen“. Der Begriff hat ebenfalls starke Assoziationen zu der
Organisation „The Venus Project“, die beansprucht den Begriff und die Idee erfunden zu haben und auch
versucht hat diesen Begriff zu rechtlich zu schützen (http://tdr.uspto.gov/search.action?sn=77829193 ). Der
Begriff „Naturgesetz/Ressourcenbasierte-Wirtschaft“ wird als vollständiger angesehen, nicht nur um assoziative
Verwirrung zu vermeiden, sondern ebenfalls wegen der semantischen Genauigkeit des „NGRBW“ Begriffes
selbst, da deutlicher auf die physischen Gesetze der Natur und deren Prozesse Bezug genommen wird, nicht nur
auf planetare Ressourcen.
12
Überblick
wir heutzutage leiden und die aufgrund ihrer weiten Verbreitung leider als
„unveränderbar“ angenommen werden, strategisch reduzieren oder sogar
verhindern.
Seit der Anerkennung der Wissenschaft ist diese grundlegende Schlussfolgerung im
Prinzip nichts Neues und viele namhafte Individuen und Organisationen - sowohl in
der Vergangenheit als auch heute - haben zu einer wissenschaftlichen
Neuorientierung der Gesellschaft auf der einen oder anderen Ebene hingewiesen.
Zum Beispiel: Technocracy Inc., R Buckminster Fuller, Thorstein Veblen, Jacque
Fresco, Carl Sagan, H.G. Wells, The Singularity Institute und viele weitere.
Gedankengang
Gleichermaßen haben solche Persönlichkeiten oder Gruppen versucht, damals
aktuelle technologische Anwendungen zu schaffen. Zudem wurde daran gearbeitet,
aktuelle Möglichkeiten im Sinne dieses Gedankengangs anzuwenden, um neue
Effizienz und Problemlösungen zu ermöglichen, wie beispielsweise Jacque Frescos
„Stadtsysteme“19 oder R. Buckminster Fullers „Dymaxion Haus“20.
Doch so wichtig diese angewandten Ingenieurswissenschaften auch sind, ist es
wichtig sich in Erinnerung zu rufen, dass all diese spezifischen technologischen
Anwendungen nur vergänglich sein können, wenn die Evolution von
wissenschaftlichem Fortschritt und dessen technologischen Anwendungen in
Betracht gezogen wird. Das macht alle aktuellen Anwendungen von Technologie mit
der Zeit obsolet.
Deshalb ist das, was übrig bleiben kann, nur ein Gedankengang, der diesen
wissenschaftlichen Prinzipien zu Grunde liegt.
TZM ist demnach diesem Gedankengang ergeben - keinen Persönlichkeiten,
Institutionen oder temporären technologischen Fortschritten. Anstatt einer Person
oder einem statischen Plan zu folgen, folgt TZM dieser selbst-generierenden
Prämisse der Erkenntnisse. TZM handelt demnach in einer dezentralen
holographisch spiegelnden Weise. Dieser Gedankengang ist dabei der Einfluss für
Handlungen.
Vom Aberglauben zur Wissenschaft
Ein erwähnenswertes Muster ist, wie die Evolution menschlichen Wissens über uns
selbst und unseren Lebensraum fortschreitet; weg von alten Ideen und Ansichten,
die aufgrund von Schema-ändernden Informationen nicht länger wissenschaftlich
gestützt werden können.
Ein Stichwort, das man hier erwähnen sollte, ist der Aberglaube, welcher in vielen
Fällen als ein Glaube gesehen werden kann und früher durch
Erfahrung/Wahrnehmung unterstützt wurde, aber nun aufgrund von
widersprüchlichen Daten nicht mehr tragbar ist.
19
20
Jacque Fresco, The Best That Money Can't Buy, Global Cybervisions, 2002, Kapitel 15
http://en.wikipedia.org/wiki/Dymaxion_house
13
Überblick
Zum Beispiel erscheinen - aufgrund des rapiden Wachstums an Informationen und
allgemeiner Bildung21 - dem Großteil der Menschen im Westen traditionelle religiöse
Denkweisen als unplausibel. Jedoch können die Ursprünge von Religionen zu Zeiten
zurückverfolgt werden, in denen die Menschen die Genauigkeit und Integrität solch
eines Glaubens - durch ihr begrenztes Wissen über ihre Umgebung - rechtfertigen
konnten.
Dieses Muster zeichnet sich in allen Erkenntnisbereichen ab, inklusive unseres
„akademischen Systems“. Sogar vermeintliche „wissenschaftliche“
Schlussfolgerungen können durch das Aufkommen von neuen Informationen und
Tests oft nicht mehr als haltbar angesehen werden22. Dennoch werden sie für
gewöhnlich - lediglich durch ihre Integration in die kulturelle Tradition - verteidigt.
Solche „etablierten Institutionen“ neigen entweder aufgrund von Ego, Macht,
Einkommen (Marktanteile) oder allgemeiner psychologischer Bequemlichkeit oft
dazu, sich selbst zu erhalten. Dieses Problem ist in vielerlei Hinsicht der Hauptgrund
für unsere gesellschaftliche Paralyse23. Demnach ist es sehr wichtig, dieses Muster
des Übergangs zu erkennen und zu verstehen sowie offen gegenüber neuen
Denkansätzen zu sein. Ganz zu schweigen davon, dass man sich von dem Konzept
der „etablierten Institutionen“ - die kulturell darauf programmiert worden sind sich
selbst zu erhalten, anstatt sich weiter zu entwickeln und zu ändern - verabschieden
sollte.
Von Tradition zur Emergenz
Dieser andauernde Zusammenstoß zwischen unseren kulturellen Traditionen und
unseren stetig wachsenden Archiven von neu aufkommendem Wissen ist im Kern
das, was den „Zeitgeist“ ausmacht. Ein Rückblick auf die Geschichte zeigt einen
langsamen Trend, weg von abergläubischen kulturellen Traditionen und Annahmen
über die Realität, hin zu der Beachtung von unserem neu erkannten Bezugspunkt
der aufkommenden wissenschaftlichen Kausalität.
Das ist, was die Zeitgeist-Bewegung im weitesten philosophischen Rahmen
repräsentiert: Eine Bewegung des kulturellen Zeitgeists in Richtung neuer,
nachprüfbarer und besser optimierter Erkenntnisse und Anwendungen.
21
Die gegensätzliche Beziehung zwischen Bildung/Wissen und Aberglauben ist deutlich. Laut des UNO Berichts
für menschliche Entwicklung in arabischen Ländern hatten weniger als 2% der Araber Zugang zum Internet.
Araber repräsentieren 5% der Weltbevölkerung, produzieren jedoch nur 1% der Bücher in der Welt, von denen
die meisten religiöse Texte sind. In den Worten von Sam Harris: „Spanien übersetzt jährlich mehr Bücher ins
spanische als die gesamte arabische Welt seit dem 9. Jahrhundert ins Arabische übersetzt hat“. Es ist mit hoher
Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass das Wachstum des islamischen Glaubens in arabischen Ländern durch
den relativen Mangel an Informationen von außen hervorgerufen wurde.
22
Der Nobelpreis für „Lobotomie“ wurde dem portugiesischen Neurologen Egas Moniz 1949 verliehen. Heute wird
es als barbarisches, uneffektives Verfahren angesehen.
(http://www.npr.org/templates/story/story.php?storyId=4794007)
23
Mit der Zeit sorgen die finanziellen Mittel, die ein Unternehmen - auch vermeintliche non-Profit-Organisation zum Überleben benötigt, für einen Zwiespalt zwischen dem verkauften Produkt oder der Dienstleistung des
Unternehmens und dessen tatsächlicher Nützlichkeit oder Durchführbarkeit. Angesichts des technologischen
Fortschritts ist das Überflüssigwerden eines/r bestimmten Produkts/Dienstleistung - wodurch oft das
produzierende Unternehmen überflüssig wird - unausweichlich. Die Konsequenz ist eine dauerhafte
Unterdrückung von neuen Ideen/Erfindungen, die diese „etablierten Institutionen“ in Unruhe bringen oder
verdrängen würden, wodurch Einkommen verloren gehen würde. Ein kurzer Blick auf die heutigen
technologischen Möglichkeiten wirft die Frage auf, warum diese Verbesserungen nicht unverzüglich angewandt
werden. Dies zeigt die paralysierende Natur von auf Einkommen angewiesenen Institutionen deutlich.
14
Überblick
Auch wenn wir sicherlich Zeuge von gewaltigen und sich beschleunigenden
Veränderungen in verschiedenen menschlichen Gebieten und Methoden sind - wie
beispielsweise unsere riesigen materiellen Technologien - scheint es, als wäre unser
Gesellschaftssystem weit zurück geblieben. Politische Ideologien, Marktwirtschaft,
Arbeit für Einkommen, andauernde Ungleichheit, Nationalstaaten, rechtliche
Annahmen und viele weitere Beispiele unserer aktuellen Gesellschaftsordnung
werden weiterhin als Normalität von der heutigen Kultur akzeptiert. Als Begründung
für deren Wert oder empirische Standhaftigkeit kann nicht mehr angeführt werden als
deren Dauer der Existenz.
In diesem Kontext findet TZM das am weitesten umfassende Leitbild: Die
Veränderung des Gesellschaftssystems. Um es noch einmal zu betonen: Es gibt
heute viele problemlösende technische Möglichkeiten für persönlichen und
gesellschaftlichen Fortschritt, welche unbemerkt bleiben oder falsch verstanden
werden24. Das Beenden der Kriege, die Auflösung der Armut, die Erschaffung von
noch nie zuvor gesehenem materiellem Überfluss, der menschliche Bedürfnisse
deckt, die Eliminierung von Verbrechen im heutigen Ausmaß, die Förderung von
wirklicher persönlicher Freiheit durch die Abschaffung von sinnloser, monotoner
Arbeit und die Lösung für viele ökologische Gefahren inklusive Krankheiten, sind nur
einige der uns zur Verfügung stehenden, berechneten Möglichkeiten, wenn wir
unsere technische Realität in Betracht ziehen.
Wie schon erwähnt, werden diese Möglichkeiten nicht nur kaum wahrgenommen,
ihre Implementierung wird zusätzlich durch unsere Gesellschaftsordnung behindert.
Das liegt daran, dass solch eine problemlösende Effizienz und der dadurch
ermöglichte Wohlstand im direkten Gegensatz zu den grundliegenden Mechanismen
unseres Gesellschaftssystems wirkt.25
Bis wir die gesellschaftlichen Traditionen und die daraus resultierenden Werte der
Gesellschaft überdacht und auf heutige Erkenntnisse angepasst haben; bis der
Großteil der Bevölkerung den wesentlichen, zugrunde liegenden Gedankengang
versteht, der benötigt wird, um menschliche Nachhaltigkeit und gute öffentliche
Gesundheit - abgeleitet von der sorgfältigen Anwendung objektiver
wissenschaftlicher Untersuchung und Prüfung - zu gewährleisten; bis wir viele der
Altlasten von vorherigen, falschen Annahmen, Aberglauben, trennenden Loyalitäten
und anderen gesellschaftlich unnachhaltigen, konfliktfördernden, kulturellen Hürden
überwinden - werden all diese lebensverbessernden und problemlösenden
Möglichkeiten, die wir zur Hand haben, zum größten Teil ungenutzt bleiben.
Die tatsächliche Revolution ist eine Revolution der Werte. Die Menschheit scheint
bezüglich ihrer Funktion und demnach ihrer Werte, Jahrhunderte zurückliegen. Wenn
wir Fortschritte machen, die sich auftürmenden Probleme in den Griff bekommen und
den sich in vielerlei Hinsicht beschleunigenden Niedergang unserer Zivilisation
umkehren wollen, müssen wir unsere Sichtweise von uns und unserer Welt ändern.
Die zentrale Aufgabe der Zeitgeist-Bewegung ist daran zu arbeiten, einen
Wertewandel ans Licht zu bringen, die Familie der Menschen durch die Tatsache
vereinen, dass wir alle den selben, kleinen Planeten teilen und alle an exakt die
24
„ZeitNews“, eine Wissenschaft und Technologie Webseite mit Bezug zu TZM wird hier empfohlen.
www.zeitnews.org
25
In Teil 2 mehr zu dem Thema.
15
Überblick
selben - durch die wissenschaftliche Methode erkannten - natürlichen Gesetze
gebunden sind.
Diese Erkenntnis des gemeinsamen Nenners geht weiter als es in der Vergangenheit
angenommen wurde. Die Symbiose der menschlichen Spezies und die synergetische
Beziehung von unserem Platz in der physischen Welt bestätigt, dass wir nicht
autonome, getrennte Einheiten in irgendeiner Weise sind. Wenn wir überleben und
auf lange Sicht gedeihen wollen, muss ein neues gesellschaftliches Erwachen ein
funktionierendes Gesellschaftsmodell aufzeigen, das durch diese innewohnende
Logik erreicht wurde. Wir können uns anpassen oder wir können leiden. Es liegt an
uns.
16
Das wissenschaftliche Weltbild
Das wissenschaftliche Weltbild
„Nahezu jeder systematische Fehler, der die Menschheit für tausende von Jahren getäuscht hat,
beruhte auf praktischer Erfahrung. Horoskope, Beschwörungen, Orakel, Magie, Hexerei, die
Heilkunde der Schamanen und Medizinmänner waren alle, aufgrund ihres - aus Sicht der
Öffentlichkeit - vermeintlichen Erfolgs im Laufe der Jahrhunderte, vor dem Aufkommen der modernen
Medizin, fest etabliert. Genau deshalb wurde die wissenschaftliche Methode entwickelt; um die Natur
der Dinge mit mehr Sorgfalt, unter kontrollierten Bedingungen und mit strengeren Kriterien
darzustellen, als es in der unkontrollierten Situation eines in der Praxis vorkommenden Problems der
26
Fall ist. „ - Michael Polanyi
In der Vergangenheit gewann man Erkenntnisse durch oberflächliche
Beobachtungen, die lediglich durch unsere fünf Sinne verarbeitet wurden und
„intuitiv“ durch die Rahmenbedingungen von Bildung und Werten in dieser Zeit
gefiltert wurden. Seitdem fand eine Entwicklung statt, hin zu objektiven Messungen
und selbst fortschreitenden Methoden der Analyse. Diese versuchen, mithilfe
wiederholter experimenteller Beweise zu Schlussfolgerungen zu kommen (oder diese
zu errechnen). Dabei wird Validität durch den Bezugspunkt der wissenschaftlichen
Kausalität gesucht - eine Kausalität, die, wie es scheint, aus den physischen
Eigenschaften besteht, die wir „Natur“ nennen.
Die Naturgesetze unserer Welt existieren, ob wir sie anerkennen oder nicht. Diese
dem Universum innewohnenden Regeln waren schon lange da bevor Menschen das
Verständnis entwickeln konnten, sie zu erkennen. Obwohl man über die Genauigkeit
unserer Interpretation dieser Gesetze zu jedem Zeitpunkt streiten kann, gibt es
genug unterstützende Beweise dafür, dass wir tatsächlich durch feststehende Kräfte
mit inhärenter, messbarer und vorhersehbarer Logik gebunden sind.
Die enorme Entwicklung und Voraussagekraft, die in Mathematik, Physik und
Biologie und in anderen wissenschaftlichen Disziplinen zu sehen sind, zeigen, dass
wir als Spezies langsam die Prozesse der Natur verstehen. Unsere wachsenden,
erfinderischen Möglichkeiten die Prozesse der Natur zu emulieren, zu verstärken
oder zu unterdrücken, beweist, dass wir Fortschritte im Verstehen derselben
machen. Die heutige Welt mit einem Überfluss an materieller Technologie und
lebensverändernden Erfindungen ist ein Zeichen für die Integrität des
wissenschaftlichen Prozesses und wozu er fähig ist.
Anders als in historisch zu verzeichnenden Traditionen, in denen bei den Menschen
ein gewisser Stillstand der gehegten Ansichten bestand - wie es heute für
gewöhnlich immer noch bei religiösen Dogmen der Fall ist - schließt die Anerkennung
dieser „Naturgesetze“ Eigenschaften mit ein, die die angenommene „Beständigkeit“
dieser gehegten Ansichten nachhaltig hinterfragt. Wie später in diesem Kapitel im
Abschnitt „Emergenz“ vertieft wird, ist Fakt, dass es einfach keine einzelne oder
feststehende intellektuelle Schlussfolgerung bezüglich unserer Wahrnehmung und
unseres Wissens geben kann. Mit Ausnahme - paradoxerweise - von diesem
zugrunde liegenden Muster der Ungewissheit bezüglich solcher Änderungen und
Anpassungen selbst.
Das ist Teil von etwas, das man ein wissenschaftliches Weltbild nennen könnte. Es
ist eine Sache, die Methoden der wissenschaftlichen Evaluierung für bestimmte
26
http://www.todayinsci.com/QuotationsCategories/SCat/ScientificMethod-Quotations.htm
17
Das wissenschaftliche Weltbild
Interessen zu isolieren, um beispielsweise die strukturelle Integrität eines
Hausdesigns zu bewerten und zu testen - und eine Andere, wenn die allgemeine
Integrität solcher, in Naturgesetzen verankerten, kausalen Schlussfolgerungen und
Validierungsmethoden für alle Aspekte unseres Lebens angewandt werden.
Albert Einstein sagte einmal: „Je weiter die spirituelle Evolution der Menschheit
fortschreitet, desto sicherer scheint mir, daß der Weg zu wahrer Religion nicht in der
Angst vor dem Leben, nicht in der Angst vor dem Tod oder in blindem Vertrauen
liegt, sondern in Streben nach rationalem Wissen. „27
Zyniker versuchen oft die Integrität der Wissenschaft zu reduzieren, indem sie diese
lediglich als eine andere Form des „religiösen Glaubens“ deklarieren, ihre
Genauigkeit als „kalt“ und „ohne Spiritualität“ herabwürdigen oder sogar die
schlimmen Folgen angewandter Technologien hervorheben. Dafür wird oft das
Beispiel der Erschaffung der Atombombe herangezogen, welche eigentlich eher ein
Zeichen für eine Verwerfung menschlicher Werte ist, als eine der
Ingenieurswissenschaften. Man kann die unglaublichen Möglichkeiten dieser
Methode nicht ignorieren, welche der menschlichen Spezies das Verstehen und
Nutzen der Realität ermöglicht hat. Keine andere „Ideologie“ kommt auch nur
ansatzweise an die voraussagende Kraft und nützlichen Vorteile dieser
Erkenntnismethode heran.
Das heißt aber nicht, dass in der heutigen Kultur nicht immer noch aktive Ablehnung
der Bedeutung dieser Methode weit verbreitet ist. Wenn es beispielsweise um
theistischen Glauben geht, ist oft eine trennende Tendenz festzustellen, die versucht
den Menschen über „bloße Mechaniken/Funktionsweisen“ der physischen Realität zu
erheben. Die implizierte Annahme hierbei ist normalerweise, dass wir Menschen aus
irgendwelchen Gründen „außergewöhnlich“ sind und das vielleicht Kräfte wie ein
eingreifender Gott am Werk sind, der natürliche Gesetze nach Belieben aushebeln
kann. Dadurch erscheinen diese weniger wichtig als beispielsweise der Gehorsam
gegenüber Gottes Wünschen, usw.
Leider gibt es immer noch ein enormes Maß an Arroganz bei Menschen, die ohne
verifizierbare Beweise annehmen, dass Menschen getrennt von all den anderen
Phänomen existieren. Zu behaupten, sie seien verbunden mit - oder sogar Produkt
von - natürlichen, wissenschaftlichen Kräften, verstehen sie als Herabwürdigung
menschliches Lebens.
Mittlerweile gibt es auch eine Tendenz für etwas, dass man „übermagisches“28
Denken nennen könnte, welches als eine Art schizotype Persönlichkeitsstörung
betrachtet werden könnte. Diese äußert sich in Fantasien und leichten Einbildungen,
die falsche Annahmen über Kausalzusammenhänge der Welt verstärken, wobei nie
wirklich die volle Genauigkeit der wissenschaftlichen Methode angewandt wird. 29
Wissenschaft erfordert Experimente und erneute Replizierbarkeit eines Ergebnisses,
um als bestätigt zu gelten. Viele Überzeugungen augenscheinlich „gewöhnlicher“
27
Zitiert und Übersetzt aus: All the Questions You Ever Wanted to Ask American Atheists, by Madalyn Murray
O'Hair, Amer Atheist Press, 1986
28
Stanford University Behavioral Biology Professor, Dr. Robert Sapolsky ist der wohl Erwähnenswerteste mit
seinem Begriff „Metamagical“. Seine Werke sind empfehlenswert http://benatlas.com/2009/12/robert-sapolsky-onmetamagical-schizotypal-thinking/
29
Siehe Anhang B für eine Einführung zur wissenschaftlichen Methode
18
Das wissenschaftliche Weltbild
Leute liegen heute weit außerhalb dieser Voraussetzung. Neben traditionellen
Religionen wird das Konzept des „New Age“30 mit dieser Art des Aberglaubens in
Verbindung gebracht. Auch wenn es extrem wichtig ist, dass wir uns als Gesellschaft
im Allgemeinen der Ungewissheit bewusst sind und deshalb einen kreativen, offenen
Kopf gegenüber allen Postulaten behalten sollten, kann die Bestätigung derselben
nur durch messbare Konsistenz kommen und nicht durch Wunschdenken oder
esoterische Faszination.
Solche unbestätigten Ideen und Annahmen stehen oft in einem Bezugsrahmen, der
durch „Glauben“31 abgesichert wird und nicht durch Rationalität. Weiterhin ist es
schwer, den Wert von Glauben mit irgendjemandem zu diskutieren, da die Regeln
von „Glauben“ Argumentationen naturgemäß ablehnen. Das ist Teil des Dilemmas in
dem sich unsere Gesellschaft heute befindet: Glauben wir einfach das, was uns
durch Traditionen unserer Kultur beigebracht wurde oder hinterfragen wir diese
Glaubenssysteme, gleichen sie mit der Realität ab und prüfen ob sie sich
bewahrheiten?
Wissenschaft befasst sich eindeutig mit Letzterem und hält nichts für heilig; immer
bereit vorherige falsche Annahmen zu korrigieren, wenn neue Informationen
gewonnen werden. Um solch eine Sichtweise der Ungewissheit - die extrem nützlich
und produktiv ist - in das alltägliche Weltbild zu integrieren, erfordert es einer
gänzlich anderen Sensibilität; Eine die Vulnerabilität sowie Ungewissheit verkörpert
und nicht Gewissheit.
In den Worten von Prof. Frank L.H. Wolfs (Fakultät für Physik und Astronomie,
Rochester Universität, NY) dessen Einführung in die wissenschaftliche („Introduction
to The Scientific Method“) Methode für weitere Recherche in Anhang B von diesem
Text angeführt wird: „Es wird oft gesagt, dass in der Wissenschaft eine Theorie nie
bewiesen werden kann, lediglich widerlegt. Es gibt immer die Möglichkeit einer neuen
Beobachtung oder eines neuen Experiments, das einer langanhaltenden Theorie
widerspricht. “32
Emergenz
Im Kern der wissenschaftlichen Methode liegen Skepsis und Vulnerabilität.
Wissenschaft möchte die genaueste Annäherung an die „Wahrheit“ erlangen, die sie
finden kann. Wenn es etwas gibt, dass die Wissenschaft fest anerkennt, dann die
Tatsache, dass alles was wir wissen mit der Zeit durch das Aufkommen neuer
Informationen überarbeitet wird.
Gleichermaßen erweisen sich Ansichten, die auf den ersten Blick als weit hergeholt,
unmöglich oder sogar abergläubisch erscheinen, in der Zukunft als nützliche,
anwendbare Erkenntnisse - sobald sie auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft worden
sind. Diese Tatsache stellt eine „Emergenz von Wissen“ dar - eine Emergenz der
„Wahrheit“, wenn man so will. Ein kurzer Rückblick in die Geschichte zeigt sich
immer verändernde Verhaltensweisen und Praktiken, die auf immer aktuellerem
30
Der Begriff „New Age“ wird oft wie folgt definiert: „neues Zeitalter als Inbegriff eines von verschiedenen
Forschungsrichtungen und alternativen Bewegungen vertretenen neuen integralen Weltbildes“
http://www.duden.de/rechtschreibung/New_Age
31
Carl Sagan war berühmt dafür, diese Definition mit dem Ausspruch „Glaube mit Beweisen“ zu bestätigen.
32
http://teacher.nsrl.rochester.edu:8080/phylabs/AppendixE/AppendixE.html
19
Das wissenschaftliche Weltbild
Wissen aufbauen. Diese demütigende Erkenntnis ist ein Kernelement menschlichen
Fortschritts.
Symbiose
Ein weiterer Punkt, der im Bezug auf das wissenschaftliche Weltbild wichtig zu
erwähnen ist, bezieht sich auf die symbiotische Natur der Dinge. Heute von vielen oft
als „gesunder Menschenverstand“ abgetan, beinhaltet diese Erkenntnis wichtige
Enthüllungen bezüglich unseres Denkens über uns selbst, unsere Glaubenssysteme
und unser Handeln.
Der Begriff „symbiotisch“ wird typischerweise im Zusammenhang mit voneinander
abhängigen biologischen Spezies verwendet.33 Bei uns wird der Sinn dieses Wortes
jedoch ein wenig weiter gefasst. Er bezieht sich auf die Abhängigkeit von Allem
voneinander. Obwohl frühere intuitive Ansichten von natürlichen Phänomenen beispielsweise eines Baumes - als unabhängige Einheit durch die Illusion der
Trennung angesehen wurden, ist es eine Tatsache, dass das Leben des Baumes
vollständig von „externen Einflussgrößen“ für seine Entstehung und Existenz
abhängig ist.34
Das Wasser, Sonnenlicht, Nährstoffe und andere interaktive „externe“ Eigenschaften,
die benötigt werden, um die Entwicklung des Baums zu ermöglichen, sind ein
Beispiel symbiotischer Beziehungen. Das Ausmaß dieser Symbiose wurde in letzter
Zeit immer deutlicher. Je mehr wir über die Mechanismen unseres Universums
lernen, umso unabdingbarer erscheint diese Symbiose.
Das beste Konzept, um diese Sichtweise zu verdeutlichen, ist die eines „Systems“.35
Der Begriff „Baum“ ist in Wirklichkeit eine Bezugnahme auf ein wahrgenommenes
System. Die „Wurzel“, „Stumpf“, „Äste“, „Blätter“ und weitere Aspekte dieses Baumes
könnten „untergeordnete-Systeme" genannt werden. Der Baum selbst ist jedoch
auch ein untergeordnetes System innerhalb eines „Waldes“, der wiederum ein
System innerhalb eines größeren umfassenderen Phänomens wie das eines
„Ökosystems“ ist. Solche Abgrenzungen scheinen für viele trivial zu sein. Tatsache
ist jedoch, dass die menschliche Kultur einen großen Fehler macht, indem sie das
Ausmaß des „Erd-Systems“ und die Wichtigkeit von jedem untergeordneten System
nicht respektiert.
Die Einteilung von Systemen in Kategorien (engl. categorical systems36) kann hier
benutzt werden, um alle großen oder kleinen Systeme zu beschreiben. Letztendlich
sind solche Sprachbezeichnungen aber willkürlich. Diese wahrgenommenen
Systeme und die Worte werden lediglich zweckmäßig referenziert, um zu
33
http://www.enzyklo.de/Begriff/Symbiose
Der Begriff „Extern“ wird in diesem Kontext als relativ zu einem wahrgenommenen Objekt benutzt. Der
umfassendere Punkt ist hier, dass es so etwas wie „extern“ oder „intern“ im Kontext größerer Systeme nicht gibt.
35
Der Begriff „System“ wird wie folgt definiert: Der Begriff System bezeichnet allgemein eine Gesamtheit von
Elementen, die so aufeinander bezogen bzw. miteinander verbunden sind und in einer Weise wechselwirken,
dass sie als eine aufgaben-, sinn- oder zweckgebundene Einheit angesehen werden können.
(http://de.wikipedia.org/wiki/System )
Es ist zu betonen, dass die Wichtigkeit des Konzepts eines „Systems“ oder der „Systemtheorie“ in diesem Text
öfter vorkommen wird, um zu ermitteln welcher Bezugsrahmen menschliche Nachhaltigkeit in unserem
Lebensraum wirklich unterstützt.
36
Dieser Begriff ist eine Erweiterung des gebräuchlichen „kategorischen Denkens“, welches eine Denkform ist,
bei der Menschen oder Dinge bestimmten Kategorien zugeordnet werden. Diese werden dann genutzt, als
würden sie etwas in der realen Welt darstellen.
34
20
Das wissenschaftliche Weltbild
kommunizieren. Tatsache ist, dass es nur ein mögliches System geben kann,
welches durch die Naturgesetze organisiert ist. Das ist das Einzige auf das man sich
beziehen kann, da alle Systeme, die wir wahrnehmen und kategorisieren nur UnterSysteme sein können. Wir können ganz einfach kein wirklich geschlossenes System
finden. Selbst das „Erd-System“, welches intuitiv autonom erscheint, da die Erde im
leeren Raum schwebt, ist in totaler Abhängigkeit von der Sonne, dem Mond und
wahrscheinlich mehreren symbiotischen Faktoren, deren Eigenschaften wir noch
nicht einmal vollständig verstehen.
In anderen Worten: Wenn wir die Interaktionen betrachten, die diese
wahrgenommenen „eingeordneten Systeme“ verbinden, finden wir eine Verbindung
von Allem. Auf gesellschaftlicher Ebene ist das Verständnis dieser SystemInteraktion das Fundament für eine der nützlichsten Perspektiven für wahre
menschliche Nachhaltigkeit.37 Der Mensch, genauso wie der Baum oder die Erde,
erscheint intuitiv als separat und unabhängig. Jedoch könnten wir, beispielweise
ohne Sauerstoff zum Atmen, nicht überleben. Das bedeutet, dass das menschliche
System Interaktion mit einem Atmosphären-System voraussetzt also einem System
für Sauerstoffproduktion. Da der Prozess der Photosynthese für einen Großteil des
Sauerstoffs in der Luft verantwortlich ist, ist es für uns von Vorteil zu wissen, was
dieses System beeinflusst und wie wir unsere gesellschaftlichen Praktiken in
Einklang mit diesem System bringen können.
Wenn wir beispielsweise Zeugen von der Verschmutzung der Ozeane oder der
rasanten Abholzung der Erde werden, vergessen wir oft, wie wichtig solche Aspekte
für die Integrität des menschlichen Systems sind. Aufgrund unseres völlig falschen
Verständnisses dieser symbiotischen „Ursache und Wirkung“-Kausalkette - die alle
„eingeordneten Systeme“ miteinander verbindet - gibt es so viele Beispiele für
ökologische Ungleichgewichte, die durch unsere Spezies fortgeführt werden. Bände
könnten zu diesem Thema geschrieben werden. Der Fehler, diese „Symbiose“
anzuerkennen, ist ein grundlegendes Problem. Sobald dieses Konzept der
interagierenden Systeme38 völlig verstanden wurde, werden - rückblickend in der
Zukunft - viele unserer heutzutage gewöhnlichen Praktiken als grob ignorant und
gefährlich angesehen werden.
Nachhaltige Glaubenssysteme
Das bringt uns auf die Ebene von Gedanken und Erkenntnissen selbst. Wie zuvor
erwähnt, werden in der Sprache Elemente unserer Welt isoliert und organisiert, um
sie zu verstehen. Sprache selbst ist ein System, das auf „eingeordneten
Abgrenzungen“ basiert, die wir mit der von uns wahrgenommenen Realität
assoziieren. So wichtig solche Identifikationsmechanismen und Organisationsmittel
für das menschliche Gehirn sind, implizieren sie auch eine nicht vorhandene
Trennung.
Auf dieser Grundlage ist es einfach zu verstehen, warum wir es so gewohnt sind, in
trennenden Weisen zu denken und zu handeln und warum die Geschichte der
menschlichen Gesellschaft eine Geschichte von Ungleichgewicht und Konflikt war.39
37
Mehr dazu in Teil 3
Siehe Anhang A, Glossar
39
Die neolithische Revolution ist ein erwähnenswerter Zeitpunkt dramatischen Wandels der Zivilisation in
gesellschaftlicher Funktionsweise und menschlichen Beziehungen. Diese hat sich von natürlichen Prozessen
denen man untergeordnet war - wie der Nahrungssuche und dem Jagen - hin zu umfassenden Möglichkeiten
38
21
Das wissenschaftliche Weltbild
Auf dieser Ebene kommen physische Systeme - die wir besprochen haben - in
Verbindung mit Glaubens-/Gedanken-Systemen.40
Obwohl die Idee der „Nachhaltigkeit“ heutzutage oft mit technischen Prozessen, ÖkoTheorie und Ingenieurswesen zu tun hat, vergessen wir oft, dass unsere Werte und
Ideen all diesen Anwendungen vorausgehen. Demnach beginnt wahre Nachhaltigkeit
mit unseren Werten und Glaubenssystemen. Wir benötigen eine kulturelle
Ausrichtung, die nachhaltig ist, - wir benötigen nachhaltige Werte und
Glaubenssysteme. Dieses Bewusstsein kann nur aus einer fundierten Anerkennung
der Naturgesetze kommen, an die wir gebunden sind.
Können wir die Integrität eines Glaubenssystems messen? Ja. Wir können es
messen, indem wir schauen wie dessen Prinzipien sich mit der wissenschaftlichen
Kausalität decken, die wir durch Feedback erlangen. Wenn wir erkennen, dass die
Folgen verschiedener Glaubenssysteme, die ein gleiches Ziel verfolgen41, gemessen
werden können, ist es möglich diese Systeme zu bewerten und miteinander zu
vergleichen.
Wie später noch detaillierter ausgeführt wird, findet in diesem Text der wichtigste
Vergleich von Denksystemen zwischen einer „monetären-Marktwirtschaft“ und der
zuvor erwähnten „Naturgesetz/Ressourcen-basierten Wirtschaft“ statt. Im Kern dieser
Systeme steht im Wesentlichen ein Konflikt zwischen dem Denken über Kausalität
und Möglichkeiten. Der Leser ist dazu angehalten hier objektive Urteile darüber zu
fällen, wie gut die jeweilige Perspektive tatsächlich gemeinsame menschliche Ziele
erreicht.
Vor diesem Hintergrund und im Zusammenhang dieses Kapitels, speziell die Punkte
über Emergenz und Symbiose, könnte man verallgemeinernd sagen, dass jedes
Glaubenssystem, das a) keine integrierte Möglichkeit bietet das gesamte
Denksystem aufgrund von neuen Informationen zu ändern oder sogar komplett zu
überholen; und b) jedes Glaubenssystem, welches Isolation und Trennung
unterstützt oder die Integrität eines Segments oder einer Gruppe über eine Andere
stellt, ein unnachhaltiges Glaubenssystem ist.
Eine wissenschaftliche Weltansicht zu haben, bedeutet als Individuum und
Zivilisation willig und fähig zu sein, neue Erkenntnisse und Methoden anzuerkennen,
die unsere Probleme besser lösen und unser Wohlergehen erweitern. Diese
entwickelt, die Landwirtschaft für Nahrung zu nutzen und Werkzeuge/Maschinen zum Zwecke der
Arbeitserleichterung zu erschaffen.
Man kann sagen, dass die Menschheit nicht erwachsen genug war, diese Fähigkeiten zu kontrollieren und die
Fortführung von Angst und Knappheit führte zum Horten, Privatisierung, National-„Gangs“ und andere trennende
Tendenzen für eine Gruppen-Selbsterhaltung auf mehreren Ebenen.
40
Um philosophischer Klarheit gerecht zu werden, könnte man sagen, dass alle Resultate menschlicher
Wahrnehmung Projektionen sind - sogar die Naturgesetze selbst. Das ändert jedoch nicht das Maß des
Einflusses und Verständnisses, welches wir durch die Methodik der Wissenschaft erlangt haben.
41
Die Ansicht eines „gemeinsamen Ziels“ oder „gemeinsamen Nenners“ wird sich in diesem Text wiederholen
und beschreibt ein wichtiges Bewusstsein der gemeinsamen Bedürfnisse, Absichten und Folgen für den
Menschen. Eine zentrale Prämisse von TZMs angestrebten Zielen ist, dass der Mensch mehr gleich als
verschieden ist, da wir dieselben quantifizierbaren Bedürfnisse und Reaktionen teilen. In vielerlei Hinsicht ist dies
die vereinigende Eigenschaft, die das beschreibt was man „menschliche Natur“ nennt. Wie später in weiteren
Kapiteln beschrieben wird, hat der Mensch tatsächlich vorhersehbare gemeinsame psychologische und
körperliche Reaktionen auf positive und negative Einflüsse. Eine intelligente, menschliche Organisation einer
Gesellschaft bezieht diese Aspekte ein, um öffentliche Gesundheit zu gewährleisten - etwas, dass unser heutiges
monetäres-Markt-System nicht macht.
22
Das wissenschaftliche Weltbild
Weltansicht spiegelt wahrscheinlich den größten Wandel in der Geschichte bezüglich
menschlichen Verständnisses wieder. Jeder moderne - für uns selbstverständliche Nutzen, ist das Resultat dieser Methode, ob wir dies anerkennen oder nicht. Denn
diese inhärente, selbst-generierende, mechanistische Logik stellt sich als
allgegenwärtig und universell auf alle Phänomene anwendbar heraus.
Obwohl viele Menschen immer noch Kausalität den Göttern, Dämonen, Geistern und
anderen nicht messbaren, auf Glauben basierten Konzepten zuschreiben, scheint ein
neues Zeitalter der Vernunft am Horizont zu erscheinen. Bei diesem neuen Zeitalter
der aufkommenden wissenschaftlichen Erkenntnisse über uns selbst und unseren
Lebensraum stellen wir das traditionelle etablierte System in Frage, welches wir von
unseren weniger informierten Vorfahren geerbt haben.
Die „technische“42 Orientierung der Wissenschaft beschränkt sich nicht länger auf
lediglich technische Spielereien und Werkzeuge. Die wahre Botschaft dieser
Weltansicht ist die grundlegende Philosophie nach der wir unsere Leben, Werte und
gesellschaftliche Institutionen ausrichten sollten.
Wie später weiter argumentiert wird, sind das Gesellschaftssystem, seine
ökonomische Prämisse, seine rechtliche und politische Struktur, in dem Maße, indem
sie fortgeführt werden, eine Angelegenheit des „Glaubens“ geworden. Wir
argumentieren beispielsweise, dass das Geldsystem auf veralteten, zunehmend
ineffizienten Annahmen basiert. Das ist nichts anderes als bei unseren Vorfahren, die
fälschlicherweise dachten, die Erde sei flach, Dämonen brächten Krankheiten oder
dass die Sternenbilder am Himmel feste statische zwei-dimensionale, wandtapetenähnliche Gebilde wären. Es gibt enorme Parallelen zwischen traditionellem
religiösem Glauben und den etablierten kulturellen Institutionen, die wir heutzutage
als nützlich und „normal“ ansehen.
Heute würden die meisten Menschen die Kirche im Mittelalter - mit ihrer absoluten
Macht über Europa - und deren Konzepte und Rituale als absurd oder sogar
wahnsinnig ansehen. Genauso werden die späteren Generationen wahrscheinlich
auf unsere etablierten Praktiken zurückblicken und dasselbe denken.
*Siehe Anhang B für weitere Erklärungen bzgl. der wissenschaftlichen Methode
42
Der Begriff „technisch“ wird in diesem Text häufig verwendet und steht quasi als Synonym für
„wissenschaftlich“ um die kausale Natur aller existierenden Phänomene besser zu beschreiben - sogar
menschliches Verhalten und Psychologie/Soziologie selbst. Eine zentrale Prämisse von TZMs angestrebten
Zielen ist, dass Problemlösungen und das Aufkommen von Potenzialen eine „technische“ Evaluierung sind und
dieser Ansatz - angewandt auf alle gesellschaftlichen Bereiche - liegt im Kern des angestrebten neuen
Gesellschaftsmodells.
23
Optimierte Lösungen
Optimierte Lösungen
„Wir werden eine grundlegend neue Art des Denkens benötigen,
wenn die Menschheit überleben soll. „43
- Albert Einstein
Eine zentrale Überlegung in TZMs Ansicht über einen Gesellschaftswandel zum
Besseren hin, besteht im Verständnis von „Fortschritt“ selbst. Es scheint zwei
grundlegende Sichtweisen zu geben, wenn es um persönlichen oder
gesellschaftlichen Fortschritt geht: Manifestierendes Potenzial und Problemlösung.
Potenzial & Problemlösung
Manifestierendes Potenzial ist einfach die Verbesserung eines Umstands, welcher
vorher nicht als problematisch angesehen wurde. Ein Beispiel wäre die Fähigkeit der
Verbesserung menschlicher athletischer Leistung in einem bestimmten Gebiet durch
gezieltes Training, Ernährung und präzisere Techniken und andere Mittel, welche
vorher einfach nicht bekannt waren.
Die Problemlösung andererseits, ist die Bewältigung eines heute anerkannten
Problems, das negative Folgen oder Einschränkungen einer bestimmten Situation
hat. Ein Beispiel hierfür wäre die Entdeckung einer medizinischen Lösung für eine
lähmende Krankheit, so dass diese Krankheit nicht länger Schadenspotenzial birgt.
Wenn man jedoch eine umfassendere Perspektive einnimmt, gibt es eine deutliche
Überschneidung zwischen diesen zwei Ansichten, wenn die Natur von
Wissensentwicklung in Betracht gezogen wird. Zum Beispiel kann durch eine
„Verbesserung“ in der Vergangenheit ein vermeintlich normaler Zustand geschaffen
werden, der irgendwann Teil eines „Problems“ wird. Dieses Problem bedarf - im Falle
neuer Erkenntnisse bezüglich seiner Ineffizienz oder neuen Entwicklungen, die es im
Vergleich rückständig erscheinen lassen würden - dann auch einer Lösung.
Zum Beispiel hat der menschliche Transport über Luft, welcher in der Gesellschaft
relativ neu ist, bei seiner Anwendung die Effizienz des Transports drastisch erhöht.
Allerdings kann modernes Lufttransportwesen aufgrund etwaiger innewohnender
Ineffizienz auch ein Problem darstellen, sobald man diese mit einer anderen
besseren Methode44 vergleichen würde. Also ist Effizienz in diesem Sinne relativ, da
- bei Einbeziehung von weiterentwickeltem Wissen - aus einem ursprünglich „besten“
Ansatz ein Minderwertiger werden kann.
Diese scheinbare Abstraktion ist eine wichtige zu kommunizierende Tatsache, da
jede einzelne als normal angesehene Praktik eine eingebaute unabdingbare
Ineffizienz aufweist, sobald neue Entwicklungen in Wissenschaft und Technologie
aufkommen. Das ist die Natur des Wandels und wenn die Wissenschaftsgeschichte
irgendetwas zeigt, dann, dass Wissen und dessen Anwendungen fortschreiten und
sich generell verbessern.
43
Übersetzt aus „Atomic Education Urged by Einstein“, New York Times, May 25th 1946
Ein erwähnenswertes Beispiel dieser neuen Transportechnologie ist „Maglev“ (magnetic levitation zu dt.
Magnetschweben), welche weniger Energie verbraucht und erheblich schneller als kommerzielle Flüge ist
http://www.et3.com/
44
24
Optimierte Lösungen
Also zurück zu den scheinbar getrennten Themen des manifestierenden Potenzials
und der Problemlösung. Es kann nun abgeleitet werden, dass alle Problemlösungen
tatsächlich aufkommende Potenziale sind und umgekehrt.
Das bedeutet auch, dass die angewandten Mittel, die eine Gesellschaft für einen
bestimmten Zweck benutzt, immer vergänglich sind. Ob es das Transportwesen,
medizinische Prozesse, Energieerzeugung, das Gesellschaftssystem usw. sind. 45
Diese Praktiken sind alle Manifeste und Lösungen menschlicher Notwendigkeiten
und Effizienzen - basierend auf dem Stand der Erkenntnis, welchen wir an diesem
Punkt der Entwicklung haben.
Hauptzweck und Hauptursache
Für eine möglichst genaue Beurteilung von Handlungen müssen wir für eine
Erfindung oder Problemlösung so nah wie möglich an den Hauptzweck (Manifest)
oder die Hauptursache (Problem) gehen. Genauso wie Werkzeuge und Techniken
für Potenziale nur in dem Maße anwendbar sind wie das Verständnis für dessen
fundamentalen Zweck, so können Aktionen im Sinne einer Problemlösung nur so gut
sein wie das Verständnis über die Hauptursache. Das erscheint offensichtlich, aber
dieses Konzept ist in vielen Bereichen der Überlegungen in der Welt heute nicht
vorhanden, besonders wenn es um die gesellschaftliche Themen geht. Anstatt also
diesen Fokus zu setzen, liegen die meisten Aktionen für Problemlösungen in
traditionellen Gewohnheiten, welche eigene Grenzen aufweisen.
Ein einfaches Beispiel dafür ist die heutzutage angewandte Methode der Inhaftierung
von Menschen für so genanntes „kriminelles Verhalten“. Für viele ist die Lösung für
„offensive“ Formen des menschlichen Verhaltens die „Bestrafung“ und Entfernung
des Individuums von der Gesellschaft. Das basiert auf einer Reihe von Annahmen,
die Jahrtausende zurückliegen.46
Die Wissenschaft hinter menschlichem Verhalten für das Verständnis der
Kausalzusammenhänge hat sich jedoch mit der Zeit geändert. Es ist nun allgemein
bekannt, dass die meisten „Verbrechen“ nicht stattgefunden hätten, wenn
grundlegende unterstützende Umweltbedingungen für den Menschen gegeben
wären.47 Menschen in Gefängnisse zu stecken löst nichts in der Kausalkette des
Problems. Es ist lediglich ein „Flickwerk“, welches lediglich temporär einige
Auswirkungen des größeren Problems unterdrückt.48
Ein ähnliches - gleichermaßen technisch relevantes - Beispiel ist die Art und Weise,
wie die meisten über die Lösungen für häufige inländische Probleme wie
Verkehrsunfälle denken. Was ist die Lösung für die Situation, wenn der Fahrer einen
Fehler macht und unachtsam die Spur wechselt, dadurch mit einem Fahrzeug
zusammenstößt und einen Unfall verursacht? Sollten die Spuren durch Mauern
getrennt sein? Sollten die Fahrschulen besser ausbilden? Sollte der Person der
45
Zur Wiederholung: Diese Tatsache wird durch den Begriff „Anwendungsmöglichkeiten“ beschrieben.
Literaturempfehlung: Violence: Our Deadly Epidemic and Its Causes, Dr. James Gilligan, 1996
47
Die „Merva-Fowles“-Studie, die an der Universität von Utah in den 1990er Jahren durchgeführt wurde, fand
starke Verbindungen zwischen Arbeitslosigkeit und Kriminalität. Sie basierten die Forschungen auf 30 größeren
Großstadtgebieten mit einer Gesamtbevölkerung von 80 Millionen. Sie fanden heraus, dass ein 1%iger Anstieg in
Arbeitslosigkeit in einem 6.7%igen Anstieg in Morddelikten, einen 3.4%igen Anstieg in Gewaltverbrechen und
einen 2.4%igen Anstieg in Eigentumsdelikten, resultierte. In der Zeit von 1990-1992 bedeutete dies: 1459
zusätzliche Morde; 62607 zusätzliche Gewaltverbrechen und 223500 zusätzliche Eigentumsdelikte. [Merva &
Fowles, Effects of Diminished Economic Opportunities on Social Stress, Economic Policy Institute, 1992]
48
Siehe Anhang G, Ben McLeish Vorlesung: „Out of the Box: Prisons“
46
25
Optimierte Lösungen
Führerschein entzogen werden, sodass sie nicht mehr fahren kann? Hier geht das
Thema der „Hauptursache“ oft in einem engen Bezugsrahmen verloren, welcher für
gewöhnlich von der Kultur als Lösung gesehen werden.
Die Hauptursache des Unfalls kann nur teilweise die Frage der Fahrtüchtigkeit des
Fahrers sein und eher eine Frage der fehlenden Integrität der benutzten
Technologie/Infrastruktur. Warum? Weil menschliches Versagen historisch gesehen
anerkannt und unabwendbar ist.49 Frühere Fahrzeuge hatten keine Fahrer- und
Beifahrer-Airbags, welche heute selbstverständlich sind und einen Großteil der
Verletzungen verhindern, die in der Vergangenheit passiert wären.50 Dieselbe Logik
kann auch auf das System der Fahrzeug-Interaktionen angewandt werden. Neue
technische Möglichkeiten sollten eine erhöhte Sicherheit gewährleisten, weil
menschliches Versagen unvermeidlich ist.
Genauso wie durch die Entwicklung des Wissens der Airbag Jahre zuvor entwickelt
wurde, gibt es heutzutage Technologie, die automatisierte fahrerlose Fahrzeuge
möglich macht. Diese erkennen nicht nur jedes nötige Element auf den Straßen, um
die Funktionsweise zu gewährleisten, die Fahrzeuge können auch einander
erkennen, wodurch Kollisionen nahezu unmöglich werden.51 Das ist der aktuelle
Stand der Lösungen, wenn wir die Hauptursache und den Hauptzweck in seiner
Gesamtheit betrachten.
So fortschrittlich diese Lösung klingt - besonders im Anbetracht der 1.2 Millionen
Menschen die unnötigerweise in Automobilunfällen pro Jahr sterben 52 - ist dieses
Gedankenspiel noch immer nicht vollständig, wenn wir den Kontext der „Ziele“
weiterführen.
Vielleicht gibt es weitere Ineffizienz in der Transportinfrastruktur, die in Betracht
gezogen und überarbeitet werden müssen. Vielleicht hat zum Beispiel die Nutzung
individueller Automobile - unabhängig von den Sicherheitsrisiken - andere
innewohnende Probleme, die nur logisch gelöst werden können, wenn die Nutzung
des Automobils selbst aufgegeben wird. Vielleicht sind bei einer immer mobileren
Bevölkerung einer Stadt solche Transportfahrzeuge unnötigerweise hinderlich,
langsam und allgemein ineffizient.53
Die praktischere Lösung ist in diesem Fall ein aufeinander abgestimmtes, integriertes
Massen-Transit-System, welches Geschwindigkeit erhöht, Energiekosten reduziert,
Ressourcen schont, Umweltverschmutzung vermeidet und weitere Probleme
beseitigt. Diese Entwicklung gipfelt darin, dass das Automobil selbst zum Teil des
aufkommenden „Problems“ wird. Wenn das Ziel einer Gesellschaft ist, das „Korrekte“
und demnach „Nachhaltige“ zu tun, Gefahren für Menschen und Lebensraum zu
verringern, Effizienz zu erhöhen - dann entsteht eine dynamische, selbstgenerierende Logik bezüglich unserer technischen Möglichkeiten und
Gestaltungsansätze.
49
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/pmc1117770/
Eine von der NHTSA 1996 durchgeführte Studie zeigte, dass die Anzahl der Toten durch den Einsatz von
Airbags um 11% reduziert werden konnte. http://www.nhtsa.gov/cars/rules/regrev/evaluate/808470.html
51
http://www.autoguide.com/auto-news/2011/04/google-engineer-claims-its-driverless-cars-could-save-a-millionlives-every-year.html
52
http://www.car-accidents.com/pages/stats.html
53
Ein langsamer genereller Wandel - sogar in der modernen kommerziellen Gesellschaft - von „Eigentum“ zu
„Zugang“ findet heutzutage Zuspruch. http://gigaom.com/2011/11/10/airbnb-roadmap-2011/
50
26
Optimierte Lösungen
Unsere technische Realität
Natürlich ist die Anwendung von diesen Problemlösungen nicht nur auf solch
physikalische Beispiele beschränkt. Ist „Politik“ die Antwort für unsere
gesellschaftlichen Sorgen? Werden durch die Natur von Politik Hauptursachen
adressiert? Sind Geld und Marktwirtschaft die optimierten Methoden für nachhaltigen
Fortschritt, Problemlösung und die Manifestierung von wirtschaftlichem Potenzial?
Was hat der moderne Stand der Wissenschaft und Technik zu dem Verständnis von
Ursache und Zweck auf gesellschaftlicher Ebene beizutragen?
Wie in weiteren Kapiteln ausgeführt wird, erschaffen diese Erkenntnisse einen
natürlichen, klaren Gedankengang im Sinne einer möglichen besseren Welt. Wir
müssen einfach nur der Logik der wissenschaftlichen Methode folgen, um unser
gemeinsames Ziel der menschlichen Nachhaltigkeit zu erfüllen. Die 1 Milliarde
hungernden Menschen, die auf diesem Planeten, hungern nicht wegen einer
unveränderbaren natürlichen Folge unserer Realität. Es gibt genug Nahrung für
alle.54 Es ist die veraltete verdrehte Logik unseres Gesellschaftssystems, welches
diese gesellschaftlichen Gräueltaten fortführt - sowie unzählige Weitere.
Es ist wichtig aufzuzeigen das TZM als ultimatives Ziel nicht beabsichtigt, ein
„Flickwerk“ zu fördern - was jedoch traurigerweise die meisten Aktivisten-Institutionen
heutzutage machen.55 Wir möchten die weitgefasstesten, höchst effizienten, an
natürliche Prozesse angepassten, zu diesem Zeitpunkt möglichen Lösungsansätze
fördern, um unser aller Leben zu verbessern und gleichzeitig die Integrität unseres
Lebensraums sicher zu stellen. Wir wollen, dass jeder diesen „Gedankengang“ klar
versteht und eine Werte-Identifikation mit diesem entwickelt.
Es gibt keine einzelne Lösung - nur das nahezu empirische Verständnis der
Naturgesetze, welches an Lösungen und Zielen ankommt.
54
Große internationale Organisationen haben statistisch gezeigt, dass es genug Nahrung für Jeden gibt und das
Hungersnot nicht durch den Mangel an Ressourcen entsteht. [http://www.wfp.org/hunger/causes] Zusätzlich
wären heutzutage mit Effizienzerhöhungen - die später in Teil 3 ausgeführt werden - die Möglichkeiten für totalen,
weltweiten Nahrungsüberfluss mit höchstem Nährstoffgehalt gegeben.
55
Dieser Kommentar soll nicht die guten Absichten der sozialen Institutionen herabwürdigen, die durch das sozioökonomischen Modell gebunden sind. Jedoch - wie auch in Teil 2 weiter geschrieben wird - beschränkt das
aktuelle Gesellschaftsmodell inhärent eine große Menge an möglichem Wohlstand/problemlösenden
Möglichkeiten durch seine Mechanismen. Demnach verrichten Aktivisten und Wohltätigkeitsorganisationen, die
an dieser Tatsache vorbeisehen, lediglich ein „Flickwerk“. Sie lösen diese Probleme nicht, da sie durch das
Gesellschaftssystem selbst erzeugt werden. Ein gutes Beispiel sind Wohltätigkeitsorganisationen, die Nahrung für
Arme bereitstellen wollen. Diese Organisationen adressieren oft nicht die Gründe, warum diese Menschen arm
sind und demnach arbeiten sie nicht daran, die Hauptursache(n) zu beseitigen.
27
Logik vs. Psychologie
Logik vs. Psychologie
„Wir handeln nicht richtig, weil wir tugendhaft oder gütig sind, sondern
wir sind es, weil wir richtig gehandelt haben.“56
- Aristoteles
Eine mächtige und dennoch häufig übersehene Konsequenz unserer Anfälligkeit
gegenüber Umwelteinflüssen und uns an die existierende Kultur anzupassen, ist,
dass gerade unsere Identität und Persönlichkeit häufig mit den Institutionen,
Praktiken, Trends und entsprechend auch den Werten, in die wir hineingeboren
werden und in denen wir leben, verbunden sind. Diese psychologische Anpassung
und unabdingbare Vertrautheit schafft eine Komfortzone. Es kann schmerzhaft sein,
diese nach einer langen Zeit zu sprengen - unabhängig davon wie fundiert die Daten
sind, die das Gegenteil von dem was wir glauben belegen.
In der Tat erscheint die überwiegende Mehrheit der Beschwerdepunkte gegen die
Zeitgeist-Bewegung, insbesondere die Lösungen und Veränderungen betreffenden
Punkte, durch schmale Bezugsrahmen und emotionale Vorurteile mehr als durch
intellektuelle Beurteilung motiviert. Gewöhnliche Reaktionen dieser Art sind oft
Kritiken einzelner Aussagen, um willkürliche Assoziationen hervorzurufen, welche
dann abgelehnt werden, anstatt kritisch die tatsächliche Prämisse eines Arguments
zu adressieren.
Die häufigsten Argumente dieser Kategorie sind „Projektionen“57 und es wird sehr
schnell klar, dass die Diskussionsgegner ihre psychologische Identität verteidigen,
anstatt eine neue Perspektive objektiv zu betrachten.58
Gehirnblockade
In einem klassischen Werk der Autoren Cohen und Nagel mit dem Titel „Einführung
in Logik und die wissenschaftlichen Methode“ ist dies mit dem Verweis auf den
Prozess logischer Einschätzung und deren Unabhängigkeit von der menschlichen
Psychologie sehr gut dargelegt:
„Die Beweislage ist kein temporäres Ereignis, sondern ein Verhältnis von
Auswirkungen zwischen verschiedenen Klassen und Typen von Thesen. Natürlich ist
Denken von Nöten, um diese Auswirkungen zu verstehen. Das macht die Physik
jedoch nicht zu einer Unterkategorie der Psychologie. Die Erkenntnis, dass Logik
nicht auf psychologische Phänomene beschränkt ist, wird uns helfen, zwischen
Wissenschaft und Rhetorik zu unterscheiden. Wobei die Letztere als Kunst der
Überzeugung oder der Argumentation angesehen werden kann, um so das Gefühl
von Gewissheit hervorzurufen. Unsere emotionalen Standpunkte machen es sehr
schwer für uns, neue bestimmte Thesen zu akzeptieren, unabhängig davon, wie
56
Will Durant, The Story of Philosophy: The Lives and Opinions of the World's Greatest Philosophers, 1926
Sigmund Freud war der Erste, der die Idee der psychologischen Projektion wie folgt definiert hat: „Ein
psychologischer Verteidigungsmechanismus bei dem eine Person unterbewusst seine eigenen Eigenschaften,
Gedanken und Gefühle ablehnt und sie dann auf die Umwelt, meistens Menschen, überträgt“. Der Kontext hier ist
jedoch allgemeiner, wodurch die Sichtweise aufgezeigt werden soll, bei der man vermutet eine Idee zu verstehen,
aufgrund von falschen oder oberflächlichen Verständnissen - häufig als Verteidigungsmaßnahme, um die
Integrität einer Idee zu diskreditieren.
58
Der Begriff „Kognitive Krankheit“ ist eine passende Beschreibung für dieses Phänomen. Eine häufige
Charakteristik davon ist der „Zirkelschluss“, bei dem ein Glaube lediglich durch den Bezug auf sich selbst
gerechtfertigt wird. Wenn ein Gläubiger gefragt wird, warum er an Gott glaubt, ist eine häufige Antwort „mein
Glaube“. Sie zu fragen warum man „Gläubig“ ist resultiert oft in einer Antwort wie: „ da Gott Gläubige belohnt“. Die
Kausalität ist verworren und selbst-beziehend.
57
28
Logik vs. Psychologie
stark die Beweise dies Befürworten. Da jeder Beweis auf dem Akzeptieren von
bestimmten Annahmen als wahr basiert, kann für jemanden der ausreichend
verbissen ist sie nicht zu glauben, keine Annahme als wahr bewiesen werden.“59
Der Begriff „Gehirnblockade“ (engl. mind lock) wurde von einigen Philosophen60
geprägt, um dieses Phänomen auszudrücken, welches wie folgt definiert wird: „Der
Zustand bei dem die eigenen Ansichten in einem geschlossenen
Argumentationskreis sich immer wieder auf sich selbst beziehen“. Scheinbar
empirische Annahmen sichern und rahmen die eigene Weltansicht so ein, dass alles
Widersprüchliche, oft sogar unterbewusst, von außen „blockiert“ werden kann. Diese
Reaktion kann mit einem gewöhnlichen körperlichem Reflex verglichen werden, bei
dem man versucht, sich vor einem auf einen zufliegenden Gegenstand zu schützen,
nur das in diesem Fall der „Reflex“ benutzt wird, um seinen Glauben und nicht den
Körper zu verteidigen.
Sprüche wie „über den Tellerrand schauen“ sind oft gewöhnliche Aussagen in den
Aktivistengemeinschaften, obwohl diese selten in unserer Denkweise angewandt
werden. Dabei wird die Integrität unserer am meisten etablierten Institutionen nur
selten hinterfragt. Sie werden öfter denn je als „gegeben“ und unveränderbar
angesehen.
Zum Beispiel ist in den meisten Demokratien der Welt ein „Präsident“ oder jemand
Vergleichbares ein gewöhnlicher Fokus, wenn es um die Qualität der Regierung
eines Landes geht. Ein Großteil der Aufmerksamkeit wird für solche Persönlichkeiten
sowie deren Ansichten und Aktionen verwendet. Jedoch tritt selten jemand einen
Schritt zurück und fragt sich: „Warum haben wir überhaupt einen Präsidenten?“ „Wie
wird die Macht einer repräsentativen Persönlichkeit gerechtfertigt, in Anbetracht
optimierter gesellschaftlicher Regierung?“ „Ist es kein Widerspruch, zu behaupten
eine Gesellschaft sei demokratisch, wenn die Öffentlichkeit keinen wirklichen Einfluss
auf die Handlungen der Präsidenten hat, sobald sie gewählt worden sind?“
Solche Fragen werden von vielen oft nicht in Betracht gezogen, da sie - wie schon
erwähnt - sich ohne Hinterfragung an ihre Kultur anpassen und annehmen es ist
„einfach so wie es ist“. Solche festen Ansichten sind nahezu immer ein Resultat
kultureller Traditionen und - wie Cohen und Nagel aufzeigen - es ist sehr schwer
neue, in Frage stellende Ideen zu kommunizieren „für jemanden der genügend
verbissen ist, sie nicht zu glauben.“
Solche traditionellen Prämissen, die als empirisch angesehen werden, sind
wahrscheinlich die Hauptursache für persönlichen und gesellschaftlichen Rückstand.
Dieses Phänomen, zusammen mit einem Bildungssystem, welches dauerhaft solche
etablierten Ansichten durch so genannte „akademische“ Institutionen verstärkt,
besiegelt zusätzlich diese kulturelle Hemmung und verstärkt die Behinderung von
relevanter Veränderung.61
59
Logic and The Scientific Method, Cohen and Nagel, Harcourt, 1934, p19
Literaturempfehlung: The Cancer Stage of Capitalism, John McMurtry, Pluto Press, 1999, Chapter 1
61
Diese Kritik bezieht sich nicht auf die Standard-Definition der „Akademik“, also „Eine Gemeinschaft von
Schülern und Lehrern, die an höherer Bildung und Forschung interessiert sind“. Der Kontext hier ist die
hemmende Funktion von „Disziplinen“, die sich nur zu oft zu einem Ego entwickeln, wobei Gegenläufige Daten
ignoriert oder voreilig abgelehnt werden. Ein weiteres Risiko besteht in der Art des Denkens wobei eine „Theorie“
und „Tradition“ wichtiger werden als „Erfahrung“ und „Experimente“, wobei falsche Schlussfolgerungen fortgeführt
werden.
60
29
Logik vs. Psychologie
Auch wenn das Ausmaß dieser Tendenz viele Züge annimmt, gibt es zwei häufige
argumentative Trugschlüsse, die es wert sind erwähnt zu werden, da sie dauerhaft
angebracht werden, wenn es um die Anwendungsmöglichkeiten und den
Gedankengang geht, den TZM voranträgt. Metaphorisch gesprochen stellen diese
Strategien den so genannten „Wertekrieg“62 dar, der bewusst oder unbewusst von
denen geführt wird, die ein emotionales/materielles Interesse daran haben das alles
so bleibt wie es ist.
Der „Prima facie“ - Trugschluss
Der erste ist die „Prima facie“ Assoziation. Das bedeutet ganz einfach: „auf den
ersten Blick“; „ohne Recherche“.63 Das ist bei Weitem die gängigste Form der Kritik.
Ein Paradebeispiel ist die häufig angebrachte Annahme, dass die von TZM
präsentierten Beobachtungen und Lösungen lediglich neu aufbereiteter
„marxistischer Kommunismus“ seien.
Lasst uns auf dieses Beispiel kurz eingehen. Wenn wir uns das „kommunistische
Manifest“64 betrachten zeigen Marx und Engels bestimmte Beobachtungen
hinsichtlich der Entwicklung der Gesellschaft, speziell den „Klassenkrieg“, dem
Kapital innewohnende strukturelle Beziehungen, sowie die Logik einer
gesellschaftlichen Ordnung, die sich durch eine „Revolution“ zu einem staatslosen,
klassenlosen System wandeln würde. Zudem nennen sie eine Reihe von
gesellschaftlichen Veränderungen, wie z.B. die „Zentralisierung der Kommunikationsund Transportmittel in der Hand des Staates“, „Gleiche Verpflichtung aller zur Arbeit“
und andere Einzelheiten. Marx erschafft in diesem Schema die Spieler „Bourgeoisie
und das Proletariat“ welche in einem andauernden Kampf sind, wobei er Verachtung
gegenüber der innewohnenden Ausnutzung zeigt, die, wie er behauptet, durch die
Idee des „Privateigentums“ entstünde. Am Ende sei das letzte Ziel eine „staatslose
und klassenlose Gesellschaft“.
Oberflächlich betrachtet scheinen die Reformationen, die von TZMs Lösungen
angestrebt werden die Attribute des „Marxismus“ widerzuspiegeln, wenn man die
zugrunde liegenden Begründungen komplett ignoriert. Die Idee einer „klassenlosen“
Gesellschaft, „ohne ‚zeitlich unbegrenztes‘ Eigentum“ und die komplette
Neudefinierung was den „Staat“ ausmacht, scheint oberflächlich eine Gemeinsamkeit
zu zeigen. Insbesondere weil die westliche akademische Welt für gewöhnlich eine
Dualität zwischen „Kommunismus“ und „Kapitalismus“ mit den vorher genannten
Punkten als Hauptunterscheidungsmerkmale propagiert. Der Gedankengang jedoch,
der diese scheinbar ähnliche Schlussfolgerung unterstützt, ist völlig anders.
62
Literaturempfehlung: Value Wars: The Global Market Versus the Life Economy: Moral Philosophy and
Humanity, John McMurtry, Pluto Press, 2002
63
http://de.wikipedia.org/wiki/Prima_facie
64
Von Karl Marx und Friedrich Engels 1848 geschrieben wird dieser Text als das der ultimative ideologische
Ausdruck von marxistischem Kommunismus beschrieben. Es wird gesagt, dass „Kommunismus“ die
Verwirklichung von „Marxismus“ ist. Dieser ist online hier verfügbar:
http://www.marxists.org/archive/marx/works/1848/communist-manifesto/index.htm
30
Logik vs. Psychologie
TZMs befürworteter Bezugspunkt für die Entscheidungsfindung ist keine moralische
Philosophie65. Wenn man die marxistische Philosophie bis an die Wurzel untersucht,
basiert diese jedoch genau darauf.
TZM ist nicht interessiert an einer poetischen, subjektiven und willkürlichen Idee einer
„fairen Gesellschaft“, „garantierter Freiheit“ oder „dem Schaffen einer besseren Welt“
einfach weil es sich „richtig“, „menschlich“ oder „gut“ anhört. Ohne technische
Rahmenbedingungen, die einen direkten physischen Bezug haben, birgt solch ein
Moral-Relativismus auf lange Sicht keinerlei Zweck.
TZM ist eher an wissenschaftlicher Anwendung interessiert, die für gesellschaftliche
Nachhaltigkeit - sowohl physisch als auch kulturell - angewandt werden.66
Wie im späteren Verlauf genauer ausgeführt wird, ist die Anwendung der Methode
der Wissenschaft nicht auf die „physische Welt“67 beschränkt und demnach liegen
das Gesellschaftssystem, Infrastruktur, relevante Bildung und sogar das Verständnis
menschlichen Erhaltens selbst innerhalb der wissenschaftlichen Kausalität.
Gleichermaßen gibt es ein in die physische Welt eingebautes natürliches Feedback
System, welches sich selbst ausdrückt und mit der Zeit zeigt, was „funktioniert" und
was nicht,68 wodurch unsere bewusste Anpassung geleitet wird.
Marxismus basiert in keinster Weise auf dieser „berechneten“ Weltansicht, auch
wenn darin einige wissenschaftlich basierte Eigenschaften innewohnen.
Beispielsweise war die marxistische Ansicht einer „klassenlosen Gesellschaft“ dazu
gedacht, die aus dem Kapitalismus resultierende „Unmenschlichkeit“ für die
arbeitende Klasse (oder das „Proletariat“) zu überwinden.
TZMs unterstützter Gedankengang andererseits zitiert Fortschritte von in den
Humanwissenschaften. Es sieht beispielsweise, als Ergebnis unserer natürlichen
evolutionären Psychologie69, dass soziale Stratifikation des kapitalistischen/MarktModell tatsächlich eine indirekte Form der Gewalt ist. Es erzeugt eine unnötige Form
menschlichen Leidens auf vielen Ebenen, die destabilisierend und durch die daraus
resultierenden Folgen technisch unnachhaltig sind.
65
Wie folgt definiert: „Philosophische Disziplin oder einzelne Lehre, die das sittliche Verhalten des Menschen zum
Gegenstand hat; Sittenlehre, Moralphilosophie“ http://www.duden.de/rechtschreibung/Ethik
66
Das Argument, dass die Wissenschaft keine Philosophie ist, ist sicherlich offen für Interpretation und Semantik
aber der Punkt hier ist die Idee von „richtig oder falsch“ und anderen „ethischen“ Begrifflichkeiten, die häufig in
der Philosophie vorkommen. Im wissenschaftlichen Kontext haben diese jedoch eine gänzlich andere Bedeutung,
da sie eher auf den Nutzen und ein Gleichgewicht achten, anstatt lediglich „Moralität“, wie sie klassisch definiert
ist. In der Wissenschaft wird menschliches Verhalten am besten als inhärente Kausalität in der natürlichen Welt
verstanden, um „angemessenes“ menschliches Verhalten mit einem bestimmten Zweck durch testen, erarbeiten
von Rückschlüssen und logische Assoziationen zu rechtfertigen. Natürlich ist das, wie schon gesagt, auf der ein
oder anderen Ebene mehrdeutig und wahrscheinlich der genauste Kontext der Philosophie im Bezug auf
Wissenschaft als Vorgänger für Bestätigung durch Recherche und Experimente.
67
Der Begriff „physische Welt“ wird oft benutzt, um eine Grenze zwischen den „geistigen“ Prozessen des
menschlichen Gehirns oder soziologischen Phänomenen und der physischen Umgebung, die außerhalb unserer
Gedankenprozesse existiert, zu ziehen. In der Realität gibt es aber nichts außerhalb der „physischen Welt“, wie
wir sie kennen, da es kein konkretes Beispiel gibt bei dem Kausalzusammenhänge einfach negiert werden.
68
Feedback von der Umwelt kann als „Korrekturmechanismus“ der Natur bezüglich unserer Entscheidungen
verstanden werden. Ein einfaches Beispiel ist die industrielle Produktion von Chemikalien, die negative
Auswirkungen haben, wenn sie in die Umwelt abgegeben werden, wodurch sich Inkompatibilitäten mit den
lebensunterstützenden Mechanismen aufkommen - wie es mit FCKW der Fall war, weil dadurch die Ozonschicht
beschädigt wurde.
69
Literaturempfehlung: The Spirit Level, Kate Pickett & Richard Wilkinson, Bloomsbury Press, 2011
31
Logik vs. Psychologie
Ein weiteres Beispiel ist, dass TZMs Interesse darin besteht dem „zeitlich
unbegrenzten“ Eigentum70 zu entwachsen und ein System des „geteilten Zugangs“
einzuführen. Das wird oft mit der marxistischen Idee der „Abschaffung von
Privateigentum“ gleichgesetzt. Jedoch kann man allgemein sagen, dass die
marxistische Logik sich auf das Bestehen des Privateigentums zur Fortführung der
„Bourgeoisie“ und deren andauernde Ausbeutung des „Proletariats“ bezieht. In
seinem Manifest heißt es: „Das entscheidende Merkmal des Kommunismus ist nicht
die Abschaffung von Eigentum allgemein, sondern die Abschaffung des Eigentums
der Bourgeoisie“.
TZMs angeführte Logik jedoch bezieht sich auf die Tatsache, dass zeitlich
unbegrenztes individuelles Eigentum von Gütern als gängige Methode ineffizient
hinsichtlich der Umwelt, verschwenderisch und letztendlich unnachhaltig ist. Das
wiederum unterstützt ein systematisch einschränkendes Verhalten und ein unnötiges
Maß an Armut. Deshalb ist in Gesellschaften mit einer unausgewogenen Verteilung
von Ressourcen Kriminalität häufiger vorzufinden.
Solche „Prima facie“ Assoziationen kommen sehr häufig vor und man könnte hier
Weitere anführen. Aber es würde zu weit führen in diesem Kapitel alle vermeintlichen
Verbindungen zwischen Marxismus und TZMs vertretenen Gedankengang zu
diskutieren.71
Der „Strohmann“-Trugschluss
Der zweite argumentative Trugschluss bezieht sich auf die gewollte oder projizierte
Fehlinterpretation einer Position, die für gewöhnlich als „Strohmann“72 bezeichnet
wird. Wenn es um die Fehlinterpretation von TZM geht, wird diese ohne handfeste
Beweise mittels herangetragenen Interpretationen getan, die keine Verbindung zu
dem zentralen Streitpunkt haben.
Beispielsweise ist es üblich, dass Menschen, wenn man die Organisation eines
neuen Gesellschaftssystem diskutiert, ihre aktuellen Werte und Bedenken in das
neue Modell projizieren ohne die enormen Veränderungen des Kontexts in Betracht
zu ziehen, die solche Bedenken meist sofort aufheben würden.
Eine häufige Strohmann-Projektion in diesem Zusammenhang ist, dass die
Menschen angeblich keinen Anreiz mehr haben würden, irgendetwas zu tun, wenn
die materielle Produktion direkt auf technologischen Anwendungen basieren würde
und nicht auf dem System des Austausches, welches die Bezahlung von Arbeit
erfordert. Demnach würde das Modell scheitern, da nichts geschaffen werden würde.
70
[engl. universal property] Dieses Konzept wird in Teil 3 weiter ausgeführt aber es ist wichtig zu betonen, dass
der „Zugang“ der durch das vorgeschlagene Gesellschaftssystem (NLRBE) nicht die rechtlichen Beziehungen,
um die Nutzung von Gütern sicher zu stellen, ausschließt. Die Idee hinter der Reduzierung des aktuellen
Eigentumssystems hin zu einem „geschütztem Zugang“, bei dem jemand z.B. eine Kamera von einem
Verteilungszentrum erhält und von dann an den rechtlichen Status von Eigentum annimmt, ist nicht mit der
kapitalistischen Ansicht von Eigentum verwechseln, da er dort als universeller Zweck angesehen wird und eine
große Quelle von industrieller Ineffizienz und Ungleichgewicht ist.
71
Siehe Anhang D, häufige Gegenargumente
72
Die wahrscheinlich beste Beschreibung dafür ist sich einen Kampf vorzustellen bei dem der Gegner eine
Vogelscheuche(Strohmann) hinstellt, diesen angreift und schlägt, und dann den Sieg beansprucht, während der
echte Gegner noch unberührt steht.
32
Logik vs. Psychologie
Diese Art von Argument hat keine bestätigte Aussagekraft im Rahmen der
Sozialwissenschaften und ist eher eine intuitive Annahme, die aus dem aktuellen
kulturellen Klima entsteht, bei dem das Wirtschaftssystem jeden Menschen in
Arbeitsrollen zwingt, damit sie überleben können(Einkommen/Profit). Dabei bleiben
oft persönliche Interessen oder gesellschaftlicher Nutzen unbeachtet und es entsteht
eine psychologische Verzerrung der Motivation.
In den Worten von Margaret Mead: „Wenn du genau hinsiehst, wirst du sehen, dass
fast alles, was uns wirklich wichtig ist, alles was unser tiefstes Engagement für die Art
und Weise wie das menschliche Leben gelebt und gepflegt werden sollte, von einer
Form der Freiwilligkeit abhängt.“73
In einer 1992 durchgeführten Gallup-Umfrage wurde ermittelt, dass mehr als 50% der
amerikanischen Erwachsenen (94 Millionen Amerikaner) ihre Zeit im Durchschnitt für
4,2 Stunden pro Woche für soziale Zwecke aufwendeten mit einer Gesamtsumme
von 20.5 Milliarden Stunden pro Jahr.74
Es gab ebenso eine Studie dazu, dass monotone, stumpfsinnige Arbeit dazu führt,
dass man eher traditionelle Belohnungen wie Geld anstrebt, wobei Geld keine
Motivation ist, wenn es um Innovationen und Kreativität geht.75 In späteren Kapiteln
wird die Idee der Anwendung von Mechanisierung für stumpfsinnige Arbeiten
diskutiert, um Menschen zu befreien. Hierbei wird gezeigt, dass das Arbeit-fürEinkommen-System veraltet und hindernd ist, nicht nur für das Potenzial und die
Effizienz der Industrie, sondern auch für menschliches Potenzial allgemein.
Ein weiteres häufig gebrachtes Lehrbuch-Beispiel für einen „Strohmann“ ist die
Behauptung, dass bei dem Übergang in ein neues Gesellschaftssystem, das
Eigentum von Anderen gezwungenermaßen von einer „herrschenden Macht“
konfisziert werden müsste, wodurch Gewalt entstehen würde. Das ist eine
Werteprojektion/Angst, die auf TZMs angeführte Logik ohne Gültigkeit angewandt
wird.
TZM sieht die Verwirklichung eines neuen sozioökonomischen Modells durch die
Zustimmung der Bevölkerung. Die Grundlage für Einfluss auf die Bevölkerung sind
die Erkenntnisse selbst und die „bio-sozialen Zwänge“, die durch das Scheitern des
aktuellen Gesellschaftssystems entstehen. Das Konzept unterstützt keinen
„diktatorischen“ Ansatz, da dieser nicht nur unmenschlich ist, sondern auch nicht
funktionieren würde. Damit ein System wie die NGRBW funktionieren kann braucht
es die Akzeptanz der Bevölkerung ohne den Zwang durch den Staat. Demnach ist es
ein Problem von Recherche, Bildung und persönlicher Akzeptanz innerhalb der
Gemeinschaft. Es ist sogar so, dass die Einzelheiten der gesellschaftlichen
Interaktion und der Lifestyle innerhalb des neuen Systems eine Akzeptanz der
Funktionsweise und Werte des Systems verlangen.
Gleichermaßen und als letztes Beispiel eines „Strohmannes“ ist die Verwirrung
darüber, wie der Übergang in ein neues System überhaupt geschehen kann.
Tatsächlich ist es sogar so, dass Einige TZM allein auf dieser Grundlage ablehnen,
da sie nicht verstehen wie so etwas überhaupt durchgeführt werden kann. Dieses
73
“Have you noticed...“, Vital Speeches of the Day, Robert Krikorian, 1985, p 301
Giving and Volunteering in the United States: Findings from a National Survey, Hodgkinson & Weitzman, 1992,
p2
75
Literaturempfehlung: Drive: The Surprising Truth About What Motivates Us, Daniel Pink, Riverhead, 2011
74
33
Logik vs. Psychologie
Argument ist im Kern dasselbe, als wenn ein kranker Mensch versucht eine
Behandlung zu bekommen, aber nicht weiß wo er diese Behandlung bekommen
kann, wann sie verfügbar wäre, oder welche Behandlung er/sie überhaupt benötigt.
Lässt das fehlende Verständnis diesen Menschen aufhören zu suchen? Nein - nicht
wenn er/sie gesund werden möchte. In Anbetracht der Lage auf unserem Planeten,
muss die Menschheit weiter suchen und der Pfad wird letztendlich klar werden.76
„Prima Facie“ und „Strohmann“ Argumente sind das Fundament der meisten
Einwände, die gegen TZM angebracht werden und in Anhang D - „häufige
Gegenargumente“ können weitere Beispiele gefunden werden.
Zu guter Letzt ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass der Kampf zwischen Logik und
Psychologie der zentrale Konflikt ist, wenn es um gesellschaftliche Veränderung
geht. Es gibt keinen Kontext der persönlicher und sensibler ist als die Organisation
unserer Leben in einer Gesellschaft. Ein wichtiges Ziel von TZM ist es, Methoden zu
finden, die die Öffentlichkeit über den Nutzen von diesem mechanistischen
logischen Gedankengang aufklärt. Dadurch wird die Last der überholten
psychologischen Komfortzonen überwunden, die keiner fortschrittlichen,
lebensfähigen Wertrolle in der modernen Welt dienen.
76
Mehr zum Thema Übergang in Teil IV
34
Das Plädoyer für menschliche Einheit
Das Plädoyer für menschliche Einheit
„Meine Heimat ist die Welt, und Gutes tun meine Religion.“
- Thomas Paine
77
Eine wichtige Schlussfolgerung aus den TZM Vorschlägen ist, dass die Menschheit
ihre Wirtschaft vereinen und daran arbeiten muss, sich der natürlichen Dynamik der
physischen Welt anzupassen, als eine Spezies, die einen einzigen Lebensraum
bewohnt - wenn wir Probleme beheben, Sicherheit sowie Effizienz erhöhen und
unseren Wohlstand mehren wollen. Die wirtschaftliche Trennung, die wir heute
beobachten, ist nicht nur eine Quelle für Konflikte, Destabilisierung und Ausbeutung,
sondern diese Verhaltensweise selbst ist - rein wirtschaftlich gesehen - extrem
ineffizient, wodurch unser gesellschaftliches Potenzial behindert wird.78
Die wettbewerbsbasierten Nationalstaaten können schlicht als natürlicher Auswuchs
unserer kulturellen Evolution gedeutet werden, da, historisch gesehen,
Ressourcenmangel und Krieg im Allgemeinen vorherrschten. Ebenso könnte die
Menschheit es als sinnvoll ansehen, diese Vorgehensweisen aufzugeben, sobald wir
verstehen, dass es letztendlich für uns alle als Gruppe von Vorteil ist.
Wie hier ausgeführt wird, sind die Nachteile und Ineffizienz dieses aktuellen Modells wenn sie mit den möglichen Vorteilen und Lösungen verglichen werden - einfach
inakzeptabel. Die Effizienz und Möglichkeiten des Überflusses, die durch das von
TZM angestrebte sozioökonomische System ermöglicht werden, basieren zum Teil
auf der koordinierten Zusammenarbeit von Menschen und auf der Idee Ressourcen
intelligent miteinander zu teilen. Diese Möglichkeiten basieren nicht auf
Einschränkungen und Kämpfen um die Ressourcen, wie wir es heute systembedingt
tun.
Die aus der technologisch fortgeschrittenen Kriegsführung, Umweltverschmutzung,
Umweltdestabilisierung und weiteren Problemen resultierenden gesellschaftlichen
Zwänge zeigen nicht nur einen logischen Weg zu wahrhaftig globaler Organisation,
sie zeigen auch eine, aus der Vernunft begründete, Notwendigkeit. Die
fremdenfeindliche, mafiaähnliche Mentalität, die dem Nationalstaat innewohnt - oft in
Form von „Patriotismus“ - ist eine Quelle starker Destabilisierung und genereller
Unmenschlichkeit und, um es noch einmal zu erwähnen, ganz zu schweigen von
dem grundsätzlichen Verlust technischer Effizienz.
Falsche Trennungen
Wie in vorherigen Kapiteln erwähnt, liegt die Basis für unser Überleben auf dem
Planeten und unsere Lebensqualität als Individuen in dem Verständnis der
Naturgesetze und wie diese sich auf unsere Verwaltung der Wirtschaft beziehen.
Diese Prämisse ist eine einfache Erkenntnis, bei der die physischen Naturgesetze für
77
Rights of Man, Thomas Paine, 1791, p162
Ein Beispiel hierfür wäre eine patriotische wirtschaftliche Voreingenommenheit, die oft die Handlungen
regionaler Industrien beeinflusst. In der physischen Realität gibt es technisch gesehen nur eine einzige
Wirtschaft, wenn man mit den Ressourcen des Planeten Erde und den Naturgesetzen arbeitet. Beispielsweise
erzeugt die Idee „Made in Amerika“, erzeugt sofort eine technische Ineffizienz, da ordentliche Güterherstellung
auf mehreren Ebenen eine weltweite Angelegenheit ist, inklusive dem Nutzungsrecht des Wissens der Welt.
Bewusst Arbeit und Nutzung/Förderung von Materialien auf die Grenzen eines Landes zu beschränken ist
ökonomisch kontraproduktiv im wahrhaftigen Sinne des Wortes „Ökonomie“.
78
35
Das Plädoyer für menschliche Einheit
wirtschaftliche Effizienz auf menschlicher Ebene, sowie auf der Ebene unseres
Lebensraums betrachtet werden.
Für eine Spezies ist es nur logisch, sich möglichst optimal den Bedingungen in ihrem
heimischen Lebensraum anzupassen, auf den sie für das Überleben angewiesen ist.
Jede andere Ausrichtung ist per Definition irrational und kann nur zu Problemen
führen.
Das Verständnis, dass die Erde ein symbiotisch/synergetisches „System“ ist, deren
Ressourcenvorkommen sich nicht an nationale Grenzen hält, dient in Verbindung mit
den nachweisbaren kausalen Naturgesetzen als logischer „Wegweiser“ für die
Anpassung der Menschheit, um höhere gesellschaftliche Effektivität zu erreichen. So
sehen wir, dass unser größerer Kontext als globale Gesellschaft nahezu alle
traditionellen und kulturellen Trennungen überwindet, inklusive der Treue zu einer
Nationalität, einem Unternehmen oder einer „politischen“ Tradition.
Bei einer Wirtschaft, in der es darum geht, die Bedürfnisse der menschlichen
Bevölkerung effizient zu decken und gleichzeitig die Nachhaltigkeit und den
Wohlstand zu erhöhen, müssen sich unsere wirtschaftlichen Handlungen danach
richten, sich dem größten natürlichen System anzupassen. Aus dieser Perspektive
sind Nationalstaaten sicherlich falsche, willkürliche Trennungen, die durch kulturelle
Traditionen fortgeführt werden und nicht auf Grund logischer, technische Effizienz.
Werte
Heute funktioniert die Gesellschaft auf vielen Ebenen durch menschlichen
Wettbewerb: Nationalstaaten konkurrieren um Ressourcen; Unternehmer
konkurrieren auf dem Markt um Marktanteile und Profit; und der einfache Arbeiter
konkurriert um Arbeitsplätze, die einen Lohn erbringen und demnach um sein
persönliches Überleben selbst.
Unter der Oberfläche dieser konkurrenzbetonten gesellschaftlichen Ethik besteht
eine Vernachlässigung des psychologischen Wohlergehens anderer und des
gemeinsamen Lebensraums. Die Natur des Wettbewerbs besteht darin, einen
persönlichen Vorteil vor anderen zu haben und demnach ist es natürlich, dass
Trennung und Ausbeutung (von Menschen und Natur) grundlegende Eigenschaften
unserer aktuellen gesellschaftlichen Ordnung sind. Nahezu alle so genannten
„Korruptionen“, die wir heutzutage als „kriminell“ ansehen, basieren auf der gleichen
wettbewerbsbasierten Mentalität, die angeblich zum „Fortschritt“ führen soll.
Es ist also kein Wunder, dass bei diesen Rahmenbedingungen und der andauernden
Kurzsichtigkeit einige weitere zerstörerische, oberflächliche, gesellschaftliche
Trennungen immer noch vorherrschen - wie Rasse, Religion, Überzeugung, Klasse
oder Voreingenommenheit gegenüber Fremden. Diese trennende Last aus früheren,
angst-orientierten Zuständen unserer kulturellen Evolution hat heutzutage einfach
keine sinnvolle Basis in der Realität mehr und hindert uns heute nur an Fortschritt,
Sicherheit und Nachhaltigkeit.
Wie später weiter ausgeführt wird, gibt es heutzutage Effizienz und Überfluss
produzierende Methoden, welche die meisten menschlichen Armutsverhältnisse
beheben, den allgemeinen Lebensstandard erhöhen und unsere Volksgesundheit
und ökologische Nachhaltigkeit nahezu perfektionieren können. Diese Effizienz und
diese Methoden werden aufgrund von etablierten gesellschaftlichen Traditionen,
36
Das Plädoyer für menschliche Einheit
inklusive der Idee der Nationalstaaten, nicht anerkannt. Tatsache ist, dass es
technisch gesehen nur eine Rasse gibt - die menschliche Rasse79; es gibt nur einen
grundlegenden Lebensraum - die Erde; und es gibt nur eine funktionierende Methode
für sinnvolles Handeln - wissenschaftlich.
Ursache und Einfluss
Betrachten wir kurz die Ursache dieses konkurrenzbetonten und trennenden Modells
betrachten. Ohne weit ins Detail zu gehen, ist es offensichtlich, dass die Evolution
der menschlichen Gesellschaft eine Geschichte von Konflikt, Knappheit und
Unausgeglichenheit ist. Auch wenn es Uneinigkeiten über die Gesellschaften gibt,
die es vor der neolithischen Revolution80 gab, ist die Erde seitdem ein
Kriegsschauplatz gewesen, bei dem Unzählige ihr Leben lassen mussten, und zwar
aufgrund von Wettbewerb, ob materiell oder ideologisch.81
Dieses anerkannte Muster ist so allgegenwärtig, dass viele heutzutage die Tendenz
für Konflikt und Dominanz als einen festen Bestandteil der menschlichen Natur
ansehen. Dadurch kommt man zu der Schlussfolgerung, dass es dem Menschen
einfach nicht möglich ist, in einem Gesellschaftssystem zu leben, das nicht auf
diesen konkurrenzbetonten Rahmenbedingungen basiert. Demnach würde jeder
Versuch in diese Richtung eine Schwachstelle erzeugen, die von einer Machtgruppe
ausgenutzt würde und dadurch soll diese vermeintlich in dem Menschen
innewohnende Wettbewerbs- oder Dominanz-Eigenschaft bewiesen werden.82
Auch wenn das Thema der menschlichen Natur kein direkter Fokus dieses Kapitels
ist83, ist es aufgrund des Kontexts wichtig zu erwähnen, dass die Annahme der
„empirisch belegten Ausnutzung von Macht“ einen Großteil der Verteidigung des
konkurrenzbetonten/trennenden Modells ausmacht. Dabei wird eine
verallgemeinernde, grobe Sichtweise der Geschichte als gültige Basis genommen.
Die speziellen Bedingungen in diesen Zeiten und die Formbarkeit des Menschen
werden in diesen Einschätzungen oft nicht mit berücksichtigt.84
Die historischen zu verzeichnenden Muster von Konflikten können nicht unabhängig
voneinander betrachtet werden. Eine detailgenaue Betrachtung der Bedingungen
79
„Die ‚mitochondriale Eva‘ ist ein Begriff aus der Archäogenetik und bezeichnet eine Frau, aus deren
mitochondrialer DNA (mtDNA) die mitochondriale DNA aller heute lebenden Menschen durch eine direkte
Abstammungslinie hervorgegangen ist. „ (http://de.wikipedia.org/wiki/Mitochondriale_Eva ). Wir sind eine Familie.
Ebenso wurde herausgefunden, dass alle Rassenunterschiede (Gesichtszüge/Hautfarbe) sich aufgrund von
verschiedenen Umweltbedingungen entwickelten, wodurch verschiedene Untergruppen von Menschen
entstanden. Daher ist es eine falsche Unterscheidung als Mittel für oberflächliche Diskriminierung.
80
Manchmal auch landwirtschaftliche Revolution genannt, war sie weltweit die erste historisch nachweisbare
Revolution in der Landwirtschaft. Es war der breit angelegte Übergang von vielen menschlichen Kulturen, aus
einem Lebensstil des Jagen und Sammelns, zu einem der Landwirtschaft und Siedlung, die eine immer größer
werdende Bevölkerung unterstützte und die Grundlage für die modernen gesellschaftlichen Muster heute
darstellt.
81
Im 20 Jahrhundert allein haben Statistiker die Anzahl der menschlichen Todesopfer von Kriegen Tode durch
Kriege zwischen 180 und 220 Millionen Menschen eingeschätzt, wobei einige diese Zahlen aufgrund von
Beweisen in verschiedenen regionalen Fällen auf das Dreifache einschätzen.
[http://www.sciencedaily.com/releases/2008/06/080619194142.htm]
82
Ein klassischer Text, der diese grundlegende Angst beschreibt, war Hayeks „Der Weg zur Knechtschaft“ (engl.
The Road to Serfdom). Diese „menschliche Natur“ hatte klare Auswirkungen, die dadurch gerechtfertigt wurde,
historische Trends des Totalitarismus mit kollaborativen/geplanten Wirtschaften zu assoziieren.
83
Siehe Kapitel: Das letzte Argument: Die Menschliche Natur
84
Die Natur / Umwelteinfluss-Debatte wurde als eine falsche Dualität in den Fachrichtungen Verhaltensbiologie /
Evolutionspsychologie etabliert. Die Realität ist, dass es eine Interaktion mit verschiedener Gewichtung je nach
Situation gibt. Wie dem auch sei, wichtig ist hier die Erforschung des „Bereiches menschlichen Verhaltens“
und wie anpassungsfähig und flexibel wir sind. Empholene Literatur: Why Zebras Don't Get Ulcers, Robert
Sapolsky, W. H. Freeman, 1998
37
Das Plädoyer für menschliche Einheit
und Umstände ist vonnöten. Die Dominanz/Konflikt-Tendenz ist sicherlich eine
mögliche Reaktion von nahezu allen Menschen aus dem Drang zur Selbsterhaltung
und des Überlebenskampfes heraus.85 Tatsächlich ist es höchstwahrscheinlich sogar
so, dass diese Tendenz eher durch die gesellschaftlichen Einflüsse hervorgerufen
wird, als eine direkte Quelle solch einer Reaktion zu sein. Wenn wir uns nicht
vorstellen können, wie die gewaltige Nazi-Armee bereit war ihre Handlungen
moralisch zu rechtfertigen, vergessen wir oft die enorme Propaganda, die von dem
vorherrschenden Regime benutzt wurde, diese biologisch bedingte Formbarkeit des
Menschen auszunutzen.86
Echtes „Eigeninteresse“
Das „Eigeninteresse“ ist zweifellos in dem menschlichen Bedürfnis zu überleben
verwurzelt. Es ist offensichtlich und einfach zu verstehen, wie in der Vergangenheit
das nackte Bedürfnis nach persönlichem Überleben - oft mit der Erweiterung zur
Familie und dann zum „Stamm“ (lokale Gemeinschaft) - den Grundstein für das
komplexere, trennende Zeitalter legte, in dem wir heute leben. Es sollte also aus
Sicht der Geschichte erwartet werden, dass viele ökonomische Theorien Wettbewerb
und Ungleichheit als Basis haben, wie z.B. die Werke von Adam Smith. Als Vater der
freien Marktwirtschaft stellte er die berühmte Annahme auf, dass wenn jeder nur an
sich selbst denkt, die Welt als Gemeinschaft voranschreiten würde. 87
Die aus dem engstirnigem, persönlichen Eigeninteresse entstandene Ansicht der
„unsichtbaren Hand“ war vielleicht früher eine funktionierende Philosophie für den
menschlichen Fortschritt, als die Gesellschaft sehr einfach und jeder ein Produzent
war.88 Die Gesellschaft hat sich jedoch durch wachsende Bevölkerung, durch
gänzlich verschiedene Rollen und durch exponentiell fortschreitende Technologie
drastisch verändert. Die Risiken, die mit diesem Denkmuster einhergehen, sind in
einer einfachen Gesellschaft gering, stellen sich aber heute eher als gefährlich statt
85
Häufig als „Kampf-oder-Flucht-Reaktion“ (oder akute Stress-Reaktion) bezeichnet; wurde als erstes vom
amerikanischen Physiologen Walter Bradford Cannon beschrieben.
86
„Nun, natürlich, das Volk will keinen Krieg. Warum sollte auch irgendein armer Landarbeiter im Krieg sein
Leben aufs Spiel setzen wollen, wenn das Beste ist, was er dabei herausholen kann, dass er mit heilen Knochen
zurückkommt? Natürlich, das einfache Volk will keinen Krieg; weder in Rußland, noch in England, noch in
Amerika, und ebenso wenig in Deutschland. Das ist klar.
Aber schließlich sind es die Führer eines Landes, die die Politik bestimmen, und es ist immer leicht, das Volk zum
Mitmachen zu bringen, ob es sich nun um eine Demokratie, eine faschistische Diktatur, um ein Parlament oder
eine kommunistische Diktatur handelt. (...)
Das Volk kann mit oder ohne Stimmrecht immer dazu gebracht werden, den Befehlen der Führer zu folgen. Das
ist ganz einfach. Man braucht nichts zu tun, als dem Volk zu sagen, es würde angegriffen, und den Pazifisten
ihren Mangel an Patriotismus vorzuwerfen und zu behaupten, sie brächten das Land in Gefahr. Diese Methode
funktioniert in jedem Land. „ - Hermann Göring [Führendes Mitglied der NSDAP; Aus einem Interview mit Gilbert
in Görings Gefängniszelle während der Nürnberger Prozesse (18 April 1946)]
87
„Nicht von dem Wohlwollen des Fleischers, Brauers oder Bäckers erwarten wir unsere Mahlzeit, sondern von
ihrer Bedachtnahme auf ihr eigenes Interesse. Wir wenden uns nicht an ihre Humanität, sondern an ihre
Eigenliebe und sprechen ihnen nie von unseren Bedürfnissen, sondern von ihren Vorteilen“ - Adam Smith,
Untersuchungen über das Wesen und die Ursachen des Nationalreichthums, Band 1
http://books.google.de/books?id=iidFAAAAYAAJ&pg=PA26
88
Der Soziologe Thorstein Veblen beobachtete 1917, wie sich die Gesellschaft veränderte und wie sich das auf
die ursprüngliche Prämisse der Marktwirtschaft auswirkte. „Die etablierten Theorien der
Wirtschaftswissenschaften haben Eigentumsrechte und -Verträge als axiomatische und ultimative Prämissen
angesehen; und deren Theorien werden für gewöhnlich so ausgelegt, dass sie den Umständen des Handwerks
und dem kleinen Handel passen [...] Diese Theorien [...] scheinen, im Ganzen gesehen, tragbar, wenn man sie
auf die wirtschaftliche Situation von damals überträgt [...] Wenn diese etablierten Theorien jedoch auf spätere
Zeiten übertragen werden, die den Umständen des Handwerks entwachsen sind, erscheinen sie als wertlos und
trügerisch. „ [An Inquiry Into The Nature Of Peace And The Terms Of Its Perpetuation] Er hat ebenso den
Aufstieg der „Investment Klasse“ vorausgesehen; heute sind diese nicht-produzierenden, finanziellen
Institutionen, wie Banken und Aktienmärkte, monetär lohnender als die eigentliche Herstellung von Gütern.
38
Das Plädoyer für menschliche Einheit
nützlich heraus und die Definition von „Eigeninteresse“ nimmt nun einen weiteren
Kontext als je zuvor ein.
Ist es nicht in unserem eigenen Interesse, den uns erhaltenden Lebensraum zu
schützen und zu pflegen? Ist es nicht in deinem eigenen Interesse, sich um die
Gesellschaft als Ganzes zu kümmern, sich um ihre Mitglieder zu kümmern, so dass
die Folgen der Armut, wie z.B. „Kriminalität“, so weit wie möglich reduziert werden,
um deine Sicherheit zu garantieren? Ist es nicht in deinem eigenen Interesse, die
Folgen von imperialistischen Kriegen abzuschätzen, die zu heftigem,
chauvinistischem Hass auf der einen Hälfte der Erde führen kann, um dann als
verzweifelter Akt des „Gegenschlags“ lediglich aus Vergeltungsgründen
beispielsweise eine Kofferbombe hinter dir im Restaurant hochgehen zu lassen?
Ist es nicht in deinem eigenen Interesse, dass alle Kinder der Gesellschaft die beste
Erziehung und Bildung bekommen, sodass deine Zukunft und die deiner Kinder
verantwortungsbewusst, gebildet und in einer immer produktiveren Welt existieren
kann? Ist es nicht in deinem eigenen Interesse sicherzustellen, dass die Industrie so
organisiert, optimiert und wissenschaftlich präzise wie möglich ist, sodass wir keine
schäbigen, billigen Technologien produzieren, die bei einem Fehlverhalten ein
gesellschaftliches Problem erzeugen können?
Unterm Strich zählt, dass sich die Welt verändert hat und unser „Eigeninteresse“ nur
so gut ist, wie unser „gesellschaftliches Interesse“. Wettbewerbsorientiert zu handeln,
nur auf sich selbst zu schauen und andere zu „besiegen“ hat auf lange Sicht
gesehen nur negative Folgen, denn es ignoriert die Auswirkungen auf die
Gesamtheit des Systems, an welches wir gebunden sind. Ein minderwertig
hergestelltes Atomkraftwerk in Japan scheint den Amerikanern nicht viel zu
bedeuten. Wenn aber dieses Kraftwerk einen großen technischen Fehler aufweist,
werden die radioaktiven Strahlen und die Verschmutzung vielleicht sogar bis hin zu
amerikanischen Wohnhäusern gelangen, wodurch bewiesen wird, dass man auf
lange Sicht gesehen nicht wirklich sicher ist, wenn man kein weltweites Bewusstsein
an den Tag legt.
Am Ende des Tages kann in der modernen Welt nur ein globales MenschheitsBewusstsein das echte „Eigeninteresse“ sicherstellen und bei Berücksichtigung
dieser Tatsache wird unsere gesellschaftliche „evolutionäre Fitness“89 in vielerlei
Hinsicht gewährleistet. Die bloße Idee „dein eigenes Land“ zu unterstützen und das
Ignorieren der anderen - oder sogar die Freude über die Fehler der Anderen - ist eine
destabilisierende Verhaltensweise.
Kriegsführung
Die Tage sinnvoller Kriegführung sind schon lange gezählt. Neu aufkommende
Technologien können ein Waffenarsenal hervorbringen, das die Atombombe wie ein
römisches Katapult aussehen lässt.90 Jahrhunderte zuvor konnten die Auswirkungen
von Kriegen auf die kriegführenden Parteien beschränkt werden. Heute jedoch ist die
gesamte Welt bedroht. Es gibt 23.000 nukleare Waffen, welche die Menschheit
mehrere Male auslöschen können.91
89
Evolutionäre Fitness ist ein Begriff aus der Biologie, der allgemein wie folgt definiert wird: „Die
Wahrscheinlichkeit mit der die Abstammungslinie eines Individuums mit bestimmten Eigenschaften überlebt.“ In
diesem Zusammenhang verbinden wir menschliche Aktionen innerhalb der Gesellschaft mit dem Konzept des
Überlebens der Spezies.
90
Siehe: http://crnano.typepad.com/crnblog/2005/05/applications_fo.html
91
Siehe: http://www.wagingpeace.org/articles/db_article.php?article_id=253
39
Das Plädoyer für menschliche Einheit
In vielerlei Hinsicht wird heute die gesellschaftliche Reife von uns auf den Prüfstand
gestellt. Stöcke und Steine als Waffen konnten ein großes Maß an menschlichen
Verzerrungen und schädlichen Absichten tolerieren. Aber in einer Welt von
Nanotechnologie-Waffen mit enormen destruktiven Kräften muss unser
„Eigeninteresse“ innehalten und die Institution des Krieges muss systematisch zu Fall
gebracht werden. Um dies zu erlangen, müssen sich die Nationen wissenschaftlich
vereinen und ihre Ressourcen sowie Ideen teilen; sie nicht für konkurrenzbetonte
„Selbstverbesserung“ horten, was heutzutage die Norm ist.
Institutionen wie die Vereinten Nationen sind in dieser Hinsicht ein kompletter
Fehlschlag geworden, da sie natürlicherweise Werkzeuge werden, um ein Imperium
aufzubauen. Dies resultiert durch die grundlegende Natur der Trennung von
Nationen und die sozioökonomische Dominanz durch das Eigentum-/Geld/Wettbewerbsbasierte System. Es ist nicht genug, alle Führer weltweit an einem
Tisch zu versammeln, um ihre Probleme zu diskutieren. Die Struktur selbst muss sich
ändern, um eine andere Art der Interaktion zwischen diesen regionalen „Gruppen“ zu
ermöglichen, wobei die ständig herrschende „Bedrohung“ der Nationalstaaten
untereinander beendet werden muss.
Letztendlich gibt es kein empirisches Eigentum von Ressourcen oder Ideen.
Genauso wie alle Ideen der Reihe nach, und über Kulturen hinweg, durch unseren
„Gruppenverstand“ (engl. Group Mind) entwickelt wurden, sind die Ressourcen des
Planeten ebenso vergänglich in ihrer Funktion und ihr möglicher Zweck ist
wissenschaftlich definiert. Die Erde ist ein einheitliches System, in dem regulierende
Naturgesetze vorherrschen. Entweder die menschliche Gesellschaft erkennt dies und
beginnt sich dieser innewohnenden Logik anzupassen oder wir werden in Zukunft
noch mehr leiden.
40
Das letzte Argument: Die Menschliche Natur
Das letzte Argument: Die Menschliche Natur
„Der Mensch erwirbt mit der Geburt durch Vererbung eine biologische Grundlage, die wir als fest und
unabänderlich betrachten müssen. Dies schließt die natürlichen Triebe ein, die für die menschliche
Spezies charakteristisch sind. Darüber hinaus erwirbt er während seines Lebens eine kulturelle
Grundlage, die er von der Gesellschaft durch Kommunikation und durch viele andere Einflüsse
übernimmt. Diese kulturelle Grundlage ist im Laufe der Zeit Änderungen unterworfen, und sie
bestimmt zu einem großen Teil die Beziehungen zwischen dem Individuum und der Gesellschaft.“92
- A. Einstein
Das verbliebene Argument
Der Gedankengang und die Anwendungsmöglichkeiten93, die in dem TZM Material
präsentiert werden, sind technischer Natur und drücken die Absicht aus, Methoden
und Vorzüge der wissenschaftlichen Kausalität auf das Gesellschaftssystem als
Ganzes anzuwenden.
Es sollten nicht nur die Vorteile dieser Herangehensweise selbst in Betracht gezogen
werden, sondern sie sollten ebenfalls im Kontrast zu den heute etablierten,
traditionellen Methoden und den daraus resultierenden Konsequenzen betrachtet
werden. Es wird sich dann wahrscheinlich herausstellen, dass unsere momentanen
gesellschaftlichen Methoden nicht nur absolut veraltet und im Vergleich ineffizient
sind -, sondern sie werden sogar immer gefährlicher und unmenschlicher. Dadurch
wird sich eine immer wichtiger werdende Notwendigkeit für eine großangelegte
gesellschaftliche Veränderung herausstellen. Es geht hier nicht um ein „Utopia“ - es
geht um praktische Verbesserungen.
Die allgemeine Grundlage des monetären Marktkonzeptes (kapitalistisch/freie
Marktwirtschaft) hat im Grunde mit Annahmen zu tun, die sich auf menschliches
Verhalten, traditionelle Werte und eine oberflächliche Betrachtung der Geschichte
beziehen. Es hat nicht mit aufkommenden Erkenntnissen, tatsächlichen Maßnahmen
für bessere Volksgesundheit, technischen Möglichkeiten oder ökologischer
Verantwortung zu tun. Es ist ein nicht-technischer, philosophischer Ansatz mit der
Annahme, dass auf der inneren Logik und dem Anreizsystemen des Marktsystems
basierende Entscheidungen der Menschen verantwortungsbewusste, nachhaltige
und menschenwürdige Ergebnisse produzieren werden. Dies wird verstärkt durch die
trügerische Vorstellung der „Wahlfreiheit“, die hinsichtlich gesellschaftlicher
Funktionalität gleichbedeutend mit der Organisationsform der Anarchie93b erscheint.94
92
„Warum Sozialismus?“„ http://www.jusos-wmk.de/2012/08/02/warum-sozialismus-von-albert-einstein/
Diese Begriffe werden in dem Glossar - Anhang A genauer beschrieben. Der „Gedankengang“ beschreibt die
zugrunde liegende Logik mit dessen Hilfe man zu den Vorschlägen von TZM gelangt. Die Anwendungen sind
schlicht der aktuelle Stand der Technologie. Der Unterschied ist, dass ersterer nahezu empirisch ist, während
letzterer vergänglich ist, da alle technologischen Werkzeuge sich mit der Zeit verändern.
93b
Es ist anzumerken, dass wir uns hier auf die in der Kultur geläufige Auffassung der „Anarchie“ beziehen. Uns
ist sehr wohl bewusst, dass Anarchie in seiner tatsächlichen Definition anders definiert ist. „Landläufig wird
Anarchie auch mit einem durch die Abwesenheit von Staat und institutioneller Gewalt bedingten Zustand
gesellschaftlicher Unordnung, Gewaltherrschaft und Gesetzlosigkeit beschrieben und vor allem in den Medien
häufig im Schlagwort „Chaos und Anarchie“ verwendet. Die tatsächliche Bezeichnung für einen solchen Zustand
ist jedoch Anomie.“ http://de.wikipedia.org/wiki/Anarchie
94
Zu dem Thema der wirtschaftlichen Organisation und den Mechanismen für industrielle Produktion könnte
einiges gesagt werden, mehr wird aber in Teil 3 beschrieben. Jedoch sei an dieser Stelle gesagt, dass der
Preismechanismus“ - welcher der zentrale Antrieb für wirtschaftlichen Verlauf ist - von Grund auf anarchistisch ist,
da es keine effizienten Systembeziehungen innerhalb des makro-industriellen Verhaltens gibt. Produktion,
Vertrieb und Ressourcenverteilung ist selbst mit viel Fantasie nicht „strategisch“ im technischen, physikalischen
Sinne. Die einzig angewandte Strategie, die der zentrale Anhaltspunkt für „Effizienz“ in der Marktwirtschaft ist, hat
mit dem Profit und den Verlusten/Arbeitskosten/Ausgaben zu tun; typischen Parametern, die keinerlei Beziehung
zu physikalischer Effizienz haben.
93
41
Das letzte Argument: Die Menschliche Natur
Aus diesem Grund wird das monetäre Marktmodel der Ökonomie in TZM Materialien
oft als religiös bezeichnet, da der kausale Antrieb in Wirklichkeit auf geradezu
abergläubischen Annahmen des Menschseins basiert. Es hat wenig Verbindung zu
aufkommenden wissenschaftlichen Erkenntnissen über uns selbst und der festen
symbiotischen/synergetischen Beziehung unseres Lebensraumes und seinen
vorherrschenden Naturgesetzen.
Wenn man TZMs lösungsorientierten Gedankengang vorstellt, ist es oft nur eine
Frage der Zeit, bis zumindest die grundlegende wissenschaftliche Prämisse in
Abstraktion verstanden und akzeptiert wird. Zum Beispiel findet die wissenschaftliche
Tatsache nur selten Gehör, dass wir sowohl die Ressourcen als auch die
industriellen Methoden besitzen, um jeden auf dem Planeten zu ernähren.95 Wenn
man den durchschnittlichen Bürger heute fragen würde, ob er das Ende des
chronischen Hungers für Milliarden Menschen sehen wollte,96 würde er
wahrscheinlich vom Standpunkt der „Moral“ aus zustimmen.
Erst wenn jedoch die Logik nachverfolgt wird und die weitläufigen gesellschaftlich
und wirtschaftlich benötigten Reformen aufgezeigt werden, um ernsthafte
systematische Unterstützung für diese Milliarden von Menschen zu schaffen, kommt
die Kritik und Ablehnung zum Vorschein. Obwohl diese Veränderungen auf lange
Sicht gesehen bessere Ergebnisse hervorbringen würden, verhindern sture
temporäre Werte-Assoziationen - durch die Gewöhnung der Menschen an ihr
derzeitiges Leben - jegliche Veränderungen. Daneben gibt es ein sehr häufiges
Argument, das weitere Diskussionen unmöglich macht:
Das ist das Argument der „menschlichen Natur“; der einzig mögliche verbliebene
Einwand, wenn man einmal darüber nachdenkt. Denn die Menschen haben aufgrund
von Identitätsassoziationen und angewöhnten Bequemlichkeiten Angst davor, ihren
fast willkürlichen kulturellen Lebensstil zu ändern.
Sind die Menschen kompatibel mit einem wahrhaftig nachhaltigen,
wissenschaftlichen sozio-ökonomischen System oder sind wir aufgrund unserer
Genetik dem Untergang geweiht?
Alles ist technisch
Das Plädoyer für ein neues Gesellschaftssystem, das auf einer wissenschaftlichen
Sichtweise für Erkenntnisse, maximierte Nachhaltigkeit und Wohlstand basiert, kann
eigentlich nicht durch irgendeinen anderen Ansatz widerlegt werden. Diese Aussage
erscheint sehr gewagt. Warum ist das so? Weil es einfach keinen anderen Ansatz
gibt, wenn man akzeptiert, dass die allumfassende Logik der Naturgesetze innerhalb
der wissenschaftlichen Methode als Mechanismus an der Wurzel physischer
Kausalität und Wechselbeziehungen liegt.
Beispielsweise könnte es viele äußerliche Designvarianten eines Flugzeugs geben,
jedoch ist die technische Umsetzung, die den Flug ermöglicht, an physische Gesetze
95
Das wurde von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen und
Welternährungsprogramm bestätigt. Für Quellen wird diese Seite empfohlen:
http://overpopulationisamyth.com/food-theres-lots-it#header-1
96
http://www.news-medical.net/news/20090623/102-billion-starving-people-worldwide-UN-says.aspx
42
Das letzte Argument: Die Menschliche Natur
gebunden. Demnach muss sich das physische Design des Flugzeugs an diese
Gesetze und an diese Funktion anpassen.
Die Herstellung solcher Maschinen, die dem Zweck der optimalen Leistung,
Sicherheit und Effizienz dienen, ist keine Ansichtssache. Ebenso ist es auch egal,
wie viel Dekoration wir um unsere Häuser herum platzieren, denn die physische
Struktur des Gebäudes muss den strengen Regeln der Physik und den natürlichen
Dynamiken unseres Lebensraums hinsichtlich Sicherheit und Standhaftigkeit
entsprechen. Daher kann die Struktur des Gebäudes nur relativ kleinen, technischen
Variationen unterliegen.
Die Organisation der menschlichen Gesellschaft ist in keiner Weise anders, wenn
das Ziel die Integrität und Optimierung ist. An die funktionalen Aspekte einer
Gesellschaft zu denken, bedeutet sozusagen über ein mechanistisches Prinzip
nachzudenken. Wir sollten uns mit Gesellschaftssystemen genauso beschäftigen,
wie wir ein technisch optimiertes Flugzeug entwerfen, denn ihre Funktionsweise ist
ebenso technisch.
Leider wurde in der Geschichte dieser generellen Betrachtung nie wirklich eine
Chance gegeben und unsere Welt wird immer noch in einer unpassenden Art und
Weise gesteuert. In dieser besteht der hauptsächliche Anreiz eher darin,
gleichgültigen, schnellen und kurzsichtigen persönlichen Gewinn einzustreichen und
einen Wettbewerbsvorteil zu erreichen, anstatt sich an angemessenen, strategischen
industriellen Methoden, ökologischer Ausrichtung, gesellschaftlicher Stabilität,
Betrachtung der Volksgesundheit und Generationennachhaltigkeit zu orientieren.
Das alles wird erwähnt, weil das Argument der menschlichen Natur gegen diesen
Ansatz das einzige scheinbar technische Argument ist, was das heute
vorherrschende veraltete System möglicherweise verteidigen kann; es ist das einzige
verbliebene Argument, wenn die Menschen mit nichts Anderem mehr argumentieren
können, da jeder Einwand gegen ein Naturgesetz-basiertes Gesellschaftssystem
irrational ist.
Gefesselt an Irrationalität?
Unterm Strich kann diese Problematik als Frage dargestellt werden: „Ist die
menschliche Spezies fähig sich anzupassen und in einem technisch organisiertem,
geplantem System zu florieren, in dem unsere Werte und Handlungen mit den
bekannten Naturgesetzen in der Praxis übereinstimmen? Oder sind wir
eingeschränkt durch unsere Gene, unsere Biologie und evolutionäre Psychologie,
und können nur auf die uns bereits bekannte Art und Weise funktionieren?“
Obwohl heutzutage viele über die Einzelheiten der Debatte über Natur vs. Erziehung
streiten - von einem „Blank Slate“ Behaviorismus97 zu einer genetischen
Vorherbestimmtheit98 - ist mindestens eine Sache klar geworden: Unsere Biologie,
97
Die Ansicht einer „Blank Slate“ („unbeschriebenes Blatt“) wurde durch Thomas Hobbes berühmt gemacht aber
kann sogar zurück zu den Schriften Aristoteles zurückverfolgt werden. Die Idee ist - kurz gesagt - dass Individuen
ohne eingebaute geistige Orientierung geboren werden und alles erlernt wird. Heute als umfassende Ansicht als
falsch entlarvt aufgrund von bewiesenem „programmiertem Lernen“ und dem Menschen innewohnender
„evolutionären Psychologie“, hat diese Idee jedoch generell Bestand.
98
Die Ansicht, dass menschliches Verhalten in hohem Maße eher durch Gene und Biologie beeinflusst werden
als durch Umwelteinflüsse ist immer noch in reger Diskussion - ganz zu schweigen von den häufigen intuitiven
Reaktionen von vielen bezüglich bestimmter menschlicher Verhaltensweisen. Sprüche wie „Es ist einfach
43
Das letzte Argument: Die Menschliche Natur
unsere Psychologie und unsere soziologische Verfassung sind eng mit unserer
Umwelt verbunden. Beides werde betrachtet von dem Standpunkt der evolutionären
Anpassung über Generationen (biologische Evolution), bis hin zu kurzfristigen
Neigungen und Werten, die wir von unserer Umwelt annehmen (kulturelle Evolution).
Bevor wir nun also diese Angelegenheit im Detail betrachten, sei angemerkt, dass
unsere Eigenschaften als Menschen auf einem - sowohl kurzfristigem als auch
langfristigem - Prozess der Anpassung an existierende Bedingungen basiert - unsere
Gene mit eingeschlossen.99 Dies soll nicht die fall-abhängige genetische Relevanz
abwerten, sondern den Prozess hervorheben, dessen Teil wir sind. Die Gen-UmweltBeziehung kann nur als fortlaufende Interaktion betrachtet werden, deren Ergebnisse
kurz- und langfristig ein Resultat der Umweltbedingungen sind. Wäre das nicht der
Fall, hätte die menschliche Spezies aufgrund mangelhafter Anpassungen schon vor
langer Zeit das Zeitliche gesegnet.
Obwohl es klar zu sein scheint, dass wir Menschen „veranlagte“ vorhersehbare
Reaktionen für das nackte und persönliche Überleben in uns tragen100, haben wir
auch unsere Fähigkeit unter Beweis gestellt, unser Verhalten durch unser Denken,
unser Bewusstsein und Bildung zu entwickeln.101 Tatsächlich erlaubt uns das, diese
impulsiven, primitiven Reaktionen zu kontrollieren/überwinden, falls die Bedingungen
hierfür unterstützt und bestärkt werden. Dies ist eine extrem wichtige Unterscheidung
und es ist genau das, was die Menschen von ihrer weniger entwickelten
Primatenfamilie auf vielerlei Weise unterscheidet.102
Ein kurzer historischer Blick auf die Vielfältigkeit des menschlichen Verhaltens,
verglichen mit den in Tausenden von Jahren relativ langsamen, strukturellen
menschliche Natur“ werden von Laien viel zu häufig herumgeworfen. Autoren wie Steven Pinker sind
erwähnenswert, wenn es um die Dominanz der evolutionären Psychologie über die Umwelteinflüsse geht.
99
Eine „Anpassung“ in der Biologie ist ein Merkmal mit einer aktuell funktionellen Rolle in der Lebensgeschichte
des Organismus, die weiter Bestand hat und sich durch „natürliche Selektion“ herausgebildet hat.
Zusammengefasst geschieht das durch auf den Organismus einwirkende Einflüsse aus der Umgebung.
Gleichermaßen ist „Epigenetik“ eine relativ neue Erkenntnis und untersucht vererbbare Veränderungen in dem
Genausdruck oder im Phänotyp, welche durch andere Mechanismen als die Veränderung der zugrunde
liegenden DNS Sequenz hervorgerufen wurde. Kurz gesagt, ist dies eine Abkürzung für die Anpassung ebenfalls durch die Umgebung beeinflusst. Bezüglich der Kultur ist dies einfach zu verstehen. Zum Beispiel ist die
Sprache, die man spricht, eine Anpassung an die existierende kulturelle Gruppe - genauso wie eine Religion, die
man gelehrt wurde - und demnach ebenso viele weitere Werte, die man aufgrund der direkten Konditionierung
durch die Kultur, in der man sich befindet, erhält.
100
Die Sichtweise einer „instinktiven Reaktion“ könnte hier passend sein. Jedoch wurde in den Untersuchungen
zu menschlichem Verhalten die Unterscheidung, was instinktiv ist und was nicht, immer unklarer. Es ist aber klar,
dass die menschliche Spezies bestimmte sehr spezifische Verhaltensweisen gemeinsam hat, besonders wenn
es ums Überleben oder Stress-Reize geht. Angesichts akuter Gefahr treten sehr gewöhnliche
biologische/indoktrinierte Reaktionen nahezu universell auf und haben oft Verhaltensweisen zur Folge, die für die
gesamte Spezies vorhersagbar sind.
101
Der Begriff „Verhaltensplastizität“ (engl. „Behavioral Plasticity“) könnte hier als Erweiterung des Begriffes
„neuronale Plastizität“ verstanden werden, welcher sich auf die aktiven Veränderungen der neuronalen Wege
und Synapsen bezieht. Genauso wie das Gehirn einmal als statisches Organ betrachtet wurde, verändert sich
menschliches Verhalten - der Ausdruck von Gehirnaktivität - natürlich auch. So komplex das Thema der
„Willensfreiheit“ und der Entscheidungsprozesse innerhalb der Psychologie auch sein mag, zeigt die Natur des
menschlichen Gehirns eine klare Anpassungsfähigkeit und Verletzlichkeit gegenüber äußeren Einflüssen. Anders
als bei unseren Primatenvorfahren, scheint bei uns der fortgeschrittene Neocortex* das Zentrum für bewusste
Gedanken zu sein. In den Worten von Dr. Robert Sapolsky, Neurowissenschaftler an der Standford Universität:
„Es liegt nicht in der Natur unserer Natur, uns von unserer Natur besonders einschränken zu lassen.“ [aus dem
Film Zeitgeist: Moving Forward (2011)]
102
*Weiteres zum Neocortex, einem fortgeschrittenen Bereich des menschlichen Gehirns, der für Bewusstsein
verantwortlich sein soll: http://www.nature.com/nrn/journal/v10/n10/abs/nrn2719.html
44
Das letzte Argument: Die Menschliche Natur
Entwicklungen in Gehirn und DNA103, zeigt, dass unsere Anpassungsfähigkeit (durch
Denken/Bildung) auf kultureller Ebene enorm ist.
Es zeigt sich, dass wir zu vielen verschiedenen Verhaltensweisen fähig sind, und
dass die Theorie einer starren „menschliche Natur“ - also einer unveränderbaren,
universellen Menge von Verhaltensweisen/Reaktionen, die ausnahmslos alle
Menschen teilen - nicht stichhaltig ist. Stattdessen scheint es eher ein Spektrum
möglicher Verhaltensweisen und vorhersehbaren Reaktionen zu geben, das mehr
oder weniger auf der Art der Entwicklung, Bildung, Reizen und den erlebten
Umständen basiert.
Das gesellschaftliche Leitbild diesbezüglich kann nicht genug betont werden, da
Umwelteinflüsse gewaltige Faktoren sind, die nicht nur unsere Vorlieben bei kurzund langfristigen Entscheidungen formen, sondern zusätzlich hat die Interaktion der
Umgebung mit unserer Biologie starke Auswirkungen auf persönliches Wohlbefinden
und demnach auf die Volksgesundheit in vielerlei Hinsicht.
Es wurde herausgefunden, dass Umweltbedingungen - darunter Faktoren wie
Nährstoffhaushalt,104 emotionale Sicherheit,105 gesellschaftliche Zugehörigkeit106 und
alle Formen von Stress - den Menschen generell weitaus mehr beeinflussen können,
als vorher angenommen. Dieser Prozess beginnt im Mutterleib und zieht sich über
die sensiblen nachgeburtlichen Anpassungszeiträume des Kindesalters107 und über
alle physiologischen und psychologischen Ebenen des Lebens.
Beispielsweise gibt es Beweise dafür, dass es eine genetische Veranlagung für
Depression als psychologische Krankheit gibt, jedoch ist es die Umgebung, die diese
auslöst oder nicht.108 Noch einmal: Es geht nicht darum den Einfluss der Biologie auf
unsere Persönlichkeiten abzutun, sondern um die entscheidende Wichtigkeit des
103
DNA Mutationsraten variieren von Spezies zu Spezies und waren in der Vergangenheit schwer einzuschätzen.
Heutzutage ist es möglich mithilfe direkter Sequenzierung einzelne Veränderungen zu isolieren. In einer 2009
durchgeführten Studie wurden die Genome zweier entfernter männliche Verwandter - durch 13 Generationen
getrennt - (ihr gemeinsamer Vorfahre hatte 200 Jahre zuvor gelebt), sequenziert und es wurde herausgefunden,
dass es nur 12 Unterschiede in allen DNA Buchstaben (DNA Sequenzen) gab. „Die beiden Y Chromosomen
waren immer noch an 10 149 073 der 10 149 085 untersuchten Buchstaben gleich“
[http://www.sciencedaily.com/releases/2009/08/090827123210.htm ] Innerhalb des menschlichen Genoms wurde
geschätzt, dass das Genom evtl. nur 100 Änderungen über Zehntausende von Jahren erfährt.
104
Ein Paradebeispiel ist der niederländische Hungerwinter. In einer Studie wurden Menschen beobachtet, die
unter extremen Nährstoffmangel als Fetus während des zweiten Weltkriegs litten. Es wurde herausgefunden,
dass sie als Erwachsene unter verschiedenen metabolischen Syndromen litten und Metabolismusprobleme
aufwiesen, aufgrund der „Programmierung“, die innerhalb der Zeit im Uterus geschah.
Referenz: Famine and Human development: The Dutch hunger winter of 1944-1945. New York, NY, US: Oxford
University Press.
105
Dr Gabor Maté präsentiert in seinem Werk „In the Realm of Hungry Ghosts“ (dt. „Im Reich hungriger Geister“)
eine große Zahl an Forschungsergebnissen im Bereich des „emotionalen Verlusts“ im Kindesalter, der
Auswirkungen auf das Verhalten später im Leben hat - speziell den Hang zu Suchtabhängigkeiten.
106
Die Wichtigkeit der Natur der gesellschaftlichen Interaktion ist stärker als je gedacht. Die Verbindung zwischen
verschiedenen Makro-gesellschaftlichen Faktoren und Volksgesundheitsproblemen wie z.B. Lebenserwartung,
Geisteskrankheiten, Übergewicht, Herzkrankheiten, Gewalt und vielen weiteren soziologischen Problemen
werden in folgendem Buch gut zusammengefasst: „The Spirit Level“ von Richard Wilkinson und Kate Pickett,
Penguin, März 2009
107
Eine interessante Studie über Frühgeburten in Inkubatoren fand heraus, dass durch einfache Reize (oder das
Zeigen von „Zuneigung“ durch Berührung) deren physiologische Gesundheit in der Zukunft stark verbessern
konnte, verglichen mit denen, die nicht berührt worden waren. Referenz: Tactile/kinesthetic stimulation effects on
preterm neonates, Pediatrics, 1986.
108
Referenz: The Structure of Genetic and Environmental Risk Factors for Common Psychiatric and Substance
Use Disorders in Men and Women, Arch Gen Psychiatry. 2003;60
45
Das letzte Argument: Die Menschliche Natur
Verständnisses dieser Tatsachen und um die Anpassung des Gesellschaftssystems
und der Makroeinflüsse, damit das positivste Ergebnis erlangt werden kann.
Verändern der Umstände
Die Idee, die Einflüsse der Gesellschaft so zu verändern, dass wir das Beste aus
dem Menschen hervorbringen - anstatt das Schlechteste - ist der Kern des
gesellschaftlichen Leitbildes von TZM. Diese Idee ist heute leider in den
gesellschaftlichen Überlegungen der Kultur verloren gegangen. Es gibt eine enorme
Menge an Beweisen, die zeigen, dass der Einfluss der Umgebung unsere Werte und
Neigungen formt. Auch wenn es genetische/physiologische Einflüsse gibt, welche
Prädispositionen und Betonungen für bestimmte Verhaltensweisen setzen, liegt der
größte Einfluss für unsere Variabilität in der Lebenserfahrung und in der Umgebung
des Menschen. Es geht also um die Art der Interaktion zwischen dem „Internen“
(Physiologischen) und dem „Externen“ (der Umgebung).
Letztendlich ist jedoch Stress der wichtigste Faktor. Unsere Gene, Biologie und
evolutionäre Psychologie haben vielleicht einige Macken, aber das ist nichts gegen
das umweltbedingte Chaos, das wir in unserer Kultur geschaffen haben. Das enorme
Maß an unnötigem Stress in der heutigen Welt - Schulden, Unsicherheit des
Arbeitsplatzes, steigende Gesundheitsrisiken - sowohl physiologisch als auch
psychologisch - und viele weitere Probleme, haben ein Klima der Besorgnis
geschaffen, das die Menschen immer mehr krank und wütend macht.
Der Fokus dieser Ansicht liegt jedoch nicht in temporären negativen Einflüssen, die
dieses oder jenes - in dieser eingeschränkten Sichtweise - auslösen. Es geht dabei
vielmehr um weitreichende religiös-philosophische, politische, aufklärerische und
gesellschaftliche Werte und Ideen, die dadurch genährt werden. Wenn wir vor die
Frage gestellt werden, ob wir unsere Gesellschaft so anpassen sollten, dass wir
bewiesenermaßen in besserer Volksgesundheit leben könnten, würden wir das nicht
einfach machen? Es ist extrem unwahrscheinlich zu glauben, die menschliche
Gesellschaft wäre nicht mit Methoden kompatibel, die ihren Lebensstandard und ihre
Gesundheit erhöhen würden.
Zusammenfassend für dieses Kapitel kann man sagen, dass - im Detail betrachtet das Thema der „menschlichen Natur“ eines der Komplexesten ist. Jedoch gibt es
nicht wirklich viel zu diskutieren, wenn es um die weite und gültige Erkenntnis
grundlegender Verbesserungen der Volksgesundheit geht durch die Reduzierung
von Stress, ein höheres Maß an gesunden Lebensmitteln und die Stabilisierung der
Gesellschaft durch das Erarbeiten von Überfluss und Behaglichkeit anstatt Konflikt
und Komplexität. Wir haben nun deutliche Wahrheiten und Beweise über das
menschliche Befinden, dass wir nicht nur schlechte Reaktionen und Gewohnheiten
aufgrund der aktuellen sozioökonomischen Ordnung haben, sondern auch unserem
Lebensraum gegenüber verantwortungslos sind. Dadurch vernachlässigen wir nicht
nur die Nachhaltigkeit im ökologischen Sinne, sondern auch - wie vorher erwähnt - im
kulturellen Sinne. Wenn wir denken, Menschen seien mit solchen Lösungen einfach
nicht kompatibel - auch wenn das heißt unsere Welt drastisch zu ändern - leugnen
wir die lange Geschichte unserer Fähigkeit der Anpassung.
46
Definition der Volksgesundheit
Teil 2 - Gesellschaftskrankheit & Die Anti-Ökonomie
Definition der Volksgesundheit
109
„Wir sind alle für alle verantwortlich.“
- Dostojewski
Übersicht
Was ist der wahre Messwert für den Erfolg einer Gesellschaft? Was macht uns
glücklich, gesund, krisensicher und bringt uns in ein Gleichgewicht mit der Welt um
uns herum? Ist nicht eigentlich unser Erfolg die Fähigkeit, die Realität zu verstehen
und sich dieser anzupassen, um unter allen möglichen Umständen das jeweils
Bestmögliche zu erreichen? Was ist, wenn wir herausfinden, dass unser heutiges
Gesellschaftssystem auf lange Sicht tatsächlich unsere Lebensqualität reduziert?
Wie dieses Kapitel zeigen wird, haben sich unsere modernen gesellschaftlichen
Strukturen, Werte und Handlungen weit von einer wahrhaft gesunden Gesellschaft
entfernt bzw. ignorieren, was eine gesunde Gesellschaft eigentlich bedeutet.
Das, was unsere gesellschaftlichen Institutionen heute wertschätzen oder ignorieren
- einschließlich der Ziele und Anreize des persönlichen Erfolges - ist eindeutig
losgelöst von wirklichen Lebensgrundlagen und Fortschritt.110 Das ist ein Thema,
über welches heute viel zu wenig nachgedacht wird.
Tatsächlich werden heute der „Wohlstand“ und die „Integrität“ des menschlichen
Daseins willkürlich mit wirtschaftlichen Kennwerten gleichgestellt wie z.B.
Bruttoinlandsprodukt, Erzeugerpreisindex oder Arbeitslosenzahlen. Traurigerweise
sagen uns diese Kennwerte nahezu gar nichts über das tatsächliche Wohlbefinden
und den Wohlstand der Bevölkerung.111
Der Begriff „Volksgesundheit“ ist eine medizinische Klassifizierung, die grundlegend
wie folgt definiert wird: „Der Ansatz der Medizin, der sich mit der Gesundheit einer
Gemeinschaft als Ganzes befasst.“112 Während dies oft nur im engen Kontext von
übertragbaren Krankheiten und damit zusammenhängenden, weitreichenden,
gesellschaftlichen Zuständen gesehen wird, ist der Kontext hier weiter gefasst, um
nicht nur die physiologische Gesundheit, sondern ebenfalls die psychische
Gesundheit einzuschließen. Wenn der Wert eines Gesellschaftssystems an der
Gesundheit der Bevölkerung über einen gewissen Zeitraum gemessen wird, dann
sollten die Beurteilungen und das Vergleichen der Bedingungen und Konsequenzen
durch einfache Trend-Analysen und Faktoren-Berechnungen einen Einblick darin
geben, was auf sozialer Ebene verändert oder verbessert werden kann.
Hier ist die wesentliche Frage, wie die sozialen Verhältnisse selbst - das
sozioökonomische System - die Gesundheit der Menschen im Ganzen beeinflussen.
109
Paraphrasiert und übersetzt aus Karamazov Brothers, Fyodor Dostoyevsky, 1880, p316
Das bezieht sich auf die Umstände, wie die moderne Gesellschaft einige Verhaltensweisen eher als Andere
belohnt und verstärkt. Beispielsweise werden in der westlichen Welt die Finanzinstitutionen, die nichts
produzieren, finanziell mehr belohnt, als die tatsächliche Güterproduktion und Bereitstellung von
Dienstleistungen. Dies hat ein Anreizproblem erzeugt, welches auch die Missachtung der Umwelt und das
Ignorieren der Volksgesundheit generell zur Folge hat. Wie später in diesem Text dargestellt wird, ist die
Psychologie der Marktwirtschaft entgegengesetzt zur Lebenserhaltung.
111
In den letzten Jahren wurden weitere Versuche gemacht „Glücklichkeit“ und Wohlbefinden zu bemessen, wie
der Index des „Bruttonationalglücks“ (BNG), der dies über Studien in regelmäßigem Abstand misst.
http://www.grossnationalhappiness.com/
112
Definition der Volksgesundheit: http://de.wikipedia.org/wiki/Volksgesundheit
110
47
Definition der Volksgesundheit
Mit den Worten des Physikers Rudolph Virchow: „Medizin ist eine
Gesellschaftswissenschaft und Politik ist nichts anderes als Medizin im großen
Maßstab.“113 Virchow erkannte, dass jedes Problem der Volksgesundheit stets mit
der gesamten Gesellschaft verbunden ist. Ihre Strukturen, Eigenschaften und
Werteverstärkungen haben einen tiefgreifenden Einfluss auf Gesundheit und
Verhalten einer Gesellschaft. Auseinandersetzungen über den Wert neuer
gesellschaftlicher Ideen gehen unausweichlich auf eine rationale Beurteilung der
Qualität durch Vergleiche zurück.
Da jede einzelne Komponente der Volksgesundheit ihre eigenen Eigenschaften und
Gesetzmäßigkeiten hat, können wir auch dahingehend arbeiten, alternative
Herangehensweisen zu einer gegebenen Problemlösung oder Verbesserung in
Betracht zu ziehen, welche zur Zeit nicht angewandt werden, aber eindeutig
angewandt werden sollten. Eine Analyse der derzeitigen Komponenten der
Volksgesundheit ist nötig, um zu verstehen, was im Laufe der Zeit und unter
verschiedenen Umständen passiert. Als Basis des hier geäußerten Gedankengangs
ist es nötig, zusätzlich eine individuelle Auswertung jedes Problems - unter
Berücksichtigung einer möglichen „Reparatur oder Verbesserung“ auf größtmöglicher
Ebene - durchzuführen.
Die Zeitgeist-Bewegung ist davon überzeugt, dass das existierende
Gesellschaftsmodell der Grund für eine Gesellschaftskrankheit ist, welche eine
endlose Fortsetzung von Ungleichgewicht zur Folge hat. Dieses Ungleichgewicht ruft
unnötigerweise physiologische und psychologische Störungen quer durch die
Bevölkerung hervor, ganz zu schweigen von der systematischen Einschränkung
menschlichen Potenzials und Problemlösungen in vielfältiger Weise. Natürlich
erstreckt sich dieser Zusammenhang auch auf die Gesundheit der Umwelt, also den
Zustand des Planeten; da ökologische Probleme, Einflüsse und Linderungen
langfristig immer auch unsere Volksgesundheit beeinflussen. Allerdings wird das
nicht der Schwerpunkt dieses Kapitels sein.
Diese Analyse wird das Thema der Volksgesundheit in zwei allgemeine Kategorien
aufteilen: Physiologisch und Psychologisch.114 Jede Kategorie wird in Themen
aufgeteilt, die jeweils dominante Probleme in einem bedeutsamen Anteil der
Bevölkerung aufzeigen.
Es ist wichtig klarzustellen, dass physiologische und psychologische Probleme
selten, wenn überhaupt, einzelne Ursachen haben. Es gibt eine „Bio-PsychoSoziale“115 Beziehung zwischen nahezu allen menschlichen Phänomenen, wodurch
erneut die symbiotischen Eigenschaften des Menschen auf vielen Ebenen deutlich
113
The Evolution of Social Medicine, Rudolph Virchow: Rosen G., from the Handbook of Medical Sociology,
Prentice-Hall, 1972
114
Soziologische Phänomene werden hier der Einfachheit halber in der Kategorie der psychologischen
Krankheiten aufgeführt, da die Folgen einer soziologischen Krankheit die zusammen genommenen
psychologischen Zustände von Individuen sind.
115
Bio-Psycho-Sozial bedeutet die Interaktion von biologischen, psychologischen und soziologischen Einflüssen
auf einen bestimmten Sachverhalt. Beispielsweise wird oberflächlich gesehen Fettleibigkeit oft mit Essen in
Verbindung gebracht. Wenn eine Person zu viel isst, nimmt sie an Gewicht zu. Jedoch gibt es eine Menge an
Beweisen dafür (wie später in diesem Kapitel ausgeführt wird), dass die individuelle Psychologie einer Person
dazu führen kann, Wohlbefinden durch den Konsum zu empfinden; beispielsweise durch eine ungünstige
emotionale Vergangenheit oder schlechte Anpassung des Körpers aufgrund von Umständen in denen schlechte
Gewohnheiten geformt und erwartet werden. Diese letzteren Ansichten, die Auswirkungen auf die Psychologie
haben, sind ein Resultat der soziologischen Gegebenheiten.
48
Definition der Volksgesundheit
werden. Mit anderen Worten, obwohl das vorliegende Problem generell als
physiologisch betrachtet wird, könnte die zugrunde liegende Ursache dieses
Problems sehr wohl zum Teil „psychologisch“ oder zum Teil „soziologisch“ sein und
umgekehrt.
Der Ökonomische Faktor
Wie bereits erwähnt, ist es das Hauptanliegen dieses Textes, die schwerwiegenden
Auswirkungen unseres globalen sozioökonomischen Systems auf die öffentliche
Gesundheit aufzuzeigen, mit einem speziellen Fokus auf den Auswirkungen von
Armut, Stress und Ungleichheit. Wenn man einen kurzen Blick auf die Hauptgründe
für weltweite Todesfälle nach der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wirft,116 lassen
sich klare Unterschiede, je nach der wirtschaftlichen Situation einer Region,
feststellen. Beispielsweise treten Krebserkrankungen häufiger in reicheren
Gesellschaften auf, während Durchfallerkrankungen in ärmeren Gesellschaften
häufiger auftreten. Dies verdeutlicht, wie der breite Zusammenhang des
sozioökonomischen Status die Volksgesundheit beeinflussen kann.
Mahatma Gandhi sagte einst: „Armut ist die schlimmste Form der Gewalt.“117
Gemeint sind in diesem Zusammenhang die durch Armut verursachten, unnötigen
Tode, welche durch die Grenzen, die massive finanzielle Beschränkungen der
Gesundheit setzen, zustande kommen. Diese Anschauung wurde später im Begriff
der „strukturellen Gewalt“118 aufgegriffen, den Dr. James Gilligan wie folgt definiert:
„...das vermehrte Auftreten von Tod und Behinderung in den unteren
Gesellschaftsschichten“. Er unterscheidet die strukturelle Gewalt von der
verhaltensbedingten Gewalt, wobei Erstere „eher kontinuierlich auftritt, anstatt
sporadisch.“119
Zu beachten ist, dass sich der Begriff „Gewalt“ in diesem Zusammenhang nicht auf
die übliche Klassifikation von Körperverletzung beschränkt, wie dem Kampf von
Angesicht zu Angesicht oder Misshandlung. Er umfasst ebenso soziale
Unterdrückung, welche, über die Kausalketten unseres Wirtschaftssystems, zu
unnötigem menschlichen Leiden, sowohl physisch als auch psychisch, führt. Das
reicht von offensichtlichen bis hin zu komplexen Beispielen in der Kette von Ursache
und Wirkung.
Ein einfaches Beispiel wäre die Verbreitung von Durchfallerkrankungen in, von Armut
geplagten, Gesellschaften. An dieser Erkrankung sterben allein rund 1,5 Millionen
Kinder jedes Jahr.120 Durchfallerkrankungen sind vollständig vermeidbar und
behandelbar. Die Infektion wird durch verunreinigtes Essen oder Trinkwasser oder
durch mangelhafte Hygiene von Person zu Person verbreitet. Das geringe
Vorkommen und die Seltenheit dieser Infektion, im Vergleich zu den „Erste-WeltLändern“, zeigen deutlich, dass die Ursache die ärmlichen Bedingungen sind, die es
der Krankheit ermöglichen, ungehindert zu florieren. Dennoch hört der
Kausalzusammenhang hier nicht auf. Wir müssen uns folglich die Frage stellen:
„Was führt die Armut herbei?“
116
Quelle: http://www.who.int/mediacentre/factsheets/fs310/en/index.html
Zitiert und übersetzt aus A Just Peace through Transformation: Cultural, Economic, and Political Foundations
for Change, International Peace Association, 1988
118
Empfohlene Referenz: An Empirical Table of Structural Violence, Gernot Kohler and Norman Alcock, 1976
http://jpr.sagepub.com/content/13/4/343.extract
119
Violence, James Gilligan, Grosset/Putnam, New York, 1992, p192
120
Quelle: http://www.who.int/mediacentre/factsheets/fs330/en/index.html
117
49
Definition der Volksgesundheit
Ein etwas abstrakteres Beispiel stellen die menschlichen Entwicklungsprobleme dar,
wenn nachteiliger Druck innerhalb familiärer oder gesellschaftlicher Strukturen
entsteht: Stellen wir uns eine alleinerziehende Mutter vor, die, aufgrund finanzieller
Nöte, für ihr Einkommen sehr viel arbeiten muss, um ihr Kind zu versorgen. Das
schränkt die persönliche Verfügbarkeit für das Kind ein. Der Druck vermindert nicht
nur die benötigte Unterstützung und Förderung für den Nachwuchs, vielmehr
entwickelt die Mutter mit der Zeit bestimmte Verhaltensweisen, wie den Hang zur
Depression und Unruhe, aufgrund des immerwährenden Schuldenstresses,
Rechnungen und dergleichen, sodass frustrationsgetriebene Misshandlungen in der
Familie auftreten. Dies verursacht dann einen schweren emotionalen Verlust121 für
das Kind und hat zur Folge, dass sich neurotische, sowie ungesunde
Geisteszustände, entwickeln, wie beispielsweise eine Neigung zur
Drogenabhängigkeit.122 Jahre später leidet das jetzt erwachsene Kind noch immer an
dem Schmerz, den es in diesen frühen Lebensabschnitten empfunden hat und stirbt
an einer Überdosis Heroin. Frage: Was verursachte die Überdosis? Das Heroin? Der
Einfluss der Mutter? Oder die wirtschaftlichen Umstände, welche ihr nicht erlaubten,
sich ausgeglichen und fürsorglich um ihr Kind zu kümmern?123
Natürlich gibt es kein Utopia für das menschliche Dasein und zu glauben, wir könnten
das sozioökonomische System so gestalten, dass alle diese „strukturell“ bedingten
Probleme jederzeit zu verhindern sind, ist absurd.124 Jedoch sind enorme
Verbesserungen von Problemen in der Volksgesundheit möglich, indem man die
Struktur der sozioökonomischen Bedingungen strategisch anpasst. Während wir
weiter einzelne Fälle von bedeutsamen psychischen und physischen Krankheiten
analysieren, wird sich herausstellen, dass die tatsächlichen Voraussetzungen für
Verbesserungen der Volksgesundheit nahezu komplett innerhalb der
Zusammenhänge der sozioökonomischen Bedingungen liegen.125
Gernot Kohler und Norman Alcock haben 1976 in ihrem Werk Eine empirische
Aufzeichnung struktureller Gewalt dramatische 18 Millionen Tode aufgezeichnet, die
jedes Jahr auf Grund struktureller Gewalt126 geschahen - diese Studie ist 30 Jahre
her. Seitdem hat sich die Schere zwischen Arm und Reich mehr als verdoppelt,
wodurch man annehmen kann, dass diese Zahl heute sogar noch höher ist.
Tatsächlich ist strukturelle Gewalt der tödlichste Killer auf diesem Planeten. Die
folgende Grafik zeigt die Todesraten der jeweiligen Bevölkerungsanteile, wodurch
121
Der Begriff emotionaler Verlust bezieht sich auf extreme emotionale Traumata - häufig im Kindesalter - die in
ihren Auswirkungen bestehen. In den Worten von Dr. Gabor Maté „Der größte Schaden durch Vernachlässigung,
Traumata oder emotionale Verluste sind nicht die direkten Schmerzen, sondern in der Art, wie ein sich
entwickelndes Kind weiterhin die Welt und seine eigene Rolle in dieser interpretieren wird. „In the Realm of
Hungry Ghosts, North Atlantic Books, 2012, p512
122
Wie zuvor erwähnt ist das Werk von Gabor Maté zu dem Thema der Suchterkrankungen durch emotionale
Verluste und Gefühle der Unsicherheit in der Kindheit sehr zu empfehlen. “In the Realm of Hungry Ghosts“, North
Atlantic Books, 2012
123
Das Werk „Geisteskrankheiten und die Ökonomie“ (engl. Mental Illness and the Economy) von M.H. Brenner
wird empfohlen. Abstrakt: „Durch in Beziehung setzen von vielen ökonomischen und institutionellen Daten vom
Staat New York in der Zeit von 1841 bis 1967 schlussfolgert Harvey Brenner, dass die Schwankungen in der
Volkswirtschaft die einflussreichste Quelle für Schwankungen in Psychiatrie-Aufnahmen oder Aufnahmeraten ist.
124
Siehe „Menschheitsfaktor“ im Glossar, Anhang A
125
Eine Studie für Referenzen im gleichen Kontext ist: The Effect of Known Risk Factors on the Excess Mortality
of Black Adults in the United States, Journal of the American Medical Association, 263(6):845-850, 1990. Diese
epidemiologische Studie fand heraus, dass zwei Drittel der Tode von Afroamerikanern allein dem niedrigen
sozioökonomischen Status selbst und seinen direkten Folgen zugerechnet werden konnte.
126
An Empirical Table of Structural Violence, Gernot Kohler and Norman Alcock, 1976
50
Definition der Volksgesundheit
der deutliche Zusammenhang von geringen Einkommen und hoher Sterblichkeit
gezeigt wird.
G. D. Smith, J. D. Neaton, D. Wentworth, R. Stamler and J. Stamler, ‘Socioeconomic differentials in mortality risk
among men screened for the Multiple Risk Factor Intervention Trial: I. White men’, American Journal of Public
Health (1996) 86 (4): 486-96.
Physiologische Gesundheit
Die wesentlichen physiologischen Probleme der Menschheit heute beinhalten
größere tödliche Epidemien, wie z.B. Krebs, Herzkrankheiten, Schlaganfälle, etc. Als
weniger dramatische Probleme, die oft nicht nur die Lebensqualität reduzieren,
sondern oft auch den gravierenden Krankheiten vorrausgehen, werden hoher
Blutdruck, Fettleibigkeit und andere Probleme angesehen. Auch wenn diese im
Vergleich oft weniger wichtig erscheinen, sind sie dennoch oft Teil eines längeren
Prozesses, der zu gravierenden Krankheiten und dem Tod führen kann.127 Es ist
noch einmal wichtig zu betonen, dass die Ursachen dieser „physischen“ Krankheiten
nicht streng „physisch“ im engen Sinne des Wortes sind, da neue Studien tiefe
psychosoziale128 Stress-Zusammenhänge zu diesen scheinbar unabhängigen
physiologischen Problemen gefunden haben.
Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind die häufigsten Ursachen für Tode,
sowohl in einkommensarmen, als auch einkommensreichen Ländern,
Herzkrankheiten, Infektion der unteren Atemwege, Schlaganfälle und Krebs.129
Obwohl jede einzelne dieser Krankheiten (und viele mehr) eine Verbindung zu den
folgenden Punkten haben kann, beschränken wir uns hier zur Vereinfachung auf
Herzkrankheiten.
127
Referenz: http://thetimes-tribune.com/lifestyles-people/as-obesity-rates-rise-chief-heart-surgeon-sees-morehigh-risk-patients-in-operating-room-1.1379223
128
Psychosozial definiert: Betrifft sowohl Aspekte des sozialen und des psychologischen Verhaltens
http://de.wiktionary.org/wiki/psychosozial
129
The top ten causes of death, WHO http://www.who.int/mediacentre/factsheets/fs310/en/index.html
51
Definition der Volksgesundheit
Fallstudie: Herzkrankheiten
Während die Behandlung von Herzkrankheiten in letzter Zeit generell zu einem
geringen Rückgang der Herzattacken und Tode führte,130 hat die Diagnose der
Herzkrankheiten nicht abgenommen und steigt laut einigen regionalen Studien an, 131
teilweise sogar dramatisch.132 Koronare Herzkrankheiten werden von der WHO
immer noch als weltweite Hauptursache für Tode gesehen.133 Ebenso wurde
herausgefunden, auch wenn es genetische Faktoren gibt; dass bei 90% der
Todesopfer „Risikofaktoren, die durch die Lebensweise hervorgerufen werden“134,
vorliegen. Generell wird die Krankheit weitläufig als vermeidbar angesehen, wenn
Anpassungen des Lebensstils durchgeführt werden.
Kurz gesagt erlauben uns die nachgewiesenen Beziehungen zu fetthaltiger
Ernährung, Rauchen, Alkohol, Fettleibigkeit, hohem Cholesterinspiegel und anderen
Risikofaktoren eine Erweiterung der Kausalität der Herzkrankheiten. Wenn wir diesen
Ursachen folgen zeigt sich, dass sie nicht nur mit absolutem Einkommen zu tun
haben, sondern mit relativem sozioökonomischem Status.
Die WHO macht es generell deutlich, dass ein weltweit geringerer
sozioökonomischer Status höhere Raten an Herzkrankheiten und natürlich auch
mehr Risikofaktoren, die zu diesen führen, mit sich bringt.135 Das zeigt, dass es eine
direkte wirtschaftliche Beziehung zu dem Auftreten von Erkrankungen gibt. Es gibt
keine Beweise dafür, dass für diese Unterschiede genetische Variationen zwischen
regionalen Gruppen verantwortlich sind. Es ist offensichtlich zu sehen, dass der
Mangel an Kaufkraft Menschen in Lebensweisen führt, welche viele dieser
Risikofaktoren mit sich bringen.
Eine 2009 durchgeführte Studie des American Journal of Epidemiology („Life-Course
Socioeconomic Position and Incidence of Coronary Heart Disease“ zu dt.
„Lebenslange sozioökonomische Position und Fälle von koronarer Herzerkankung“)
fand heraus, dass eine Person umso wahrscheinlicher eine Herzkrankheit entwickelt,
je länger sie in Armut lebt.136 Menschen, die in ihrem Leben wirtschaftlich
benachteiligt waren, neigen eher zum Rauchen, zur Fettleibigkeit, zu schlechter
Ernährung und Ähnlichem. In einer früheren Studie des Wissenschaftlers Dr. Ralph.
R. Frerichs, die sich speziell auf die sozioökonomische Spaltung in einer Stadt wie
Los Angeles in Kalifornien konzentriert hat, zeigte, dass die Todesraten von
Herzkrankheiten für ärmere Menschen 40% höher waren, als für Wohlhabendere.137
Wenn wir zu unserer ursprünglichen These zurückkehren - der Verbindung zwischen
dem Gesellschaftssystem selbst und dem Vorkommen von Krankheiten und deren
Risikofaktoren - müssen wir die direkte Beziehung von Stress und Kaufkraft in
Betracht ziehen.
130
U.S. Trends in Heart Disease, Cancer, and Stroke, PRB
Heart disease to rise 25% by 2020 http://www.belfasttelegraph.co.uk/news/local-national/northernireland/heart-disease-to-rise-25-by-2020-16177410.html
132
New European Statistics Released On Heart Disease and Stroke
[http://www.sciencedaily.com/releases/2012/09/120929140236.htm ]
133
The Atlas of Heart Disease and Stroke, WHO & CDC, Part 3, Global Burden of Coronary Heart Disease
134
ebd.
135
ebd., Kapitel 11, Socioeconomic Status
136
Life-Course Socioeconomic Position and Incidence of Coronary Heart Disease, American Journal of
Epidemiology, April 1, 2009. http://aje.oxfordjournals.org/content/early/2009/01/29/aje.kwn403
137
Heart Disease Tied to Poverty, New York Times, 1985 http://www.nytimes.com/1985/02/24/us/heart-diseasetied-to-poverty.html
131
52
Definition der Volksgesundheit
Fangen wir mit dem Letzeren, Einfacheren an. Eindeutig treten ungesunde
Gewohnheiten in den unteren Einkommensklassen, aufgrund des Mangels an Mitteln
für bessere Ernährung,138 medizinische Behandlung139 und Bildung140 auf. Viele der
fetthaltigen, natriumhaltigen, risikoreichen Lebensmitteln, die beispielsweise zu
Herzkrankheiten führen, sind auch die günstigsten in den Läden.
Es ist wichtig zu betonen, dass unser sozioökonomisches Modell Lebensmittel
basierend auf der Kaufkraft der Zielbevölkerung produziert. Die Entscheidung,
minderwertige Qualität von Lebensmitteln zu produzieren, basiert auf dem
Profitmotiv. Da der Hauptteil der Bevölkerung auf der Welt arm ist, ist es kein
Wunder, dass die Qualität der Lebensmittel gemindert werden muss, damit
konkurrenzfähiges Kaufen möglich wird. Anders ausgedrückt: Es gibt einen Markt für
jede soziale Schicht und umso niedriger die Schicht, desto geringer ist natürlich die
Qualität. Diese Tatsache stellt ein Beispiel für eine direkte Verbindung des
Gesellschaftssystems zu der Ursache für solche Krankheiten dar. Selbst wenn eine
arme Person das Wissen über die mindere Qualität von Lebensmitteln hat und sich
für eine bessere Ernährung entscheidet, machen die finanziellen Einschränkungen
die Umsetzung dieser Entscheidung schwer, wenn nicht sogar unmöglich; da solche
Lebensmittel im Durchschnitt teurer sind.
In einer Zeit in der die Lebensmittelproduktion und menschliche Ernährung relativ gut
wissenschaftlich erforscht ist (bezüglich was funktioniert und was nicht/was gesund
ist und was nicht), sollten wir uns fragen, warum diese Menge an beabsichtigt
ungesunden Lebensmitteln und schädlichen Industriemethoden überhaupt existieren.
Die Schlussfolgerung ist, dass menschliche Gesundheit nicht das Ziel industrieller
Lebensmittelproduktion ist und es, aufgrund des alleinigen Interesses Einkommen zu
generieren, nie war. Mehr zu diesem, der monetären Marktwirtschaft
innewohnenden, gestörten Anreiz folgt in späteren Kapiteln.
Der Stress-Faktor
Betrachten wir nun die Rolle von Stress.
Stress hat einen größeren Effekt auf Herzkrankheiten, als bisher angenommen. Dies
geht nicht nur auf den statistischen Fakt zurück, dass Menschen mit geringerem
Einkommen die Tendenz haben, Stress durch Rauchen und Trinken zu
kompensieren, wodurch sich ein erhöhter Blutdruck manifestiert und sie somit ihre
Körper und ihr Wohlbefinden dem ständigen Kampf um den Lebensunterhalt und das
Überleben opfern. Auch wenn diese Faktoren offensichtlich existieren und in
Verbindung zu der unausweichlichen Schichtung innerhalb der monetären
Marktwirtschaft141 stehen, liegt die schädlichste Form des Stresses, der
138
Zitat aus der Studie „Can Low-Income Americans Afford a Healthy Diet?“ :„Viele Ernährungsspezialisten
glauben, dass alle Amerikaner - unabhängig vom Einkommen - Zugang zu vollwertiger Ernährung mit Vollkorn,
magerem Fleisch und frischen Gemüse und Obst haben. In der Realität sind Nahrungsmittelpreise für viele
Verbraucher eine bedeutungsvolles Hindernis, die versuchen ein gutes Gleichgewicht zwischen guten
Nährstoffen und Erschwinglichkeit zu finden. „ http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2847733/
139
Referenz: Medical costs push millions of people into poverty across the globe, WHO
http://www.who.int/mediacentre/news/releases/2005/pr65/en/index.html
140
Referenz: „Education Gap Grows Between Rich and Poor, Studies Say“, NY Times 2012 [
http://www.nytimes.com/2012/02/10/education/education-gap-grows-between-rich-and-poor-studiesshow.html?pagewanted=all ]
141
Die Klassenstratifikation ist ein unveränderbarer Teil des aktuellen sozioökonomischen Modells auf Grund des
Anreizsystems, welches Einkommen unverhältnismäßig verteilt und strategisch die oberen Klassen der Hierarchie
bevorteilt. Beispielsweise haben 2007 die 365 größten US-Unternehmen mehr als 500-mal so viel Lohn
bekommen wie der durchschnittliche Angestellte. Das kann verbunden werden mit der makroökonomischen
53
Definition der Volksgesundheit
psychosoziale Stress, in der psychologischen Interaktion mit der gesellschaftlichen
Umgebung begründet.
Professor Michael Marmot von der Abteilung für Epistemologie und Volksgesundheit
am Universitäts-College von London hat zwei wichtige Studien bezüglich der
Verbindung zwischen sozialem Status und Gesundheit, geleitet.142 Das britische
Beamtensystem wurde hier als Untersuchungsgruppe herangezogen. Sie fanden
heraus, dass das Gefälle der Gesundheitsqualität in industrialisierten Gesellschaften
nicht einfach nur schlechte Gesundheit für die Armen und gute Gesundheit für alle
anderen bedeutet. Tatsächlich ist es so, dass es eine gesellschaftliche Verteilung der
Krankheiten von der Spitze der sozioökonomischen Schichten bis nach unten gibt.
Dabei veränderten sich die vorkommenden Arten von Krankheiten von oben nach
unten proportional.
Beispielsweise wies die niedrigste Stufe der Hierarchie, im Vergleich mit den
höchsten Stufen, eine Vierfach erhöhte Rate herzkrankheitsbedingter Sterbefälle auf.
Selbst in einem Land mit gesetzlicher Krankenversicherung gilt: Je schlechter der
finanzielle Status und die Position in der Hierarchie, desto schlechter wird die
Gesundheit im Durchschnitt sein. Der Grund hierfür ist im Wesentlichen
psychologisch, da generell die Volksgesundheit - speziell für die niedrigeren
Schichten143 - schlechter wird, je mehr eine bestimmte Gesellschaft in Schichten
eingeteilt ist.
Dieses Muster hat sich über viele Jahre in vielen Studien immer wieder bestätigt,
unter anderem in einer ausführlichen Forschungsarbeit von Richard Wilkinson und
Kate Pickett. In ihrem Werk The Spirit Level - Why Equality is Better for Everyone (zu
dt.: „Die Ebene des Geistes - Warum Egalitarismus für jeden besser ist“) führen sie
Hunderte von wissenschaftlichen Studien zu diesem Thema auf, die darauf
hinweisen, dass ungleiche Gesellschaften ein breites Spektrum an körperlichen und
geistigen Volksgesundheitsproblemen mit sich bringen.
Abgesehen von Herzkrankheiten wurde auch ein Zusammenhang zwischen
Krebserkrankungen, chronischen Atemwegskrankheiten, Magen-Darmkrankheiten,
Rückenbeschwerden, Übergewicht, hohem Blutdruck, geringerer Lebenserwartung
und vieler weiterer Probleme zu dem sozioökonomischen Status gefunden.144 Es gibt
ein „gesellschaftliches Gefälle“ in der Gesundheit über die gesamte Gesellschaft und
wo wir - in Vergleich zu anderen - stehen hat einen starken psychosozialen Effekt.
Die höheren Schichten haben im Durchschnitt eine bessere Gesundheit und die
unteren Schichten im Durchschnitt eine Schlechtere.145
Finanzpolitik, die strukturell durch das Zinssystem die Wohlhabenden belohnt und die Armen bestraft. (Die
Wohlhabenden erhalten Zinseinkommen von Investitionen, während die Armen, denen es an Investitionskapital
mangelt, Kredite für den Großteil ihrer großen Anschaffungen benötigen, wodurch sie Zinsen zahlen. Abstrakt
ausgedrückt werden durch diesen Mechanismus die Armen dazu gezwungen den Reichen ihr Geld zu geben.)
142
Whitehall Study I & II, http://www.ucl.ac.uk/whitehallII/. Siehe ebenso: Epidemiology of socioeconomic status
and health, M. Marmot http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/10681885
143
ebd.
144
Wichtig zu erwähnen ist hier, dass dieses Phänomen sich generell eher auf die relativ wohlhabenden
Gesellschaften bezieht als auf die direkt von Armut geplagten Gesellschaften.
145
Referenz: Social Determinants of Health: The Solid Facts, R.G. Wilkinson & M. Marmot, World Health
Organization, 2006
54
Definition der Volksgesundheit
Ein statistischer Vergleich der Volksgesundheit von Ländern mit hohen
Einkommensunterschieden (wie z.B. die USA) und jenen mit geringeren
Unterschieden (wie z.B. Japan) zeigt diese Tatsache deutlich.146
Jedoch sind solche, generell als „physisch“ bezeichneten Krankheiten, nur Teil der
Volksgesundheits-Krise, die durch die Ungleichheit erzeugt wird, die - um es noch
einmal zu betonen - direkt aus der unserem Gesellschaftssystem innewohnenden
unvermeidbaren Schichtung resultiert.
Psychologische Gesundheit
Die Auswirkungen der gesellschaftlichen Ungleichheit auf unsere mentale oder
psychologische Gesundheit sind vielleicht sogar noch gravierender für die
Volksgesundheit. Dies umfasst auch Verhaltensweisen und Tendenzen zu Gewalt
oder Missbrauch, ebenso wie emotionale Probleme wie Depressionen, Angst und
Persönlichkeitsstörungen im Allgemeinen.
Eine generelle Beachtung der Trends von Depressionen und Ängsten in
wirtschaftlich starken Ländern - Ländern bei denen man intuitiv denken würde, dort
würden, aufgrund des materiellen Wohlstands, mehr Freude und Leichtigkeit
herrschen - zeigt eine gänzlich andere Realität.147 148 Eine britische Studie
untersuchte Depression unter jungen Erwachsenen in ihren 20ern und fand heraus,
dass sie 1970 zweimal so häufig vorkamen wie 1958.149 Eine amerikanische Studie
mit etwa 63 700 Hochschulstudenten hat herausgefunden, dass fünfmal so viele
junge Erwachsene mit stärkeren Ängsten zu kämpfen haben als 1930.150 Eine 2011
von der APA vorgestellte Studie hat gezeigt, dass psychische Krankheiten häufiger
unter Hochschulstudenten vorkamen als ein Jahrzehnt zuvor.151
Der Psychologe Jean Twenge von der Universität von San Diego sichtete 269
Studien, die die Ängste in den USA zwischen 1952 und 1993 untersuchten. Die
zusammengefasste Beurteilung zeigt einen sehr deutlichen Trend zu steigenden
Ängsten über diesen Zeitraum. Daraus ergab sich beispielsweise die
Schlussfolgerung, dass in den späten 1980er Jahren das durchschnittliche
amerikanische Kind ängstlicher war, als in die Psychiatrie eingewiesene Kinder in
den 1950er Jahren.152
146
Eine PDF-Datei mit einer Zusammenfassung der Ausgleichsgeraden wurde aus dem Werk von R. Wilkinson
und K. Picket entnommen und ist hier zu finden:
http://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=2&ved=0CCcQFjAB&url=http%3A%2F%2Fw
ww.tantor.com%2FExtras%2FB0505SpiritLevel%2FB0505SpiritLevelPDF1.pdf&ei=GiqPUJyWEYL3igK6wICgBQ
&usg=AFQjCNH-A12L8z6iT6VGr1PnI7CSHUIEuw&cad=rja (***wird nachgetragen***)
147
Referenz: The Dramatic Rise of Anxiety and Depression in Children and Adolescents, Peter Gray, 2012
http://www.psychologytoday.com/blog/freedom-learn/201001/the-dramatic-rise-anxiety-and-depression-inchildren-and-adolescents-is-it
148
Anxiety Disorders Are Sharply on the Rise, Timi Gustafson R.D [http://timigustafson.com/2011/anxietydisorders-are-sharply-on-the-rise/]
149
Time Trends in child and adolescent mental health, Maughan, Collishaw, Goodman & Pickles, Journal of Child
Psychology and Psychiatry, 2004
150
Sourcing the Anxiety Disorders Association of America, dieser Artikel ist eine empfehlenswerte
Zusammenfassung: http://www.msnbc.msn.com/id/39335628/ns/health-mental_health/t/why-are-anxietydisorders-among-women-rise/#.UI9PRoUpzZg
151
Depression On The Rise In College Students, NPR, 2011
[http://www.npr.org/2011/01/17/132934543/depression-on-the-rise-in-college-students]
152
The age of anxiety? Birth cohort change in anxiety and neuroticism, J.M. Twenge, Journal of Personality and
Social Psychology, 2007
55
Definition der Volksgesundheit
Ein 2011 vom National Center for Health Statistics (dt. Nationales Zentrum für
Gesundheitsstatistik) veröffentlichter Bericht zeigt, dass sich der Konsum von
Antidepressiva von Jugendlichen (Menschen im Alter von 12 Jahren oder älter) und
Erwachsenen zwischen 1988-1994 und 2005-2008 um 400% erhöht hat.
Antidepressiva waren das dritthäufigste verschriebene Medikament, welches von
Amerikanern innerhalb von 2005-2008 genommen wurde.153
Auch wenn eine genetische Komponente für Depressionen eine Rolle spielt, zeigt
der Trend eine deutliche umweltbedingte Kausalität als treibende Kraft. In den
Worten von Richard Wilkinson:
„Auch wenn Menschen mit psychischen Krankheiten manchmal Veränderungen des
Stoffwechsels im Gehirn aufweisen, hat bisher niemand gezeigt, dass diese die
Depression verursachten und nicht durch die Depression selbst verursacht worden
sind. [...] Auch wenn eine genetische Disposition bei einigen psychischen
Krankheiten zu Grunde liegt, kann das nicht den enormen Anstieg der Krankheiten in
den letzten Jahrzehnten erklären - unsere Gene ändern sich nicht so schnell“154
Es zeigt sich, dass unser relativer sozialer Status einen starken Einfluss auf unser
mentales Wohlbefinden hat. Diese Tendenz kann auch in der so genannten
evolutionären Psychologie ähnlicher Primaten gefunden werden. Eine 2002
durchgeführte Studie mit Makakenaffen fand heraus, dass die in einer gegebenen
sozialen Hierarchie Untergeordneten weniger Dopamin-Aktivität aufwiesen als die
Dominanten. Diese Beziehung änderte sich, wenn die Gruppen neu geordnet
wurden. Anders ausgedrückt: Es hatte nichts mit der individuellen Biologie zu tun lediglich die gesellschaftliche Anordnung reduzierte oder erhöhte den
Dopaminhaushalt. Ebenso zeigte sich, dass die in der Hierarchie Untergeordneten
mehr Kokain konsumierten, um diesen Umstand zu kompensieren. Das ist sehr
aufschlussreich, da der Dopaminhaushalt bei Primaten (inklusive Menschen) in
direktem Zusammenhang zu Depressionen steht.155
Dieses Muster wurde sehr deutlich, und obwohl direkter Stress durch
Jobunsicherheit, Schulden und viele weitere, eher wirtschaftliche, Faktoren in
unserem Gesellschaftssystem eine große Rolle spielen,156 überwiegt immer noch die
Bedeutung des sozioökonomischen Status'.
Die folgende Grafik stellt einen Vergleich der allgemeinen mentalen Gesundheit und
des Drogenkonsums in verschiedenen Ländern dar.157 Sie enthält Informationen von
9 Ländern aus WHO Umfragen und beinhaltet unter anderem Angststörungen,
Stimmungsstörungen, Impulskontrollstörungen, Suchterkrankungen und weitere. Man
sieht deutlich, dass die USA mit dem höchsten Maß an Ungleichheit ein enormes
Maß an mentalen Gesundheitsproblemen und Drogenkrankheiten aufweisen, wenn
man sie mit weniger geschichteten Ländern vergleicht. Italien weist die geringste
Anzahl an mentalen Gesundheitsproblemen in dieser Gruppe auf.
153
Antidepressant Use in Persons Aged 12 and Over: United States, 2005–2008, Laura A. Pratt, NCHS, Oct 2011
[http://www.cdc.gov/nchs/data/databriefs/db76.htm]
154
The Spirit Level by Richard Wilkinson and Kate Pickett, Penguin, March 2009, p65
155
Social dominance in monkeys: dopamine D2 receptors and cocaine self-administration, Morgan & Grant,
Nature Neuroscience, 2002 5(2): 169-74
156
Suicide rates rocket in wake of economic downturn recession, Nina Lakhani, The Independent, Aug 15 2012
157
Grafiken von The Spirit Level by Richard Wilkinson and Kate Pickett, Penguin, March 2009, p67
56
Definition der Volksgesundheit
Sogar der gefühlte soziale Status - wie das Kastensystem in Ländern wie Indien kann starke Auswirkungen auf Selbstbewusstsein und Verhalten haben. Eine in 2004
durchgeführte Studie verglich die Problemlösefähigkeiten von 321 indischen Jungen
aus einer hohen Kaste mit 321 indischen Jungen aus einer niedrigen Kaste. Die
Ergebnisse zeigten, dass beide Gruppen von Jungen ähnliche Resultate erzielten,
wenn die Kastenzugehörigkeit jeder Gruppe zuvor nicht öffentlich genannt wurde. In
einem zweiten Durchgang wurde die Kastenzugehörigkeit jeder Gruppe vorher
öffentlich genannt. In diesem Durchgang wurden deutlich andere Resultate erzielt als
im ersten Durchgang: Die Jungen aus der niedrigeren Kaste waren viel schlechter,
die Jungen aus der höheren Kaste viel besser.158 Die Menschen werden sehr durch
ihren wahrgenommenen Status in der Gesellschaft beeinflusst. Oft ist es so, dass wir
schlechtere Leistungen erbringen, wenn wir als minderwertig angesehen werden.
158
Belief Systems and Durable Inequalities, Policy Research Working Paper, Waskington DC: World Bank, 2004 |
Grafik aus The Spirit Level von Richard Wilkinson and Kate Pickett, Penguin, March 2009, p113-114
57
Definition der Volksgesundheit
Zusammenfassend zu diesem Thema - dem psychosozialen, auf Ungleichheit
basierendem Phänomen, das einen klaren Zusammenhang zu psychologischem
Wohlbefinden aufweist, ist es wichtig, das breite Spektrum an damit verbundenen
Problemen zu verdeutlichen. Weiteres Bildungsmaterial zu diesen Themen kann in
der Literaturempfehlungsliste (Anhang C) gefunden werden, mit Werken von
Sapolsky, Gilligan, Mae und Wilkinson, die sehr zu empfehlen sind. Jedoch sei
gesagt, dass Länder mit geringerer Einkommensungleichheit im Hinblick auf Bildung,
sozialem Kapital (Vertrauen), Übergewicht, Lebenserwartung, Schwangerschaften
von Jugendlichen, Inhaftierung und Bestrafung, soziale Mobilität zwischen den
Schichten, Chancen und sogar Innovationen, besser abschneiden als Länder mit
mehr Ungleichheit. Anders ausgedrückt: Sie sind „gesündere“ Gesellschaften.
Fallstudie: Verhaltensbedingte Gewalt
Im Zusammenhang mit den oben genannten Problemen innerhalb einer ungleichen
Gesellschaft gibt es ein Thema, welches besondere Beachtung verdient:
Verhaltensbedingte Gewalt. Der Kriminalpsychologe Dr. James Gilligan, ehemaliger
Verantwortlicher der Abteilung für Gewaltforschung in der medizinischen Fakultät von
Harvard, schrieb in seiner Abhandlung über das Thema: „Gewalt: Unsere tödliche
Epidemie und seine Ursache“. Dr. Gilligan zeigt sehr deutlich, dass extreme Formen
der Gewalt nicht zufällig auftreten oder genetisch eingeprägt sind, sondern
stattdessen eher Reaktionen darstellen, die kurz- und langfristig aus belastenden
Erfahrungen resultieren.
Beispielsweise steht Kindesmissbrauch - sowohl körperlich als auch emotional zusätzlich zu dem steigenden persönlichen Stress, in direktem Zusammenhang zu
geplanten und impulsiven Gewalttaten. Obwohl Männer statistisch gesehen eher zur
Gewalt neigen, auf Grund von endokrinologischen Eigenschaften, die gewalttätige
Reaktionen zwar nicht verursachen, sie allerdings bei Stressreaktionen verstärken,
ist das gemeinsame Thema der Einfluss von Umwelt und Kultur.159
Damit soll nicht der Einfluss von Hormonen oder möglicherweise genetischen
Veranlagungen160 abgewertet werden. Vielmehr soll gezeigt werden, dass der
Einfluss auf dieses Verhalten offensichtlich nicht unsere Biologie ist, sondern unsere
Lebensumstände und Erfahrungen. Andere häufige Annahmen der Kausalität, wie
z.B. „Instinkt“, sind viel zu abstrakt und ungenau um irgendeine praktische Gültigkeit
zu besitzen.161
„Wenn wir lernen wollen, die Ursachen der Gewalt zu erklären, um sie zu vermeiden;
müssen wir diese als Teil des Gesundheitswesens und der Vorsorgemedizin
betrachten. Zudem sollte man Gewalt als Symptom einer lebensbedrohlichen
159
Das Hormon Testosteron wurde für gewöhnlich für männliche Aggressionen „verantwortlich gemacht“. Jedoch
wurde bei Tests mit der allgemeinen Bevölkerung festgestellt, dass individuelle Unterschiede im
Testosteronspiegel nicht zu proportionalen Unterschieden in aggressivem Verhalten führen. Man fand heraus,
dass nicht Testosteron das Ausmaß an Aggression erhöht, sondern dass es sich genau andersherum verhält.
Siehe: The Trouble with Testosterone, Robert M. Sapolsky, Simon & Schuster, 1997, p147-159
160
Siehe: Violence—A noxious cocktail of genes and the environment, Mariya Moosajee, J R Soc Med. 2003
May; 96(5): 211–214 | Es wird auf eine Studie in Neuseeland hingewiesen, die eine scheinbare Verbindung zu
Gewaltverhalten aufzeigt, jedoch nur wenn ein hohes Maß an Missbrauch im Kindesalter stattgefunden hat,
sodass dieser Ausdruck der genetischen Veranlagung ausgelöst wurde.
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC539471/
161
Violence, James Gilligan, Grosset/Putnam, New York, 1992, p210-213
58
Definition der Volksgesundheit
Krankheit sehen, und genau wie alle anderen Formen von Krankheiten, haben sie
eine Ätiologie bzw. einen Verursacher, einen Erreger.“162 - Dr. James Gilligan
In Dr. James Gilligans Diagnose wird deutlich, dass die Hauptursache für
gewalttätiges Verhalten gesellschaftliche Ungleichheit ist. Die Konsequenzen von
Scham und Demütigung als emotionale Eigenschaften von Gewalttätern werden
aufgezeigt.163 Thomas Scheff, ein emeritierter Professor für Soziologie in Kalifornien,
sagte: „Scham ist die gesellschaftliche Emotion“.164 Scham und Demütigung können
mit Gefühlen von Dummheit, Unzulänglichkeit, Verlegenheit, törichtem Benehmen,
sich bloßgestellt fühlen, Unsicherheit und Ähnlichem gleichgestellt werden. Im Kern
haben diese Gefühle alle viel mit menschlicher Interaktion oder Vergleichen zu tun.
Selbstverständlich ist es in einer globalen Gesellschaft mit nicht nur wachsenden
Einkommensunterschieden, sondern auch Unterschieden im „Selbstwertgefühl“ - da
Status in direkter Beziehung zu unserem Erfolg am Arbeitsplatz, der Größe des
Bankkontos und weiterem steht - kein Wunder, dass Gefühle der Minderwertigkeit,
Scham und Demütigung ein fester Bestandteil unserer Kultur sind. Die Folgen dieser
Gefühle, sowie die Epidemie der verhaltensbedingten Gewalt, die wir heute in
verschiedenen komplexen Formen beobachten können, haben ernstzunehmende
Auswirkungen auf die Volksgesundheit. Terrorismus, Amokläufe, sowie viele weitere
extreme Formen der Gewalt, welche vorher in dieser Form einfach nicht existierten,
enthüllen eine einzigartige Entwicklung der Gewalt. Dr. Gilligan schlussfolgert: „Wenn
wir Gewalt verhindern wollen, dann müssen politische und wirtschaftliche Reformen
unser Ziel sein.“165
Die folgende Grafik zeigt die Mordraten in verschiedenen wohlhabenden Staaten mit
verschiedenen Raten der sozialen Ungleichheit. Die „anti-sozialistischen“ USA mit
ihren kaum vorhanden strukturellen Sicherheiten (so fehlt z.B. eine öffentliche
Gesundheitsversorgung) und ihrer psychologischen Ethik, nach welcher
„Unabhängigkeit“ und „Wettbewerb“ die höchsten Werte seien, weisen ein hohes
Maß an Gewalt auf. Auch wenn Diskussionen über Waffengesetze und Ähnliches
immer noch in der politischen Landschaft von Amerika geführt werden, so hat dies
jedoch nichts mit den Kausalzusammenhängen zu tun.
162
ebd., p92
ebd., Kapitel 5
164
Shame and conformity: the defense-emotion system, T.J. Scheff, American Sociological Review, 1988,
53:395-406
165
Violence, James Gilligan, Grosset/Putnam, New York, 1992, p236
163
59
Definition der Volksgesundheit
Zusammenfassung
Dieses Kapitel hat versucht einen knappen Überblick über die wichtigsten
Kausalzusammenhänge menschlicher Gesundheit auf der physiologischen sowie auf
der psychologischen Ebene zu geben. Es geht darum, wie die sozioökonomischen
Bedingungen die Volksgesundheit verbessern oder verschlechtern. Das geht bis zu
idealen Bedingungen, die menschliches Glück verbessern, häufig auftretende
Krankheiten reduzieren und häufig auftretendes negatives Verhalten, wie z.B.
Gewalt, verringern.
Es zeigt sich sehr deutlich, wie direkte wirtschaftliche Zusammenhänge die
Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen verringern, indem sie zu absolutem
Mangel führen, wie z.B. dem mangelnden Zugang zu qualitativ hochwertigen
Lebensmitteln, mangelnder emotionaler Unterstützung und Förderung für Kinder
aufgrund von Zeitproblemen und geringerer Qualität der Bildung, wegen regionalen
Finanzierungsproblemen. Hinzu kommen allgemeine Probleme, wie die Tatsache,
dass die meisten Ehen aufgrund von finanziellen Problemen scheitern.166 Jedoch lag
in diesem Kapitel der Hauptfokus auf relativer Armut, da diese oft auch der Grund für
absoluten Mangel ist.
Im strukturellen, sozioökonomischen Kontext stellen diese Tatsachen die Idee von
Wettbewerb, Klassen und anderen „kapitalistischen“ Vorstellungen von Anreiz und
Antrieb, gesellschaftlichen Fortschritts, sowie Gesundheit in Frage. Umso mehr wir
über dieses Phänomen lernen, umso stärker werden die Argumente dafür, dass die
Art unseres sozioökonomischen Systems rückschrittlich in seinem Fokus und Zweck
ist. Menschlicher Fortschritt und Erfolg ist sicher nicht definiert durch die dauerhafte
Einführung neuer Marktgüter, Gadgets (technische Spielereien) und dem Erwerb
materieller Güter. Die Volksgesundheit und unser Wohlergehen basieren darauf, wie
wir zueinander und zu der Umwelt als Ganzes stehen.
Das Ergebnis ist eine versteckte Form der Gewalt gegen die Bevölkerung und
demnach ist die Krise der Volksgesundheit eine Frage von Bürger- und
166
Money Fights Predict Divorce Rates, Catherine Rampell
http://economix.blogs.nytimes.com/2009/12/07/money-fights-predict-divorce-rates/
60
Definition der Volksgesundheit
Menschenrechten. Wenn wir eindeutigen Völkermord in der Welt sehen, sind wir aus
rein moralischen Gründen dagegen. Aber was ist, wenn es einen dauerhaften
unsichtbaren, aber existierenden Völkermord gibt? Dieser wird nicht von einer
bestimmten Person oder Gruppe von Menschen begangen, sondern von einer
psychologischen Krankheit, geboren aus Stress, der durch unsere traditionellen
Methoden der menschlichen Interaktion und kodifizierten wirtschaftlichen Ordnung
erzeugt wird.
Wie in den folgenden Kapiteln erläutert werden wird, sind reine Anpassungen des
aktuellen sozioökonomischen Systems auf lange Sicht nicht genug, um diese
Probleme grundlegend zu lösen. Die grundlegenden Prinzipien unseres aktuellen
Modells sind durch die hierarchische wirtschaftliche und wettbewerbsorientierte
Ausrichtung gebunden. Um sich von diesen Eigenschaften und deren Folgen
dauerhaft lösen zu können, muss das gesamte Gesellschaftssystem verändert
werden.
61
Wirtschaftsgeschichte
Wirtschaftsgeschichte
„Es ist ein bezeichnendes Symptom unserer Zeit, dass sich keine etablierte Lehre, keine Disziplin oder
keine allgemeine Theorie der Gesellschaftsanalyse an den Lebensbedingungen selbst orientiert.
Stattdessen wird ein soziales Konstrukt als ultimativer Bezugspunkt gewählt. Eine Idee, der Staat, der
Markt, eine Klasse, technologische Entwicklungen oder irgendein anderer Faktor neben den
Lebensgrundlagen selbst.“167 - John McMurtry
Überblick
Wirtschaft ist wohl die wichtigste, relevanteste und einflussreichste gesellschaftliche
Ausprägung, die es gibt. Nahezu alle Aspekte unseres Lebens haben auf der einen
oder anderen Ebene - oft ohne dass wir es bemerken - eine Beziehung zu den
historischen Entwicklungen und den heutigen Praktiken der Wirtschaftslehre. Unsere
grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen sowie unsere grundlegenden
Annahmen und Werte werden durch sie geformt. Tatsächlich ist der Kern dessen,
wie wir als Gesellschaft über unsere Beziehung zueinander und unsere Beziehung
zu dem uns unterstützenden Lebensraum denken, zum größten Teil ein direktes
Resultat der ökonomischen Theorien und Praktiken, die wir vertreten.
Ein aufmerksamer Rückblick auf historische Religions- und Moralphilosophien, die
Entwicklung von Regierungen, politischen Parteien, Gesetzesbestimmungen sowie
anderen Gesellschaftsverträgen und Glaubenssystemen, die ein bestimmtes
Gesellschaftssystem und dessen Kultur ausmachen, zeigt den immensen Einfluss,
den wirtschaftliche Annahmen dabei hatten - und haben - den jeweiligen Zeitgeist zu
formen.
Sklaverei, Klassismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Sexismus, Unterjochung
und viele weitere trennende und ausbeuterische Vorstellungen, die häufig in der
Geschichte der menschlichen Kultur auftraten, entspringen vielen allgemein
akzeptierten wirtschaftlichen Philosophien oder bleiben auf Grund dieser bestehen.
Die Geschichte zeigt ziemlich deutlich, wie gesellschaftliche Zustände durch die
vorherrschenden wirtschaftlichen Annahmen einer bestimmten Epoche erzeugt
werden. Diese weitgefasste soziologische Betrachtung wird heute leider nicht
ausreichend beachtet, wenn man darüber nachdenkt, warum die Welt so ist, wie sie
ist und warum wir so denken, wie wir es tun.
Als Einleitung sei gesagt (ein Punkt der später in diesem Kapitel noch einmal
auftreten wird), dass es eine oft aufgezeigte Dualität in der modernen
Wirtschaftslehre gibt. Dabei gibt es auf der einen Seite den „kapitalistischen freien
Markt“, also die „freien“ Handlungen von unabhängigen Produzenten, Arbeitern und
Händlern, die als Komplex arbeiten, um zu kaufen, zu verkaufen und zu
beschäftigen.168 Im Gegensatz dazu steht der „Staat“, ein konsolidiertes System von
delegierter Macht, welches die Möglichkeit hat, rechtliche Richtlinien und
wirtschaftliche Regeln aufzustellen, die die Aktionen des „freien Marktes“ hemmen
können. Die meisten Diskussionen über Wirtschaft drehen sich heute auf der einen
oder anderen Ebene um diese Dualität. Auf der einen Seite stehen die „Laissezfaire“-Befürworter, also diejenigen, die sich eine komplett unregulierte Marktwirtschaft
167
„The Cancer Stage of Capitalism“, John McMurtry, Pluto Press, 1999, p.viii
Eine weniger allgemeine Definition der freien Marktwirtschaft lautet: „Ein Wirtschaftssystem, in dem Preise und
Löhne durch ungehinderte Konkurrenz zwischen Unternehmen entstehen, ohne Regulierung durch die Regierung
oder Angst vor Monopolen.“ [http://dictionary.reference.com/browse/free+market]
168
62
Wirtschaftsgeschichte
wünschen. Diese stehen dauerhaft im Konflikt mit den Vertretern des „Dirigismus“,
also denjenigen, die ein gewisses Maß an zentralisierter Regierungskontrolle und
Entscheidungsgewalt über wirtschaftliche Planung und Regeln für das Beste halten.
Die Zeitgeist-Bewegung steht auf keiner dieser Seiten - auch wenn die meisten, die
TZMs Vorschläge hören, reflexhaft annehmen, wir seien für Letzteres (Dirigismus).169
Wie bei vielen traditionellen Glaubenssystemen sind polarisierende Ansichten und
Verteidigungen häufig vorzufinden. Die Vorstellung, dass es keinen anderen
Bezugsrahmen für die Entwicklung und Verwaltung eines Wirtschaftssystems geben
kann, heißt, sich dogmatisch gegenüber allen neu aufkommenden und wichtigen
Betrachtungen abzuschotten.
Die folgende, kurze Abhandlung beschäftigt sich mit der historischen Entwicklung der
Ökonomie. Wir werden die generelle Geschichte wirtschaftlichen Denkens, etwa vom
17. Jahrhundert ausgehend, betrachten. Dabei werden die Kerneinflüsse
hervorgehoben, die die moderne „kapitalistische Marktwirtschaft“ hervorbrachten.
Jedoch wird, wie auch in Teil III weiter ausgeführt, zudem eine andere Perspektive
aufgezeigt. Wir werden dies die „mechanistische“ Ansicht nennen. Diese
mechanistische Ansicht von wirtschaftlichen Faktoren nimmt einen anderen Blick auf
die kausalen, wissenschaftlichen Realitäten menschlicher Existenz und unseres
Lebensraums ein und errichtet ein Modell der wirtschaftlichen Theorie vom
Standpunkt der strategischen Vernunft, nicht von historischer Tradition aus.
Letztendlich ist modernes wirtschaftliches Denken nicht ansatzweise modern. Der
Großteil der Annahmen, die immer noch als „gegeben“ angesehen werden, wie z.B.
„Eigentum“, „Geld“, „Klassismus“, Theorien von „Wert“, „Kapital“ und andere Ideen,
die sich durch alle historisch relevanten Argumente ziehen, bauen in Wirklichkeit auf
veralteten Prämissen. Rasante Entwicklungen innerhalb der Ingenieurs-,
Informations- und Humanwissenschaften, die von den etablierten wirtschaftlichen
Traditionen ignoriert worden sind, stellen uns nun vor wichtige Neuorientierungen
und neue Beziehungen, die in traditionellen Modellen schlichtweg nicht existieren.170
Von den sich immer wieder verändernden Denkrichtungen wurde auch unsere
aktuelle Wirtschaftslehre geprägt. Diese akademische, oft formelhafte, auf
Traditionen basierende Entwicklung der etablierten Wirtschaftstheorie (und Praxis)
scheint einen auf sich selbst bezogenen Bezugsrahmen hervorgebracht zu haben.171
Anders ausgedrückt: Die am häufigsten diskutierten/akzeptierten
Wirtschaftsbetrachtungen, die an den Eliteuniversitäten und in
169
Wie in späteren Kapiteln beschrieben wird, wird TZM oft fälschlicherweise als „staatsbefürwortend“
kategorisiert, da es sich gegen Prinzipien des Marktes richtet, die es für unnachhaltig und oft als kontraproduktiv
hält. Der Etatismus, welcher in Form von Kommunismus, Faschismus oder Sozialismus auftreten kann,
befürwortet eine „zentrale Autorität“, die entscheidet, wie wirtschaftliche/politische Prozesse ablaufen. Dabei kann
die Allgemeinbevölkerung wenig bis keinen relevanten Einfluss ausüben. TZM befürwortet generell einen offenen
Entscheidungsfindungsprozess, allerdings unter der Beachtung von grundlegenden, bewiesenen Gesetzen der
wissenschaftlichen Nachhaltigkeit und Effizienz.
170
Ein Paradebeispiel ist das Konzept einer „Externalität“, welches später in diesem Kapitel noch erwähnt wird.
Viele der Umwelt- und Sozialkosten, die systematisch dem Marktansatz anhaften, zudem der Verlust an Effizienz
und demnach an Wohlergehen, werden wie viele weitere Probleme in den theoretischen Gleichungen des
Marktes nicht berücksichtigt.
171
Der Wirtschaftsphilosoph John McMurtry sagte zu diesem Problem: „Diese Tendenz überwiegt seit den
kontinentalen Rationalisten. Leibniz, Spinoza, Descartes, Berkeley, Kant beispielsweise nahmen die soziale
Ordnung ihrer jeweiligen Zeit mehr oder weniger vollständig als eine Art Ausdruck des göttlichen Willens an und
sie sahen es, als ihre rationale Pflicht, diese lediglich zu akzeptieren oder zu rechtfertigen.“ The Cancer Stage of
Capitalism, Pluto Press, 1999, p.7
63
Wirtschaftsgeschichte
Regierungskonferenzen am ehesten vorangetragen werden, begründen ihre
Relevanz lediglich in der Tatsache, dass sie für so lange Zeit für wichtig gehalten
worden sind. Als Metapher kann man einen PKW-Motor heranziehen. Es ist so, als
würde man annehmen, die Struktur dieses Motors sei unveränderbar und nur
Veränderungen an vorhandenen Komponenten seien möglich. Stattdessen könnte
man die radikale Idee in Betracht ziehen, die Struktur des Motors auf der Basis von
neuen Technologien oder Informationen von Grund auf neu zu entwerfen, um den
Zweck effizienter zu erfüllen.
„Moderne“ Wirtschaftslehre und deren Praktiken sind ein veralteter Motor mit
Generationen von Experten, die nur daran arbeiten, die alten Komponenten zu
verwalten und die Möglichkeit ausschließen, dass der gesamte Motor veraltet ist und
vielleicht immer schädlicher wird. Sie veröffentlichen weiterhin Argumente, Theorien
und Gleichungen, die diese „falsche Wichtigkeit“ des alten Motors (alten
„Bezugsrahmens“) betonen und neue Errungenschaften in Wissenschaft und Technik
ignorieren, da sie ihrem Traditionalismus widersprechen. Das ist vergleichbar mit der
langen Geschichte von alten etablierten Traditionen wie beispielsweise der Praxis
der menschlichen Sklaverei, die von dem Großteil der Gesellschaft nicht hinterfragt
wurde. Diese auferlegten, versteckten und etablierten Strukturen wurden vielmehr als
„natürliches“ Verhalten des Menschen angesehen.172
Geschichtlicher Hintergrund
Aus historischer Sicht ist das Europa des Mittelalters173 ein guter Startpunkt zur
Untersuchung der Ideologie des modernen Kapitalismus, da die zentralen Ideen und
Eigenschaften in dieser Zeit entstanden.174 Diese verbreiteten sich später über den
gesamten Globus. Ab dem 17. Jahrhundert finden wir die meisten einflussreichen
Philosophen, denen heute in traditionellen Wirtschaftsgeschichtsbüchern große
Bedeutung beigemessen wird. Obwohl Historiker die grundlegenden Anfänge von
„Eigentum“ und dem „Handel für Profit“ zurück bis in das zweite Jahrtausend v. Chr.
verfolgen können,175 liegen die Grundlagen für die wichtigen Entwicklungen und die
Institutionalisierung erst um den späten Feudalismus bzw. den frühen
merkantilistischen Zeiten.
Anstatt die einzelnen Unterschiede zwischen den sozioökonomischen Systemen zu
diskutieren, die dem modernen Kapitalismus vorausgingen, ist es sinnvoller, deren
Ähnlichkeiten zu beschreiben. Es zeigt sich, dass das kapitalistische System eine
172
Obwohl Aristoteles (384 v.Chr. - 322 v.Chr.) seine umfangreichen wissenschaftlichen, logischen und
philosophischen Beiträge hoch angerechnet werden, war auch er ein Befürworter der Sklaverei. Diese Realität
hat er eher mit einer Voreingenommenheit gerechtfertigt, nicht mit Argumenten. Er schrieb: „Aber gibt es
irgendjemanden, der von der Natur bestimmt wurde, ein Sklave zu sein und für den diese Stellung angebracht
und richtig ist? Oder ist nicht eher jegliche Sklaverei wider der Natur? Diese Frage ist nicht schwer zu
beantworten sowohl auf der Basis von Vernunft als auch von Fakten. Dass manche herrschen und manche
beherrscht werden, ist nicht nur notwendig, sondern auch sinnvoll. Von Geburt an werden manche zur
Unterwerfung und andere zum Herrschen erkoren.“ Politics, Book I, Chapters III through VII
173
Der Begriff „Mittelalter“ bezieht sich generell auf die Zeit in der europäischen Geschichte vom 5. bis zum 15.
Jahrhundert.
174
Für eine detaillierte Untersuchung des mittelalterlichen Wirtschaftssystem und der Gesellschaft wird das
folgende Werk empfohlen: „The Agrarian Life of the Middle Ages“, J.H. Chapman and Eileen E. Powers, eds., 2d
ed.; „The Cambridge Economic History of Europe“, vol. 1 London, Cambridge University Press, 1966
175
„Macroeconomics from the beginning: The General Theory, Ancient Markets, and the Rate of Interest“, David
Warburton Paris, Recherches et Publications, 2003 p.49
64
Wirtschaftsgeschichte
Manifestierung der Entwicklung von tief verwurzelten historischen Annahmen von
menschlicher Natur und sozialer Beziehungen ist.176
Erstens erkennt man, dass durch diese Evolution hindurch auf die eine oder andere
Weise eine Klassenteilung erkannt und praktiziert wurde. Die Menschen wurden
generell in zwei Gruppen eingeteilt.177 Diejenigen, die für geringe Entlohnung
produzieren und diejenigen, die von dieser Produktion profitieren. Von antiker
ägyptischer Sklaverei178 über die Bauern, die in Abhängigkeit von ihrem Lehnsherren
während des mittelalterlichen Feudalismus179 schufteten, bis hin zu der versteckten
systematischen Unterdrückung von Markthändlern durch das Staatsmonopol des
Merkantilismus180 war die Ungleichheit allgegenwärtig.
Eine zweite in den westlichen sozioökonomischen Philosophien vorherrschende
Eigenschaft ist eine grundlegende Vernachlässigung (oder vielleicht Ignoranz)
wichtiger Beziehungen zwischen der menschlichen Spezies und dem ihr
vorliegenden, sie fördernden Lebensraum. Auch wenn es einige Ausnahmen gibt,
wie beispielsweise die eingeborenen Stämme der vorkolonialen amerikanischen
Ureinwohner,181 blieb westliches wirtschaftliches Denken nahezu völlig abseits dieser
Betrachtungen. In letzter Zeit allerdings zwangen drastische ökologische Probleme
die Öffentlichkeit/Regierungen zu einer Reaktion und einem generellen Interesse an
„Reformen“.182
Ein dritter und letzter zu nennender Punkt ist eine generelle Ablehnung der Ansicht,
dass das Wohlbefinden einer Person, im Sinne der menschlichen Bedürfnisse und
demnach der Volksgesundheit, eine gesellschaftliche Angelegenheit ist. Fortschritte
in den Humanwissenschaften, die erst nach der Manifestierung Hauptdoktrinen des
wirtschaftlichen Denkens geschahen, entdeckten, dass menschliche
Konsumwünsche und menschliche Bedürfnisse183 nicht dasselbe sind. Die
Vernachlässigung Letzterer kann viele negative Folgen, nicht nur für das Individuum,
sondern auch für die Gesellschaft, haben. Beispielsweise konnten asoziales,
„kriminelles“ und gewalttätiges Verhalten auf viele Formen der sozialen Armut
zurückgeführt werden, deren Ursachen in der sozioökonomischen Tradition liegen.184
176
Die „Emergenz" wirtschaftlicher Entwicklungen zu berücksichtigen, scheint ein relativ neues Konzept zu sein,
welches hauptsächlich von Thorstein Veblen im frühen 20. Jahrhundert eingeführt wurde. Literaturempfehlung zu
dem Thema der wirtschaftlichen Entwicklung: The Evolution of Institutional Economics: Agency, Structure and
Darwinism in American Institutionalism, Geoffrey M. Hodgson, London, Routledge, 2004
177
Die Unterteilung von „Klassen“ in spezifische Kategorien ist historisch nicht von besonderer Bedeutung. Der
Punkt hier ist die ständige Existenz einer eindeutig dominanten Klasse, sei es nun der altertümliche Adel oder die
moderne Finanzoligarchie.
178
Literaturempfehlung: „The Historical Encyclopedia of World Slavery“, Junius P. Rodriguez, Vol I, Section E
179
Literaturempfehlung: „Mediaeval Feudalism, Carl Stephenson“, Cornell University Press, 1956
180
„A History of Economic Theory and Method“, Robert B. Ekelund; Robert F. Hébert, New York: McGraw–Hill,
1975
181
Literaturempfehlung: „Defending Mother Earth: Native American Perspectives on Environmental Justice“, Jace
Weaver, Orbis Books, 1996
182
Die Liste an ökologischen Problemen für die Menschheit (von Klimadestabilisierung über
Umweltverschmutzung zu Ressourcenerschöpfung oder dem Verlust an Biodiversität und anderen beständigen
Gefahren für die Volksgesundheit) würde hier den Rahmen sprengen. Aus Sicht von TZM sind diese Probleme
zum größten Teil ein Ergebnis der kapitalistischen Prämisse (Annahme) und den damit akzeptierten Ansätzen
und Werten.
183
Die Konsummuster der modernen Gesellschaft haben sich hinsichtlich „menschlicher Wünsche“ als willkürlich
herausgestellt. Ein Beleg hierfür ist die starke Veränderung der Werte zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf Grund
der modernen westlichen Werbemethoden. Die „menschlichen Bedürfnisse“, durch welche die physische und
psychologische Gesundheit aufrechterhalten wird, sind jedoch bei allen Menschen weitgehend identisch.
184
Siehe vorheriges Kapitel: „Definieren der Volksgesundheit“
65
Wirtschaftsgeschichte
Allgemein kann man sagen, dass das System solche gesellschaftlichen Folgen von
Grund auf ignoriert. Diese werden oft lediglich als „externe Effekte“ abgetan.
Diese Tatsache wurde im 18. Jahrhundert weiter fortgeführt mit dem
„sozialdarwinistischen“185 Unterton, der Prämisse „Arbeit gegen Lohn“, die den
Menschen auf ein Objekt reduziert, welches durch seine oder ihre Beiträge für das
Arbeitssystem definiert und bewertet wird. Wenn es dem durchschnittlichen Bürger
nicht möglich ist, einen Arbeitsplatz zu erhalten oder sich anderweitig erfolgreich an
der Marktwirtschaft zu beteiligen, gibt es keine wirkliche Sicherung für das Überleben
oder Wohlbefinden eines Menschen - außer, wenn der „Staat“ in Form von
„Sozialhilfe“ einschreitet. Heute wird diese Tatsache kontrovers diskutiert. Der
„Stempel“ des „Sozialismus“ ist eine reflexhafte Ablehnungs-Reaktion geworden,
wann immer die Regierungspolitik versucht, direkte Hilfe für Menschen ohne die
Nutzung der Marktmechanismen des Verkaufs/der Arbeit, bereitzustellen .
Die Anfänge der kapitalistischen Marktwirtschaft
Der Feudalismus des Mittelalters (ungefähr vom 9. bis zum 16. Jahrhundert) war
damals das vorherrschende sozioökonomische System, welches der „kapitalistischen
Marktwirtschaft“ im westlichen Europa vorausging. Der spätere „Merkantilismus“
kann als Übergangsphase angesehen werden.
Der Feudalismus basierte auf gegenseitigen Pflichten und Dienstleistungen, die in
einer gesetzten gesellschaftlichen Hierarchie festgelegt waren. Die Gesellschaft des
Mittelalters war zum größten Teil eine Agrargesellschaft und die soziale Hierarchie
baute sich auf der Verbindung der Menschen zu ihrem Grundstück auf. Die
Hauptinstitutionen der Wirtschaft waren die „Gilden". Wenn jemand eine Ware oder
Dienstleistung produzieren oder verkaufen wollte, so trat er/sie üblicherweise einer
Gilde bei. Über diese Zeit könnte viel gesagt werden und wie bei jeder
geschichtlichen Thematik ist sie Gegenstand von Interpretationen und Debatten.
Aufgrund des Themas dieses Kapitels wird jedoch nur ein sehr allgemeiner Überblick
über den wirtschaftlichen Übergang zum Kapitalismus gegeben.186
Als sich die Agrar- und Transporttechnologien verbesserten, kam es zur Expansion
des Handels. Im 13. Jahrhundert erhöhte sich die Reichweite der Marktbeziehungen
enorm, beispielsweise durch das Aufkommen des vierrädrigen Wagens. Ebenso kam
es zu vermehrter Arbeitsspezialisierung, Konzentration in Städten und
Bevölkerungswachstum.187 Diese Veränderungen, zusammen mit der
einhergehenden erhöhten Macht der „Kaufmanns-Kapitalisten“, schwächten langsam
die traditionellen, gewohnten Verbindungen, die die feudalistische
Gesellschaftsstruktur zusammenhielten.
Mit der Zeit entstanden komplexe Städte, für die es möglich war, Unabhängigkeit von
ihren Feudalherren zu erlangen. Zudem entwickelten sich immer komplexere
Systeme des Handels, des Geldes und der Gesetzgebung, von denen viele
185
Der „Sozialdarwinismus“ ist eine sehr allgemeine Ideologie, die die biologischen Konzepte des Darwinismus,
bzw. Theorien von der Art „Survival of the Fittest“ (oft fälschlicherweise als „Überleben des Stärkeren"
verstanden), auf die Soziologie oder die Politik anwenden möchte. Der Begriff wurde in den Vereinigten Staaten
1944 durch den Historiker Richard Hofstadter verbreitet. Die Grundidee dieses Konzepts tauchte jedoch schon
lange vor Darwins Zeit in der Philosophie auf.
186
Literaturempfehlung: „Mediaeval Feudalism“, Carl Stephenson, Cornell University Press, 1956
187
Literaturempfehlung: „The Economy of Early Renaissance Europe, 1300–1460“, Harry A. Miskimin, Englewood
Cliffs, NJ: Prentice-Hall, 1969, p.20
66
Wirtschaftsgeschichte
grundlegende Aspekte des modernen Kapitalismus widerspiegelt wurden. Im
gewohnten feudalistischen System war der „Handwerks“-Produzent auch derjenige,
der an den Kunden/Konsumenten verkaufte. Als jedoch die Entwicklung des Marktes
um diese neuen Stadtzentren voranschritt, verkaufte der Handwerker mit
Mengenrabatten an nicht produzierende Händler, die dann in entfernteren Märkten
für „Profit“ verkauften - ein weiteres Element, das später typisch für die
Marktwirtschaft sein wird.
Im 16. Jahrhundert war die für den Feudalismus typische Handwerkerindustrie zu
einem groben Spiegelbild dessen geformt worden, was wir heute kennen. Dies
beinhaltete das Outsourcen von Arbeit und den alleinigen Besitz an
Produktionsmitteln. Viele Menschen wurden so mehr und mehr „beschäftigt“, anstatt
selbst zu produzieren („Arbeiter-Klasse“). Schließlich wurde die Logik um den
monetären Profit zum systematisch wichtigsten Entscheidungsfaktor aller
Handlungen, wodurch der tatsächliche Grundstein für den Kapitalismus gelegt
wurde.188
Der vom 16. bis zum späten 18. Jahrhundert herrschende Merkantilismus diktierte
die Wirtschaftspolitik zu dieser Zeit.189 Er war geprägt von staatlich-kontrollierten
Handelsmonopolen, die eine „positive Handelsbilanz“190 sicherstellen sollten. Dazu
kamen mit der Zeit viele weitere umfangreiche Regulierungen für Produktion, Löhne
und Handel, wodurch die Macht des Staates weiter gestärkt wurde. Geheime
Absprachen zwischen dem Staat und diesen aufkommenden Industrien waren üblich.
Viele Kriege wurden aufgrund dieser Praktiken geführt, da sie auf
Handelseinschränkungen zwischen Ländern basierten, welche oft ökonomischer
Kriegsführung gleichkamen.191
Adam Smith, der später noch in diesem Kapitel besprochen werden wird, schrieb
eine ausführliche Kritik über den Merkantilismus in seinem 1776 erschienen
klassischen Text „Der Wohlstand der Nationen“.192 Dies war die wirkliche
ideologische Geburtsstunde der „freien Marktwirtschaft“ in ihrer Theorie. Diese ging
mit einer Ablehnung des „staatlich-kontrollierten“ Marktes einher, bei dem der Staat
in die „Freiheit“ des Marktes „eingreift“ - ein wichtiges Merkmal des
Merkantilismus.193
Heute wird der „Kapitalismus“ im Allgemeinen kulturell im theoretischen Kontext des
„freien Marktes“ und nicht des „staatlich-kontrollierten“ Marktes definiert, obwohl sich
lange darüber streiten lässt, was für ein System wir heute wirklich haben. In der
188
Literaturempfehlung: „Studies in the Development of Capitalism“, Maurice H. Dobb, London, Routledge and
Kegan Paul, 1946, Chapter 4
189
„The Concise Encyclopedia of Economics“, David R. Henderson, Liberty Fund, Inc, 2002, „Mercantilism“
190
Eine positive Handelsbilanz wird auch als „Handelsüberschuss“ bezeichnet und bedeutet, mehr zu
exportieren, als zu importieren (gemessen in Geld). Ein solches Vorgehen des Staates wird heute oft als
„Protektionismus“ bezeichnet.
191
„The Growth of Economic Thought“, Henry William Spiegel, Duke University Press, 3rd Ed, 1991, pp.93-118.
192
„An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“, Adam Smith, 1776, Book IV: „Of Systems of
Political Economy“
193
Murray Rothbard, ein Ökonom der modernen österreichischen Schule, fasste die Position und Kritik des
Etatismus zusammen: „Der Merkantilismus, der seinen Höhepunkt im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts
erreichte, war ein System des Etatismus, das wirtschaftliche Fehlschlüsse anwandte, um eine Struktur der
imperialistischen Staatsmacht aufzubauen. Dazu gehören ebenso die besonderen Subventionierungen und
monopolistischen Privilegien für durch den Staat bevorzugte Individuen oder Gruppen. Daher sollte nach der
Lehre des Merkantilismus die Regierung den Export fördern und den Import vermeiden“. [„Mercantilism: A Lesson
for Our Times?“, Murray Rothbard, Freeman, 1963]
67
Wirtschaftsgeschichte
Realität gibt es kein reines System des „freien“ oder „staatlich-kontrollierten“ Marktes,
sondern eine komplexe Fusion zwischen beiden. Wie zu Beginn dieses Kapitels
erwähnt, drehen sich die meisten Diskussionen und Schuldzuweisungen, hinsichtlich
wirtschaftlicher Abläufe, um diese polarisierenden Konzepte.194
Definition des Kapitalismus
Der Kapitalismus,195 wie wir ihn heute in seinen Einzelheiten kennen, nicht nur mit
seiner wirtschaftlichen Theorie, sondern auch mit seinen gravierenden politischen
und gesellschaftlichen Auswirkungen, entwickelte sich langsam zu seiner heutigen
Form über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten. Es sollte zunächst erwähnt
werden, dass es keine Übereinstimmung unter Wirtschaftshistorikern/-theoretikern
gibt, was wirklich die zentralen Elemente des Kapitalismus sind. Wir werden jedoch
seine historischen Betrachtungen (welche einige vielleicht als diskutabel ansehen)
auf vier grundlegende Elemente beschränken.
1) Marktbasierte Produktion/Verteilung: Güterproduktion basiert auf komplexen
Wechselbeziehungen und Abhängigkeiten, die keine direkte persönliche Interaktion
zwischen Produzenten und Konsumenten erfordern. Angebot und Nachfrage werden
durch das „Markt“-System reguliert.
2) Privater Besitz der Produktionsmittel: Das bedeutet, dass die Gesellschaft privaten
Personen das Recht gestattet, zu bestimmen, wie für die Produktion notwendige
Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen und Einrichtungen genutzt werden.
3) Entkopplung von Eigentum und Arbeit: Kurz gesagt, gibt es eine immer währende
Klassenteilung: Auf der höchsten Ebene stehen die „Kapitalisten“,196 die, nach der
historischen Definition, die Produktionsmittel besitzen, aber keine Pflicht haben,
etwas zu der Produktion selbst beizutragen. Alles was von den Arbeitern, die nur ihre
Arbeitskraft besitzen, produziert wird, besitzt mit rechtlicher Gültigkeit der Kapitalist.
4) Selbst-maximierendes Interesse wird angenommen: Individualistische,
wettbewerbsbetonte und habgierige Interessen sind notwendig, um den Kapitalismus
erfolgreich funktionieren zu lassen, da ein dauerhafter Druck zum Konsumieren und
Expandieren benötigt wird, um Rezessionen, Depressionen und andere Probleme zu
vermeiden. In vielerlei Hinsicht ist dies die „rationale“ Sichtweise des Verhaltens, die
davon ausgeht, dass das System ohne Einschränkungen funktionieren würde, wenn
alle auf diese bestimmte Weise handeln.197
194
Wie in dem Kapitel „Wertesystem-Störung“ argumentiert wird, ist das eine falsche Dualität. Zudem ist sie
hinsichtlich der zugrunde liegenden Probleme, die häufig der polarisierten Debatte zugeschrieben werden,
irrelevant.
195
Von jetzt an wird in diesem Kapitel der Begriff „Kapitalismus“ in seiner häufigsten kulturellen Form verwendet,
also im theoretischen Kontext des „freien Marktes“.
196
Eine Person, die diesen wirtschaftlichen Ansatz unterstützt, könnte zwar als „Kapitalist“ bezeichnet werden,
eine genauere Definition lautet jedoch: „Eine Person, die besonders viel Kapital, in geschäftlichen
Unternehmungen investiert hat.“ [http://dictionary.reference.com/browse/capitalist] Mit anderen Worten: Dies ist
eine Person, die Kapital besitzt oder investiert, um Rendite oder Profit zu gewinnen, jedoch keinerlei Verpflichtung
hat, zu der eigentlichen Produktion oder der Arbeit beizutragen.
197
Eine Folge daraus ist die für die mikroökonomische Theorie des freien Marktes typische „rationale
Entscheidungstheorie“ und die „Nützlichkeitstheorien“, die versuchen, menschliche Handlungen und
verschiedene Modelle des Verhaltens zu quantifizieren. Mehr hierzu folgt später in diesem Kapitel.
68
Wirtschaftsgeschichte
Locke: Entstehung des „Eigentums“
Eine tief verwurzelte philosophische Vorstellung des kapitalistischen Systems ist das
„Eigentum“. Der englische Philosoph John Locke (1632-1704) ist diesbezüglich eine
wichtige Persönlichkeit. Auch er wird in Adam Smiths „Der Wohlstand der Nationen“
zitiert. Locke definiert nicht nur die grundsätzliche Idee, er zeigt ebenso einen
subtilen, aber starken Widerspruch auf.
In Kapitel V mit dem Titel „Eigentum“ von Lockes 1689 veröffentlichter zweiter
Abhandlung „Über die Regierung“ stellt er eine These über die Natur von Eigentum
und seine Aneignung auf.
Er schreibt: „Die Arbeit seines Körpers und das Werk seiner Hände sei streng seines.
Wenn er also etwas bearbeitet, was von der Natur bereit gestellt wurde und seine
Arbeit mit einbringt, so erschafft er etwas, was ihm gehört und somit macht er es zu
seinem Eigentum.“198 Diese Aussage (die später die so genannte
„Arbeitswerttheorie“ stützen wird) stellt die Logik auf, dass der Arbeiter, da er seine
Arbeit „besitzt“ (da er sich selbst besitzt), mit der Energie seiner Arbeit, dieses
„Eigentumsanrecht“ auch auf das geschaffene Produkt überträgt.
Seine philosophische Position ist, im Grunde genommen, von einer christlichen
Perspektive abgeleitet. In dieser heißt es: „Gott gab den Menschen die Erde als
Gemeingut. Da er sie ihnen aber zu ihrem größtmöglichen Nutzen und Vorteil gab,
kann er nicht im Sinne gehabt haben, sie im gemeinschaftlichen Besitz und
unkultiviert zu belassen.“199
Aus dieser Deklaration der „gemeinschaftlichen“ Art der Erde und ihrer Früchte für
die gesamte Menschheit - bevor es zu einer „Kultivierung“ über die Aneignung von
Eigentum kam - leitet er weiter ab, dass die Eigentümer dazu veranlasst sind, nichts
verkommen zu lassen („Nichts wurde von Gott für den Menschen gemacht, um es zu
verderben oder zu zerstören.“200) und er muss genug für andere übrig lassen („Diese
Aneignung eines Stück Landes, durch dessen Verbesserung, geschah nicht auf
Kosten eines anderen Menschen, da es genug [und genauso Gutes] für die anderen
gab [...]“).201
Diese Werte, in einfacher Form, scheinen im Allgemeinen sozial gerechtfertigt zu
sein. Er macht bis zu diesem Punkt klar, dass Eigentum nur insofern relevant ist, wie
es sich mit den Bedürfnissen und Fähigkeiten des Eigentümers, zu kultivieren oder
zu produzieren, deckt.202
In Abschnitt 36 jedoch deckt er eine interessante Tatsache auf. Die Implikationen
davon hat Locke vermutlich nicht voraussehen können und diese machen alle vorher
genannten Argumente zur Verteidigung von Privateigentum zunichte. Er schrieb: „Die
'eine Sache', die dies verhindert, ist die Erfindung von Geld und des Menschens
198
„Second Treatise of Government“, John Locke, Chapter V, Section 27, 1689
ebd., Chapter V, Section 34
200
ebd., Chapter V, Section 31, 1689
201
ebd., Chapter V, Section 33, 1689
202
Locke schreibt: „Die Grenzen für Privateigentum hat die Natur sehr gut gesetzt: Durch die Grenzen, wie viel
ein Mensch arbeiten kann, und durch die Grenzen, wie viel er braucht. Keines Menschen Arbeit konnte das
gesamte Land bewirtschaften; keines Menschen Genuss konnte mehr konsumieren als einen kleinen Teil, sodass
es für keinen möglich war, das Recht eines anderen zu verletzen oder Eigentum zum Nachteil seines Nächsten
anzuhäufen [...]“ [„Second Treatise of Government“, John Locke, Chapter V, Section 36, 1689]
199
69
Wirtschaftsgeschichte
stillschweigende Zustimmung, ihm Wert zuzuschreiben. Das macht es möglich - mit
der Zustimmung der Menschen - größeren Besitz und mehr Recht, als ihm zusteht,
an diesem zu haben.“203
Seine ursprüngliche Annahme: „Jeder kann durch seine Arbeit so viel besitzen, wie
er sinnvoll zu nutzen vermag, bevor es verkommt. Alles, was darüber hinausgeht,
übersteigt seinen Anteil und gehört anderen“,204 zeigt sich jetzt, als sehr schwer zu
verteidigen, da Geld nun „erlaubt, größeren Besitz, als ihm zusteht, zu haben“,
wodurch seine Idee: „Alles was mehr als sein Anteil ist, gehört anderen“, aufgehoben
wird. Noch schwerwiegender impliziert es, dass Geld Arbeit kaufen kann, wodurch
die Aussage: „er [in diesem Fall der Käufer] bringt seine Arbeit mit ein und erschafft
demnach etwas, dass ihm gehört; und so schafft er etwas, das sein Eigentum ist“,
nichtig wird.205
Zuletzt ist seine Bedingung: „Nichts wurde von Gott für den Menschen gemacht, um
zu verkommen.“,206 nichtig mit der neuen Assoziation, dass Geld (damals Gold oder
Silber) schlichtweg nicht verderben kann. „So entstand Geld - als etwas Haltbares,
dass der Mensch behalten konnte, ohne dass es verdirbt und mit gegenseitiger
Zustimmung würde er es im Tausch gegen die wahrhaft nützlichen, aber
vergänglichen, Lebensnotwendigkeiten akzeptieren.“207
Hier finden wir, zumindest im literarischen Rahmen, den wahren Keim der
kapitalistischen Rechtfertigung von Eigentum mit der Nutzung von Geld als
eigenständige, abstrakte Ware (tatsächlich als angenommene Verkörperung von
„Arbeit“). Dies erlaubte die Entwicklung von Gedankengut und Praktiken, die den
Fokus zunehmend auf Eigentumsmechanismen und Gewinnstreben legen,208 anstatt
auf die tatsächlich relevante Produktion (Lockes „Kultivierung“).
Adam Smith
Adam Smith (1723-1790) wird oft als einer der einflussreichsten
Wirtschaftsphilosophen der modernen Geschichte beschrieben. Seine Arbeit, die
natürlich auf den philosophischen Werken vieler vor ihm basierte, wird oft als
Grundlage für wirtschaftliches Denken im Kontext des modernen Kapitalismus
gesehen. Smith wuchs im Anbruch der industriellen Revolution heran.209 Man könnte
sagen, er lebte in einer Zeit, in der die inhärenten Eigenschaften der kapitalistischen
„Produktionsweise“, in Anbetracht der Einführung von konzentrierten, zentralisierten
Produktionsstätten und Märkten, immer deutlicher wurden.
Wie bereits erwähnt, veröffentlichte Smith 1776 sein weltbekanntes Werk „Der
Wohlstand der Nationen“. Neben vielen wichtigen Beobachtungen hat er als Erster
die drei grundlegenden Kategorien des Einkommens zu dieser Zeit erkannt - (a)
203
ebd., Chapter V, Section 36, 1689
ebd., Chapter V, Section 31, 1689
205
ebd., Chapter V, Section 27, 1689
206
ebd., Chapter V, Section 31, 1689
207
ebd., Chapter V, Section 47, 1689
208
Der Aktienmarkt und die zunehmende Macht der Investitions/Finanzmächte im 21. Jahrhundert rund um die
Erde reflektieren diese Zuspitzung gut. Es zeigt sich, dass lediglich der Akt von Besitz und Handel durch Geld
allein, ohne die Notwendigkeit für Produktion/Kultivierung und Dienst am Menschen, zum profitabelsten Sektor
der Welt geworden ist.
209
Die industrielle Revolution geschah von 1760 bis 1820/1840 und begann laut den meisten Historikern in
Europa. Dies war im Prinzip der Übergang/die Anwendung von neuen, auf Technologie basierenden
Produktionsprozessen.
204
70
Wirtschaftsgeschichte
Profite, (b) Mieten und (c) Löhne - und wie sie zu den Klassen der Gesellschaft in
Bezug standen - (a) Kapitalisten, (b) Grundstückseigentümer und (c) Arbeiter. Es ist
wichtig zu erwähnen, dass die Rolle der Grundstückseigentümer/Mieten, die heute in
den meisten modernen Abhandlungen nicht diskutiert wird, damals ein üblicher
Hauptfokus war, da die vorindustriellen Systeme zu dieser Zeit sehr auf der
Landwirtschaft basierten. Dadurch gewannen die Grundstückseigentümer an
Bedeutung (welche sich später in Markttheorien der Zukunft in der einfachen
Klassifizierung Eigentümer auflösten).
Smiths wichtigster Beitrag zu der kapitalistischen Philosophie war seine folgende
Idee: Auch wenn Individuen in einer engen, egoistischen Weise auf ihren eigenen
Vorteil bedacht oder bedacht auf den Vorteil von einer Klasse oder Gruppe, zu der
sie gehören, handeln würden und auch wenn individuelle sowie klassenbasierte
Konflikte das Ergebnis dieser Handlungen seien - so gäbe es eine so genannte
„unsichtbare Hand“; Diese würde ein positives gesellschaftliches Resultat aus
exzentrischen, egoistischen, nicht-sozialen Absichten sicherstellen. Dieses Konzept
wurde in „Der Theorie der ethischen Gefühle“210 und „Der Wohlstand der Nationen“
präsentiert.
Er schrieb in Letzterem: „Jedes Individuum bemüht sich demnach mit seinem Kapital,
die heimische Industrie bestmöglich zu unterstützen und diese Industrie so zu
lenken, dass dessen Erzeugnisse den höchsten Wert haben. Jedes Individuum
arbeitet notwendigerweise, um das jährliche Einkommen einer Gesellschaft so weit
wie möglich zu erhöhen. In der Tat hat es im Allgemeinen weder die Absicht, das
Gemeinwohl zu verbessern, noch weiß es, wie sehr es dieses verbessert;[...] es
möchte nur seinen eigenen Gewinn und es wird, wie in vielen anderen Fällen auch,
durch eine unsichtbare Hand geleitet, ein Ziel zu erreichen, welches nicht seiner
Absicht entsprach. Auch ist es nicht immer schlecht für die Gesellschaft, dass dies
nicht die Intention war. Durch das Verfolgen seiner eigenen Interessen verfolgt es die
Interessen der Gesellschaft häufig effektiver, als wenn dies seine tatsächliche
Intention wäre.“211
Dieses beinahe religiöse Ideal hatte starke Auswirkungen auf die Ära nach Smith, da
es das üblicherweise selbstmaximierende, asoziale Verhalten der kapitalistischen
Psychologie sozial rechtfertigte. Diese einfache Philosophie entwickelte sich zum Teil
als Grundlage der „neoklassischen“212 Wirtschaftstheorie, die im späten 19.
Jahrhundert ihren Anfang nahm.
210
„Nur daß die Reichen aus dem ganzen Haufen dasjenige auswählen, was das kostbarste und ihnen
angenehmste ist. Sie verzehren wenig mehr als die Armen. Trotz ihrer natürlichen Selbstsucht und Raubgier und
obwohl sie nur ihre eigene Bequemlichkeit im Auge haben, obwohl der einzige Zweck, welchen sie durch die
Arbeit all der Tausende, die sie beschäftigen, erreichen wollen, die Befriedigung ihrer eigenen eitlen und
unersättlichen Begierden ist, trotzdem teilen sie doch mit den Armen den Ertrag aller Verbesserungen, die sie in
ihrer Landwirtschaft einführen. Von einer unsichtbaren Hand werden sie dahin geführt, beinahe die gleiche
Verteilung der zum Leben notwendigen Güter zu verwirklichen, die zustandegekommen wäre, wenn die Erde zu
gleichen Teilen unter alle ihre Bewohner verteilt worden wäre; und so fördern sie, ohne es zu beabsichtigen, ja
ohne es zu wissen, das Interesse der Gesellschaft und gewähren die Mittel zur Vermehrung der Gattung.“
[„Theorie der ethischen Gefühle“] http://www.inwo.ch/cms/Lesegruppe/leseabend/2303/vorbereitung/SmithTheorieDerEthischenGefuehle.pdf
Englische Quelle: [„The Theory of Moral Sentiments“ par. IV.I.10, 1790]
211
„An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“, Adam Smith, 1776, par. IV.2.9
212
Es gibt keine feste Definition der „neoklassischen Wirtschaft“. Jedoch beinhaltet eine allgemeine, kulturell
verbreitete Zusammenfassung das breite Interesse an einem „freien“, unregulierten Markt und einen Fokus auf
die Bestimmung von Preisen, Produktionsmenge und Einkommensverteilung in Märkten durch Angebot und
Nachfrage. Dies wird oft durch eine hypothetische Maximierung des Nutzens durch einkommensarme Individuen
und durch Profite von kostenbeschränkten Unternehmen mediiert.
71
Wirtschaftsgeschichte
Smith waren die Klassenkonflikte des Kapitalismus sehr wohl bekannt. Daher
diskutierte er zusätzlich, wie manche Menschen „Überlegenheit über die meisten
ihrer Art“ erlangen können.213 Damit bekräftigte er das angenommene „Naturgesetz“
der menschlichen Macht und Unterwerfung von weiteren Theoretikern. Seine
Vorstellung von Eigentum war in Einklang mit John Lockes. Smith führte weiter aus,
wie sich die Gesellschaft, darauf basierend, entwickelt. Er schrieb: „Die
Zivilregierung, die für die Sicherheit des Eigentums gegründet wurde, wurde
tatsächlich zur Verteidigung der Reichen gegen die Armen gegründet bzw. von
denjenigen, die etwas Eigentum haben, gegen diejenigen, die gar keines haben.“214
Eigentum, als Institution, benötigt Mittel, um seinen Wert zu rechtfertigen. Für diesen
Zweck wurden und werden verschiedene „Werttheorien“ entworfen. Oft mit
Quellenverweisen bis hin zu Aristoteles' „Politik“ wird Smiths Beiträgen immer noch
ausschlaggebender Einfluss zugerechnet. Tatsächlich baut Smith auf Lockes
Annahme des „Einbringens von Arbeit“ für Produktion bzw. Eigentum und erweitert
sie zu einer „Arbeitstheorie des Wertes“.
Er schreibt: „Arbeit war der erste Preis - das ursprüngliche Geld, mit dem man Dinge
bezahlte. Nicht mit Gold oder Silber, sondern mit Arbeit wurde der gesamte Reichtum
der Welt ursprünglich erworben; und der Wert für den, dem es gehört und der es
gegen neue Produktion eintauschen möchte, ist gleich der Menge an Arbeit, die er
dadurch erwerben oder befehligen kann.“215 Viele Kapitel des ersten Buches „Der
Wohlstand der Nationen“ erklären die Natur von Preisen/Werten bezüglich der
genannten Kategorien bzw. Klassen von Einkommen: „Löhne“, „Mieten“ und „Profite“.
Jedoch kann man sehen, dass diese Logik eher ein Zirkelschluss ist, da die
Preisbewertung lediglich aus einer Kette von anderen Preisbewertungen mit keinem
wirklichem Anfangspunkt hervorgeht - abgesehen von der vagen Bestimmung von
angewandter Arbeitskraft, die natürlich keinen intrinsischen, festen monetären Wert
hat. Das Problem der Unklarheit in beiden vorherrschenden „Arbeitswert-“ und
„Nutzwert“-Theorien, die für die kapitalistische Markttheorie geläufig sind, werden
später in diesem Kapitel näher untersucht.
Insgesamt deklariert Smiths Wirtschaftstheorie „Laissez-faire“-Kapitalismus als
bestmögliche sozioökonomische Handlungsweise. Er schrieb, dass es ein „System
von natürlicher Freiheit“ sei und „Solange er nicht die Gesetze der Justiz verletzt,
steht es jedem Menschen komplett frei, seinen eigenen Interessen nachzugehen und
seine Industrie sowie sein Kapital in Wettbewerb mit jedem anderen Menschen oder
jeder anderen Organisation von Menschen zu setzen.“216 Das letztere Konzept ist,
wie später im Kapitel „Wertesystem-Störung“ näher erläutert wird, eine eher naive
Sichtweise des menschlichen Verhaltens und tatsächlich ein Widerspruch in sich
selbst.
Malthus und Ricardo
Thomas Malthus (1766-1834) und David Ricardo (1772-1823) waren zwei weithin
anerkannte, führende Theoretiker der politischen Ökonomie des frühen 19.
213
ebd., par. V.1.2
ebd.
215
ebd.
216
ebd., par. IV.9.51
214
72
Wirtschaftsgeschichte
Jahrhunderts. Sie waren in gewisser Hinsicht „freundliche Rivalen“, aber insgesamt
teilten sie nahezu gemeinsame Ansichten - eng mit denen Adam Smiths verknüpft.
Die späte industrielle Revolution in Europa und Amerika war eine Zeit, geprägt von
vielen Konflikten zwischen Arbeitern und kapitalistischen Eigentümern. Als Reaktion
auf die grausamen und ausbeuterischen Arbeitsbedingungen, nicht nur für die
Männer, sondern auch für Frauen und Kinder, waren zahlreiche Revolten und Streiks
Normalität. Dadurch entstanden die heute bekannten Gewerkschaften und seitdem
besteht ein ständiger Kampf zwischen „Arbeitern und Eigentümern“. Um das Ausmaß
dieses Klassenkampfes zu verdeutlichen: In England wurde mit dem „Combination
Act“ von 1799 (im deutschen Raum als Koalitionsverbot bezeichnet) verboten, dass
sich Arbeiter zusammentun, um Einfluss auf die Interessen der Arbeitgeber
auszuüben oder diese zu behindern.217
Der Historiker Paul Mantoux schrieb zu dieser Zeit einen Kommentar zu „der
absoluten und unkontrollierten Macht des Kapitalisten: Damit wurde das heroische
Zeitalter der großen Unternehmungen bekannt, anerkannt und sogar mit brutaler
Offenheit verkündet. Es war des Arbeitgebers eigene Angelegenheit. Er machte, was
er wollte und erwog nicht, dass eine weitere Rechtfertigung seines Handelns nötig
sei. Er schuldete seinen Angestellten Löhne und wenn diese bezahlt waren, hatten
die Menschen ihm gegenüber keinen weiteren Anspruch.“218 Auf der Grundlage all
dessen haben Malthus und Ricardo ihre wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Ansichten verfasst.
Betrachten wir zunächst Malthus. Sein klassisches Werk „Das Bevölkerungsgesetz“
basiert im Grunde auf zwei Annahmen. Die Erste ist, dass die Klassenstruktur der
reichen Eigentümer und armen Arbeiter unweigerlich wieder aufkommen würde, ganz
gleich welche Reformen man anstrebt.219 Er sah dies als ein Gesetz der Natur an.
Die zweite Idee (die logische Schlussfolgerung aus der Ersten) war, dass Armut und
Leid und somit wirtschaftliche Disparitäten eine unabwendbare Konsequenz der
Naturgesetze seien.220
Seine These der Bevölkerung basiert auf der sehr einfachen Annahme, dass
„Bevölkerungen - wenn ungehindert - sich in einer geometrischen Rate vermehren.“
Das Lebensmittelangebot dagegen vermehrt sich nur in einer arithmetischen Rate.221
Demnach würden die meisten Menschen mehr Kinder bekommen (wollen), wenn
sich der Lebensstandard für jeden erhöht. Also würde die Bevölkerung sehr bald in
die Armut zurückgedrängt werden, da die „Bevölkerung“ sich schneller vergrößert als
das „Lebensmittelangebot“. Nur durch „moralische Einschränkung“222 - eine soziale
Fähigkeit, die er implizit den höheren Bevölkerungsschichten zuschrieb - könnte
217
Diese Macht der kapitalistischen Interessen, sich in die Regierung einzumischen und in vielerlei Hinsicht die
Regierung zu werden, um einen Wettbewerbsvorteil zu erlangen, wird auch in dem Kapitel „Wertesystemstörung“
untersucht.
218
„The Industrial Revolution in the Eighteenth Century“, Paul Mantoux, Harcourt Brace Jovanovich, New York,
1927, p.417
219
Er schreibt: „Kein Opfer der Reichen, speziell in Form von Geld, kann die Rückkehr von Elend in den unteren
Rängen der Gesellschaft verhindern, wer immer das auch sein mag.“ [„An Essay on the Principle of Population“,
Thomas Malthus, 1798, Chapter 5]
220
Er schreibt: „Es zeigt sich, dass nach den unvermeidlichen Gesetzen unserer Natur manche Menschen leiden
müssen. Dies sind unglückliche Menschen, die in der großen Lotterie des Lebens eine Niete gezogen haben.“
[„An Essay on the Principle of Population“, Thomas Malthus, 1798, Chapter 10]
221
„An Essay on the Principle of Population“, Thomas Malthus, 1798, Chapter 1
222
Aus seiner zweiten Auflage von „An Essay on the Principle of Population“, 1836, Principles of Political
Economy, vol. 1, p.14. New York, Augustus M. Kelley, 1964.
73
Wirtschaftsgeschichte
dieses Problem durch ein angepasstes Verhalten behoben werden. Demnach war
der Unterschied zwischen den Reichen und den Armen der hohe moralische
Charakter der Ersteren und die einfache Moral der Letzeren.223
Wie in vorherigen Kapiteln erwähnt, hat die intuitive kulturelle Situation der damaligen
Zeit, viel mit den immer währenden Denkmustern zu tun, die unsere heutigen
wirtschaftlichen Handlungen leiten. Auch wenn heute viele Menschen Malthus und
diese eindeutig veralteten Ideen ablehnen, wurde der Keim tief in die wirtschaftlichen
Doktrinen, Werte und die damals wie heute auftretenden Klassenbeziehungen
gepflanzt. Tatsächlich werden heute immer noch Variationen seines
Bevölkerungsgesetzes von den eher „Konservativen“ vorgebracht, wenn es um
wirtschaftlich unterentwickelte Länder geht.
Malthus, wie auch Locke und Smith, weisen in ihrem Bezugsrahmen auch tiefe
christliche Überzeugungen auf, entweder direkt aus den Schriften oder basierend auf
persönlicher Interpretation. Malthus umrahmte seine „moralische Einschränkung“ mit
der Implikation, dass ein wahrhafter rechtschaffener Christ solche einfachen Laster
aufgeben würde und auch das nötige unabwendbare Elend akzeptieren würde, um
die Gesellschaft vor einer Überbeanspruchung der Ressourcen zu bewahren.
Genauso wie es heute eine große Debatte bezüglich der Gesetze gibt, die den
Armen in Form von „Sozialhilfe“ oder „öffentlichen Unterstützungsprogrammen“
helfen soll,224 so war natürlich auch Malthus ein großer Verfechter der Abschaffung
der damals so genannten „Armen-Gesetze“ - ebenso wie David Ricardo.
Fahren wir mit Ricardo fort. Er akzeptierte im Grunde Malthus Bevölkerungsgesetz
und seine Schlussfolgerungen bezüglich der Natur und Ursachen von Armut. Jedoch
stimmte er nicht mit einigen Wirtschaftstheorien überein, wie beispielsweise Malthus'
Werttheorie, Sättigungstheorie und manchen Klassenannahmen. Da die meisten
dieser Unstimmigkeiten im Detail überflüssig im Sinne dieser weitläufigen Diskussion
sind (und wohl generell ebenso als veraltet angesehen werden können), werden
Ricardos wichtigste Beiträge zum wirtschaftlichen Denken hier der Fokus sein.
1821 hat Ricardo seine dritte Auflage seines einflussreichen Werks „Principles of
Political Economy and Taxation“ (Politische Ökonomie und Besteuerung)
fertiggestellt. In dem Vorwort formuliert er seine Absicht: „Die Erzeugnisse der Erde,
[...] all das, was von ihrer Oberfläche durch die vereinigte Anwendung von Arbeit,
Maschinen und Kapital erzeugt wird, wird unter den drei Klassen der Gemeinschaft
aufgeteilt. Also unter dem Landbesitzer, unter dem Eigentümer des für die
Kultivierung benötigten Kapitals und unter den Arbeitern, durch deren Fleiß sie
kultiviert wird. Die Gesetze zu bestimmen, die diese Verteilung regulieren, ist die
zentrale Frage der politischen Ökonomie.“225
223
Es ist wichtig anzumerken, dass die malthusianische Bevölkerungstheorie bezüglich der das
Bevökerungswachstum betreffenden Faktoren tatsächlich äußerst fehlerhaft ist, gemessen am heutigen
statistischen Verständnis. Neben der Rolle der Technologie bei der exponentiellen Erhöhung der
Produktionskapazität und Effizienz, speziell im Bereich der Nahrungsmittelproduktion, wird die verallgemeinernde
Ansicht, dass ein höherer Lebensstandard die Bevölkerung proportionell wachsen lässt, durch regionale
Vergleiche nicht gestützt. Dies scheint eher eine Frage der Kultur, der Religion und der Bildung zu sein, kein
festes „Gesetz der Natur“ wie Malthus schlussfolgerte.
224
Referenz: „Abolishment of Welfare: An Idea Becomes a Cause“
[http://www.nytimes.com/1994/04/22/us/abolishment-of-welfare-an-idea-becomes-a-cause.html]
225
„The Principles of Political Economy and Taxation“, David Ricardo, 1821, Dent Edition, 1962, p.272
74
Wirtschaftsgeschichte
Obwohl er kritisch gegenüber einigen Aspekten von Adam Smiths
„Arbeitswertetheorie“ war, unterstützte er die grundlegende Bedeutung. Er schrieb:
„Nützliche Waren schöpfen ihren Tauschwert aus zwei Quellen: Aus ihrer Knappheit
und aus der Menge an Arbeit, durch die sie entstanden sind.“226 Gleichermaßen wie
Smith führt er aus: „Wenn der erbrachte Arbeitsaufwand für eine Ware ihren
Tauschwert reguliert, muss jede Erhöhung an Arbeitsaufwand den Wert dieser Ware
steigern und jede Verringerung ihn reduzieren.“227
Folglich sah Ricardo die Gesellschaft und die Klassenschichtung seiner Zeit aus der
Arbeitsperspektive und schlussfolgerte, dass die Interessen der Arbeiter und
Kapitalisten entgegengesetzt waren. „Wenn sich Löhne erhöhen sollen“, sagte er oft,
„so würden die Profite zwangsläufig sinken“.228 Diese Zwietracht sollte zu einem
grundlegenden Interesse jeder Klasse führen, daran zu arbeiten, einen Vorteil über
die andere Klasse zu haben. Das führte oft zu einem allgemeinen Ungleichgewicht
aufgrund der Macht der kapitalistischen Eigentümer über die Arbeitskräfte (und die
Gesetzgebung). Hinzu kam der Anfang der Mechanisierung (die Anwendung von
Maschinen), der systematisch die Notwendigkeit menschlicher Arbeit in betroffenen
Sektoren reduzierte. Dennoch ist er der Überzeugung, dass die Theorie des
Kapitalismus auf lange Sicht immer zur Vollbeschäftigung führen würde, insofern
man sie richtig anwendet.
Zu diesem speziellen Thema der Anwendung von Maschinen, welche menschliche
Arbeit zum Vorteil der Produzenten ersetzt, schreibt er: „Der Produzent, [...] der [...]
auf eine Maschine zurückgreifen kann, [...] welche die Kosten der Produktion seiner
Ware reduziert, hätte einen Vorteil, wenn er weiterhin den gleichen Preis für seine
Waren verlangen könnte. Allerdings würde er [...] verpflichtet sein, den Preis seiner
Ware zu reduzieren, da das Kapital sonst nicht zu ihm explizit fließt, da kein
spezieller Preisvorteil für den Käufer entsteht. Dadurch sinkt sein Profit auf das
übliche Niveau. Maschinen nutzen demnach der Allgemeinheit.“229
Jedoch sind, wie in vielen seiner Schriften, Widersprüche häufig vorzufinden. Mit der
grundlegenden Idee, dass die Öffentlichkeit durch die Einführung von
arbeitsreduzierenden Maschinen einen Vorteil haben würde, mit der Annahme, dass
die Marktpreise sauber fallen würden und dass sich die Arbeitslosen immer leicht neu
orientieren könnten, beginnt Ricardo in Kapitel 31 der dritten Auflage seiner
„Prinzipien“ mit der Aussage: „Seit dem ich mich mit Fragen der politischen
Ökonomie beschäftige, war ich der Meinung, dass [...] die Anwendung von
Maschinen in einem Produktionszweig generell einen positiven arbeitssparenden
Effekt haben würde, [...] [aber] die Substitution der menschlichen Arbeit durch
Maschinen ist oft sehr schädlich für die Interessen der Arbeiterklasse.“230
Später überdenkt er seine Behauptung, indem er schreibt: „Die von mir getroffenen
Aussagen werden hoffentlich nicht zu der Folgerung führen, dass Maschinen nicht
gefördert werden sollten. Meine Aussage ist so zu verstehen, dass verbesserte
Maschinen nicht plötzlich entdeckt und genutzt werden, sondern diese Entdeckungen
in der Realität schrittweise geschehen. Also funktioniert es eher so, dass diese
226
ebd., p.5
ebd., p.7
228
ebd., p.64
229
ebd., p.53
230
ebd., p.263-264
227
75
Wirtschaftsgeschichte
Entwicklungen die Nutzung von gespartem und angehäuftem Kapital bestimmen, als
dass sie Kapital seiner tatsächlichen Nutzung entziehen.“231
Seine generelle Ablehnung gegenüber dem Problem, dass Menschen durch
Maschinen ersetzt werden, was später „technologische Arbeitslosigkeit“ genannt
wird, findet man auch bei weiteren ihm folgenden Ökonomen, unter anderem John
Maynard Keynes (1883-1946), der im Einklang mit Ricardos genereller Annahme der
„Anpassung“ schrieb: „Wir sind von einer neuen Krankheit betroffen, deren Namen
einige Leser noch nicht gehört haben mögen, von der sie jedoch viel in den
kommenden Jahren hören werden. Sie wird 'technologische Arbeitslosigkeit'
genannt. Das beschreibt die Arbeitslosigkeit auf Grund unserer Effizienzsteigerung,
die schneller voranschreitet, als wir neue Arbeitsfelder finden können. Aber das ist
nur eine temporäre Phase des Ungleichgewichts. All das bedeutet auf lange Sicht,
dass die Menschheit ihre wirtschaftlichen Probleme löst.“232
Dieses Thema wird hier angesprochen, da es erneut in Teil III in den Mittelpunkt
rückt. Es behandelt einen Kontext der technologischen Anwendung, welcher bis
heute von den großen ökonomischen Theoretikern der modernen Geschichte einfach
nicht erkannt oder abgelehnt wird, da sie, wie weiter oben erwähnt, oft in einen
engen Bezugsrahmen gesperrt feststecken.
Abschließend zu Ricardo: Ihm wurden oft seine Beiträge zum weltweiten „freien
Handel“ hoch angerechnet, speziell seine „Theorie des komparativen Vorteils“ und
seine Fortführung des simplen „unsichtbare Hand“-Ethos von Adam Smith. Ricardo
schreibt: „In einem System des vollständig freien Handels wird jedes Land
natürlicherweise sein Kapital und seine Arbeit dort anwenden, wo es am
vorteilhaftesten ist. Die Verfolgung des individuellen Vorteils ist wunderbar mit dem
allgemeinen Vorteil des Ganzen verbunden. Durch das Ankurbeln der Industrie,
durch die Belohnung von Einfallsreichtum und durch die wirksamste Nutzung der von
der Natur verliehenen Kräfte, verteilt sich die Arbeit am effektivsten und
wirtschaftlichsten. Zusätzlich nutzt dies der Allgemeinheit, indem es die Masse an
Produktion erhöht. Dies verbindet die universelle Gesellschaft der Nationen der
gesamten zivilisierten Welt durch ein gemeinsames Band aus Interessen und
Interaktionen.“233
Theorien von Werten und Verhaltensweisen
Bis jetzt haben wir die umfassenden Beiträge von vier großen historischen
Persönlichkeiten untersucht und die zentralen Eigenschaften der kapitalistischen
Philosophie wurden kurz angesprochen. Hier merkt man, dass diese Ansichten auf
Annahmen bezüglich menschlichem Verhaltens, sozialer (Klassen-) Verhältnisse
sowie einer „metaphysischen“ Marktlogik beruhen, nach der schon alles gut gehen
wird, wenn bestimmte Werte und allgemein eine „egoistische“ Sichtweise von den
Spielern des Marktspiels eingenommen wird und der Markt selbst wenig
eingeschränkt ist.
Eine kurze Randbemerkung: Weder in den Schriften dieser Denker, noch in dem
größten Teil der Werke von späteren Theoretikern auf der Seite der freien
Marktwirtschaft werden die tatsächliche Struktur und die Prozesse der Produktion
231
ebd., p.267
Aus der Abhandlung: „Economic Possibilities for Our Grandchildren“, John Maynard Keynes, 193
233
„The Principles of Political Economy and Taxation“, David Ricardo, 1821, Dent Edition, 1962, p.81
232
76
Wirtschaftsgeschichte
und Verteilung diskutiert. Es gibt eine klare Trennung von „Industrie“ und „Geschäft“
(Business). Erstere bezieht sich auf die technisch-wissenschaftlichen Prozesse von
echten wirtschaftlichen Abläufen, während letzteres lediglich verschlüsselte
Marktdynamiken und Gewinnstreben umfasst. Ein wichtiges Problem, das gleich
weiter diskutiert wird, besteht in der kapitalistischen Produktionsweise, durch welche
die Fortschritte des „industriellen Sektors“ (die verbesserte Problemlösungen und
erhöhten Wohlstand bringen könnten) von traditionellen, scheinbar unveränderbaren
Grundsätzen des „Business Sektors“, blockiert werden. Letzterer hat die Aktionen
des ersteren geleitet - zum Nachteil des Potenzials des ersteren.
Diese Trennung oder dieser verzerrte Bezugsrahmen wird auch in weiteren Punkten
zu finden sein, wie beispielsweise in den vorherrschenden Arbeits- und Werttheorien
sowie in Theorien des menschlichen Verhaltens. Diese dienen zwangsläufig dazu,
die Institution des Kapitalismus zu rechtfertigen. Wie zuvor erwähnt, wurde die
Arbeitswerttheorie durch Locke, Smith und Ricardo berühmt. Sie besagt allgemein,
dass der Wert einer jeden Ware in Zusammenhang mit der für ihre Produktion
benötigten Arbeit steht. So schlüssig diese Idee von einer intuitiven Perspektive her
erscheint, so gibt es viele Ebenen des Missverständnisses, wenn es um die genaue
Quantifizierung geht. Viele historische Einwände bestehen fort. So stellt sich
beispielsweise die Frage, inwiefern verschiedene Arten von Arbeit, verschiedene
Fähigkeiten und Lohntarife richtig miteinander verglichen werden können - neben der
Frage, in welchem Maße natürliche Ressourcen und „arbeitendes“ Investitionskapital
selbst eine Rolle spielen sollten.
Das Wachstum an „Investitionsgütern“234 im 20. Jahrhundert durch die maschinelle
Automatisierung von Arbeit stellt die eher einfachen Arbeitstheorien, die Wert von der
Arbeitsleistung ableiten, vor große Herausforderungen. So stellt beispielsweise der
Arbeitswert der Produktionsmaschinen, da diese heute oft dazu dienen, mehr
Maschinen mit immer weniger menschlichem Aufwand zu produzieren, in diesem
Zusammenhang einen ewig sinkenden Wert dar. Es wird heute von einigen
Ökonomen, die sich mit rasant fortschreitenden Bereichen der
Informationswissenschaft und Technologie beschäftigen, angedeutet, dass die
Nutzung maschineller Automatisierung in Kombination mit „künstlicher Intelligenz“
sehr wahrscheinlich die Menschen aus der traditionellen Arbeitswelt vertreiben
könnte. Plötzlich wird sozusagen Kapital zu Arbeit.235
Dieser Widerspruch weitet sich auch auf konkurrierende Werttheorien von
Ökonomen aus, vor allem die erwähnenswerte Nutzwert-Theorie. Während die
Arbeitswerttheorie die Perspektive der Arbeit oder Produktion einnimmt, vertritt die
Nutzwert-Theorie die „Marktperspektive“, das heißt: Wert wird nicht von der Arbeit
abgeleitet, sondern von dem Zweck (oder der Nützlichkeit) für die Verwendung
(Nutzwert), wie er durch den Verbraucher wahrgenommen wird.
Der französische Ökonom Jean-Baptiste Say (1737-1832) ist im Zusammenhang mit
der Nutzwerttheorie zu erwähnen. Als selbsternannter Schüler von Adam Smith wich
er bei der Frage des Wertes von Smith ab. Er schrieb: „Nachdem die [...]
234
„Ein Investitionsgut (auch Kapitalgut, Betriebsmittel oder Potentialfaktor) ist in der Wirtschaftswissenschaft ein
langlebiges ökonomisches Gut, das von Unternehmen zur Erstellung und Weiterverarbeitung von Gütern
angeschafft wird [...]“ http://de.wikipedia.org/wiki/Investitionsgut
Ein Konsumgut hingegen ist das Endprodukt dieser Produktion.
235
Literaturempfehlung: „The End of Work: The Decline of the Global Labor Force and the Dawn of the PostMarket Era“, Jeremy Rifkin, Putnam Publishing Group, 1995
77
Wirtschaftsgeschichte
Verbesserungen durch die Wissenschaft der politischen Ökonomie dargestellt
wurden, die Dr. Smith geschuldet sind, ist es vielleicht nicht sinnlos, darauf
hinzuweisen, [...] in welchen Punkten er irrte. [...] Der Arbeit des Menschen allein
schreibt er die Wertschöpfung zu. Das ist ein Fehler.“236
Er erklärt weiterhin, wie der „Tauschwert“ (Preis) einer jeden Ware oder
Dienstleistung komplett auf ihrem „Nutzwert“ (Nützlichkeit) basiert. Er schreibt: „Der
Wert, den der Mensch einem Objekt zuschreibt, entspringt dem Nutzen, den er aus
ihm ziehen kann. [...] Es sollte mir daher erlaubt sein, der Tauglichkeit oder Fähigkeit,
die manche Dinge besitzen, die mannigfaltigen Wünsche der Menschheit zu
befriedigen, den Namen der Nützlichkeit zu verleihen. [...] Der Nutzen von Dingen ist
das Fundament ihres Wertes und ihr Wert macht Reichtum aus. [...] Auch wenn der
Preis das Maß für den Wert von Dingen ist und deren Wert das Maß ihrer
Nützlichkeit, so wäre es absurd, die Schlussfolgerung zu ziehen, dass man den Preis
zwanghaft erhöhen kann und damit die Nützlichkeit erhöhen würde. Der Tauschwert
oder Preis ist eine Kennzahl für die wahrgenommene Nützlichkeit einer Sache.“237
Die Nutzwert-Theorie unterscheidet sich von der Arbeitswerttheorie nicht nur in der
Ableitung von Wert, sondern auch in den Implikationen bezüglich einer subjektiven
Erklärung für menschliche Entscheidungen am Markt. Der Utilitarismus,238 der nur zu
typisch für mikroökonomische Annahmen heutiger neoklassischer Ökonomen ist,
wird oft in komplexen mathematischen Formeln modelliert. Damit soll ermittelt
werden, wie die Menschen am Markt ihren „Nutzen maximieren“, speziell bezogen
auf die Erhöhung von Glück und die Reduktion von Leid.
Diesen Konzepten des menschlichen Verhaltens liegen, wie den meisten
ökonomischen Theorien, traditionelle Annahmen und Werte zu Grunde. Der Ökonom
Naussau Seniro (1790-1864) unterstützte eine heute häufig aufgegriffene Idee, dass
menschliche Bedürfnisse unendlich groß seien: „Was wir hiermit sagen wollen ist,
dass keine Person ihre Wünsche als angemessen befriedigt sieht; dass jede Person
einige unbefriedigte Begierden hat, welche - wie sie glaubt - durch mehr Reichtum
gedeckt werden könnten.“239 Solche Ansichten der menschlichen Natur treten in
derartigen Abhandlungen regelmäßig auf. Darunter fallen Konzepte von Gier, Angst
und weiteren hedonistischen Reflexmechanismen, die unterstellen, dass unter
anderem materielle Anhäufung, Reichtum und Gewinn essentieller Gegenstand der
Glückseligkeit sind.
Heute ist die vorherrschende und größtenteils akzeptierte mikroökonomische
Sichtweise, dass das gesamte menschliche Verhalten auf rationale, strategische
Versuche reduzierbar ist, entweder zur Maximierung von Profit bzw. Gewinn oder
dem Vermeiden von Schmerz oder Verlust. Immer weiter ausgeweitete utilitaristische
236
„A Treatise on Political Economy“, Jean-Baptiste Say, Philadelphia: Lippincott, 1863, p.xi [Translation is from
the fourth French edition, published in 1821.]
237
ebd., p.62
238
Jeremy Bentham, ein namhafter Vertreter des „klassischen Utilitarismus“, schrieb: „Die Natur hat den
Menschen zwei souveränen Meistern unterworfen: Schmerz und Vergnügen. Es liegt allein an ihnen, zu
bestimmen, was wir tun sollen [...] Mit dem Prinzip der Nützlichkeit ist das Prinzip gemeint, das jede Handlung
billigt oder missbilligt, je nach Tendenz zur Verstärkung oder Schwächung von Glück der betroffenen Gruppe
oder, mit anderen Worten, das Glück zu fördern oder sich dieser entgegenzustellen. Ich sage das von jeder
Handlung und demnach nicht nur von jeder Handlung eines Individuums, sondern auch von jeder Maßnahme der
Regierung." [„An Introduction to the Principles of Morals and Legislation“, Jeremy Bentham, 1789, Dover
Philosophical Classics, 2009. p.1]
239
„An Outline of the Science of Political Economy“, Nassau Senior, 1836, London, Allen and U., 1938, p.27
78
Wirtschaftsgeschichte
Argumente dieser Natur werden weiterhin benutzt, um den wettbewerbsbetonten
Kapitalismus moralisch zu rechtfertigen. Ein Beispiel dafür ist die Ansicht des
„Voluntarismus“ mit der Andeutung, dass sämtliche Handlungen am Markt niemals
erzwungen werden und demnach jeder frei ist, eigene Entscheidungen in Bezug auf
Gewinn oder Verlust zu fällen. Diese Idee ist heute weit verbreitet; so als würden
solche „freien Tauschverhältnisse“ in einem Vakuum existieren, ohne weitere
synergetische Einflüsse; so als würde der Überlebensdruck in einem System mit
deutlichen Tendenzen zu grundlegendem Klassenkampf und strategischer Knappheit
nicht automatisch zu einem Zwang für die Arbeiter führen, sich der kapitalistischen
Ausbeutung zu unterwerfen.“240
Insgesamt ist das utilitaristische (hedonistische, wettbewerbsbetonte und „immerunzufrieden-sein“) Modell der menschlichen Natur die heute wohl häufigste
Verteidigung des kapitalistischen Systems. Es ist in vielerlei Hinsicht sowohl eine
psychologische Theorie, wie Menschen sich verhalten, als auch eine ethische
Theorie, wie sie sich verhalten sollen. Dadurch wird eher eine rückwirkende Logik
erzeugt, die oft die Markttheorie vor die menschliche Verhaltensrealität stellt und
dadurch die Letztere an die Erstere anpasst.
In der Realität treten zwei ernsthafte Probleme auf, wenn die utilitaristische
Sichtweise vollständig angewendet wird. Erstens ist es auf gesellschaftlicher Ebene
ab einem bestimmten Grad nahezu unmöglich, Vorhersagen für diese „Vergnügensund Schmerzgrenzen“ zu treffen. Es gibt kein empirisches Mittel, um die Intensität
des Vergnügens (abseits der einfachen Annahme einer Präferenz von „Gewinn“ vor
„Verlust“) eines Individuums mit dem eines anderen zu vergleichen. Auch wenn die
Nutzwert-Theorie in einer abstrakten, generellen Sichtweise logisch ist, unterliegen
die Mechanismen solcher emotionalen Dynamiken ohne Quantifizierung in der
Realität starken Schwankungen.
Beim Vergleich der gesamten Lebenserfahrung zweier Personen lassen sich
eventuell einige grundlegende Gemeinsamkeiten, bezüglich der persönlichen
Konditionierung auf einige Vergnügens- und Schmerzreize, feststellen. Jedoch wird
man selten eine vollständige Übereinstimmung im Detail vorfinden. Da individuelles
Wohlbefinden als ultimatives „moralisches“ Kriterium des Utilitarismus gesehen wird,
gibt es absolut keine Möglichkeit, über das Vergnügen zweier Individuen zu urteilen.
Der Ökonom Jeremy Bentham, oft als Vater des Utilitarismus angesehen, hat dies
ansatzweise erkannt und schrieb: „Vorurteile beiseite: das Spiel Pushpin240b hat den
gleichen Wert wie die Kunst, die Wissenschaft, die Musik und die Poesie. Wenn
jemandem das Pushpin-Spiel mehr Vergnügen bereitet, so ist es auch wertvoller.“241
Das zweite Problem ist die kurzsichtige Natur der angenommenen emotionalen
Reaktion. Menschen haben in der Vergangenheit das rationale Interesse gezeigt, in
der Gegenwart zu leiden, um in der Zukunft Gewinn zu machen (oder zu hoffen,
Gewinn zu machen). Der philosophisch ausführlichst diskutierte Altruismus könnte
sehr gut in dem „Vergnügen“ der selbstlosen (leidvollen) Aufopferung zum Wohle
anderer verwurzelt sein. Wie später weiter erläutert wird, ist die durch derlei
Diskussionen in den Vordergrund gestellte Leid/Vergnügens-Annahme, verstärkt
240
Mehr dazu im Kapitel „Struktureller Klassismus“.
Pushpin-Spiel: ein beliebtes englisches Kinderspiel im 16. bis 18. Jahrhundert
http://de.wikipedia.org/wiki/Pushpin
241
„Rationale of Reward“, Jeremy Bentham Book 3, Chapter 1
240b
79
Wirtschaftsgeschichte
durch eine impulsive Reaktion auf Gewinn, zu einem gesellschaftlich belohntem
Muster geworden. Dies hat eine Mentalität erzeugt, nach der kurzfristiger Gewinn
angestrebt wird, was langfristig oft zu Leid führt.
In der Abstraktion jedoch bietet der Utilitarismus eine bizarre Art der Gleichstellung,
da er als „beidseitiger Austausch“ interpretiert werden kann und demnach als ein
Mittel, um den Kapitalismus als ein System der gesellschaftlichen Harmonie zu
sehen, anstatt als ein System der Kriegsführung. Um auf das Thema Arbeitstheorie
vs. Nutzwert-Theorie zurückzukommen, zeigt die erstere einen Konflikt auf, da die
Arbeitstheorie die Kosteneffizienz berücksichtigt, die der Kapitalist anstrebt, auf
Kosten der Löhne des Arbeiters. Die Nutzwerttheorie auf der anderen Seite entfernt
all diese Ideen insgesamt und besagt, dass jeder das Gleiche anstrebt und demnach,
ungeachtet der Struktur, sei jeder gleich. Mit anderen Worten: Jeder Austausch wird
beidseitig vorteilhaft für jeden in einer engen, absurd abstrakt generalisierten Logik.
Alle menschlichen Handlungen werden auf ein System des „Austauschs“ reduziert
und demnach lösen sich alle politischen oder gesellschaftlichen Unterschiede in der
Theorie in Luft auf.
Der „sozialistische“ Aufstand
Wie beim Kapitalismus gibt es in der allgemeinen öffentlichen Debatte auch keine
universell akzeptierte Definition des Sozialismus. Er wird jedoch technisch oft wie
folgt definiert: „Ein wirtschaftliches System, das durch das gemeinschaftliche
Eigentum der Produktionsmittel und der kooperativen Verwaltung der Wirtschaft
gekennzeichnet ist.“242 Der Ursprung des sozialistischen Gedankenguts geht bis in
das Europa des 18. Jahrhundert zurück. Er ist gekennzeichnet durch eine komplexe
Geschichte von „Reformern“, die daran arbeiteten, das aufkommende kapitalistische
System zu bekämpfen. Gracchus Babeuf (1760-1779) ist ein erwähnenswerter
Theoretiker auf diesem Gebiet. Mit seiner „Verschwörung der Gleichgestellten“
versuchte er, die französische Regierung zu stürzen. Er schrieb: „Die Gesellschaft
muss so gestaltet werden, dass sie ein für alle Mal das Bedürfnis des Menschen
auslöscht, reicher, gebildeter oder stärker als andere zu sein.“243 Der französische
Sozialist und Anarchist Pierre Joseph Proudhon (1809-1865) ist berühmt für seine
Aussage: „Eigentum ist Diebstahl“, in seinem Pamphlet: „Untersuchungen über die
Grundlagen von Recht und Staatsmacht“.
Im 19. Jahrhundert verbreiteten sich die sozialistischen Ideen rasant. Dies geschah
gewöhnlich als Antwort auf die wahrgenommenen und für den Kapitalismus
charakteristischen moralischen und ethischen Probleme wie Klassenungleichgewicht
und Ausbeutung. Die Liste der einflussreichen Denker ist lang und komplex, daher
werden wir hier nur drei Individuen und deren wichtigste Beiträge untersuchen:
William Thompson, Karl Marx und Thorstein Veblen.
William Thompson (1775-1833) hatte einen starken Einfluss auf die sozialistische
Denkweise. Er unterstützte die Idee von „Genossenschaften“, die durch Robert Owen
als Alternative zum kapitalistischen Geschäftsmodell bekannt gemacht wurden, und
nahm philosophisch eine utilitaristische Ansicht bezüglich des menschlichen
Verhaltens ein. Er wurde sehr von Bentham beeinflusst, aber sein Gebrauch und
seine Interpretation des Utilitarismus war ein wenig anders. Beispielsweise glaubte
242
http://www.britannica.com/EBchecked/topic/551569/socialism
„The Defense of Gracchus Babeuf before the High Court of Vendôme“, University of Massachusetts Press,
1967, p.57
243
80
Wirtschaftsgeschichte
er, dass alle Mitglieder einer Gesellschaft die gleichen Chancen auf Glück hätten,
wenn sie nur gleich behandelt werden würden, anstatt sich Klassenkämpfen und
Ausbeutung hingeben zu müssen.244
Er argumentierte in seinem berühmten Werk: „Eine Untersuchung über die
Grundlagen der fürs menschliche Glück förderlichsten Verteilung des Wohlstands“,
stark für eine Art „Markt-Sozialismus“, bei dem Egalitarismus und Gleichheit
vorherrschen. Er machte sehr deutlich, dass der Kapitalismus ein System der
Ausbeutung und Unsicherheit ist, indem er schrieb: „Die Tendenz der existierenden
Ordnung ist es, einige Reiche auf Kosten der Masse an Produzierenden zu
bereichern und damit die Armut der Armen noch hoffnungsloser zu machen.“245
Jedoch erkannte er, dass selbst bei Entstehung eines Hybrid-Systems aus
Kapitalismus und Sozialismus die zugrunde liegende Voraussetzung des
Wettbewerbs immer noch ein ernsthaftes Problem darstellen würde. Er schrieb
ausführlich über die dem Marktwettbewerb innewohnenden Probleme. Dabei zeigte
er fünf Probleme auf, die schon immer in der Rhetorik sozialistischer Denkweise
vorkamen:
Das erste Problem ist, dass jeder „Arbeiter, Handwerker und Händler einen
Konkurrenten/einen Rivalen in jedem anderen [sieht] [...] [und jeder sieht] eine zweite
Rivalität zwischen [...] [seinem oder ihrem Beruf] und der Öffentlichkeit.“246 Des
Weiteren schrieb er, es wäre „im Interesse jedes Mediziners, dass Krankheiten
existieren und auftreten sollen, oder ihr Gewerbe würde um das Zehn- oder
Hundertfache schrumpfen.“247
Das zweite Problem ist die inhärente Unterdrückung der Frauen und die Spaltung der
Familie. Es ist festzustellen, dass die Arbeitsteilung und die allumfassende Ethik des
konkurrenzbetonten Egoismus die Schufterei der Frau im Haushalt und die
Ungleichheit der Geschlechter weiterhin sicherstellt.248
Das dritte Problem, das mit dem Wettbewerb einhergeht, ist die natürliche Instabilität,
die in der Wirtschaft selbst erzeugt wird. Er schrieb: „Das dritte Übel des Prinzips des
individuellen Wettbewerbs ist, dass es ab und an unweigerlich zu unprofitablen oder
unüberlegten individuellen Anstrengungen kommen muss; [...] jeder Mensch muss für
sich selbst beurteilen, wie gut die Erfolgschancen in seinem Beruf sind. Welches sind
die Mittel, nach denen er dies bewertet? Jeder, der erfolgreich in seinem
Tätigkeitsfeld ist, ist interessiert daran, seinen Erfolg geheim zu halten, da der
Wettbewerb seinen Erfolg reduzieren wird. Wer kann beurteilen, ob der Markt,
welcher oft in weiter Ferne, manchmal in einer anderen Hemisphäre des Globus liegt,
mit dem Artikel, den er herstellen möchte, überflutet ist oder wahrscheinlich wird?
[...] Und wenn irgendein Beurteilungsfehler [...] ihn zu einer nicht benötigten und
demnach unprofitablen Handlung führt, was ist die Konsequenz? Lediglich ein
Beurteilungsfehler [...] kann zu extremer Not, wenn nicht sogar zum Ruin führen.
Fälle wie diese scheinen in einem Schema des individuellen Wettbewerbs in seiner
reinsten Form unabwendbar zu sein.“249
244
„An Inquiry into the Principles of the Distribution of Wealth Most Conducive to Human Happiness“, William
Thompson, London, William S. Orr, 1850, p.17
245
ebd., p.xxix
246
ebd., p.259
247
ebd.
248
ebd., pp.260-261
249
ebd., pp.261-263
81
Wirtschaftsgeschichte
Das vierte Problem bezieht sich auf die egoistische Natur des wettbewerbsbasierten
Marktes, die Unsicherheit bei Fragen der grundlegenden Lebenserhaltung wie der
Absicherung im Alter, bei Krankheiten und bei Unfällen mit sich bringt.250
Das fünfte von Thompson dargelegte Problem bezieht sich auf den Wettbewerb am
Markt und wie er den Fortschritt von Wissen verlangsamt. „Geheimhaltung dessen,
was neu oder herausragend gegenüber der Konkurrenz ist, ist eine logische
Konsequenz [...], weil das stärkere persönliche Interesse dem Prinzip der
Nächstenliebe entgegensteht.“251
Karl Marx (1818-1883) wurde, wie viele andere, von Thompsons Werken beeinflusst
und ist heute wahrscheinlich einer der bekanntesten Wirtschaftsphilosophen. Sein
Name wird oft in einer abwertenden Weise benutzt, um die Gefahren des
sowjetischen Kommunismus oder des „Totalitarismus“ aufzuzeigen. Daher ist Marx
wohl unter all den berühmten Ökonomen auch einer der am häufigsten
Missverstandenen. Obwohl er in der allgemeinen Bevölkerung für seine
Abhandlungen zu den sozialistisch-kommunistischen Ideen bekannt ist, hat Marx den
Großteil seiner Zeit tatsächlich dem Thema des Kapitalismus und seiner
Funktionsweise gewidmet. Sein Beitrag zum Verständnis des Kapitalismus ist größer,
als viele sich vorstellen können. Die vielen heute üblicherweise verwendeten
wirtschaftlichen Fachbegriffe und Aussagen in Gesprächen über den Kapitalismus
entsprangen aus Marx' literarischen Abhandlungen. Seine Perspektive ist zum
größten Teil historisch geprägt und zeigt eine sehr detaillierte Recherche über die
Entwicklung wirtschaftlichen Denkens. Auf Grund der immensen Größe seiner Werke
werden hier nur einige wenige einflussreiche Themen aufgegriffen.
Ein Thema ist sein Bewusstsein über die kapitalistische Eigenschaft des „Tausches“,
der die ultimative Basis für alle sozialen Beziehungen sein soll. Er schrieb in seinen
„Grundrissen“: „In der Tat, soweit die Ware oder die Arbeit nur noch als Tauschwert
bestimmt ist und die Beziehung, wodurch die verschiednen Waren aufeinander
bezogen werden, als Austausch dieser Tauschwerte gegeneinander angesehen
werden, [...] sind die Individuen [...] nur einfach als Austauschende anzusehen. Es
existiert absolut kein Unterschied zwischen ihnen, soweit die Formbestimmung in
Betracht kommt. [...] Als Subjekte des Austauschs ist ihre Beziehung daher die der
Gleichheit.“252
„Obgleich das Individuum A das Bedürfnis nach der Ware des Individuums B
verspührt, bemächtigt es sich derselben nicht mit Gewalt, noch andersherum,
sondern sie erkennen sich wechselseitig als Eigentümer an - als Personen, deren
Willen ihre Waren durchdringt. [...] Keiner bemächtigt sich des Eigentums des andren
mit Gewalt. Jedes entäußert sich desselben freiwillig.“253
Um auf die immer wieder aufkommenden Themen der menschlichen Beziehungen
und Klassenannahmen (oder deren Ablehnung) zu kommen, hat Marx im Prinzip drei
wichtige Illusionen betont: Die Illusion der Freiheit, Gleichheit und sozialer Harmonie.
250
ebd., p.263
ebd., p.267
252
„Grundrisse“, Karl Marx, tr. Martin Nicolaus, Reprint Vintage Books, New York, 1973
p.241http://dhcm.inkrit.org/wp-content/data/mew42.pdf
253
ebd., p.243
251
82
Wirtschaftsgeschichte
Diese werden auf extrem engstirnige Assoziationen rund um die Idee des
„gegenseitigen vorteilhaften Tauschs“ reduziert, welcher die einzige wahre
wirtschaftliche Beziehung sei, nach der die gesamte Gesellschaft bemessen werden
sollte.
„Andrerseits liegt es in der Bestimmung des Geldverhältnisses (soweit es bisher in
seiner Reinheit entwickelt und ohne Bezug auf höher entwickelte
Produktionsverhältnisse ist), daß in den einfach gefaßten Geldverhältnissen alle
immanenten Gegensätze der bürgerlichen Gesellschaft ausgelöscht erscheinen; und
von dieser Seite aus wird wieder zu ihm geflüchtet, von der bürgerlichen Demokratie
mehr noch als von den bürgerlichen Ökonomen, [...] zur Apologetik der bestehenden
ökonomischen Verhältnisse.“254
In seinem Werk „Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie“ analysiert Marx viele
Faktoren des kapitalistischen Systems: Die Natur von Waren selbst, die Dynamiken
zwischen Wert, Nutzwert, Tauschwert, Arbeitstheorie und Nützlichkeit zusätzlich zu
einer gründlichen Untersuchung, was „Kapital“ ist, wie das System sich entwickelte
und letztendlich die Ausprägung der Rollen in diesem System. Ein wichtiges Thema
ist seine Ansicht bezüglich des „Surplus (dt. Überschuss) Wertes“, welcher in
Anlehnung an Ricardos „Arbeitswerttheorie“ den angenommenen Wert, den der
Kapitalist sich aneignet, in der Form von Profit bemisst. Der Profit geht über den Wert
(Kosten) der Arbeit/Produktion selbst hinaus.
Er sagt bezüglich des Fehlens dieses „Surplus“ im Austausch: „Man dreht und wende
es wie man wolle, die Tatsache besteht unverändert. Wenn Gleiches getauscht wird,
entsteht kein Surplus-Wert. Auch wenn Nicht-Gleiches getauscht wird entsteht
immernoch kein Surplus-Wert. Die Zirkulation oder der Tausch von Waren lässt
keinen Wert entstehen.“255
Des Weiteren zieht er, vereinfacht gesagt, einen Vergleich zwischen „Arbeit“ und
„Arbeitskraft“, wobei Letztere sowohl aus „Nutzwert“ als auch aus „Tauschwert“
besteht. Ein Arbeiter wird nur für die Befriedigung seiner SelbsterhaltungsBedürfnisse entschädigt, die sich in seinem Gehalt widerspiegelt. Alles, was über
diesen Wert hinausgeht, gilt als „Surplus“, welcher theoretisch zum „Profit“ des
Kapitalisten wird - abgerundet durch die Preiserhöhung im Marktaustausch.256 Dieser
Punkt, den er weiter fortführt und in Zusammenhang mit den Dynamiken der
Zirkulation/Anwendung von verschiedenen Formen des Kapitals bringt (wobei Kapital
weiterhin als Produktionsmittel definiert wird, in diesem Fall jedoch hauptsächlich in
Form von Geld), lässt ihn schlussfolgern, dass das Erschaffen von einem „SurplusWert“ oder „Profit“ nur durch die Ausbeutung der Arbeiter geschehen kann. Mit
anderen Worten: Er impliziert, dass dies eine dem kapitalistischen System
innwohnende Form der grundlegenden Ungleichheit ist und solange eine kleine
Gruppe der „Eigentümer“ den von den Arbeitern erzeugten „Surplus-Wert“
kontrolliert, so wird es immer reich und arm, Wohlstand und Armut geben.
Marx führt diese Idee fort und bewertet „Eigentum“ neu. Eigentum war nun die
gesetzliche Grundlage für „Kapital“ selbst, wodurch explizit die Zwangsenteignung
der „Surplus-Arbeit“ (der Teil der Arbeit, der den „Surplus-Wert“ erzeugt) erlaubt
254
ebd., p.240-241
„Capital“, Karl Marx, Foreign Languages reprint , Moscow, 1961, vol. 3, p.163
http://www.arbeiterpolitik.de/Texte/Kapital/KAPITAL1.pdf
256
ebd., p.176 (bezieht sich auf die englische Quelle)
255
83
Wirtschaftsgeschichte
wurde. Er schreibt: „Ursprünglich erschien uns das Eigentumsrecht auf eigener Arbeit
begründet. Wenigstens diese Annahme mußte gelten, da sich nur gleichberechtigte
Warenbesitzer gegenüberstehn. Das Mittel zur Aneignung fremder Ware besteht nur
darin, dass der andere seine eignen Waren, welche nur durch Arbeit herstellbar ist,
zu veräußern. Eigentum erscheint jetzt, seitens des Kapitalisten, als das Recht, sich
fremde unbezahlte Arbeit oder ihr Produkt, seitens des Arbeiters, als sein eignes
Produkt anzueignen. Die Scheidung zwischen Eigentum und Arbeit wird zur
notwendigen Konsequenz eines Gesetzes, das scheinbar von ihrer Identität
ausging.“257
Marx führt diese Erörterungen in seinen Schriften ausführlich aus. Unter anderem
formuliert er die Idee, dass die Arbeit der Arbeiterklasse in diesem System nicht
„freiwillig“ sein kann, nur erzwungen; da die Entscheidung, Arbeit gegen Lohn
einzusetzen, letztendlich in den Händen des Kapitalisten liegt. Er schrieb: „Der
Arbeiter kann daher erst außerhalb der Arbeit er selbst sein und während der Arbeit
ist er emotional abwesend. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er
arbeitet, ist er nicht zu Haus. Seine Arbeit ist daher nicht freiwillig, sondern
gezwungen - Zwangsarbeit. Sie ist daher nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses,
sondern ein Mittel, um Bedürfnisse ganz anderer Art befriedigen zu können.“258
Am Ende war es diese komplexe, vielfältige Degradierung, Ausbeutung und
Entmenschlichung des durchschnittlichen Arbeiters, die ihm zu schaffen machte und
dazu brachte, Reformen anzustreben. Er erfand sogar einen Ausdruck: „Die
Verelendungstheorie“, um zu beschreiben, wie das Glück der Anhäufung von
Reichtum der kapitalistischen Klasse entgegengesetzt zum Glück der Arbeiter ist.
Letztendlich war Marx davon überzeugt, dass die Zwänge im System die
Arbeiterklasse zu einer Revolution gegen die kapitalistische Klasse führen würde,
wodurch eine neue „sozialistische“ Produktionsweise möglich wäre, in der die
Arbeiterklasse unter anderem für ihren eigenen Vorteil arbeiten würde.
Thorstein Veblen (1857-1929) wird der letzte so genannte „Sozialist“ sein, dessen
einflussreiche Ideen hinsichtlich der Entwicklung und Fehler des Kapitalismus hier
untersucht werden. Genauso wie Marx hatte er zeitlich einen Vorteil bei der
Untersuchung der Wirtschaftsgeschichte. Veblen hat seinerzeit an mehreren
Universitäten Wirtschaft gelehrt. Zudem hat er eine große Menge an Literatur zu
verschiedenen gesellschaftlichen Themen geschrieben.
Veblen war gegenüber neoklassischen Wirtschaftstheorien kritisch, speziell bezüglich
der angewandten utilitaristischen Ideen der „menschlichen Natur“. Er sah die Idee,
dass alle menschlichen wirtschaftlichen Handlungen lediglich auf das hedonistische
Zusammenspiel von Selbst-Maximierung und Selbst-Erhaltung reduziert werden
könnten als lächerlich simpel.259 Er nahm eine „evolutionäre“ Sicht der menschlichen
Geschichte ein, nach welcher Veränderungen durch die gesellschaftlichen
Institutionen definiert werden, die sich durchsetzten oder überwunden wurden. Er
schrieb hinsichtlich des damals aktuellen Zustands (er bezeichnete ihn als
„materialistisch“):
257
ebd., vol. 1,pp. 583–84 (bezieht sich auf die englische Quelle)
http://www.internationalesozialisten.de/Buecher/Klassiker/Oekonomisch%20philosophische%20Manuskripte.pdf
259
„'Why Economics Is Not an Evolutionary Science', Place of Science in Modern Civilization and Other Essays“,
Thorstein Veblen, pp.73-74.
258
84
Wirtschaftsgeschichte
„Wie jede menschliche Kultur ist diese materielle Zivilisation ein System von
Institutionen, institutionellen Strukturen und institutionellem Wachstum [...] Das
Wachstum einer Kultur ist eine kumulative Sequenz von
Gewöhnungen/„Anpassungen“. Alle Wege und Mittel davon sind die gewohnten
Reaktionen der menschlichen Natur auf Anforderungen, die sich unregelmäßig und
zunehmend verändern, aber mit einer nahezu konstanten Abfolge der kumulierten
Veränderungen. Wachstum geschieht unregelmäßig, da jede neue Bewegung eine
Situation erzeugt, die eine weitere Variation der gewohnten Reaktion hervorruft. Es
geschieht kumulativ, da jede neue Situation eine neue Variation der vorherigen ist
und als Kausalfaktoren die Effekte all dessen, was vorher geschah, in sich trägt. Es
geschieht beständig, da die zugrunde liegenden Eigenschaften der menschlichen
Natur (Neigungen, Begabungen und weiteres) durch den Zwang der Reaktion - und
auf der Basis der Gewohnheit - zum größten Teil unverändert bleiben.“260
Veblen prüfte die fundamentale Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise
durch das Hinterfragen vieler der Faktoren, die als „gegeben“ angesehen oder durch
die vielen Jahrhunderte der wirtschaftlichen Debatte empirisch gemacht wurden. Die
scheinbare Einfachheit der heute etablierten Institutionen („Löhne“, „Mieten“,
„Eigentum“, „Zinsen“ und „Arbeit“) wurde stark getrübt; da er erkannte, dass keine
dieser Kategorien - außerhalb ihrer rein kategorialen Assoziation, die nur sehr
begrenzt anwendbar ist - als intellektuell brauchbar angesehen werden konnte. Er
scherzte über „eine Bande Inselbewohner auf den Aleuten, wie sie mit ihren Harken
in der Brandung und in einem alten Wrack herumwühlen und magische
Beschwörungen für den Fang von Meeresgetier murmeln, um ein Gleichgewicht von
Mieten, Löhnen und Zinsen in der taxonomischen Realität herbeizuführen. Und das
sei alles, was es gibt.“261
Er sah die Produktion und die Industrie selbst als einen gesellschaftlichen Prozess
an, bei dem die Grenzen sehr verschwommen waren, da unweigerlich das Teilen von
Wissen (Nutzungsrecht) und Fähigkeiten nötig ist. Er sah diese kategorischen
Eigenschaften des Kapitalismus als dem Kapitalismus alleine innewohnend und nicht
repräsentativ für die physische Realität. Sie sind daher ein gewaltiges künstliches
Konstrukt. Er war der Ansicht, dass die dominanten neoklassischen Theorien zum
Teil deshalb existieren, um die immanenten fundamentalen Klassenkämpfe und
Feindseligkeiten zu verbergen und somit die Interessen der, wie er sie nannte,
„eigennützigen Interessenten“ oder „unbeteiligten Eigentümer“ (Kapitalisten)
weiterhin zu sichern.262
Er lehnte die Idee des „Privateigentums“ als „natürliches Recht“ von Locke, Smith
und anderen ab. Er scherzte oft über die Absurdität des Gedankens, die den
„unbeteiligten Eigentümer“ dazu berechtigt, „Eigentum“ an den Gütern zu
beanspruchen, die in der Realität von der Arbeit des „gewöhnlichen Arbeiters“
produziert wurden. Damit betonte er die Absurdität des lange geltenden Prinzips,
dass Eigentum aus Arbeit entsteht.263 Er ging dazu über, das gesellschaftliche
Wesen der Güterproduktion zu beschreiben und klarzustellen, wie die wahre Natur
260
„'The Limitations of Marginal Utility', The Place of Science in Modern Civilization and Other Essays“, Thorstein
Veblen, New York, Russell and Russell, 1961, p.241-242
261
„'Professor Clark’s Economics', Place of Science in Modern Civilization“, Thorstein Veblen, p.193
262
„Absentee Ownership and Business Enterprise in Recent Times“, Thorstein Veblen, Augustus M. Kelley, New
York, 1964, p.407
263
„'The Beginnings of Ownership', Essays in Our Changing Order“, Thorstein Veblen, p.32.
85
Wirtschaftsgeschichte
von Fähigkeiten und Wissensaneignung die Annahmen von Eigentumsrechten
vollständig annulliert. Daher schrieb er:
„Diese Theorie des natürlichen Rechts auf Eigentum macht die kreativen
Anstrengungen eines isolierten, autarken Individuums zur Basis seines Eigentums.
Dabei wird die Tatsache übersehen, dass es kein isoliertes, autarkes Individuum gibt
[...]. Die Produktion findet nur in der Gesellschaft statt - nur durch das
Zusammenarbeiten einer industriellen Gemeinschaft. Diese industrielle Gemeinschaft
kann klein oder groß sein, [...] dennoch umfasst sie immer eine Gruppe, die groß
genug ist, um Traditionen, Werkzeuge, technisches Wissen und Bräuche
aufzuweisen und weiterzugeben. Ohne diese wäre keine industrielle Organisation
und keine wirtschaftliche Beziehung von Individuen untereinander oder zu ihrer
Umwelt möglich. [...] Ohne technisches Wissen kann es keine Produktion geben,
demnach auch keine Kumulierung und keinen Wohlstand, den man als Sonderrecht
oder anderweitig besitzen kann. Es gibt kein technisches Wissen abseits einer
industriellen Gemeinschaft. Da es keine individuelle Produktion und keine individuelle
Produktivität gibt, reduziert sich die Theorie des natürlichen Rechts auf Eigentum selbst unter der Logik ihrer eigenen Annahmen - zur Absurdität.“264
Genauso wie Marx sah er keine andere Möglichkeit, zwischen den zwei großen
Klassen der Gesellschaft zu unterscheiden, als zwischen denjenigen, die arbeiten
und denjenigen, die diese Arbeit ausnutzen.265 Hierbei ist der profiterzeugende Anteil
des Kapitalismus (das „Geschäft“) vollständig getrennt von der Produktion selbst
(„Industrie“). Er unterscheidet also klar zwischen „Geschäft“ und Industrie und
bezeichnet das Erstere als ein Mittel der „Sabotage“ der Industrie. Er sah einen
gewaltigen Widerspruch zwischen der ethischen Absicht der allgemeinen
Gemeinschaft, effizient und mit hoher Dienstbereitschaft zu produzieren, und den
Gesetzen des Privateigentums, welche die Macht haben, die Industrie für Profit
alleine zu lenken, wodurch die Effizienz reduziert und die ursprüngliche Absicht
aufgehoben wird. Den Begriff „Sabotage“ definiert Veblen in diesem Zusammenhang
als: „Der bewusste Entzug von Effizienz“.266
Er schreibt: „Die Industrieanlage liegt zunehmend still oder halb still, liegt zunehmend
unterhalb seiner Produktionskapazität. Arbeiter werden entlassen, [...] obwohl diese
Menschen allerlei Bedürfnisse nach Gütern und Dienstleistungen haben, die diese
stillliegenden Anlagen und die arbeitslosen Arbeiter produzieren könnten. Aber aus
geschäftlichen Gründen ist es unmöglich, diese stillgelegten Anlagen und
arbeitslosen Arbeiter wieder arbeiten zu lassen - auf Grund von unzureichendem
Profit des Geschäftsmanns oder, mit anderen Worten, wegen unzureichender
Befriedigung der Kapitalinteressen“267
Weiterhin hat Veblen - im Gegensatz zu der Mehrheit der Menschen heute - die
„korrupten“ Handlungen nicht auf ethischer Grundlage verurteilt. Er sah keines dieser
Probleme der Misshandlung und Ausbeutung als eine Frage der „Moral“ oder „Ethik“.
Er sah diese Probleme als natürlichen Bestandteil des Kapitalismus selbst. Er
schreibt: „Es ist nicht so, dass diese führenden Köpfe der Großunternehmen, deren
264
ebd. pp.33-34
„'The Instinct of Workmanship and the Irksomeness of Labor', Essays in Our Changing Order“, Thorstein
Veblen, pp. 188-190
266
„The Engineers and the Price System“, Thorstein Veblen, New York, Augustus M. Kelley, 1965, p.1
267
ebd., p.12
265
86
Wirtschaftsgeschichte
Pflicht es ist, das gesunde Mindestmaß an Sabotage der Produktion zu verwalten,
böswillig sind. Es ist nicht so, dass ihr Ziel eine Verringerung der Lebensdauer oder
menschliches Unbehagen durch die zunehmende Beraubung ihren Mitbürgern ist.
[...] Die Frage ist nicht, ob diese Beraubung menschlich ist, sondern ob sie gutes
Geschäftsmanagement ist.“268
Bezüglich der Beschaffenheit der Regierung war Veblens Sichtweise eindeutig: Die
Regierung existiere, vorwiegend durch ihr politisches Konstrukt, um die bestehende
gesellschaftliche Ordnung und die Klassenstruktur zu verteidigen. Sie stützt die
Gesetze des Privateigentums und damit auch die unangemessene Eigentümer/Herrscher-Klasse. „Gesetzgebung, polizeiliche Überwachung, Verwaltung der Justiz,
das Militär und diplomatische Dienstleistungen haben alle hauptsächlich mit
Geschäftsbeziehungen sowie Geldinteressen zu tun und stehen kaum mehr als
beiläufig im Zusammenhang mit menschlichen Interessen/Bedürfnissen“,269 schrieb
er.
Die Idee der Demokratie wurde nach seiner Ansicht sehr durch die kapitalistische
Macht verletzt. Er schrieb dazu: „Die konstitutionelle Regierung ist eine GeschäftsRegierung“.270 Veblen war das Phänomen des „Lobbying“ und „Kaufen“ von
Politikern bekannt, welches wir heute als eine Form der Korruption ansehen. Er sah
darin aber nicht die wahre Ursache des Problems. Vielmehr war die Kontrolle der
Regierung durch „Geschäftsinteressen“ keine Anomalie - es war einfach das, wozu
die Regierung sich durch ihre Art manifestiert hat.271 Eine Regierung als Institution für
gesellschaftliche Kontrolle würde immer die „Reichen“ vor den „Armen“ beschützen.
Da die „Armen“ immer deutlich zahlreicher sind als die „Reichen“, muss eine feste
gesetzliche Struktur existieren, welche die Wohlhabenden (Besitzinteressen)
bevorteilt, um die Klassentrennung und den Vorteil der kapitalistischen Interessen
intakt zu halten.272
Er erkannte gleichermaßen, dass die kapitalistische Staatsregierung die
gesellschaftlichen Werte dringend nach ihren Interessen ausrichten muss - Veblen
nannte dies eine „Geld-Kultur“. Daher verstärkten die räuberischen, egoistischen und
wettbewerbsbetonten Gewohnheiten, die typisch für „Erfolg“ in der zugrunde
liegenden sozialen Kriegsführung des kapitalistischen Systems sind, diese Werte
natürlich automatisch. Gütig und verwundbar zu sein, hatte in diesem
Zusammenhang wenig mit Erfolg zu tun, da die Rücksichtslosen und strategisch
Wetteifernden das Vorbild für gesellschaftliche Entlohnung waren.273
Grob gesagt, hat Veblen daran gearbeitet, die Kernstrukturen und Werte des
Kapitalismus kritisch zu analysieren. Dabei kann man sagen, dass er zu soziologisch
fortschrittlichen Schlussfolgerungen bezüglich der innewohnenden Widersprüche,
technischer Ineffizienz und Wertestörungen in diesem Modell gekommen ist. Seine
Werke sind sehr zu empfehlen, wenn man sich mit der Geschichte der
wirtschaftlichen Denkweise beschäftigen möchte, speziell für diejenigen, die
skeptisch gegenüber den Annahmen des Kapitalismus sind.
268
„Absentee Ownership and Business Enterprise in Recent Times“, Thorstein Veblen, New York, Augustus M.
Kelley, 1964, pp.220-221
269
„The Theory of Business Enterprise“, Thorstein Veblen, New York, Augustus M. Kelley, 1965, p.269
270
ebd., p.285
271
ebd., p.286-287
272
ebd., p.404-405
273
„The Theory of the Leisure Class“, Thorstein Veblen, New York, Augustus M. Kelley, 1965, pp.229-230
87
Wirtschaftsgeschichte
Zusammenfassung: Der Kapitalismus als „Gesellschaftskrankheit“
Die Geschichte des wirtschaftlichen Denkens ist in vielerlei Hinsicht die Geschichte
der menschlichen Sozialbeziehungen. Einhergehend mit einfachen Annahmen, die
immer prominenter wurden und mit der Zeit als sakrosankt und unveränderlich
galten. Dieses Element des Traditionalismus, welches aus Werten und
Glaubenssystemen früherer Zeiten besteht, war der Fokus dieses kurzen Rückblicks
auf die Wirtschaftsgeschichte. Der zentrale Punkt ist, dass die Eigenschaften, die in
den vorherrschenden Theorien der modernen Wirtschaft als „gegeben“ angesehen
werden, nicht auf physikalischer Verifizierung basieren. Dies wäre für eine
wissenschaftliche Validierung aber notwendig. Vielmehr gründen sie lediglich auf der
Aufrechterhaltung eines etablierten ideologischen Systems, das sich zunehmend
rückwirkend auf seine eigene Logik beruft. Es rechtfertigt somit seine Existenz durch
seine eigenen Standards, die es selbst gesetzt hat.
Es ist nicht die kapitalistische Ideologie in ihren Einzelheiten, die heute am
problematischsten ist, sondern das, was sie außenvorlässt. Genauso wie frühe
Religionen die Erde als flach ansahen und sie ihre Rhetorik anpassen mussten,
nachdem die Wissenschaft die Kugelform der Erde bewiesen hatte, so steht die
Tradition der Marktwirtschaft vor ähnlichen Prüfungen. Wenn man die Einfachheit der
Agrar- und später primitiven Industrie-Gesellschaften in Betracht zieht, so gab es
kaum ein Bewusstsein (und damals auch kaum eine Notwendigkeit), über die
möglichen negativen Konsequenzen - nicht nur für den Lebensraum (Ökologie),
sondern auch für die Menschen (Volksgesundheit) - nachzudenken.
Genauso ignoriert (oder sogar bekämpft) das Marktsystem durch seine veralteten
Annahmen die gewaltigen Durchbrüche in Wissenschaft und Technik, die
Möglichkeiten für Problemlösungen und erhöhten Wohlstand bringen könnten.
Tatsächlich ist es sogar so, wie in dem Kapitel „Markt-Effizienz vs. technische
Effizienz“ erläutert wird, dass die Marktwirtschaft/der Kapitalismus solche
fortschrittlichen Handlungen und harmonischen Anerkennungen hinsichtlich des
Lebensraums und des menschlichen Wohlergehens nicht fördern kann, da seine
eigenen Mechanismen dies systematisch nicht erlauben oder schon grundsätzlich
gegen diese Möglichkeiten arbeiten.
Generell ist die Lösung von Problemen - also die Erhöhung von Effizienz - in vielerlei
Hinsicht ein Gräuel für die Funktionsweise des Marktes. Probleme zu lösen, heißt
generell, dass es keine Möglichkeit mehr gibt, Einkommen aus der „Behandlung“
dieser Probleme zu generieren. Neue Effizienzen bedeuten so gut wie immer eine
Reduzierung des Bedarfs an Arbeit und Energie. Auch wenn dies in Bezug auf echte
erdbasierte-Effizienz positiv erscheint, bedeutet es in der Anwendung oft einen
Verlust an Arbeitsplätzen und eine Reduzierung von Geldzirkulation.274
An diesem Punkt beginnt das kapitalistische Modell, die Rolle einer
Gesellschaftskrankheit anzunehmen - nicht nur aufgrund dessen, was es
systematisch ignoriert, nicht erlaubt oder bekämpft, sondern auch bezüglich dessen,
274
Ein einfaches Beispiel dafür ist die Menge an Geldern und Arbeitsplätzen, die durch die Behandlung von
Krebs erzeugt worden ist. Wenn nun ein Heilmittel für Krebs gefunden werden würde, wäre eine Verkleinerung
dieser riesigen medizinischen Einrichtungen die logische Folge. Das heißt, dass das Lösen von Problemen zu
einem Existenzverlust für viele führen kann, die diese vorher Probleme behandelt haben. Das erzeugt einen
verkehrten Anreiz, die Dinge so zu belassen, wie sie sind - also generell Wandel zu scheuen.
88
Wirtschaftsgeschichte
was es verstärkt und fortführt. Wenn wir zu Lockes Aussage über die Natur von Geld
zurückdenken - mit der stillschweigenden Zustimmung durch die Gemeinschaft,
welches als Ware an und für sich dienen sollte - so ist es einfach zu sehen, wie
dieses einfache „Tauschmittel“ in seine heute soziologische Form mutiert ist. Nun
dient die gesamte Grundlage des Marktes nicht der Absicht, menschliches
Überleben, Gesundheit und Wohlergehen zu erschaffen und zu sichern, sondern
fördert lediglich Handlungen im Sinne des Profits und des Profits alleine. Adam Smith
hätte es nie für möglich gehalten, dass heute der lukrativste, best-entlohnteste Sektor
nicht die Produktion von lebensunterstützenden/verbesserenden Gütern ist, sondern
eher das Hin- und Hergeschiebe von Geld - also die „Arbeit“ von Finanzinstitutionen
wie Banken, „Wall Street“ und Investmentunternehmen, die eigentlich nichts
erschaffen, dennoch über enormen Einfluss und Reichtum verfügen.
Heute ist die einzige wirklich bestehende Werttheorie die
„Geldwertschöpfungskette“.275 Geld hat hinsichtlich der verstärkten Psychologie, die
es bewegt, ein eigenes Leben entwickelt. Es hat keinen direkten beabsichtigten
Zweck, außer das Verlangen zu wecken, aus weniger Geld mehr Geld zu machen
(Investitionen). Dieses Phänomen des „geldsuchenden Geldes“ hat nicht nur eine
Wertesystem-Störung geschaffen, bei der das Interesse, mehr Geld zu erlangen,
alles übertrifft, wodurch wahrhaftig wichtige Fragen bezüglich der Umwelt und der
Volksgesundheit sekundär geworden sind und außerhalb des Blickpunktes der
Wirtschaft liegen, sondern hat durch die stetige Neigung zur „Vervielfältigung“ und
„Expansion“ krebsähnliche Qualitäten, da dieses Konzept des benötigten
„Wachstums“, anstelle eines konstanten Gleichgewichts, seine pathologischen
Auswirkungen auf vielen Ebenen fortführt.
Über das Schuldensystem276 könnte viel gesagt werden und über die Tatsache, dass
heute nahezu alle Länder des Planeten Erde beieinander in einem solchem Ausmaß
untereinander verschuldet sind, dass wir, die „menschliche Spezies“, nicht genügend
Geld im Umlauf haben, um unsere Schulden abzuzahlen, die wir uns aus dem Nichts
geliehen haben. Die Notwendigkeit, mehr und mehr „Kredit“ aufzunehmen, um den
„Markt“ anzukurbeln, ist heutzutage aufgrund dieses Ungleichgewichts dauerhaft
vorhanden. Das heißt, wir reden hier, wie bei einem Krebsgeschwür, von dem
Vorhaben der unendlichen Ausbreitung und des unendlichen Konsums. Das kann auf
einem Planten mit begrenzten Ressourcen einfach nicht funktionieren.
Weiterhin hält das knappheitsgetriebene, wetteifernde Ethos innerhalb des Modells
einen spaltenden Klassenkrieg am Laufen, der durch Imperialismus und
Protektionismus nicht nur zum permanenten Krieg der Welt gegen sich selbst führt,
sondern auch zum permanenten Krieg der Allgemeinbevölkerung. Heute haben die
meisten Menschen Angst voreinander, da Ausbeutung und Missbrauch das
vorherrschende belohnte Ethos ist. Alle Menschen haben in dieser Kultur
unnötigerweise eine Sichtweise eingenommen, nach der sie andere als Gefahr für ihr
eigenes Überleben in einem abstrakten „wirtschaftlichen“ Kontext sehen. Wenn
beispielsweise zwei Menschen zu einem Bewerbungsgespräch gehen, um Mittel zum
Leben (Geld) zu erhalten, so sind sie nicht an dem Wohlbefinden des anderen
275
Dieser Begriff wurde geprägt von John McMurtry in seinem Werk „The Cancer Stage of Capitalism“, Pluto
Press, 1999
276
Die Erschaffung von Geld aus Schulden in Verbindung mit der Vervielfältigung durch das MindestreserveKreditsystem (eine nahezu universelle Praktik aller Zentralbanken der Welt) sucht allein durch seine
Mechanismen stets nach unendlichem Wachstum.
89
Wirtschaftsgeschichte
interessiert, da nur einer von beiden den Arbeitsplatz bekommen kann. Tatsächlich
ist empathisches Empfinden in diesem System des Vorteils ungünstig und wird durch
finanzielle Mechanismen überhaupt nicht belohnt.
Gleichermaßen ist die Annahme, dass „Fairness“ in solch einer wettbewerbsbetonten
Umgebung existieren kann, besonders wenn die Natur des „Gewinnens“ und
„Verlierens“ einen Verlust von Lebensförderung oder Überleben bedeutet, ein zutiefst
naives Ideal. Die bestehenden gesetzlichen Statuten, die Monopolgesetze und
finanzielle „Korruption“ unterbinden sollen, existieren, weil es in diesem Modell keine
anderen Schutzmaßnahmen gegen die so genannte „Korruption“ gibt. Wie durch
Smith und Veblen in diesem Kapitel dargestellt, ist der „Staat“ eigentlich eine
Manifestierung der ökonomischen Prämisse und nicht umgekehrt. Der Gebrauch von
Staatsmacht und Gesetzgebung, um Sicherheit und Wohlstand einer Klasse
gegenüber einer anderen sicherzustellen, ist keine Entstellung des kapitalistischen
Systems. Es ist ein Kernbestandteil der wettbewerbsbetonten Ethik des freien
Marktes.
Viele der libertären, laissez-fairen, österreichischen, chicagoer und weiteren
neoklassischen Abzweigungen tendieren beständig dazu, zu sagen, dass „staatliche
Interventionen“ heute das Problem seien. Dies gelte zum Beispiel für
protektionistische Import/Export-Gesetze oder die Begünstigung von bestimmten
Industrien durch den Staat. Es wird angenommen, dass der Markt irgendwie „frei“
funktionieren kann, ohne die Manifestierung von Monopolen oder der immanenten
„Korruption“ (was heute als „Vetternwirtschaft“ (engl. crony capitalism) bezeichnet
wird), obwohl die gesamte Grundlage der Strategien doch wettbewerbsbetont oder
direkter: „kriegerisch“, ist. Noch einmal: Die Annahme, der Staat würde nicht als
Werkzeug für einen Wettbewerbsvorteil - als Werkzeug der Unternehmen ausgenutzt, ist absurd.277
Letztendlich waren diese offenkundigen und unnötigerweise egoistischen Werte der
Kern menschlichen Konflikts von Beginn an. Wie bereits erwähnt, wird die historische
Auffassung der menschlichen Kriegsführung auf der Klassenebene meist als
„gegeben“, „natürlich“ oder „unveränderbar“ gesehen. In dem bestehenden
gesellschaftlichen Modell, das aus einem immanent knappheitsgetriebenen,
fremdenfeindlichen und rassistischen Bezugsrahmen entspringt, gibt es so etwas wie
Frieden oder Gleichgewicht nicht. Es ist in dem kapitalistischen Modell schlichtweg
nicht möglich. Ebenso besteht weiterhin die Illusion der Gleichheit der Menschen
innerhalb sogenannter „demokratischer“ Gesellschaften. Dabei wird angenommen,
dass sich politische Gleichheit irgendwie aus der expliziten wirtschaftlichen
Ungleichheit, die dieser Produktionsweise und menschlichen Beziehungen
innewohnt, manifestieren kann.
Am Anfang dieses Kapitels wurde kurz auf den Unterschied zwischen einer
„historischen“ und „mechanistischen“ Sichtweise der wirtschaftlichen Logik
hingewiesen. Die Bedeutung der „mechanistischen“ (wissenschaftlichen) Sichtweise
wird in den folgenden Kapiteln untersucht. Diese ist wichtig, um zu erkennen, wie
277
Es ist wichtig herauszustellen, dass „Marktdisziplin“ oder die korrigierende Natur des Marktes, von der
angeblich jedes Unternehmen betroffen sein kann, heute praktisch nur auf die unteren Klassen anwendbar ist.
Das konnte in der Vergangenheit bei den „too big to fail" Rhetoriken und die letzten (2008) Bankenrettungen in
Höhe von über 20 Trillionen $ beobachtet werden. Die wohlhabenden Bereiche der Gesellschaft werden durch
die Prinzipien des sogenannten „Sozialismus“ geschützt, nicht des Kapitalismus.
90
Wirtschaftsgeschichte
extrem veraltet und fehlerhaft unsere Marktwirtschaft tatsächlich ist. Wenn wir die
bekannten Gesetze der Natur auf menschlicher und ökologischer Ebene mit
berücksichtigen und anfangen, unsere Optionen und Möglichkeiten zu berechnen technisch, ohne die Last solcher historischer Annahmen - so ergibt sich ein gänzlich
anderer Gedankengang. Aus der Sicht von TZM ist dies die neue Weltanschauung,
an der sich die Menschheit ausrichten sollte, um die sich auftürmenden
soziologischen und ökologischen Probleme zu lösen. Ebenso wird den enormen
Möglichkeiten zur Steigerung des Wohles aller Menschen der Weg bereitet.
91
Markt-Effizienz vs. technische Effizienz
Markt-Effizienz vs. technische Effizienz
„Der synergetische Aspekt, dass die Industrie immer mehr Arbeit durch immer weniger Zeitund Energieinvestitionen (gemessen an Performance-Einheiten) umsetzt [...] wurde formal
niemals als Erfolg einer sesshaften Gesellschaft angesehen. Die synergetische Effektivität
eines weltweiten, integrierten industriellen Prozesses ist deutlich größer als der beschränkte
Synergieeffekt eigenständig operierender separater Systeme. Daher kann nur eine lückenlos
globale Hoheitsentmachtung den Weg zu einem allumfassenden hohen Lebensstandard für
alle Menschen ebnen.“278 - R. Buckminster Fuller
Überblick
Blickt man auf die letzten ca. 400 Jahre zurück, wurde die wissenschaftliche
Entwicklung, die parallel zur traditionellen wirtschaftlichen Entwicklung vor sich ging,
größtenteils ignoriert und in der ökonomischen Theorie als nebensächlich
angesehen. Das Ergebnis war eine „Entkopplung“ der sozioökonomischen Struktur
von der lebenserhaltenden Struktur, an die wir alle gebunden und von der wir alle
abhängig sind. Abgesehen von bestimmten fachlichen Annahmen, wie ein System,
das nicht auf Marktmechanismen/-bewegungen und „Preismechanismen“ basiert,
funktionieren könnte,279 ist heute das geläufige Argument für die kapitalistische
Marktwirtschaft, dass es ein System der „Freiheit“ und „Unabhängigkeit“ darstellt.
Der Wahrheitsgehalt dieser Aussage hängt stark von der eigenen Interpretation ab,
obwohl solche verallgemeinernden Begriffe in der Rhetorik von Befürwortern des
Modells sehr häufig auftreten.280 Solche Ansichten scheinen Reaktionen auf
vergangene Versuche alternativer Gesellschaftssysteme zu sein, die
Machtverteilungsprobleme wie „Totalitarismus“ erzeugten.281 Daher führt diese Angst
seitdem dazu, dass bei jedem Modell außerhalb des kapitalistischen Rahmens oft
impulsiv auf die historische Tendenz zur „Tyrannei“ verwiesen wird - und dann
verworfen wird.
Wie dem auch sei, dieser zugrunde liegende „Freiheits“-Ausdruck, was auch immer
man subjektiv damit impliziert, sorgte für Neurosen oder Verwirrung darüber, was es
für eine Spezies wie die unsere bedeutet, zu überleben und sich im Lebensraum
weiterzuentwickeln - einem Lebensraum, in dem eindeutig Naturgesetze herrschen.
Es zeigt sich, dass wir auf der Ebene der Beziehung zu unserem Lebensraum
schlichtweg nicht frei sind. Eine allumfassende Werte-Ausrichtung dieser
vermeintlichen Freiheit, die dann auf die Art und Weise, wie unsere globale
Wirtschaft operieren sollte, angewandt wird, gefährdet zunehmend die menschliche
Nachhaltigkeit auf dem Planeten Erde.282
278
Operating Manual for Spaceship Earth, R. Buckminster Fuller, 1968, Chapter 6
Ludig von Mises argumentiert in seinem berühmten Werk „Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen
Gemeinwesen“, dass der „Preismechanismus" der einzige Weg ist, um zu verstehen, wie Güter in einer Wirtschaft
„effizient“ produziert und bewegt werden. Die Kritik an jedem „geplanten" System wird heute von vielen als
unantastbar angepriesen, wodurch das kapitalistische System gerechtfertigt wird. Diese Thematik wird in Teil III
behandelt.
280
An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, Adam Smith, 1776, par. IV.9.51
281
Ein klassischer Text, der diese grundlegende Angst aufzeigt war F.A. Hayeks „Der Weg zur Knechtschaft“.
„Menschliche Natur“ hatte eine klare Implikation. Diese wurde grundlegend durch historische Trends zum
Totalitarismus gerechtfertigt, der mit kollaborativen/geplanten Wirtschaften verbunden wird.
282
Literaturempfehlung: “A Safe Operating Space for Humanity“, Nature, 461, 472-475, 24 September 2009,
doi:10.1038/461472a
279
92
Markt-Effizienz vs. technische Effizienz
Sieht man von der Komplexität sozialer Beziehungen ab, sind Menschen,
unabhängig von ihren traditionellen sozialen Gepflogenheiten, eng an die
herrschenden Naturgesetze der Erde gebunden. Sich von dieser Anpassung
wegzubewegen, kommt einer beständigen Verminderung unserer Nachhaltigkeit, des
Wohlstands und der Volksgesundheit gleich. Erinnern wir uns: Die grundsätzlichen
Annahmen unseres aktuellen sozioökonomischen Systems entwickelten sich in
Zeiten mit deutlich geringerem wissenschaftlichen Bewusstsein über uns und
unseren Lebensraum.283 Viele der heute in modernen Gesellschaften verbreiteten
negativen Auswirkungen gab es schlichtweg in der Vergangenheit nicht und jetzt
bringt diese Kollision der Systeme unsere Welt in vielerlei Hinsicht weiter aus dem
Gleichgewicht.
An dieser Stelle vertreten wir die Auffassung, dass die Integrität eines jeden
Wirtschaftsmodells am besten an dem Grad der Ausrichtung an den bekannten,
vorherrschenden Naturgesetzen gemessen wird. Dieses die Naturgesetze
berücksichtigende Konzept wird hier nicht als esoterisch oder metaphysisch
dargestellt; man kann es vielmehr allgegenwärtig beobachten. Es ist wahr, dass sich
unsere Auffassung der Naturgesetze ständig weiterentwickelt und anpasst. Trotzdem
waren und sind einige kausale Gegebenheiten unumstritten. Es gibt keinen Zweifel,
dass der menschliche Organismus bestimmte lebensnotwendige Bedürfnisse wie
Nahrung, Wasser und Luft hat. Es gibt keinen Zweifel, dass die grundlegenden
ökologischen Prozesse, welche die ökologische Stabilität unseres Lebensraums
sicherstellen, in ihren symbiotisch-synergetischen Beziehungen nicht gestört werden
dürfen.284 Es gibt außerdem keinen Zweifel, dass die menschliche Psyche, so
komplex sie auch sein mag, vorhersagbar auf umweltbedingte Stressfaktoren
reagiert und somit Verhaltensmuster wie Gewalt, Depressionen, Missbrauch und
andere schädliche Erscheinungen daraus resultieren.285
Diese wissenschaftliche, kausale oder technische Perspektive der wirtschaftlichen
Beziehungen reduziert alle relevanten Faktoren auf einen Bezugsrahmen und
Gedankengang in Verbindung zu unserem gegenwärtigen Verständnis der
physischen Welt und ihren natürlichen, konkreten Dynamiken. Diese Logik greift die
Humanwissenschaft und somit die Gemeinsamkeiten menschlicher Bedürfnisse und
der Volksgesundheit auf und kombiniert sie mit den erwiesenen Regeln unseres
Lebensraums, mit dem wir synergetisch und symbiotisch verbunden sind. Insgesamt
kann ein von Grund auf rationales Modell der wirtschaftlichen Funktionsweise
generalisiert werden - auch ohne die Jahrhunderte der traditionellen
Wirtschaftstheorie.286
Das bedeutet nicht, dass diese Argumente nicht für das Verständnis der kulturellen
Evolution wichtig sind. Es ist vielmehr Folgendes gemeint: Wenn man eine
wahrhaftig wissenschaftliche Sichtweise einnimmt bezüglich der Frage, was für die
283
Auch wenn einige Historiker den Beginn der wissenschaftlichen Methode im antiken Griechenland sehen, so
war die Renaissance des 16. Jahrhundert eine bedeutende Zeit geprägt von großen Entdeckungen und
Fortschritt. Galileo (1564 - 1642) wird heute von einigen als „Vater" der modernen Wissenschaft angesehen.
Jedoch gab es im Bereich der Wirtschaft wenig Interesse an diesen aufkommenden Erkenntnissen.
284
Die Störung der Prozesse des Ökosystems durch menschliche Handlungen hat deutliche negative
Konsequenzen. Umweltverschmutzung, Waldrodung, Verlust an Biodiversität und viele weitere häufige Probleme
des aktuellen Zustands der Welt zeigen eine tiefgreifende Fehlausrichtung zu den symbiotischen/synergistischen
Realitäten unseres Lebensraums, an den wir gebunden sind. Referenz:
http://www.globalchange.umich.edu/globalchange1/current/lectures/kling/ecosystem/ecosystem.html
285
Siehe vorheriges Kapitel: „Definieren der Volksgesundheit“
286
Siehe vorheriges Kapitel: „Wirtschaftsgeschichte“
93
Markt-Effizienz vs. technische Effizienz
Effektivitätsstrategie, die das Schachspiel des menschlichen Überlebens verlangt,
„funktioniert“ oder „nicht funktioniert“, dann braucht man solche historischen Bezüge
in Abstraktion eigentlich nicht. Diese Ansicht ist im Kern der reformistischen Logik
von TZM und wird in Teil III dieses Textes noch einmal ausgeführt.
Entscheidend ist, dass diese Einsichten des nahezu unveränderbaren
wissenschaftlichen Bewusstseins in dem heute dominierenden Wirtschaftsmodell
nahezu vollständig unbeachtet bleiben. Tatsächlich wird hier noch gezeigt werden,
dass diese beiden Systeme nicht nur voneinander getrennt sind; sie sind in vielerlei
Hinsicht einander diametral entgegengesetzt. Das heißt, dass die
wettbewerbsbetonte Marktwirtschaft in ihrer Gesamtheit eigentlich nicht „reparierbar“
ist und demnach ein direkt auf der Realität der „Naturgesetze“ basierendes System
von Grund auf neu konstruiert werden muss.
Dieses Kapitel wird eine Reihe von „ökonomischen“ Erörterungen sowohl aus der
Logik des Marktes als auch dieser erwähnten mechanistischen oder „technischen“
Logik untersuchen und gegenüberstellen. Es wird dargestellt werden, wie „Effizienz“
in diesen zwei Perspektiven jeweils sehr unterschiedliche Bedeutungen annimmt.
Dabei wird argumentiert, dass die von Menschen erschaffenen Regeln der
„Markteffizienz“,287 die sich zum größten Teil auf klassische ökonomische Dynamiken
beziehen, die Profit und Wachstum fördern, nur im Bezug auf sich selbst effizient
sind (Zirkelschluss). Die „technische Effizienz“ dagegen bezieht sich auf die
bekannten Gesetze der Natur und sucht die optimale Methode des industriellen
Prozesses, um den Lebensraum zu erhalten, Abfall zu reduzieren und letztendlich
damit auch die Volksgesundheit sicherzustellen. Sie basiert auf sich entwickelnden
wissenschaftlichen Einsichten.288
Zyklischer Konsum & Wirtschaftswachstum
In seiner grundlegenden Funktion kann der Kapitalismus der freien Marktwirtschaft
als Interaktion zwischen Besitzenden, Arbeitern und Konsumenten verallgemeinert
werden. Die Verbraucher erzeugen die Nachfrage für die Produktion durch die
Besitzenden („Kapitalisten“), die von den Arbeitern durchgeführt wird. Dieser Kreis
beginnt im Grunde mit der „Nachfrage“; darum ist der eigentliche Antrieb des Marktes
das Kaufinteresse von jedem sowie die Möglichkeit und die Handlung des Kaufens.
Alle Rezessionen/Depressionen289 sind mehr oder weniger das Ergebnis eines
Umsatzverlusts. Daher ist die entscheidende Bedingung, um die Beschäftigung und
damit die Wirtschaft in einem „Stabilitäts“- oder „Wachstums“-Zustand zu erhalten,
der konstante, zyklische Konsum.
Wirtschaftswachstum, das allgemein auch als „eine Steigerung der Kapazität zur
Produktion von Waren und Dienstleistungen einer Ökonomie im Vergleich zu einem
anderen Zeitraum“290 definiert wird, ist heute ein permanentes Interesse jeder
nationalen Wirtschaft und damit auch der globalen Wirtschaft. Viele
287
Der Begriff „Markteffizienz“ sollte hier nicht mit anderen historischen Bedeutungen verwechselt werden. Die
Bedeutung in diesem Kapitel ist neu. Traditionelle Bedeutung:
http://www.investopedia.com/articles/02/101502.asp#axzz2H9lWlQwR
288
Der Begriff „Ökonomie“ aus dem Griechischen [oikonomia] bedeutet „Verwaltung eines Haushalts;
Sparsamkeit“. Also zu wirt·schaf·ten, oder „Erhöhung von Effizienz“.
289
Rezessionen werden für gewöhnlich wie folgt definiert: „Rezession bezeichnet die kontraktive
Konjunkturphase, in welcher ein Abschwung der Wirtschaft verzeichnet wird.“
http://de.wikipedia.org/wiki/Rezession#Rezession
290
Definition von „Wirtschaftswachstum“: http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Definition/wachstum.html
94
Markt-Effizienz vs. technische Effizienz
makroökonomische Taktiken werden oft in Zeiten der Rezession benutzt, um weitere
Kredite, die Produktion und den Konsum zu fördern und damit die Wirtschaft auf oder
idealerweise über ihrem gegenwärtigen Level am Laufen zu halten.291 Die
Konjunktur, ein Verlauf von oszillierendem Aufschwung und Rückgang, wurde schon
lange als Charakteristikum der Marktwirtschaft erkannt. Dies rührt aus der Natur der
„Marktdisziplin“ oder -Korrekturen, die, glaubt man Theoretikern, teilweise einer
natürlichen Ebbe und Flut von Geschäftserfolgen und -misserfolgen entsprechen.292
Kurz gesagt erzeugt die Rate (Erhöhung oder Senkung) des Konsums die
Wachstums- und Kontraktionsperioden des Geschäftszyklus. Mit der
makroökonomischen monetären Regulierung wird die Menge an Liquidität (oft durch
Zinsraten) erhöht oder verringert, um die Expansionen und Kontraktionen zu
„managen“. Auch wenn moderne makroökonomische Richtlinien nicht Thema dieses
Kapitels sind, ist es wichtig am Rande zu erwähnen, dass beidseitiger Respekt
gegenüber den Expansions- und Kontraktionsperioden des Geschäftszyklus in der
Vergangenheit nicht existierte. Perioden der monetären Expansion (oft durch
günstige Kredite), die mit Zeiten der wirtschaftlichen Expansion korrelieren (da mehr
Geld in Umlauf kommt) werden von der Bevölkerung als Erfolge für die Gesellschaft
gefeiert, wobei alle Kontraktionen als politische Fehler gesehen werden.
Demnach bestand immer ein Interesse des politischen Establishments (das sich gut
darstellen will) und der großen, einflussreichen Institutionen des Marktes (die
Unternehmensprofite sichern), die Expansionsperioden so lange wie möglich zu
erhalten und alle Kontraktionen zu bekämpfen. Diese Perspektive ist typisch für das
Wertesystem des Kapitalismus, da „Schmerz“, oft in einer kurzsichtigen Weise,
jederzeit verhindert werden muss. Kein Unternehmen möchte freiwillig schrumpfen,
genauso wie keine politische Partei freiwillig „schlecht“ aussehen möchte, auch wenn
traditionelle Wirtschaftstheorien uns sagen, dass diese Perioden der Kontraktion
„natürlich“ sind und erlaubt werden sollten.
Kurz gesagt ist das Ergebnis ein konstanter Anstieg der Geldmenge (Kaufkraft und
Kapital) während Zeiten der Rezession. Das Endergebnis sind massive weltweite
Schulden, sowohl öffentlich als auch privat.293 Fakt ist, dass sämtliches Geld durch
Kredite erschaffen wird und auf jeden dieser Kredite werden Zinsen erhoben. Dabei
muss der Kredit inklusive der Zinsen (der Profit der Bank) zurückgezahlt werden. Das
heißt, dass die Natur der Geldschöpfung von vornherein eine negative Bilanz mit sich
bringt. Es gibt immer mehr Schulden, als Geld im Umlauf ist.294
291
Eine häufige Maßnahme der Zentralbanken in Zeiten der Rezession ist es, die „Liquidität“ in der Wirtschaft zu
erhöhen. Liquidität ist schlicht die Menge an Kapital, die für Investitionen und Ausgaben zur Verfügung steht. Die
Federal Reserve (die Zentralbank der Vereinigten Staaten von Amerika) regelt die Liquidität typischerweise über
die Anpassung von Zinssätzen.
292
Die Konjunktur wird oft in 5 Stufen eingeteilt: Wachstum (Expansion), Höhepunkt, Rezession (Kontraktion),
Tiefpunkt und Erholung. [http://www.investopedia.com/terms/b/businesscycle.asp#axzz2IGANj1hr]
(Englische Quelle).
293
Laut einem 2010 veröffentlichtem Bericht des World Economic Forums haben sich die weltweiten Kredite
(oder demnach Schulden) zwischen 2000 und 2010 von $57 Billionen auf $109 Billionen erhöht. Es prognostiziert
außerdem $210 Billionen weltweite Schulden im Jahr 2020. [http://www.weforum.org/reports/sustainable-creditreport-2011]
294
Laut der Federal Reserve lagen 2009 die gesamten US Schulden (Öffentlich und Privat) bei ungefähr $51
Billionen.
[https://www.federalreserve.gov/datadownload/Download.aspx?rel=Z1&series=654245a7abac051cc4a9060c911e
1fa4&filetype=csv&label=include&layout=seriescolumn&from=01/01/1945&to=12/31/2010] Wenn wir dies mit der
existierenden Geldmenge vergleichen (die in M3 gemessen wird, was die weitläufigste Messform ist) sehen wir,
dass diese im Dezember 2012 $15 Billionen betrug.
http://www.shadowstats.com/charts/monetary-base-money-supply
95
Markt-Effizienz vs. technische Effizienz
Um also auf das zentrale Thema der benötigten Nachfrage/Konsum für die
Funktionsweise der Wirtschaft zurückzukommen: Dieser Prozess des Austauschs
und generell der Fokus auf Wachstum ist der Kern des Verständnisses von
„Effizienz“ innerhalb des Marktsystems. Es spielt keine Rolle, was produziert wird
oder welche Auswirkungen dies auf den Menschen und auf die Erde hat. Das sind,
wie schon erwähnt, „Externalitäten“. Ein spezielles Beispiel dieser Logik ist der
Aktienmarkt, der selbst nicht mehr ist als der Handel mit Geld und seinen heute
zahlreichen „Derivaten“, die enormes BIP und „Wachstum“ durch die resultierenden
Verkäufe/Profite erzeugen.295
Jedoch produzieren all diese Handlungen nichts von tatsächlichem,
lebensunterstützendem Wert. Der Aktienmarkt und die extrem mächtigen
Finanzinstitutionen sind gegenüber der realen, produzierenden Wirtschaft vollständig
nebensächlich. Viele argumentieren, dass diese Investitionsinstitutionen Geschäfte
und Arbeitsplätze durch die Bereitstellung von Kapital ermöglichen, allerdings sind
diese Handlungen nur in dem aktuellen System (Markteffizienz) von Bedeutung und
vollkommen irrelevant, wenn es um die reale Produktion (technische Effizienz) geht.
Wenn es um die Marktlogik geht, heißt es kurz gesagt: Je mehr Umsatz oder
Verkäufe, desto besser. Dies ist unabhängig davon, ob die Verkaufsgegenstände
nun ein Kredit, Steine, „Hoffnung“ oder Pfannkuchen sind. Jegliche Verschmutzung,
Müll oder andere solcher Probleme sind „außerhalb“. Die technische Rolle der
tatsächlichen Produktionsprozesse und Strategien für effiziente Verteilung,
Entwurfsanwendungen oder Ähnliches werden nicht bedacht. Es wird angenommen,
dass sich solche Faktoren metaphysisch im besten Interesse der Menschen und des
Lebensraums ergeben; das ist, was die „unsichtbare Hand“ des Marktes impliziert.296
Jedoch hat die wachsende „mehr mit weniger“-Revolution297 in den industriellen
Wissenschaften eine neue Realität des Fortschritts der industriellen Technologie
geschaffen, die (der) das Muster der Effizienz durch „anwachsendem
Materialaufwand“ umkehrt. Die Logik, dass „mehr Arbeit, mehr Energie und mehr
Ressourcen“ proportional effektivere Ergebnisse liefert, wurde in Frage gestellt.
Immer häufiger konnte man aufgrund unserer modernen wissenschaftlichen und
technischen Anwendungen298 die bestimmte Aufgaben mit weniger Energie, Arbeit
und Materialien durchführen.
Auch wenn die Kommunikation über Satelliten intellektuell sehr kompliziert ist, also
auf einem enormen Maß an entwickeltem Wissen aufbaut, so ist sie in der
physischen Realität eher simpel und ressourceneffizient; zumindest im Vergleich zu
295
Beispielsweise betrug 2010 in den USA der Risikokapitalmarkt, der im Prinzip Geld in neue Unternehmen
investiert, 21% des BIP.
[http://www.nvca.org/index.php?option=comcontent&view=article&id=255&Itemid=103] Laut einem 2012
erschienen Artikel in „The New Republic“: „Die größten sechs Banken in unserer (US) Wirtschaft haben nun einen
Gesamtwert an Wertanlagen von über 63% des BIP“ [http://www.tnr.com/article/politics/shooting-banks#]
296
Siehe Kapitel „Wirtschaftsgeschichte“ in dem Adam Smiths Idee der „unsichtbaren Hand“ diskutiert wird.
297
Als historische Anmerkung: Der Ingenieur R. Buckminster Fuller benutzte die Aussage („Mehr mit weniger“) in
den Diskussionen über dieses Phänomen in seinem Werk „Operating Manual for Spaceship Earth“, 1968
298
Der berühmte ENIAC Computer der 1940er Jahre bestand aus 17468 Vakuumröhren, 70000 Widerständen,
10000 Kondensatoren, 1500 Relais, 6000 manuellen Schaltern und 5 Millionen verlöteten Verbindungen. Er
bedeckte 167m² des Bodens, wog 30 Tonnen und verbrauchte 160 Kilowatt an elektrischer Energie. Er würde
heutzutage ca. 6 Millionen Dollar kosten. Heute rechnet ein billiges, hosentaschen-großes Handy um ein
vielfaches schneller als der ENIAC. [http://inventors.about.com/od/estartinventions/a/Eniac.htm]
96
Markt-Effizienz vs. technische Effizienz
den früheren Kommunikationsalternativen, die in ihrer weltweiten Anwendung ein
enormes Maß an sperrigen Materialien wie schweren Kupferkabeln und die
schwierige, oft riskante Aufgabe, diese Materialien durch menschliche Arbeitskraft
bereitzustellen, benötigten. Was heute durch die vergleichsweise kleinen Satelliten
im Orbit rund um den Globus erreicht wird, ist wahrhaftig erstaunlich. Diese DesignRevolution, die den Kern der wahrhaftigen wirtschaftlichen (technischen) Effizienz
darstellt (trifft//ungern), steht in direkter Opposition zu dem wachstumsbasierten
Wirtschaftsmodell des zyklischen Konsums.
Noch einmal: Die Absicht des Marktsystems ist es, eine konstante oder erhöhte
Umsatzrate zu schaffen. Das erhält und schafft Arbeitsplätze und sogenanntes
Wachstum. Also basiert die gesamte Annahme von Effizienz innerhalb des Marktes
auf Strategien, um dies zu bewerkstelligen. Demnach wird jede Kraft, die versucht,
die benötigte Arbeitskraft bzw. den benötigen Umsatz zu reduzieren, vom Markt als
„ineffizient“ betrachtet, auch wenn dies im Sinne der wahren Definition einer
Wirtschaft - also zu erhalten, Abfall zu reduzieren und mehr mit weniger zu schaffen sehr effizient wäre.
Nehmen wir hypothetisch an, unsere globale Gesellschaft würde auf eine einzelne
kleine Insel mit einer entsprechend geringen Bevölkerung geschrumpft, mit sehr
begrenzter Technologie im Vergleich zu heute. Angenommen, man findet heraus,
dass nur x Nahrungsmittel/überlebensnotwendige Güter in der natürlichen
Regeneration des Landes möglich sind. Wäre es dann eine gute Idee, ein
Wirtschaftssystem einzuführen, welches die Nutzung und den Umsatz der
Ressourcen so schnell wie möglich beschleunigt - zum Zwecke des „Wachstums“?
Natürlicherweise würde sich in solchen Bedingungen das Ethos der strategischen
Nutzung und Erhaltung entwickeln. Die Idee wäre, Verschwendung zu reduzieren,
nicht zu beschleunigen. Das ist, wie bereits erwähnt, die wahre Definition einer
„Wirtschaft“ – zu wirtschaften.
Überflüssige Obsoleszenz: Wettbewerbsbasiert und geplant
Wenn wir über Obsoleszenz (im engen Sinne Veralterung) nachdenken, machen wir
das oft im Kontext der rapiden technologischen Veränderungen, die heute in der Welt
geschehen. Alle paar Jahre, so scheint es, entwickeln sich unsere Kommunikationsund Rechengeräte, also Computertechnologien, rasant weiter. Das „Mooresche
Gesetz“, welches im Grunde zeigt, dass sich Rechenleistung alle 18-24 Monate
verdoppelt, wurde nun auf andere ähnliche technologische Anwendungen
übertragen, wodurch generell der gewaltige Trend des wissenschaftlichen
Fortschritts deutlich wird.299
Wenn es aber um die Güterproduktion geht, gibt es heutzutage zwei Formen der
Obsoleszenz, die nicht auf der natürlichen Entwicklung der technologischen
Möglichkeiten basieren, sondern auf (a) der künstlichen, wettbewerbsbasierten
Struktur des Marktsystems sowie (b) dem stetigen Drang nach Markt-„Effizienz“
durch Umsatz und wiederholten Profit.
Die erste (a) könnte „wettbewerbsbasierte Obsoleszenz“ genannt werden. Diese
Obsoleszenz folgt aus der Natur einer wettbewerbsbasierten Wirtschaft, da jede
produzierende Einheit durch die Reduzierung von Ausgaben in der Produktion einen
299
Literaturempfehlung: „The Law of Accelerating Returns“, Ray Kurzweil [http://www.kurzweilai.net/the-law-ofaccelerating-returns]
97
Markt-Effizienz vs. technische Effizienz
Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen erreichen möchte, um den Preis
„wettbewerbsfähig“ niedrig für den Konsumenten zu halten. Dieser Mechanismus
wird traditionell „Kosteneffizienz“ genannt und das Ergebnis sind Produkte, die schon
bei ihrer Fertigstellung minderwertig sind (relativ gesehen). Diese
wettbewerbsbasierte Notwendigkeit zieht sich durch jeden Produktionsschritt. Daraus
folgt eine Reduzierung der technischen Effizienz durch die Nutzung von billigeren
Materialien, Methoden und Entwürfen.
Stellen wir uns hypothetisch vor, dass wir alle erforderten Materialien für die
Produktion eines Automobils betrachten, um die Effizienz, Beständigkeit und Qualität
in der strategisch optimalen Weise zu maximieren. Das sollte auf den Materialien
selbst basieren – nicht auf den Kosten dieser Materialien.300 Der Lebenszyklus eines
Automobils würde dann ausschließlich durch den natürlichen Verschleiß bestimmt.
Es wäre gezielt so konstruiert, dass Teile ausgetauscht werden können, wenn sie
veraltet oder durch natürlichen Gebrauch beschädigt sind. Das Ergebnis wäre eine
Produktion mit dem Ziel der Langlebigkeit, also eine Reduzierung von
Verschwendung und demnach eine erhöhte Nutzeneffektivität. Man kann mit
Sicherheit annehmen, dass viele Menschen auf der Welt denken, dies laufe
heutzutage tatsächlich bei den Entwürfen und der Produktion von Gütern so ab - das
das entspricht aber schlichtweg nicht der Realität. Es ist in einer Marktwirtschaft
mathematisch unmöglich für jedes konkurrierende Unternehmen, die strategischtechnisch beste Ware zu produzieren, da der „Kosteneffizienz“-Mechanismus eine
suboptimale Produktion garantiert.
Die zweite Form (b) der Obsoleszenz ist als „geplante Obsoleszenz“ bekannt. Diese
Produktionstechnik stellt den zyklischen Konsum sicher, der im frühen 20.
Jahrhundert Gegenstand des Interesses wurde, als die industrielle Entwicklung die
Effizienz in einer immer schnelleren Rate erhöhte, wodurch bessere Waren schneller
produziert werden konnten. Tatsächlich gab es nicht nur die Notwendigkeit für mehr
Käufe der allgemeinen Bevölkerung.301 Ebenso sank der Konsum durch die erhöhte
Lebensdauer und generell die Effizienz der Waren (für das Marktsystem) gefährlich
niedrig . Das Phänomen des „mehr mit weniger“ setzte sich schnell durch.
Anstatt die Lebensspanne einer Ware durch seine natürliche Beständigkeit zu
bestimmen mit der logischen natürlichen Absicht, sie aufgrund der beschränkten
Ressourcen auf einem begrenzten Planeten so lange wie möglich existieren zu
lassen, um sowohl materielle als auch menschliche Energie zu sparen, erschufen
Unternehmen eigene „Lebensspannen“ für Waren und reduzierten bewusst die
Effizienz zur Sicherung erneuter Einkäufe.302
300
Die Idee des „strategisch Optimierten“ wird in Teil III angesprochen. Es ist jedoch wichtig zu erwähnen, dass
die Gleichung, die entscheidet, was bei der Konstruktion von irgendetwas benutzt wird, nicht nur nach den
„besten“ Materialien sucht. Es geht auch um die relative Nützlichkeit ähnlicher Materialien (mit ähnlichen
Eigenschaften). Die besten, effizientesten Materialien werden daher ebenso anhand von Faktoren wie z.B. dem
Ressourcenvorrat bestimmt.
301
Charles Kettering, der Geschäftsführer von General Motors, schrieb 1929 von der Notwendigkeit „den
Konsumenten unzufrieden zu halten" (1929)
[http://www.wwnorton.com/college/history/archive/resources/documents/ch2702.htm]. Wall Street Banker Paul
Mazur schrieb: „Wir müssen Amerika weg von einer Bedürfnis-Kultur und hin zu einer Verlangen-Kultur bringen.
Die Menschen müssen trainiert werden, zu verlangen. Neue Dinge zu wollen, bevor die alten vollständig
aufgebraucht sind. Wir müssen in Amerika eine neue Mentalität erschaffen.“ [Harvard Business Review, 1927]
302
1932 hat der Industrielle Bernard London ein bekanntes Pamphlet mit dem Titel „Ending the Depression
through Planned Obsolescence“(„Beendigung der Depression durch geplante Obsoleszenz“) befürwortet,
welches die Notwendigkeit für dieses Modell aufzeigte.
98
Markt-Effizienz vs. technische Effizienz
In den 1930er Jahren wollten einige sogar als gesetzlich verpflichtend für alle
Industrien durchsetzen, dass die Lebenszyklen nicht durch den natürlichen Stand der
technologischen Fähigkeiten bestimmt würden, sondern lediglich durch die ständige
Notwendigkeit für mehr Arbeit und erhöhte Konsumraten. Das bemerkenswerteste
historische Beispiel dieser Zeit ist das Phoebus Glühlampenkartell der 1930er. In
einer Zeit, in der Glühlampen bis zu 25000 Stunden halten konnten, zwang das
Kartell jedes Unternehmen zu einer Einschränkung der Lebensdauer einer
Glühlampe auf 1000 Stunden, um Neukäufe sicherzustellen.303 Aufgrund des
Marktmodells des zyklischen Konsums plant heute jeder große Warenhersteller, die
Lebenszyklen seiner Produkte gering zu halten. Das Resultat ist nicht nur eine
verwerfliche Verschwendung begrenzter Ressourcen, sondern auch eine ständige
Verschwendung von menschlicher Arbeit und Energie.
Außerhalb dieser Dynamiken der Marktwirtschaft ist es extrem schwer, gegen eine
optimale Herstellung von Gütern zu argumentieren. Traurigerweise verbietet die
Natur der Markteffizienz derartige technische Effizienz von vornherein.
Eigentum vs. Zugang
Die Tradition von persönlichem Eigentum wurde zum Hauptbestandteil der modernen
Kultur, mit langfristig wenig finanziellen Anreizen, ein System des Teilens oder des
Zugangs zu nutzen. Auch wenn es heutzutage einige Beispiele des
gemeinschaftlichen Teilens von Gütern gibt,304 so macht das generelle Ethos des
„Eigentums“ und die innewohnenden Werte/Investitions-Eigenschaften von
Eigentum diese Ansätze auf lange Sicht teurer für den Nutzer als den direkten Kauf.
Vom Standpunkt der Markteffizienz ist das etwas Gutes, denn umso mehr direkte
Käufe von Gütern getätigt werden, umso besser. Wenn 100 Menschen mit dem Auto
fahren möchten, ist es generell für den Markt effektiver, wenn jeder dieser 100
Menschen sein eigenes Auto kauft, als wenn diese 100 Menschen 20 Autos in einem
System des strategisch entworfenen Zugangs teilen würden, wodurch die
Beschränkung auf die tatsächliche Nutzzeit möglich wird.
Die Analyse des tatsächlichen Nutzens der tatsächlichen durchschnittlichen Nutzung
zeigt, dass viele Produkte nur zeitweise genutzt werden. Auf Transportmittel,
Freizeitausrüstung, Projektausrüstung und verschiedene weitere Arten von Waren
wird normalerweise nur in relativ großen zeitlichen Abständen zurückgegriffen.
Dadurch wird Eigentum nicht nur zu einer Unbequemlichkeit, da man diese
Gegenstände lagern muss, sondern es ist auch eindeutig ineffizient im Kontext der
wahren wirtschaftlichen Integrität, die zu jedem Zeitpunkt eine Reduzierung von
Verschwendung zum Ziel hat.
Jedes Jahr wird eine unzählige Menge an Büchern nahezu gratis von Büchereien
rund um den Globus ausgeliehen und zurückgegeben. Dadurch wird mit der Zeit
nicht nur eine enorme Menge an Materialien gespart, sondern auch
einkommensschwachen Menschen der Zugang zu Wissen ermöglicht. Jedoch ist
diese Praktik eine seltene Ausnahme innerhalb der durch die Markteffizienz
303
Mehr hierzu: http://economicstudents.com/2012/09/planned-obsolescence-the-light-bulb-conspiracy/
Ein einfaches Beispiel: In Europa verbreitete sich das Bike-Sharing.
[http://www.treehugger.com/cars/bike-sharing-now-in-100-european-cities.html]
304
99
Markt-Effizienz vs. technische Effizienz
getriebenen Welt, da es von großem Nachteil für den Markt ist, wenn etwas zur
Verfügung steht, ohne dass jeder Mensch es individuell kaufen muss.305
Lasst uns jedoch jetzt diese Idee des Teilens von Wissen hypothetisch auf das Teilen
(die Ermöglichung von Zugang) von materiellen Gütern ausweiten. Vom Standpunkt
der Markteffizienz wäre das extrem hinderlich. Auch wenn Profite im kapitalistischen
Modell durch den Verleih von Gegenständen an Personen bei Bedarf möglich wären,
stünden diese jedoch in keinerlei Verhältnis zu den Profit/Konsum-Raten einer
Gesellschaft, die auf getrenntes, persönliches Eigentum einer jeden Ware setzt.
Andererseits würde dies allerdings eine enorme technische Effizienz ermöglichen. Es
würden weniger Ressourcen (und weniger Arbeitskraft) benötigt, da weniger von
jeder einzelnen Ware produziert werden müsste, um die Nutzzeit der Bürger zu
decken. Zudem wären Güter auch für einkommensschwache Menschen verfügbar,
die lediglich den Mietpreis statt dem Kaufpreis (angenommen wir befinden uns immer
noch in einem Marktsystem) aufbringen müssten. So gesehen gibt es zwei Ebenen
der technischen Effizienz: eine Ökologische und eine Soziale. Vom Standpunkt der
Umwelt aus gäbe es eine enorme Reduzierung der Ressourcenbenutzung; vom
sozialen Standpunkt aus (bei gleichen Voraussetzungen) einen möglichen Anstieg
des Zugang zu Gütern.
Somit wäre vom Standpunkt der technischen Effizienz - auf Kosten der Markteffizienz
- wäre eine Gesellschaft des geteilten Zugangs, anstatt einer des zeitlich
unbegrenzten Eigentums, außerordentlich nachhaltiger und vorteilhafter. Natürlich
würde so eine Praxis einige tief verwurzelte Werte-Identifikationen in der heutigen
„Eigentums“-Kultur in Frage stellen.306
Wettbewerb vs. Kooperation
Die Frage, ob die Gesellschaft eine wettbewerbsbetonte oder zusammenarbeitende
Kultur verfolgen soll, war eine andauernde Debatte über Jahrhunderte. Dabei werden
Annahmen über die menschliche Natur häufig als Verteidigung für eine
wettbewerbsbasierte Kultur vorgebracht.307 Heute wird von Ökonomen der
Wettbewerb oft als ein nötiger Anreiz für stetige Innovationen diskutiert.308 Damit geht
die generell implizierte Annahme einher, dass es nicht genug für alle auf diesem
Planeten gibt, sodass jeder zu einem gewissen Grad um sein Überleben kämpfen
muss - und dass es „unvermeidbar“ Verlierer geben muss.309 Die genannten
305
Nebenbei bemerkt ist der einzige Grund, warum die Bibliothek als eine Ausnahme so lange standgehalten hat,
dass man es vor langer Zeit als Notwendigkeit sah, Wissen zu teilen, um die Menschheitsentwicklung
voranzutreiben. Die Tradition von für jeden zugänglichen Bibliotheken geht Tausende von Jahren zurück.
306
In seinem Werk „Das Zeitalter des Zugangs“ stellt Jeremy Rifkin ähnliche Fragen. Er schrieb: „Was passiert
mit persönlichem Stolz, Verpflichtung und Engagement, die mit Eigentum verbunden sind, in einer Gesellschaft in
der alles verfügbar ist? Und was passiert mit Selbstversorgung? Besitz zu haben, geht Hand in Hand mit der
Unabhängigkeit. Eigentum ist das Mittel, durch das wir das Gefühl der persönlichen Autonomie in der Welt
erleben. Wenn wir auf die Existenzgrundlage zugreifen, werden wir viel mehr von anderen abhängig. Wenn wir
verbundener und mehr voneinander abhängig werden, riskieren wir so zur gleichen Zeit weniger selbstversorgend
und verwundbarer zu sein?“ (P. Tarcher/Putnam, 2000, p.130)
307
Literaturempfehlung: The Influence of Social Hierarchy on Primate Health, Robert M. Sapolsky, Science 29
April 2005: Vol. 308 no. 5722 pp. 648-652 DOI: 10.1126/science.1106477
[http://www.sciencemag.org/content/308/5722/648.abstract]
308
Literaturempfehlung zu traditionellen Verteidigungen von Wettbewerb als Quelle für Innovation: Competition
and Innovation: An Inverted U Relationship [http://www.nber.org/papers/w9269]
309
Siehe vorheriges Kapitel „Wirtschaftsgeschichte“ und die Abhandlung von Thomas Malthus, der die Welt als
unfähig ansah, für die Bevölkerung zu sorgen. Diese Vorstellung war sehr einflussreich.
100
Markt-Effizienz vs. technische Effizienz
Annahmen werden nun im Kontext der Markt- vs. technische Effizienz bezüglich der
Vorteile und/oder Konsequenzen von Wettbewerb untersucht.
Zwei Kernfragen gilt es hier zu betrachten: Die erste ist (a) wie Wettbewerb die
industrielle Produktion selbst beeinflusst; die zweite ist (b) wie er sich tatsächlich auf
Innovation oder kreative Entwicklung auswirkt.
(a) Wenn wir den Entwurf der industriellen Produktion heutzutage betrachten, sehen
wir ein komplexes weltweites System der Interaktion und Rohstoffe, Komponenten
und Waren, die zu verschiedenen Produktions- und Vertriebszwecken ständig von
einem Ort zum anderen bewegt werden. In ihrem Streben nach Profit und
Kosteneffizienz suchen Unternehmen zu jeder Zeit nach günstiger Arbeit, Ausrüstung
und Produktionsstätten, um im Markt wettbewerbsfähig bleiben zu können. Dies kann
die Form von lokaler Immigrantenarbeit zu minimalem Lohn , „sweatshop“
Produktionsstätten im Ausland oder einer relativ billigen Weiterverarbeitungsfabrik
landesweit etc. annehmen.
Unter dem Strich zählt aus Sicht der Markteffizienz nur das Kosten-zu-Profit
Verhältnis, selbst wenn die tatsächliche weltweite Verarbeitung unverhältnismäßig
viel Treibstoff, Transportressourcen, Arbeitskraft und Ähnliches verschwendet.310 Die
„Effizienz der Nähe“, also die sich aus der Distanz zwischen industrieller Produktion
und Vertrieb ergebende Effizienz, wird nicht berücksichtigt. Durch die Globalisierung
wird heute ein enormes Maß an verschwenderischer Ressourcenbewegung
betrieben. Dies geschieht nahe gänzlich aus dem Interesse heraus, Geld zu sparen
und nicht aus Gründen optimierter technischer Effizienz.
Das Ignorieren der Wichtigkeit der „Effizienz der Nähe“ in industriellen Handlungen,
ob nun inländisch oder international, ist die Ursache von einigen sehr
verschwenderischen Realitäten. Heute, speziell im Technologie-Zeitalter, geschieht
die industrielle Produktion nahezu vollständig international. Das Ausmaß, indem dies
wirklich nötig ist, ist von einer technischen Perspektive aus bestenfalls gering.
Aufgrund der Eignung bestimmter Regionen, dort bestimmte Arten von Gütern zu
produzieren oder vielleicht um eine günstigere Umgebung für weitere solcher
Kultivierungen zu schaffen, war die landwirtschaftliche Produktion in der
Vergangenheit stets regional. Diese Aspekte spielen im Verhältnis zum Großteil der
industriellen Güterproduktion eine eher untergeordnete Rolle. Dabei bleiben
außerdem verschiedene technologische Möglichkeiten der heutigen Zeit
unberücksichtigt, durch die solche regionalen Beschränkungen überwunden werden
könnten.311
Die „Regionalisierung“, also die bewusste Reduzierung von Distanz zwischen allen
Facetten der Produktion und der Verteilung, ist die technisch effizienteste Methode
310
Der kanadische Ökonom Jeff Rubin machte diese Beobachtung bei der Entwicklung der Ölkosten: „Wir
werden sehen, dass es nicht viel Sinn macht, Dinge auf der anderen Seite der Welt zu produzieren, egal wie
günstig die Arbeitskosten dort sind, wenn die Transportkosten derartig hoch sind.“
[http://www.npr.org/templates/story/story.php?storyId=104466911]
311
Das wird hier nebenbei erwähnt, um die riesigen modernen Durchbrüche bei Landwirtschaftsmethoden
aufzuzeigen, die nicht auf traditionellem Ackerland basieren. „Vertikale Landwirtschaft“ ist ein Beispiel mit
enormem Potenzial auf globaler Ebene, mit dem die häufigen regionalen Einschränkungen der Landwirtschaft
aufgehoben werden. Literaturempfehlung: The Vertical Farm: Feeding the World in the 21st Century, Dickson
Despommier, Thomas Dunne Books, 2010
101
Markt-Effizienz vs. technische Effizienz
für die Funktionalität einer Gemeinschaft. Unter offensichtliche Ausnahmen fällt z.B.
der Bergbau für die Gewinnung von Rohstoffen. Solche Vorgänge müssen natürlich
am Ursprungsstandort stattfinden. Es ist leicht zu sehen, dass, speziell in Bezug auf
die heute ungenutzten modernen technischen Anwendungen, der Großteil der
lebenserhaltenden Güter in der Nähe ihres Verwendungsorts produziert werden
könnten.
Wie in Teil III detaillierter beschrieben wird, gibt es einen technisch effizienten
Gedankengang bezüglich der Nutzung der Nähe, wenn es um Gewinnung,
Produktion, Verteilung und das Recycling/Abfalllagerung geht. Das Ergebnis wäre
ein enormes Maß an Schonung der Ressourcen und der menschlichen Energie Schonung einer Kapazität, die sogar, wenn nötig, neu zugeteilt werden könnte, um
Projekte voranzubringen, anstatt sie durch das heutige Marktmodell als Abfall zu
verschwenden.312
Als letzter Punkt zum Thema, wie Wettbewerb die technische Effizienz der
industriellen Produktion behindert und Abfall vermehrt, ist die Tatsache der
„Warenvielfalt“ ein weiteres Problem. Die Produktion von konkurrierenden
Unternehmen orientiert sich typischerweise an Statistiken der Vergangenheit
bezüglich ihrer „Marktanteile“ und wie viele Güter sie im Durchschnitt verkaufen
konnten. Trotzdem ist die Tatsache, dass in jeder Region viele Unternehmen
innerhalb des gleichen Bereiches der Güterproduktion nahezu identische Produkte
mit allenfalls leichten Variationen produzieren nur eine weitere Quelle unnötiger
Verschwendung
Wie auch im nächsten Abschnitt weiter ausgeführt wird, zeigt das Beispiel
verschiedener Mobiltelefon-Unternehmen (die um Marktanteile kämpfen), wie ein
komplexes Netz der Ineffizienz entsteht. Dies geschieht einfach aus der Tatsache
heraus, dass sie lediglich kleinste Änderungen am Design vornehmen, was durch
unterschiedliche Strategien der Kosteneffizienz ebenfalls relative Ineffizienzen mit
sich bringt. Hinzu kommt, dass jedes Unternehmen eigene interne Standards
verwendet und keinen Wert auf die Kompatibilität verschiedener Systeme legt, da
dies weniger profitabel für sie ist.313
Vom Standpunkt der technischen Effizienz aus gesehen, wäre ein kollektives
Mobiltelefon-Unternehmen zur Schaffung des strategisch besten,
anpassungsfähigsten, universell kompatibelsten Designs, deutlich effizienter. Dies
gilt nicht nur in Bezug auf Umweltschutz; es würde ebenso ein enormes Maß an
Erleichterung und Nutzungseffizienz erzeugen, da das Problem der firmeneigenen
Ersatzteile und Kompatibilitätsprobleme drastisch reduziert werden würde.
Es wird jedoch oft argumentiert, dass der Wettbewerb und die Produktvarianten, die
sich durch die Suche nach Marktanteilen durch konkurrierende Unternehmen
ergeben, dazu dienen, der Öffentlichkeit neue Ideen zu präsentieren. Aber solche
312
Es ist wichtig zu erwähnen, dass die Umwandlung der Ineffizienz oder der verschwendeten Ressourcen und
Energien innerhalb der Marktwirtschaft in tatsächliche Produktivität im Kern der Fähigkeit der Gesellschaft liegen,
nicht nur die knappheitsgetriebene Umgebung der heutigen Zeit zu überwinden, sondern diese auch mit einem
Überfluss zu übertreffen.
313
Am ehesten versucht heute das ISO Standard System, die Probleme und den Abfall, die durch firmeneigene
Komponenten - also Komponenten, die nur vom Hersteller kommen können - entstehen, zu überwinden. Dieses
System trägt in der Realität jedoch nichts zum Überwinden des eigentlichen Problems bei und ist zum größten
Teil für grundlegende Qualitätsstandards zuständig, nicht für die universelle Anpassungsfähigkeit von
Komponenten quer durch die globale Industrie hindurch. [Referenz: http://www.iso.org/iso/home.html]
102
Markt-Effizienz vs. technische Effizienz
Ziele könnten auch mit einem System der direkten Resonanz durch die Öffentlichkeit
über die Dinge, die benötigt werden, erreicht werden; zusammen mit einer
Bewusstseinskampagne, was angesichts der empirischen Entwicklung des
technologischen Fortschritts gegenwärtig möglich ist.
(b) Das zweite Problem hat, wie bereits erwähnt, mit der Auswirkung von Wettbewerb
auf Innovationen oder kreative Entwicklung selbst zu tun. Auch wenn heute die
Annahme weit verbreitet ist, dass höhere Belohnungen für das eigene Schaffen
andere Menschen dazu motivieren würde, diese Belohnungen ebenfalls anzustreben
(was übrigens auch eine häufige Rechtfertigung für die Existenz von „Klassen“ ist),
so zeigen sich in modernen soziologischen Studien eine Menge an Daten, die dem
widersprechen.314 Außerhalb der intuitiven Sichtweise, die aufgrund der
existierenden, höchst wettbewerbsbetonten, knappheitsgetriebenen
Marktbedingungen existiert, gibt es keine glaubwürdige Rechtfertigungen für die
Idee, dass Menschen inhärent davon motiviert werden, andere (beispielsweise durch
den Erhalt einer höheren materiellen/finanziellen Vergütung) zu „besiegen“.
Jedoch können wir diese soziologische Debatte vernachlässigen, da es hier um den
direkten Zusammenhang zwischen Wettbewerb und der Markt- sowie technischen
Effizienz geht. Kurz gesagt verlangt ein wettbewerbsbasiertes System bei neuen
Geschäftsideen nach Geheimhaltung, oft generell gegen den offenen Fluss von
Wissen. Der Gebrauch von Patenten und Unternehmensrechten oder
„Betriebsgeheimnissen“ der eigenen Firma trägt nicht zu einer Förderung von
Innovation bei, wie es viele Befürworter des wettbewerbsorientierten Markts
annehmen, sondern zu einer Verkümmerung dieser.
Es ist interessant darüber nachzudenken, was Wissen bedeutet, wie es entsteht und
wie seltsam es für irgendjemanden mit rationalem Verstand ist, „Eigentum“ an einer
Idee oder Erfindung zu beanspruchen. Zu keinem Zeitpunkt der Geschichte hat ein
einzelnes Individuum eine Idee hervorgebracht, die nicht als Resultat vieler
vorheriger, aufeinander aufbauenden Ideen zu Stande kam. Die historische
Anhäufung von Wissen ist ein gesellschaftlicher Prozess und demnach ist jeder
Anspruch auf Besitz von einer Idee durch eine Person oder ein Unternehmen in sich
falsch. Der geläufige semi-wirtschaftliche Begriff ist heute „Nutzungsrecht“, das heißt:
„Das legale Recht, die Früchte oder Profit eines anderen zu nutzen und zu
genießen“.315 In der Realität aber haben alle Eigenschaften einer jeden Idee in der
Vergangenheit und in der Zukunft ohne Ausnahme einen explizit gesellschaftlichen nicht persönlichen - Ursprung.
Es ist offensichtlich, dass die Idee des geistigen Eigentums (der Anspruch auf
Eigentum von Gedanken und Ideen) sich in einer Zeit der menschlichen Geschichte
entwickelt hat, in der die Kreativität des Einzelnen in Verbindung zu seinem
Überleben stand. In einem Wirtschaftssystem, in dem die Ideen von Menschen
Einkommen für sie persönlich generieren können, wird die Idee eines solchen
Eigentums relevant. Wenn man in dem heutigen System etwas „erfindet“, was
Verkäufe ermöglichen würde und demnach dem eigenen persönlichem
wirtschaftlichem Überleben dienen würde, so wäre es extrem ineffizient (aus Sicht
der Marktwirtschaft) diese Idee „open-source“ zu machen, da andere Menschen, die
314
Literaturempfehlung: No Contest: The Case Against Competition, Alfie Kohn, Boston, Boston: Houghton
Mifflin, 1986
315
Nutzungsrecht definiert: http://de.wikipedia.org/wiki/Nutzungsrecht
103
Markt-Effizienz vs. technische Effizienz
ebenfalls überleben wollen, wahrscheinlich diese Erfindung verwenden würden, um
sie finanziell auszunutzen.
Es ist auch einfach zu sehen, wie das Phänomen des „Egos“ sich um diese Idee des
geistigen Eigentums manifestiert hat, da die Grundlage der Entlohnung in einem
solchen System immer auch eine direkte psychologische Verbindung zu dem
eigenen Selbstwertgefühl hat. Wenn eine Person etwas „erfindet“, geistiges
Eigentum beansprucht, für Profit ausnutzt und dann ein großes Haus sowie
beträchtliches Eigentum anhäuft; so wird ihr „Status“ als Mensch traditionell erhöht
(zumindest nach den Standards der Kultur) - er/sie ist „erfolgreich“.
Wenn wir jedoch darüber nachdenken, hat das Teilen von Wissen - außerhalb der
wirtschaftlichen Annahmen des Eigentums für Profit - keine negativen Folgen. Am
Ende des Tages gibt es nichts zu verlieren, aber gesellschaftlich durch das Teilen
von Informationen extrem viel zu gewinnen. Um auf das vorherige Beispiel der
konkurrierenden Mobiltelefon-Unternehmen zurückzukommen, steht das interne
Teilen von Ideen bei diesen Unternehmen an erster Stelle. Dies sehen wir an den
internen Treffen in Vorstands-Etagen, wo sich oft die Marketing-Fachmänner,
Designer und Ingenieure darüber absprechen, wie sie ihr Produkt generell
verbessern können.
Bei Ausweitung dieser Treffen auf alle konkurrierenden Mobiltelefon-Unternehmen
würden nicht nur deren künstliche, nutzlose Marketing-Strategien (wie beispielsweise
ästhetische Mätzchen) und Markt-Kämpfe untereinander aufhören, sie könnten sich
gemeinsam auf die Produktion des Bestmöglichen konzentrieren.
Viel weiter gedacht: Was wäre, wenn alle Entwürfe „öffentlich zugänglich“ wären, so
dass jeder Interessierte helfen könnte, diese Entwürfe zu verbessern?
Durch Veröffentlichung des Schemas eines Mobiltelefon-Designs könnten alle
kompetenten Menschen mittels dieser technischen Interaktion die technische
Effizienz und die Nützlichkeit des Designs optimal verbessern. Obwohl dies ein
abstraktes, hypothetisches Beispiel ist, ist es offensichtlich, dass durch solch eine
offene Herangehensweise an das Teilen von Informationen eine nie da gewesene
Explosion an Kreativität und Produktivität ausgelöst werden könnte. Wie in Teil III
diskutiert wird, ist hierfür die Aufhebung des monetären Markt-Systems essentiell.
Arbeit für Einkommen
Im Kern des Marktsystems ist der Verkauf der Arbeitskraft eines Individuums als
Ware. In vielerlei Hinsicht ist die Fähigkeit die Bevölkerung zu beschäftigen zu
einem Maß für dessen Integrität geworden. Jedoch ist das Aufkommen der
„Mechanisierung“ (oder die Automatisierung von menschlicher Arbeit) mit der Zeit ein
immer größeres Hindernis geworden.316 In der Vergangenheit wurde die Anwendung
316
Ein kurzer Blick auf die Sektoren der US-Arbeitsstatistiken der Vergangenheit zeigt dieses Muster der
Ersetzung menschlicher Arbeit durch Maschinenautomatisierung deutlich. In der Landwirtschaft wird nun nahezu
die gesamte traditionelle Arbeitsleistung von Maschinen erbracht.1949 haben Maschinen 6% der Baumwolle im
Süden gepflückt. 1972 wurde das Pflücken zu 100% von Maschinen übernommen. [Quelle: The Cotton Harvester
in Retrospect: Labor Displacement or Replacement?, Willis Peterson, St Paul, 1991, pp 1-2] 1860 arbeitete 60%
von Amerika (arbeiteten 60% der Amerikaner) in der Landwirtschaft, heute sind es wenier als 3%. [Quelle: Why
job growth is Stalled, Fortune, 3/8/93 p.52] 1950 arbeiteten 33% der US-Arbeiter in der Produktion, 2002 waren
es nur noch 10%. [Quelle: http://www.usatoday.com/money/economy/2002-12-12-manufacturex.htm] Die US
Stahl-Industrie erhöhte von 1982 bis 2002 die Produktion von 75 millionen Tonnen auf 120 millionen Tonnen,
während die Anzahl der Stahlarbeiter von 289000 auf 74000 fiel. [Quelle: Will ‘Made in the USA’ fade away?,
Nelson D. Schwartz, Fortune Nov 24th 2003, p. 102] 2003 hat Alliance Capital eine Studie der 20 gegenwärtig
104
Markt-Effizienz vs. technische Effizienz
von Maschinen auf menschliche Arbeitsvorgänge nicht nur als eine Frage des
gesellschaftlichen, sondern auch des „wirtschaftlichen“ Fortschritts (im Sinne des
Marktes) gesehen, hauptsächlich auf Grund der höheren Produktivität.
Die grundlegende Annahme ist, dass Mechanisierung (oder generell technologische
Innovation) industrielle Expansion und demnach eine unausweichliche Neuverteilung
von durch Maschinen ersetzter Arbeit in neu aufkommende Sektoren ermöglicht. Das
ist eine häufige Verteidigung.317 In der Vergangenheit schien dies nicht ganz falsch
zu sein, da die Reduzierung der menschlichen Arbeitskräfte in einem Sektor wie der
Landwirtschaft im Westen zum Teil durch das Aufkommen anderer Arbeitssektoren
wie dem modernen Dienstleistungssektor ausgeglichen wurde. Jedoch ist die
Annahme, dass technologische Innovationen neue Formen der Beschäftigung in
gleichem Maße erzeugen, wie sie sie ersetzen und somit ein Gleichgewicht
erzeugen, eine sehr schwer zu verteidigende Position, wenn man die
Veränderungsrate von Innovationen in Verbindung mit dem Interesse an
Kosteneinsparung von Unternehmen in Betracht zieht.318
Was letzteres betrifft, dient die Mechanisierung aus Sicht der Markteffizienz fast
ausschließlich dem Zweck, „Kosteneffizienz“ zu ermöglichen. Die Robotertechnik hat
heute die physische Leistungsfähigkeit des durchschnittlichen Menschens schon
lange überschritten. Hinzu kommen die schnell fortschreitenden Rechenprozesse,
die menschliche Möglichkeiten ebenso in den Schatten stellen. Als Ergebnis ist es
der Industrie möglich, Maschinen zu verwenden, die beständig höhere
Produktionsleistungen als menschliche Arbeit erbringen können. Der finanzielle
Anreiz der in vielerlei Hinsicht reduzierten Haftung für Unternehmen fällt zusätzlich
ins Gewicht. Auch wenn Maschinen Wartung benötigten, benötigen sie keine
Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Urlaub, Gewerkschaftsschutz und
viele weitere Besonderheiten, die für menschliche Arbeitskraft heute üblich sind.
Demnach ist es in der engen Logik des Gewinnstrebens nur natürlich für
Unternehmen, ständig nach Mechanisierungsmöglichkeiten zu suchen, da sich auf
lange Sicht Kostenvorteile und somit Markteffizienz ergeben.
Bezüglich der Annahme, dass sich immer ein Gleichgewicht zwischen neuen und
(auf Grund der technologischen Innovation) verdrängten Arbeitsformen finden wird,
besteht das Problem, dass die technologische Entwicklung viel schneller
größten Wirtschaftsmächte innerhalb des Zeitraums von 1995 bis 2002 durchgeführt und herausgefunden, dass
31 Millionen Arbeitsplätze in der Produktion verlogen gingen, während der Produktionsoutput tatsächlich um 30%
anstieg. [Quelle: US Weekly Economic Update: Manufacturing Payrolls Declining Globally: The Untold Story,
Alliance Bernstein Oct 2003] Dieses Muster der erhöhten Produktion und Profite in Verbindung mit fallender
Beschäftigung ist ein neues und mächtiges Phänomen.
317
Siehe den Abschnitt über den Wirtschaftstheoretiker David Ricardo im Kapitel „Wirtschaftsgeschichte“
318
Der Ökonom Stephen Roach warnte 1994, dass „der Dienstleistungssektor seine Rolle als Amerikas
unbändige Arbeitsplatzerschaffungs-Maschine verloren hat.“ [Quelle: Interview, 3/15/94, noted in book The End of
Work by Jeremy Rifkin, Penguin p. 143] Es gibt u.A. folgende Beispiele: Von 1983-1993 haben Banken 37% der
Menschen an Kassierschaltern entlassen und im Jahr 2009 nutzten 90% der Bankkunden Geldautomaten (ATMs)
[Quelle: “Retooling Lives“, Vision, 2000 p. 43] Callcenter-Mitarbeiter wurden nahezu komplett durch
computerisierte Anrufbeantworter ersetzt, Postangestellte werden durch Selbstbedienungsmaschinen ersetzt und
Kassierer werden durch computergesteuerte Kiosks ersetzt. McDonalds redet beispielsweise seit vielen Jahren
über die komplette Automatisierung ihrer Restaurants. Im Gespräch war die Einführung von Kiosks, um das
Verkaufspersonal zu ersetzen, sowie automatisierte Kochwerkzeuge wie „Burgerwender“ für das Küchenpersonal
[Quelle: http://www.techdirt.com/articles/20030801/1345236F.shtmls]
Sie haben es jedoch nicht durchgeführt, wahrscheinlich weil sie sich um ihren Ruf sorgten, da sie wissen, wie
viele Arbeitsplätze sie zerstören würden, wenn Automatisierung ungehindert angewandt würde.
105
Markt-Effizienz vs. technische Effizienz
voranschreitet als die Entstehung neuer Arbeitsplätze.319 Dieses Problem ist
einzigartig, da es ebenso annimmt, die menschliche Gesellschaft möchte zu jeder
Zeit neue Arbeitsplätze. Hier sollten die subjektiven kulturellen Werte thematisiert
werden. Unsere aktuellen soziologischen Umstände verlangen Arbeitsplätze, weil sie
das Rückgrat der Nachhaltigkeit des Marktes (Markteffizienz) sind. Aus diesem
Grund haben die „Arbeits“-Ethik und die damit verbundenen Identitäts-Assoziationen
dazu geführt, dass die eigentliche Funktion der Arbeit - ihr eigentlicher Zweck weniger bedeutsam wird als der bloße Akt des Arbeitens an sich.320
So wie die Markteffizienz nicht in Betracht zieht, was gekauft und verkauft wird,
solange der zyklische Konsum bei einer akzeptablen Rate gehalten wird, so nimmt
die Arbeit in der Produktion heute die gleiche willkürliche Rolle in der Sichtweise des
Marktes ein. Theoretisch können wir uns eine Welt vorstellen, in der die Menschen
für „sinnlose“ Arbeiten bezahlt werden, die keinerlei echten gesellschaftlichen Beitrag
- jedoch enormes BIP - erzeugen. Tatsächlich könnten wir uns auch heute Fragen,
was die eigentliche gesellschaftliche Rolle vieler Institutionen ist. Vielleicht kämen wir
zu dem Schluss, dass sie lediglich Geld in Umlauf halten, jedoch nichts erschaffen
oder einen konkreten Beitrag für die Gesellschaft leisten.
Dies sind komplexe philosophische Fragen, da sie die vorherrschende traditionelle
Ethik und die Auffassung, was „Fortschritt“ eigentlich bedeutet, in vielerlei Hinsicht in
Frage stellen. Es ist wichtig, das folgende Gedankenspiel durchzugehen: Stell' dir
vor, unser Gesellschaftssystem würde in das 16. Jahrhundert zurückversetzt, in dem
viele moderne technologische Errungenschaften (des 21. Jahrhunderts) gänzlich
unbekannt waren. Die Bevölkerung damals hätte natürlich viel geringere
Erwartungen an technische Möglichkeiten als die Bevölkerung heute.
Wenn diese Gesellschaft über Nacht die massiven technischen Möglichkeiten der
modernen Zeit einführen würde, könnte mit Sicherheit alles Überlebensnotwendige
automatisiert werden. Die Frage ist dann, was sie mit ihrer neu erworbenen Freizeit
machen? Was wird der kulturelle Fokus ihres Lebens, wenn die Schufterei zum
nackten Überleben nicht mehr nötig wäre? Erfänden sie neue Jobs, einfach weil sie
es könnten? Würden sie Höherem nachgehen? Würden Sie diese neue Freiheit
erhalten und manifestieren, indem sie das Gesellschaftssystem selbst ändern,
wodurch diese vorherige Notwendigkeit der „Arbeit für Einkommen" aufgehoben
würde? Diese Fragen treffen den Kern dessen, was Fortschritt und
persönliche/gesellschaftliche Ziele und Erfolg wirklich bedeuten.
Dennoch ist „den Lebensunterhalt verdienen“ ein heute noch vorherrschender
kultureller Wert. Zudem ist die Anwendung von Mechanisierung im Sinne der
Markteffizienz tatsächlich ein zweischneidiges Schwert. Auch wenn die
Kosteneffizienz durch die Mechanisierung generell zu höheren Profiten führt (durch
die Kostenreduzierung für die Geschäftsführer), so wirkt die Verdrängung der
menschlichen Arbeiter (heute als „technologische Arbeitslosigkeit“ bekannt)
319
Literaturempfehlung: The Law of Accelerating Returns, Ray Kurzweil [http://www.kurzweilai.net/the-law-ofaccelerating-returns] Auch wenn der Kontext dieses Artikels über exponentiell fortschreitenden technologische
Möglichkeiten sich nicht direkt auf Mechanisierung bezieht, liegt es eindeutig auf der Hand, dass es hier relevant
ist. Dies gilt speziell bezüglich dessen, was man „Computerisierung“ (engl. Cybernation) nennt, also die
Kombination von Maschinen und Computern, wodurch „intelligente“ Maschinen geschaffen werden.
320
Die Verbindung zwischen einem „Arbeitsplatz“ und dem Selbstwertgefühl wurde immer stärker. Siehe:
Joblessness And Hopelessness: The Link Between Unemployment And Suicide
[http://www.huffingtonpost.com/2011/04/15/unemployment-and-suiciden849428.html]
106
Markt-Effizienz vs. technische Effizienz
eigentlich gegen die Markteffizienz. Das liegt daran, dass die Arbeitslosen jetzt nicht
mehr zu dem benötigten zyklischen Konsum beitragen können, der die Wirtschaft
aufrecht hält, weil sie ihre Kaufkraft als „Konsumenten“ verloren haben.
Dieser Widerspruch innerhalb des Kapitalismus ist ohnegleichen. Vom Standpunkt
der Markteffizienz erzeugt die Mechanisierung sowohl ein positives als auch
negatives Ergebnis. Wenn wir erkennen, dass durch die Geschwindigkeit
technologischer Veränderungen Menschen wahrscheinlich schneller verdrängt
werden als neue Arbeitssektoren erzeugt werden können, so wird die
Mechanisierung als hemmender Faktor im Kapitalismus immer deutlicher. Insgesamt
reduziert sie somit die Markteffizienz.
Vom Standpunkt der technischen Effizienz aus sehen wir jedoch einmal mehr
gewaltige Verbesserungen und immense Möglichkeiten auf vielen Ebenen.
Die durch die Anwendung dieser Mittel ermöglichte Produktionskapazität führt zu
einer gewaltigen Steigerung der Effizienz. Dies gilt nicht nur für die industrielle
Produktion, sondern auch für die generell gesteigerte Effizienz der Güter selbst durch
Steigerung der Präzision und Integrität der Produktion. Eine weitere Auswirkung
dieser neuen Produktionseffizienz ist, dass die Deckung der Bedürfnisse der
gesamten Bevölkerung niemals greifbarer war als heute. Ohne die Beeinträchtigung
dieser neuen technischen Möglichkeiten durch die Marktlogik, die deren volles
Potenzial ständig hemmt, könnte offensichtlich der gesamten Bevölkerung ein
relativer „Überfluss“ an lebensnotwendigen Gütern zur Verfügung gestellt werden.321
Knappheit vs. Reichhaltigkeit
„Angebot und Nachfrage“ ist eine bekannte Marktbeziehung, die zum Teil ausdrückt,
inwiefern der Wert eines Rohstoffs oder einer Ware proportional zu seiner Menge
oder Verfügbarkeit ist. Beispielsweise sind Diamanten quantitativ seltener und
demnach wertvoller als Wasser, welches generell reichhaltig auf dem Planeten
vorhanden ist. Gleichermaßen greift diese Dynamik auch bei menschlichen Werken,
wenn diese nur in geringer Anzahl hergestellt werden. Dies gilt auch bei kulturell
subjektiver Wahrnehmung dieser Seltenheit wie bei dem einzelnen Gemälde eines
berühmten Künstlers, dessen Verkaufswert um ein Vielfaches höher ist als sein
Rohstoffwert.322
Vom Standpunkt der Markteffizienz ist Knappheit generell eine guter Zustand. Auch
wenn extreme Knappheit tatsächlich für eine Industrie oder die gesamte Wirtschaft
destabilisierend ist („Rohstoff-Engpässe“), so ist der optimale Zustand im
Marktsystem eine Art ausgeglichener Knappheitsdruck zur Sicherung von
verkaufserzeugender Nachfrage. Um es noch einmal zu betonen: Die
Lebensnotwendigkeiten der Menschen werden in dieser Gleichung berücksichtigt.
Die Deckung von menschlichen Bedürfnissen in Form von Nahrung, Häusern, wenig
stressfreien Umständen für die geistige Gesundheit etc. sind vollkommen „extern“
321
Dies ist keine utopische Idee, da einfache statistische Extrapolationen diese drastische Verbesserung der
Effizienz und Produktionskapazität auf vielen Ebenen zeigen. Ein einfaches Beispiel, auch wenn dies nicht alle
Variablen beinhaltet, ist das Ende der „Arbeitsstunden“ in der industriellen Fabrikproduktion. Der für menschliche
Arbeit übliche 8-Stunden-Werktag könnte zu einer 24-Stunden-Arbeit durch maschinelle Automatisierung werden.
Dieses grobe Beispiel zeigt, wie ein „Überfluss“ an grundlegenden lebensnotwendigen Gütern geschaffen werden
kann.
322
Edvard Munchs Gemälde „Der Schrei“ wurde 2012 für $119 Millionen verkauft. Wenn wir dies mit dem
materiellen, physischen Wert des Werkes vergleichen, wurde es für ungefähr das 10.000 bis 15.000-fache des
materiellen Werts verkauft. [http://www.huffingtonpost.co.uk/2012/05/03/edvard-munchs-the-screamn1473129.html?ref=uk-culture]
107
Markt-Effizienz vs. technische Effizienz
und haben keinerlei direkte Beziehung zur Markteffizienz. Wie bereits erwähnt, wäre
die direkte Deckung von menschlichen Bedürfnissen ineffizient im Sinne der
Marktlogik, da dies den Knappheitsdruck reduzieren würde, der den zyklischen
Konsum aufrecht hält. Anders ausgedrückt gibt es eine Notwendigkeit für ein
Ungleichgewicht, um diesen Nachfragedruck zu erhalten. Dieses Ungleichgewicht
kann viele Formen annehmen.
Schulden sind beispielsweise eine Form der auferlegten Knappheit, die eine Person
in eine Situation bringt, in der sie sich häufig der Arbeit unterwerfen muss, welche oft
eher „ausbeuterische“ Züge annimmt. Damit ist gemeint, dass die Entlohnung
(gewöhnlich das Gehalt) oft in keinem Verhältnis zu dem, was nötig ist, um einen
gesunden Lebensstandard zu halten. In diesem Zusammenhang ermöglicht das
Schuldsystem eine eigene Form der Markteffizienz, weil der Arbeitgeber aufgrund
der erhöhten privaten Schuldenlast und des finanziellen Drucks die Löhne einfacher
senken kann (Kosteneffizienz).
Je höher Menschen verschuldet sind, desto eher werden sie sich Arbeit mit geringem
Lohn unterwerfen und demnach den Unternehmenseigentümern mehr Profit bringen.
Tatsächlich kann man die gleiche Logik auch auf die legale unregulierte Nutzung von
„Sweatshop“-Arbeit in der dritten Welt anwenden, welche ständig von westlichen
Unternehmen „ausgebeutet“ wird. Unmengen an Arbeitszeit für bekanntermaßen
geringe Löhne sind an der Tagesordnung. Diese Menschen haben jedoch keine
andere Wahl, als sich dem zu unterwerfen, da es keine Möglichkeiten in ihrer Region
gibt, da es in ihrer Region keine anderen Möglichkeiten zum Überleben gibt - oft
aufgrund von Schulden, die aus Sparprogrammen hervorgehen.323
Tatsächlich basiert die Regulierung der gesamten Geldmenge auf genereller
Knappheit, da, wie zuvor erwähnt, heute sämtliches Geld aus Schulden entsteht.
Dieses Schuld-Geld wird am Markt durch „Kredite“ als Ware verkauft, wobei
zusätzlich Zinsen erhoben werden, um den Banken Profit zu ermöglichen. Jedoch
wird dieser „Zinsprofit“, welcher selbst auch Geld ist, nicht in der Geldmenge selbst
erzeugt. Wenn beispielsweise ein Individuum einen Kredit von 100 € aufnimmt und
5% Zinsen zahlt, so zahlt dieses Individuum 105 € zurück. Aber in einer Wirtschaft, in
der das gesamte Geld durch Kredite erschaffen wird - was der Realität entspricht existiert nur die „Grundmenge“ (100 €) in der Geldmenge; das „Zinseinkommen“ (5 €)
wird nicht erzeugt.
Demnach gibt es immer mehr Schulden, als es Geld gibt, um diese zu bezahlen. Des
Weiteren fällt diese generelle Schuldenlast tendenziell auf die unteren Klassen, da
diese eher Kredite für ihr Haus/Auto/etc. aufnehmen müssen als die Wohlhabenden,
die Geld im Überfluss besitzen. Dadurch wird das anhaftende unüberwindbare
Problem der Schulden und damit der beschränkten Handlungsoptionen verstärkt. In
diesem Modell ist beispielsweise der Bankrott nicht das Ergebnis einer schlechten
Unternehmensentscheidung; er ist eine unabwendbare Konsequenz - wie in dem
Spiel „Reise nach Jerusalem“324
Um auf den zentralen Punkt zurückzukommen: Die Realität der Knappheit in
unserem aktuellen Wirtschaftssystem ist also die Quelle von enormer Effizienz im
323
324
Literaturempfehlung: http://www.huffingtonpost.com/john-perkins/economic-chaos-loans-greeb901949.html
Literaturempfehlung: Web of Debt, Ellen Hodgson Brown, Third Millennium Press, 2008
108
Markt-Effizienz vs. technische Effizienz
Sinne des Marktes. Wenn die Grundbedürfnisse der Menschen gedeckt wären oder
wenn sie diese ohne den äußeren Druck von unbezahlbaren Schulden, der das
Ungleichgewicht sicherstellt, decken könnten, so würden zyklischer Konsum, Profit
und Wachstum darunter leiden. So heimtückisch es für unsere Intuition und
Menschlichkeit erscheinen mag, Menschen im Mangel zu halten, ist tatsächlich eine
positive Grundbedingung für die Funktionsweise des Marktes. Das ist die Realität.
Natürlich sieht man vom Standpunkt der technischen Effizienz aus, dass der Mensch
eine bio-chemische Maschine mit universellen Bedürfnissen nach grundlegender
Ernährung, Stabilität und weiteren psychologischen Notwendigkeiten ist. Wenn diese
nicht gedeckt werden, kann dies zu physischen und psychischen Krankheiten führen.
Daran erkennt man die Entkopplung der „Marktlogik“ von
menschlichem/gesellschaftlichem Wohlergehen.325
Als letzter Punkt zu diesem Thema sei gesagt, dass der Markt zu jedem Zeitpunkt
Probleme bedienen möchte. Tatsächlich könnte man sogar generell sagen, dass
technische Ineffizienz der Antrieb für Markteffizienz ist. Problemlösungen werden
nicht vom Markt angestrebt, da sie ein Einkommensloch erzeugen und demnach
einen Verlust an finanziellem Gewinn und Geldbewegungen. Das Ergebnis ist, dass
es zum Teil einen verdrehten Anreiz gibt, Probleme zu suchen oder diese sogar zu
verstärken. Ein Jahrhundert zuvor wäre es eine seltsame Idee gewesen,
Wasserflaschen zu verkaufen, da Wasser generell unverschmutzt und reichhaltig
vorhanden war. In der heutigen Zeit ist es eine jährlich viele Millionen Euro schwere
Industrie, die größtenteils aus der Wasserverschmutzung der verantwortungslosen
Industriepraktiken hervorging.326 Die Profite und Arbeitsplätze, die im
Zusammenhang mit der technisch ineffizienten Realität der
Ressourcenverschmutzung und -zerstörung stehen, verbessern wiederum die
notwendige wirtschaftliche Markteffizienz zur Aufrechterhaltung des Konsumzyklus.
Zusammenfassung
Markteffizienz hat generell eine „Makro“- und „Mikro“-Ebene.
Auf der Makro-Ebene gilt alles, was Verkäufe, Wachstum oder Konsum erhöht als
effizient - unabhängig davon, welcher Druck die Nachfrage erzeugt hat oder was
überhaupt gekauft und verkauft wird. Auf der „Mikro“-Ebene werden profitsteigernde
und kostenreduzierende Bedingungen („Kosteneffizienz“) auf der
Unternehmensseite geschaffen.
Diese „Effizienz“ des Kapitalismus funktioniert ohne jegliche Beachtung der Sozialoder Umweltkosten der Prozesse, um den zyklischen Konsum und Profit
sicherzustellen. Die Welt um Dich herum ist das Ergebnis: Voll von ökologischen
Störungen, menschlichem Elend und generellem sozialem Ungleichgewicht und
Instabilität der Umwelt. Auf der anderen Seite kann die technische Effizienz als
Hindernis für die Markteffizienz bezeichnet werden. Diese versucht, die Umgebung
und die menschliche Gesundheit und in erster Linie ein Gleichgewicht in der
natürlichen Welt zu erhalten. Die Reduzierung von Abfall, die Lösung von Problemen
und die Erhaltung der Anpassung an Naturgesetze ist die selbstverständliche,
dahinterstehende Logik.
325
326
Siehe vorheriges Kapitel: „Definieren der Volksgesundheit“
Literaturempfehlung: Water and Air Pollution [http://www.history.com/topics/water-and-air-pollution]
109
Markt-Effizienz vs. technische Effizienz
Es ist bedenklich, dass heute zwei entgegengesetzte Wirtschaftssysteme gleichzeitig
bestehen, die tatsächlich gegeneinander arbeiten. Das heutige Marktsystem befindet
sich mit seiner altertümlichen, traditionellen Logik in keiner Weise im Einklang mit der
natürlichen (technischen) Wirtschaft. Das Resultat sind gewaltige Konflikte und
Ungleichgewichte mit sich ständig verändernden Problemen und Konsequenzen für
die menschliche Spezies. Es ist klar, welches System diesen Kampf „gewinnen“ wird.
Die Naturgesetze werden Bestand haben, egal wie viele Theorien wir zu dieser oder
jener Rechtfertigung unserer traditionellen Organisationsform auf diesem Planeten
aufstellen.
Die Natur schert sich nicht um unsere gewaltigen finanziellen Wirtschaftsideen, deren
„Wert“-Theorien, komplizierte Finanzmodelle oder detaillierte Gleichungen ergründen
sollen, wie und warum sich menschliches Verhalten manifestiert. Die technische
Realität ist einfach: Erkenne, pass dich an und richte dich nach den herrschenden
Naturgesetzen oder ertrage die Konsequenzen. Es ist absurd zu denken, dass die
menschliche Spezies, deren Evolution unter denselben Naturgesetzen stattfand, an
welchen sich die Wirtschaftspraktiken (und Werte) orientieren müssen, mit solchen
Gesetzen inkompatibel wäre. Dies ist heute lediglich eine Frage der Reife und des
Bewusstseins.
Als letzer Punkt sowie als allgemeine Randbemerkung sei erwähnt, dass es in
Anbetracht der zunehmenden und anhaltenden ökologischen Probleme im 21.
Jahrhundert den Trend einer „Grünen Wirtschaft“ gibt. Einige haben diese
Wirtschaftsansicht sogar in Sektoren unterteilt, wie beispielsweise erneuerbare
Energien, Öko-Gebäude, saubere Transportmittel und weitere Kategorien.327 Es fällt
auf, dass dieses Bewusstsein und diese angestrebten Anwendungen generell in
Einklang stehen mit der technischen oder wissenschaftlichen
Bewusstseinsperspektive, die in diesem Kapitel diskutiert wurde.
Traurigerweise verseucht das kapitalistische Wirtschaftsmodell durch seine
Ineffizienz - aufgrund der zu seinem Bestehen notwendigen künstlichen Formen der
„Effizienz“ - alle solche Versuche und beschränkt sie massiv, so positiv die Absichten
dieser neuen Organisationen und Unternehmensgründer auch sein mögen. Das ist
der Grund, warum solche Ansätze der technischen Effizienz bisher noch nicht
wirklich umgesetzt wurden. Auch wenn einige Verbesserungen möglich sind, so
werden solche Fortschritte doch stets grundlegend und zunehmend begrenzt sein.
Das ist die traurige Realität, da die strukturelle Grundlage der Funktionsweise der
kapitalistischen Marktwirtschaft grundsätzlich unvereinbar mit der Effizienz aus Sicht
der Naturgesetze ist. Die einzige logische Lösung ist, die gesamte Struktur zu
überdenken, wenn man echte Effizienz, erhöhten Wohlstand und Problemlösungen
auf lange Sicht erreichen will.
327
„Grüne Wirtschaft“ Referenz: http://www.mnn.com/green-tech/research-innovations/blogs/how-do-you-definethe-green-economy
110
Wertesystem-Störung
Wertesystem-Störung
„Ich denke das Gier und Wettbewerb nicht das Ergebnis des unveränderlichen menschlichen
Charakters sind; Ich bin zu der Schlussfolgerung gekommen, dass Gier und Angst vor Knappheit
tatsächlich fortlaufend als direktes Resultat unseres Geldsystems erzeugt und verstärkt werden [...].
Die direkte Folge ist, dass wir gegeneinander kämpfen müssen, um zu überleben.“328 -Bernard Lietaer
Gedankengene
In Anbetracht der relativ langsamen Veränderungsrate der biologischen Evolution
des Menschen erfolgten innerhalb der letzten 4000 Jahre gewaltige gesellschaftliche
Veränderungen aufgrund der Entwicklung von Wissen - also aufgrund einer
„kulturellen Evolution“. Bei der Suche nach einem Mechanismus für kulturelle
Evolution, ist das Konzept des „Memes“329 nützlich. Es wird definiert als „Eine von
Person zu Person übertragene Idee, Verhaltensweise, Art oder Brauch innerhalb
einer Kultur.“ Meme werden soziologisch oder kulturell analog zu Genen gesehen330.
Das sind „funktionelle (biologische) Einheiten, die die Übertragung und den Ausdruck
von einer oder mehreren Eigenschaften kontrollieren.“
So wie Gene im Grunde biologische Informationen durch Vererbung von Person zu
Person übertragen, so übertragen Meme kulturelle Informationen (Ideen) durch alle
Formen der menschlichen Kommunikation.331 Wenn wir am Beispiel des
technologischen Fortschritts mit der Zeit erkennen, welchen enormen Einfluss diese
auf unsere Lebensstile und Werte haben, können wir diese allgemein emergenten
Phänomene als eine Evolution von Ideen betrachten. Dabei vervielfachen und
mutieren diese, sodass sich die Kultur mit der Zeit ebenfalls verändert.
Mit diesem Wissen können wir den geistigen Zustand eines Menschen mit seinen
Neigungen zu Handlungen als eine Art Programm ansehen. Gene kodieren
bestimmte Instruktionen, die in Kombination mit anderen Genen und der Umwelt
darauf folgende Resultate hervorrufen. In gleicher Weise verarbeiten die
intellektuellen Prozesse eines Menschen Meme und erschaffen zusammen neue
Verhaltensweisen. Das Thema der „Willensfreiheit“ ist sicherlich eine komplizierte,
noch auszutragende Diskussion. Aber wenn es um die Auslöser und die
Manifestierung von Entscheidungen geht, so ist dennoch grundlegend klar, dass die
Ideen der Menschen durch den Input (Bildung) beschränkt sind. Wenn einer Person
wenig Wissen über die Welt zur Verfügung steht, so werden ihre
Entscheidungsprozesse ebenso dadurch beschränkt.332
328
Bernard Litaer ist ein Ökonom, Autor und Professor und erwähnenswert aufgrund seiner Arbeit das EU
Währungssystem zu entwerfen. Zitat des YES! Magazins, Interview mit Bernard Lietaer, „Beyond Greed and
Scarcity“, Sarah van Gelder [http://www.transaction.net/press/interviews/lietaer0497.html]
329
Definition Mem http://de.wikipedia.org/wiki/Mem
330
Definition Gen http://de.wikipedia.org/wiki/Gen
331
Richard Dawkins Buch „Das egoistische Gen“ führte den Begriff „Mem“ ein. Dawkins zitiert als inspiration die
Arbeit des Genetikers L.L. Cavalli-Sforza, den Anthropologen F.T. Cloak und den Ethologen J.M. Cullen.
332
Die gegensätzliche Beziehung zwischen Bildung/Wissen und Aberglauben ist deutlich. Laut des UNO Berichts
für menschliche Entwicklung in arabischen Ländern hatten weniger als 2% der Araber Zugang zum Internet.
Araber repräsentieren 5% der Weltbevölkerung, produzieren jedoch nur 1% der Bücher in der Welt, von denen
die meisten religiöse Texte sind. In den Worten von Sam Harris: „Spanien übersetzt jährlich mehr Bücher ins
Spanische als die gesamte arabische Welt seit dem 9. Jahrhundert ins Arabische übersetzt hat". Es ist mit hoher
Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass das Wachstum des islamischen Glaubens in arabischen Ländern durch
den relativen Mangel an Informationen von außen hervorgerufen wurde.
111
Wertesystem-Störung
Genauso wie Gene in schädlicher Art und Weise für ihren Träger mutieren können
(wie Krebszellen333), so können Meme im Kontext der ideologischen/soziologischen
Übertragungen für den Träger (oder die Gesellschaft) schädliche Geisteshaltungen
erzeugen. An diesem Punkt wird der Begriff „Krankheit“ eingeführt. Eine Krankheit
wird wie folgt definiert: „Eine Störung oder Abweichung der Funktion“.334 Demnach ist
innerhalb der gesellschaftlichen Funktionsweise eine Krankheit ein
institutionalisiertes, ideologisches Rahmenkonzept, welches nicht im Einklang mit
dem größeren, vorherrschenden Systemen ist. In anderen Worten: sie sind
unpassend in dem Kontext, in dem sie versuchen fort zu bestehen, wodurch oft
Ungleichgewichte und schädliche Destabilisierungen hervorgerufen werden.
Unsere Geschichte ist selbstverständlich voll von anfänglich destabilisierenden
Übergangsideen. Das liegt an der andauernden intellektuellen Entwicklung, die
natürlich und notwendig für den Menschen ist, da es so etwas wie „absolute“
Erkenntnisse nicht gibt. Der Unterschied liegt in der Schaffung von emotionalen
Verbindungen auf der Persönlichkeitsebene („Identität“) sowie in der Schaffung von
institutionellen Einrichtungen auf der kulturellen Ebene, sofern diese Ideen lange
genug Bestand haben. Diese neigen dazu, einen Zirkelschluss zu verstärken,
wodurch sie generell Veränderungen und Anpassungen widerstehen.
Wenn wir eine optimale nachhaltige Anpassung der kulturellen Entwicklung
wünschen und erwarten, so müssen wir die intellektuelle Entwicklung als einen
Prozess ohne Ende ansehen und offen gegenüber neuen Informationen sein. Dies
muss auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene ein zentraler Wert werden.
Leider gibt es heutzutage mächtige kulturelle Kräfte, die gegen dieses Interesse
arbeiten. Ideologische und innerhalb der aktuellen Gesellschaftsstruktur
eingebettete335 Strukturen arbeiten aktiv gegen die Notwendigkeit der kulturellen
Anpassung. Eine Analogie wäre der Nährstoffmangel unserer biologischen Zellen
durch das Entfernen von Sauerstoff aus der Umgebung - nur dass wir uns in diesem
Fall unserer Lern- und Anpassungsfähigkeit entziehen. Dabei ist Wissen der
„Sauerstoff", durch den wir als Spezies Probleme lösen und Fortschritte machen.
Die hier beschriebene „Krankheit“ ist bezeichnend für die kapitalistische Tradition des
freien Marktes. Es sind nicht nur die einzelnen Entscheidungen (wissentlich oder
unwissentlich) gegen Anpassungen, die diese schädlichen Auswirkungen auf vielen
Ebenen fortführen. Es ist ebenso das Wertesystem, die Festsetzung einer „Identität“
sowie ein normalisierter Gewohnheitssinn, der eine starke problematische Kraft
darstellt. Dies wird noch weiter verstärkt, wenn der Zweck (oder scheinbare Zweck)
solcher Absichten direkt mit unserem Überleben oder unserer Existenz in Verbindung
steht. Es gibt nichts Persönlicheres als unsere Identität. Das Wirtschaftssystem ist
letztendlich ein definierendes Merkmal für unsere Mentalitäten und Weltansichten.
Wenn etwas mit dem System nicht stimmt, impliziert das, dass etwas mit uns selbst
nicht stimmt, da wir es weiterhin fortführen.
Wertesystem-Störung
333
Krebs ist ein Begriff, der für eine Krankheit benutzt wird, bei der anormale Zellen sich ohne Kontrolle teilen und
in der Lage sind anderes Gewebe zu infizieren. [http://de.wikipedia.org/wiki/Krebs_(Medizin)]
334
Krankheit definiert http://de.wikipedia.org/wiki/Krankheit
335
Um hier „eingebettet“ zu definieren: Dies bezieht sich auf die strukturellen Eigenschaft wie die Notwendigkeit
zu „konkurrieren“, um in der Marktwirtschaft Erfolg zu haben. Es ist in die Rahmenbedingungen des Systems
eingebaut - eingebettet.
112
Wertesystem-Störung
Genauso wie der Krebs zum Teil eine Immunsystem-Störung ist, so können lang
anhaltende soziologische Traditionen mit immer stärker werdender
Problemerzeugung eine Wertesystem-Störung genannt werden.336 Diese Krankheit
hat etwas mit einer Art strukturierten Psychologie zu tun, die bestimmte Annahmen
mit der Zeit plausibel erscheinen lässt. Und dies lediglich aufgrund der kulturellen
Beständigkeit, gekoppelt mit einer innewohnenden Verstärkung ihrer selbst durch
ihre Funktion. Umso größer der gesellschaftliche Kontext der Krankheit, umso
schwieriger ist die Lösung - ganz zu schweigen von der bloßen Erkenntnis an sich.
Auf der Ebene des Gesellschaftssystems wird diese Erkenntnis sehr schwer, weil die
gesamte Gesellschaft dauerhaft auf die Dynamiken seines eigenen Rahmenwerks
konditioniert wird, wodurch oft mächtige Selbsterhaltungsreaktionen erzeugt werden,
sobald die Integrität des Gesellschaftssystems angezweifelt wird. Diese könnte man
„geschlossene intellektuelle Rückkopplungs-Mechanismen" nennen, die den größten
Teil der Argumente für die Verteidigung des aktuellen sozioökonomischen Systems
ausmachen - genauso wie es Generationen vorher gemacht haben. Tatsächlich
scheint das ein genereller soziologischer Trend zu sein, da die Identität der
Menschen selbst mit den vorherrschenden Glaubenssystemen und Institutionen
assoziiert wird, in die sie hineingeboren werden.
In den Worten von John McMurtry, emirierter Professor der Philosophie an der
Universität von Guelph in Kanada: „Im Mittelalter konnte man alle Recherchen dieser
Ära durchsuchen von Denkern wie Augustinus bis [...] Ockham und wird keine
einzige kritische Seite über das etablierte gesellschaftliche Rahmenwerk finden, trotz
des rational nicht unterstützbaren Feudalzwangs, absoluter Bevormundung,
göttlichem Recht der Könige und dem Rest. Ist die aktuelle Ordnung wirklich so
anders? Sehen wir heute irgendwo in den Medien oder gar in Universitäten
Veröffentlichungen einer klaren Demaskierung des globalen Regimes, welches ein
Drittel aller Kinder zu Unterernährung zwingt, während wir mehr als genug Nahrung
zur Verfügung haben...? In so einer Gesellschaftsordnung werden Gedanken
untrennbar von Propaganda. Nur eine Doktrin ist aussprechbar und die Priesterkaste
der Experten schreiben die Notwendigkeiten und Verpflichtungen aller vor [...]
Gesellschaftsbewusstsein wird innerhalb einer zeremoniellen Logik gefangen
gehalten, die komplett innerhalb des übergestülpten Rahmenwerks einer vollständig
vorgeschriebenen regulativen Apparatur liegen, die die Privilegien der Privilegierten
schützt. Methodische Zensur triumphiert im Gewand der akademischen Rigorosität
und der einzig übrig gebliebene Raum für Gedanken wird zu einem Spiel der
konkurrierenden Rationalisierungen.“ 337
Solche Reaktionen sind ebenso geläufig bei etablierten Praktiken in speziellen
Gebieten. Beispielsweise entdeckte der ungarische Doktor Ignaz P. Semmelweis
(1818 - 1865) dass das Wochenbettfieber durch einfaches Händewasch-Standards in
Geburtshilfe-Kliniken drastisch reduziert wurde. Das war eine Vorahnung der heute
vollständig akzeptierten Keimtheorie, welche damals ausgestoßen, abgelehnt und
lächerlich gemacht wurde. Kurz nach seinem Tod wurde diese grundlegende
Entdeckung anerkannt. Heute benutzen einige den Ausdruck „Semmelweis-Reflex“
336
Um den Begriff „Wert“ deutlicher zu beschreiben: Eine ethische Präferenz im persönlichem oder kulturellem
Sinne, generell als subjektiv angesehen. Sie stellen die Grundlage für Handlungen dar. Beispielsweise würde
eine Person, die an bestimmte religiösen Philosophien glaubt, Werte etablierten, die bestimmte Verhaltensweisen
begünstigen. Ein Wertesystem ist eine Menge von übereinstimmenden Werten und Maßnahmen.
337
The Cancer Stage of Capitalism, John McMurtry, Pluto Press, 1999, p.6
113
Wertesystem-Störung
als Vergleich für eine reflexähnliche Ablehnung neuer Beweise oder neues Wissens,
welche etablierten Normen, Glauben oder Paradigmen widersprechen.338
Sobald eine bestimmte Idee vielen Menschen vertraut ist, wird sie zu einer
„Institution“ - und sobald diese Institution in irgendeiner Weise verstärkt wird , z.B.
durch die Existenz über einen längeren Zeitraum, so kann diese Instition dann als
„Establishment“ angesehen werden. „Institionelle Establishments“ sind einfach
gesellschaftliche Traditionen, die die Illusion der Dauerhaftigkeit erzeugen und um so
länger sie anhalten, um so stärker werden die Verteidigungen für deren Existenzrecht
durch den Großteil der Kultur.
Wenn wir die heute selbstverständlichen institionellen Establishments betrachten von makrosystematischen Eigenschaften wie dem Finanzsystem, Rechtssystem,
dem politischen System und den größeren religiösen Systemen - bis hin zu
mikrosystematischen Eigenschaften wie Materialismus, Ehen, Riten und
Gebräuchen, etc. - so müssen wir uns daran erinnern, dass keines dieser Konzepte
im physischen Sinne real ist. Dies sind temporäre Memstrukturen, die wir zu
bestimmten Zeitpunkten zu bestimmten Bedingungen zu unseren Zwecken erfunden
haben. Ganz gleich, wie sehr wir emotional an solchen Ideen hängen - ganz gleich,
wie groß die Institutionen werden - ganz gleich, wie viele Menschen an solche
Institutionen glauben - sie alle sind auferlegte Gedanken und vergänglich.
Um hier auf die Thematik der Wertesystem-Störung zurückzukommen: Obwohl das
kapitalistische System des freien Marktes stark von der physischen Realität entfernt
ist und die Ursache für enorme gesellschaftliche Leiden ist, wird es durch kulturell
verstärkte Werte und Macht-Establishments aufrecht erhalten und konditioniert die
Gesellschaft bis zur Verteidigung dieses Systems. Diese wurde immer stärker an
Überzeugungskraft, da die heutige Wertesystemstörung aus Überlegungen
hervorgeht, die menschliches Überleben selbst betreffen.
Eigenschaften der Krankheit
Um das existierende Rahmenwerk solcher Gedanken kritisch zu bewerten, muss ein
grundlegender, gemeinsam akzeptierter Bezugspunkt hergestellt werden. „KulturRelativismus“339 beschreibt die anthropologische Vorstellung, dass verschiedene
kulturelle Gruppen verschiedene Wahrnehmungen der „Wahrheit" oder „Realität"
erzeugen. „Moralrelativismus“340 ist eine ähnliche Ansicht, welche sich damit
auseinandersetzt, was „richtig“ oder „ethisch“ ist. Im Verlauf der
Menschheitsgeschichte wurden diese Begriffe immer beschränkter
(eingeschränkter), da die wissenschaftliche Revolution des kausalen Denkens von
der Renaissance (seit Beginn der Renaissance) die „relative Integrität" von
verschiedenen Glaubenssystemen immer mehr reduzierte.
Tatsache ist, das Glaubenssysteme in ihrem Wert nicht gleich sind. Einige sind mehr
wahr als andere und demnach sind einige im Kontext des realen Lebens
338
Allgemeine Biographie von Ignaz P. Semmelweis: (englisch) http://semmelweis.org/about/dr-semmelweisbiography/
(deutsch) http://www.whoswho.de/templ/te_bio.php?PID=572&RID=1
339
„Kulturrelativismus“ ist eine Idee, die in anthropologischen Forschungen von Franz Boas innerhalb der ersten
Jahrzente im 20. Jahrhundert als unumstößlich galt.
340
Ähnlich wie der „Kulturrelativismus“ wird der „Moralrelativismus“ generell wie folgt definiert: „Jede
verschiedene philosophischen Position, die sich mit den Unterschieden von moralischen Bewertungen über
verschiedene Menschen und Kulturen hinweg beschäftigt.“
114
Wertesystem-Störung
dysfunktionaler als andere. Die wissenschaftliche Methode der Schlussfolgerung ist
der ultimative Bezugspunkt, durch den die Integrität menschlicher Werte gemessen
werden kann. Diese moderne Realität entmystifiziert die häufige Verteidigung des
subjektiven menschlichen Glaubens durch den „Relativismus". Es geht nicht um
„richtig“ oder „falsch“, sondern um was funktioniert und was nicht. Die Integrität
unserer Werte und Glaubenssysteme ist nur so gut wie sie sich an der natürlichen
Welt ausrichten. Das ist der gemeinsame Boden, den wir alle teilen.
Dieses Konzept steht in direkter Verbindung mit Nachhaltigkeit im weiten Kontext des
menschlichen Überlebens selbst, weil ein nachhaltiges Gesellschaftssystem nur
durch nachhaltige Werte ermöglicht und fortgeführt werden kann. Unglücklicherweise
hat der evolutionäre Ballast unserer kulturellen Geschichte mächtige realitätsfremde
Wertestrukturen erhalten, welche unsere Auffassung von Glück, Erfolg und
Fortschritt zutiefst pervertiert und zudem im Ungleichgewicht mit den herrschenden
Gesetzen unseres Lebensraums sowie der menschlichen Natur sind. Der Mensch
hat tatsächlich eine gemeinsame Natur und auch wenn wir unterschiedlich sind,
können bestimmte Drücke und Stressfaktoren im Durchschnitt ernsthafte
Volksgesundheitsprobleme auslösen.341 Gleichermaßen können wir UmweltProbleme erwarten, wenn unsere Verhaltensweisen aufgrund unserer
realitätsfremden Wertevorstellung die physische Nachhaltigkeit der Erde nicht
berücksichtigen.342
Das vorherrschende kapitalistische sozioökonomische Wertesystem ist tiefgründig
pathologisch für das menschliche Dasein. Da die Mechanismen des Überlebens und
der generellen Belohnung das emotionale Festhalten sowie bestimmte Formen der
Selbsterhaltung verstärken, welche im Grunde in einer Art primitiver Verzweiflung
und Angst begründet sind. Das fundamentale Ethos ist ein anti-sozialer,
knappheitsgetriebener Druck, der alle Spieler dieses Spiels dazu zwingt, generell
ausnutzend und feindseelig gegenüber anderen und dem Lebensraum zu handeln.
Dieses Ethos hat auch eingebaute Zwänge gesellschaftlich förderliche Interessen zu
vermeiden, da dies in einem Verlust von Profit resultieren würde.343 Dadurch wird die
stressinduzierte emotionale Ungleichheit fortgeführt. Das Ergebnis ist ein
Teufelskreis der Ausnutzung, des engstirnigen Eigennutzes und der Gleichgültigkeit
gegenüber der Gesellschaft und unserer Umwelt.
Natürlich wurden in der Vergangenheit diese Eigenschaften für gewöhnlich mit „So ist
das nun mal“ verteidigt - als wäre unsere evolutionäre Psychologie in diesem
Stadium stecken geblieben. Wenn die angepriesenen psychologischen Doktrinen der
traditionellen Markt-Theorie („neoklassicher Utilitarismus“) bezüglich unserer
scheinbaren Beschränkungen einer „funktionierenden“ Gesellschaftsstruktur wahr
341
Bitte siehe vorheriges Kapitel: „Definieren der Volksgesundheit“
Ein generelles Beispiel wären die vorherrschenden Werte der Konsumenten in der Welt heute. Das Anhäufen
von Eigentum ist üblich, da mehr Besitz mit erhöhtem Erfolg gleichgestellt ist, und mehr Konsum mit
wirschaftlichem Wachstum zusammenhängt. Dennoch kann man solch unkonservative Ethik als nicht nachhaltig
betrachten, wenn man davon ausgeht, dass wir auf einem endlichen Planeten mit endlichen Resourcen leben.
Tatsächlich wurde von vielen erörtert, dass es technisch unmöglich wäre, den „Lebenstandard“ der Vereinigten
Staaten unter den derzeitigen Gegebenheiten auf den Rest der Welt auszudehnen. Einigen Untersuchungen
zufolge: "Die Menschheit verbraucht Ressourcen und produziert Kohlenstoffdioxid 50 Prozent schneller als es die
Erde ertragen kann..." [ Mehr: http://www.business-biodiversity.eu/default.asp?Menue=49&News=233 &
http://www.nytimes.com/2011/06/08/opinion/08friedman.html ]
343
Es sollte verstanden werden, dass, je mehr Probleme es auf der Welt gibt, desto mehr Probleme gibt es zu
bedienen und zu vermarkten. Je mehr wahre Problemlösungen es gibt, desto weniger gibt es die Möglichkeit zur
Vermarktung und folglich keine Erhaltung oder geringe Erhöhung des Wirtschaftswachstums.
342
115
Wertesystem-Störung
sind, dann sind Ungleichgewicht, Umweltzerstörung, Unterdrückung, Gewalt,
Tyrannei, Persönlichkeitsstörungen, Kriegsführung, Ausnutzung, eigennützige Gier,
sinnloser Materialismus, Wettbewerb und weitere trennende, unmenschliche und
destabilisierende Realitäten einfach unveränderbar. Demnach muss die gesamte
Gesellschaft verschiedene „Kontrollmittel“ um solche „Unvermeidbarkeiten“ herum
einrichten, damit diese Realitäten unseres menschlichen Daseins verwaltet werden
können. Es ist als würde man dem Menschen eine gravierenden, unheilbare
Geisteskrankheit vorwerfen - eine starke Retardierung - die einfach nicht
überwunden werden kann und so muss alles in der Gesellschaft darumherum
geändert werden, um damit klar zu kommen.
Umso mehr wir jedoch über den Menschen lernen, um so mehr Vergangenheit wir
von uns selbst über Generationen sehen - umso eher sind wir in der Lage, die
Verhaltensweisen von Kulturen der gesamten Welt und Vergangenheit zu
vergleichen - umso klarer wird es, dass unsere menschlichen Möglichkeiten direkt
durch eine veraltete Belohnungs- und Überlebensstruktur gehemmt werden, die
fortlaufend primitive, erbitterte Werte verstärken. Auch wenn solche Werte in der
Vergangenheit eine positive evolutionäre Rolle spielten, so zeigt die Gegenwart und
geahnte Zukunft, dass diese Verhaltensmuster schädlich und unnachhaltig sind, wie
dieser gesamte Text zur Genüge aufgezeigt hat.
Selbsterhaltungs-Paralyse
Generell zu Überleben oder gesund zu leben sind grundsätzliche
Selbsterhaltungstendenzen. Diese werden jedoch durch unsere aktuellen
sozioökonomischen Bedingungen in einer Weise erweitert, die den gesellschaftlichen
Fortschritt sowie Problemlösungen enorm hemmen. Tatsächlich könnte man sagen,
dass diese kurzzeitige Selbsterhaltung auf Kosten der langfristigen Stabilität erfolgt.
Das offensichtlichste Beispiel ist die fundamentale Natur des Suchens und
Aufrechterhaltens von Einkommen - dem Lebensblut des Marktsystems - und
infolgedessen dem menschlichen Überleben. Sobald ein Unternehmen Erfolg in der
Aneignung von Marktanteilen hat und dadurch typischerweise Arbeitnehmer und
Eigentümer versorgt, neigt es natürlich dazu, diese einkommensgenerierenden
Marktanteile um jeden Preis zu erhalten. Dieses Unternehmen ist durch die
Warenproduktion oder das Dienstleistungsangebot nicht einfach eine willkürliche
Einheit, sondern erzeugt tiefe Werteassoziationen und ist nun ein
lebensunterstützendes Mittel für alle Involvierten.
Das Ergebnis ist eine dauerhafter, gesellschaftlich destabilisierender Kampf nicht nur
gegen die Konkurrenten, die ebenso den selben Konsumentenmarkt suchen,
sondern auch gegen Innovation und Veränderung selbst. Der technologische
Fortschritt ist eine dauerhafte, fließende Entwicklung auf wissenschaftlicher Ebene;
Die Marktwirtschaft jedoch sieht diese Emergenz als eine Bedrohung im Kontext der
existierenden, aktuell profitablen Ideen. Sehr viele Beispiele von „Korruption“, Kartellund Monopolerzeugung und weiterer Verteidigungshandlungen der existierenden
Unternehmen können in der Geschichte gefunden werden. Jede Handlung ist darauf
aus, die Einkommensproduktion sicherzustellen - unabhängig von den
gesellschaftlichen Kosten.344
344
Die erfolgreiche Bemühung der Ölindustrie, und im weiteren Sinne der US Regierung, den Fortschritt
bezüglich vollständig elektrischer Fahrzeuge in den 1990er zu verlangsamen, ist ein gut bekanntes Beispiel für
116
Wertesystem-Störung
Ein weiteres Beispiel hat mit der psychologischen Neurose des Belohnungsanreizes
durch Anerkennung innerhalb des Marktsystems zu tun. Intellektuell ist es klar, dass
keine einzelne Person etwas erfindet, weil Wissen aufeinander aufbauend fortlaufend
erzeugt wird und sich letztendlich mit der Zeit ergibt. Die Marktwirtschaft reduziert
jedoch mit dem Mechanismus des „Eigentums“, also Patente und
„Geschäftsgeheimnisse“, den Informationsfluss und verstärkt auch die Idee des
„geistigen Eigentums“, obwohl diese ein Trugschluss ist.
Auf der Ebene des Wertesystems mutierte dies zu der Auffassung eines „Anspruchs
auf Anerkennung“ und zu „Ego“-Assoziationen bezüglich präsentierter Ideen oder
„Erfindungen“. Heute hat dieses Phänomen ein eigenes Leben angenommen, mit der
Tendenz vieler Beitragsleistender status-erhöhende „Anerkennung" für eine Idee zu
verlangen, auch wenn sie selbst klarerweise Teil eines Kontinuums sind, welches
größer ist als sie selbst.
Während Anerkennung für die Zeit und Arbeit, die eine Person für den Fortschritts
einer Idee geleistet hat, einen produktiven gesellschaftlichen Anreiz darstellt und
fundamental für unser Gefühl der Sinnhaftigkeit von Handlungen ist, so verzerrt die
Verdrehung von geistigen Eigentum und all seinen erfundenen Eigenschaften diese
Befriedigung.
Auf der größten Ebene der Erschaffung von Wissen werden solche Handlungen der
„Anerkennung“ letztendlich in Anbetracht der Geschichte irrelevant. Heute denken wir
beispielsweise bei der Benutzung eines modernen Computers selten an die
tausende von Jahren der intellektuellen Entwicklung, die diese grundlegenden
wissenschaftlichen Dynamiken gefunden haben, noch denken wir an den enormen
Beitrag an Zeit von unzähligen Menschen, die die „Erfindung" dieses Werkzeugs in
der heutigen Form ermöglicht haben.
Nur im Kontext des manifestierten Egos und der Sicherheit durch monetäre
Entlohnung wird dies ein „natürliches“ Werteproblem im Marktsystem. Wenn
Menschen keine „Anerkennung“ fordern, werden sie nicht entlohnt und demnach
können sie durch diesen Beitrag im Markt nicht überleben. Die MarktsystemBedingungen haben diese Neurose erschaffen, welche letztendlich Fortschritt durch
das Teilen von Wissen abschwächt.
Weiterhin können diese Störungen der „Selbsterhaltung“ im Markt viele weitere
Formen annehmen, mitunter die Benutzung der Regierung als Werkzeug,345 die
Verseuchung der akademischen Welt und der Informationen selbst,346 und sogar
gewöhnliche zwischenmenschliche Beziehungen.347 Die Angst vor dem Verlust der
die Hemmung des Fortschritts, um die existierenden Profitinstitutionen aufrecht zu erhalten. [Empfohlenes Video:
“Who Killed the Electric Car?“: http://www.imdb.com/title/tt0489037/synopsis]
345
Firmenlobbyismus bedeutet im wesentlichen die Benutzung von Geld für die Beeinflussung von politischen
Entscheidungen. Literaturempfehlung: "Corporate Lobbyists Threaten Democracy“, Julio Godoy, IPS:
[http://www.ipsnews.net/2012/08/corporate-lobbyists- threaten-democracy/]
346
Ein interessantes Beispiel dafür war der Fall im Jahr 2007, in dem Microsoft, unzufrieden mit den
Informationen der öffentlichen Enzyklopädie „Wikipedia", daran arbeitete, einen Bearbeiter anzustellen, der die
Informationen in ihrem Interesse änderte. [Microsoft Offers Cash for Wikipedia Edit:
http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/article/2007/01/23/AR2007012301025.html]
347
Eine Studie einer Vermögensverwaltung aus Connecticut zeigte, dass viele nur für Geld heriaten würden. Der
durchschnittliche „Preis" für den die Menschen heiraten würden beträgt $1.5 Millionen.
[http://www.yourtango.com/20072778/survey- most-people-would-marry-for-money]
117
Wertesystem-Störung
Lebensgrundlagen überschreibt nahezu alles und sogar die „ethischsten“ oder
„moralischsten“ Menschen können - wenn sie dem Risiko des Nicht-Überlebens
gegenüberstehen - Taten rechtfertigen, die sonst traditionell als „korrupt“ bezeichnet
werden würden. Dieser Druck ist konstant und zum Teil die Quelle für das enorme
Maß an so genannter „Kriminalität“ und an gesellschaftlicher Paralyse, die wir heute
beobachten können.
Wettbewerb, Ausbeutung und Klassenkrieg
Aufbauend auf dem letzten Punkt: Die Ausbeutung, die dem wettbewerbsbetonten
Gedanken innewohnt, hat die Bedeutung „Erfolg zu haben“ durchdrungen. Wir sehen
die „Vorteils“-Rhetorik in vielen Facetten unserer Leben. Die Manipulation und
Ausbeutung für einen Wettbewerbsvorteil wurde die zugrunde liegende Kraft in der
modernen Kultur. Diese hat sich weit über den Kontext des Marktsystems
ausgedehnt.
Andere und die Welt lediglich als Mittel zum Selbstzweck oder zum Vorteil einer
isolierten Gruppe zu sehen, ist nun die treibende psychologische Verwerfung, die
sich in Liebesbeziehungen, Freundschaften, Familienstrukturen, Nationalismus
wiederfindet und sogar unser Verhältnis zu unserem Lebensraum
beeinflusst/beeinträchtigt. Dabei versuchen wir auszubeuten und vernachlässigen die
physischen Ressourcen der Umwelt für kurzzeitigen persönlichen Gewinn und
Vorteil. Alle Bereiche unseres Lebens werden nun notwendigerweise aus der
Perspektive des „Was kann ich daraus persönlich bekommen?“ gesehen.
In einer Studie, die 2011 in der Abteilung für Psychologie an der Universität von
Californien, Berkeley, durchgeführt wurde, fanden die Wissenschaftler heraus, dass:
„...Angehörige der höheren Gesellschaftsschichten wesentlich unethischer handeln
als Menschen, die aus den niedrigeren Schichten stammen. [...] So brachen in der
Statistik wesentlich mehr Angehörige der Oberschicht die Gesetze beim Autofahren,
als es Menschen der niedrigeren Schichten taten. In nachfolgenden Labortests und
Studien hatten Angehörige der Oberschicht die eindeutige Tendenz zu unethischen
Handlungen, wie das Entwenden wertvoller Güter von anderen, das Lügen in
Verhandlungen, das Betrügen für die erhöhte Wahrscheinlichkeit eines
Preisgewinnes oder die Billigung unethischen Handelns am Arbeitsplatz, ganz im
Gegensatz zu Angehörigen der niedrigeren Schichten. Die Mediator- und
Moderatordaten zeigen, dass diese Tendenzen teilweise durch ihre wohlwollendere
Einstellung der Gier gegenüber, erklärt werden können.“348
Diese Studien sind höchstinteressant und widerlegen, dass die menschliche Natur in
ihren extremen Auslegungen von Grund auf „konkurrenzsuchend und ausbeuterisch“
wäre. Eigenschaften bestimmter Gesellschaftsschichten sind keine genetischen
Eigenschaften. Über die Ausprägung bestimmter individueller Neigungen kann
allerdings diskutiert werden. Diese Studie zeigt dennoch ein ausschließlich kulturelles
Phänomen auf: Das Ignorieren negativer Konsequenzen oder anders ausgedrückt
das „unethische Handeln“ der Oberschicht ist ein direktes Resultat der
348
Siehe die Studie: Higher social class predicts increased unethical behavior, Piffa, Stancatoa, Co?te?b,
Mendoza-Dentona, Dacher Keltnera, University of Michigan, 2012
[http://www.pnas.org/content/early/2012/02/21/1118373109]
118
Wertesystem-Störung
Wertevorstellungen, die benötigt werden, um überhaupt erst eine „Oberschicht“ zu
bilden.349
In der klassischen poetischen Redekunst wurde schon seit Jahrhunderten die
Behauptung für wahr gehalten, dass jene Menschen, die ausschließlich auf Erfolg im
wirtschaftlichen Sinne fokussiert sind, häufig unsensibler und skrupelloser sind. Es
scheint tatsächlich einen Mangel an Empathie bei Menschen zu geben, die direkt
„Erfolg“ anstreben und der Grund dafür ist mehr als offensichtlich unter Betrachtung
des gestörten Wertesystems der gegenseitigen wettbewerbsbetonten Missachtung in
dieser Denkweise der Marktwirtschaft. Zusammengefasst, je mitfühlender und
empathischer man ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit finanziell erfolgreich
zu wirtschaften. Dies unterscheidet sich im Übrigen nicht im Geringsten vom
allgemeinen Sport, in welchem man seinen Gegenspieler ebenfalls nicht bei dem
Erreichen seiner Ziele hilft, weil sich die Wahrscheinlichkeit selbst zu verlieren
drastisch erhöht.
Allgemein scheinen untere Gesellschaftsschichten in vielen Situationen wesentlich
sozialer und humanitärer zu handeln. Zum Beispiel wurde herausgefunden, dass
ärmere Menschen einen höheren Prozentsatz ihres Einkommens (4,3%) für
wohltätige Zwecken spenden, als reichere Menschen (2,1%). Eine Studie aus dem
Jahre 2010 bestätigt, dass: „...Mitglieder der unteren Gesellschaftsschichten sich
wesentlich großzügiger,[...]wohltätiger,[...]vertrauenswürdiger,[...]und hilfsbereiter
verhalten im Vergleich zu Angehörigen der Oberschicht. Mediator- und
Moderatordaten zeigten, dass sich Menschen der niedrigeren Schichten deshalb
sozialer verhalten, weil ihr Sinn für Gleichheit und Mitgefühl wesentlich ausgeprägter
ist. Direkte Zusammenhänge zwischen der sozialen Schicht, sozialem Verhalten und
ökonomischer Ungleichheit werden zur Zeit diskutiert.“350, 351
Ein Vergleich von Steuererklärungen in einer Studie der Chronicle of Philanthropy
(eine non-profit Zeitung, die in Washington gedruckt wird) ist hier erwähnenswert.
Demnach spenden Haushalte, die zwischen 50.000 und 75.000 US-Dollar im Jahr
verdienen, durchschnittlich 7,8% ihres Einkommens für wohltätige Zwecke. Dies
steht im absoluten Gegensatz zu den 4,2%, die von Menschen mit jährlichen
Einkommen von 100.000 US-Dollar, gespendet werden. In manchen der reichsten
Gegenden, in denen ein Großteil der Menschen 200.000 US-Dollar oder mehr im
Jahr verdienen, betrug die Rate an gespendetem Geld sogar nur 2,8%.352, 353
Erfolg & soziale Stellung
Dem Modell des Kapitalismus zufolge bekommen diejenigen das meiste, welche am
meisten zur Gesellschaft beitragen. Wolle man beispielsweise Milliardär werden, so
muss man viele nützliche und sinnvolle Dinge zur Gesellschaft beigetragen haben.
Natürlich entspricht dies in keinster Weise der Wahrheit. Die Mehrheit der reichen
Menschen beziehen ihr Vermögen aus Mechanismen, die bei einer genaueren
349
Referenz: “How Wealth Reduces Compassion“, Daisy Grewal, Scientific American, 2012
[http://www.scientificamerican.com/article.cfm?id=how-wealth-reduces-compassion]
350
“Having Less, Giving More: The Influence of Social Class on Prosocial Behavior“, Journal of Personality and
Social Psychology, 2010, Vol. 99, No. 5, 771–784, 2012 [http://www.rotman.utoronto.ca/phd/file/Piffetal.pdf]
351
Referenz: Study: Poor Are More Charitable Than The Wealthy, NPR, 2012
[http://www.npr.org/templates/story/story.php? storyId=129068241]
352
Referenz: The Rich Are Less Charitable Than the Middle Class: Study, CNBC, 2012
[http://www.cnbc.com/id/48725147]
353
Referenz: “America's poor are its most generous givers“, Frank Greve/McCLatchy analysis, 2009
[http://www.mcclatchydc.com/2009/05/19/68456/americas-poor-are-its-most-generous.html]
119
Wertesystem-Störung
Betrachtung in keiner Form (egal ob direkt oder auf eine kreative Art) sozial nützlich
und sozial förderlich sind.354
Der Ingenieursberuf, Problemlösungsansätze und kreative Innovationen sind fast
immer nur im Komplex der Arbeiterklassen zu finden, wo sie ausschließlich dem
Profitstreben der Personen an der Spitze (den Besitzern) dienen, nur weil sich diese
mit den „Vermarktungsstrategien“ im künstlichen Spiel der Marktwirtschaft besser
auskennen. Dies demonstriert nicht die hohe Intelligenz oder die harte Arbeit
derjenigen, die am reichsten sind, sondern zeigt vielmehr, dass die Belohnungen
dieses Systems denen zugutekommen, die die Mechanismen der Marktwirtschaft
ausnutzen und nicht etwa denjenigen, die sich tatsächlich etwas kreatives haben
einfallen lassen. So ist einer der profitabelsten Sektoren der globalen Ökonomie
heutzutage das Investment und Finanzwesen.355 Beispielsweise leistet ein „Hedge
Fund“-Manager keinerlei Beitrag zur kreativen realen Entwicklung356 und bewegt
lediglich zur Geldvermehrung Geldbeträge hin und her. Dennoch gehört dieser zu
den bestbezahltesten Berufen der Welt.
Gleichzeitig wird diese Vorstellung von „Erfolg“ in unserer Kultur lediglich an
materiellen Werten allein gemessen. Ruhm, Macht und weitere
Aufmerksamkeitsattitüden gehen Hand in Hand mit materiellem Reichtum. Arm zu
sein wird verabscheut, während reich zu sein bewundert wird. Nahezu über das
gesamte gesellschaftliche Spektrum wird Reichen mit immensem Respekt begegnet.
Das hat teilweise etwas mit einem systemorientierten Überlebensmechanismus zu
tun, also mit dem persönlichen Interesse herauszufinden wie man auch selbst zu so
einem „Erfolg“ werden kann. Jedoch hat sich dies in einen seltsamen Fetisch
verwandelt, wobei die Idee, reich, mächtig und berühmt zu sein - egal durch welches
Mittel - die leitende Kraft ist.
Die Wertesystemstörung der Belohnung (sowohl finanziell als auch durch öffentliche
Verehrung und Respekt) von rücksichtslosen und egoistischen Menschen unserer
Gesellschaft, ist eine der am weitesten verbreiteten und heimtückischsten Folgen des
kapitalistischen Anreizsystems. Nicht nur, dass dadurch das echte Interesse an
Innovationen und Problemlösungen (die selbst keinen direkten monetären Ausgleich
geben) verloren geht, es fördert ebenso die Existenz des Marktsystems selbst. Es
rechtfertigt sich selbst durch das Zuschreiben des hohen Status derjenigen, die
innerhalb dieses Systems gewinnen, unabhängig von den wahren Beiträgen oder
den sozialen oder Umweltkosten.
Der Soziologe Thorstein Veblen schrieb ausgiebig zu diesem Thema. Er beschrieb
diese „Tugend" als räuberisch: „Mit der fortschreitenden Entwicklung der
räuberischen Kultur kommt es zu einer Trennung zwischen Arbeitsverhältnissen [...]
Der „ehrenhafte“ Mensch muss nicht nur die Fähigkeit räuberisch auszubeuten
zeigen, er muss ebenso Verbindung zu Beschäftigungen vermeiden, die nicht
354
Literaturempfehlung: The Engineers and the Price System, Thorstein Veblen, 1921
Referenz: “The 40 Highest-Earning Hedge Fund Managers“, Nathan Vardi, Forbes
[http://www.forbes.com/sites/nathanvardi/2012/03/01/the-40-highest-earning-hedge-fund-managers-3/ ]
356
Das häufige Argument ist, dass der Finanzsektor wichtig für die industrielle Produktion ist, da er Kapital
bereitstellt durch welches die Produktion durch Investition beginnen kann. Das ist jedoch eine künstliche
Erfindung, da die Produktion in der physischen Realität (abseits des kapitalistischen Modells) nichts mit Geld oder
Investition zu tun hat. Die Produktion hat etwas mit Bildung, Ressourcen und Ingenieurskunst zu tun.
Investitionen und Finanzen sind nicht real, da sie nicht produzieren - es sind keine realen Bestandteile der
Produktion.
355
120
Wertesystem-Störung
ausbeuten. Die friedlichen Angestellten, die nicht offensichtlich Leben zerstören und
keine Zwänge auf aufsässige Widersacher ausüben, verfallen einem schlechten Ruf
und werden den Teilen der Gemeinschaft zugeordnet, die keine räuberischen Züge
aufweisen; das heißt: Denen, denen es an Größe, Geschicklichkeit oder Wildheit
fehlt [...] Demnach kann der fähige Barbar der räuberischen Kultur, welcher sich
seines guten Rufes bewusst ist [...], seine Zeit in der männlichen Kriegskunst
einsetzen und seine Talente für Wege und Mittel einsetzen, um den Frieden zu
stören. Denn nur dies ist ehrenhaft.“357
William Thompson beschreibt diese Realität des assoziativen Einflusses in seiner
Untersuchung über die Grundlagen der fürs menschliche Glück förderlichsten
Verteilung des Wohlstands: „Der nächste Punkt ist, dass der exzessive Reichtum die
Bewunderung und Nachahmung erregt. Auf diese Weise werden die Laster der
Reichen für den Rest der Gemeinschaft unklar gemacht; oder erzeugt in diesen
weitere Laster aufgrund der Beziehung zu den überaus Reichen. Zu diesem Thema
ist nichts offensichtlicher, als die allgemeingültige Wirkungsweise der üblichsten
Gesetze unserer Natur -- die der Assoziation. Der Reichtum, als ein Mittel zum Glück
[...] wird von allen bewundert und beneidet; das Verhalten und der Charakter derer,
die mit dem Reichtum dieser schönen Dinge verbunden sind, werden immer in
Verbindung betrachtet [...]“.358
Klassen und Kämpfe zwischen ihnen sind logische Konsequenzen daraus. Ebenso
Reichtum und Macht, die als fundamentale Werte angesehen werden und sich mit
der Zeit zu einer emotionalen Identität unserer selbst entwickeln. Diese
Statusinteressen beginnen unser Leben zu bestimmen und führen zu einem Zwang
zur Selbsterhaltung. Angehörige höherer Gesellschaftsschichten versuchen daher
mit Mitteln, die häufig sogar jenseits von Geld und materiellen Werten liegen, ihren
Status zu erhalten oder gar zu erhöhen. Dieser Drang zur Selbsterhaltung artet hier
in eine Form aus, die mit einer Drogensucht gleichzusetzen ist. Ein chronischer
Glücksspieler braucht den Endorphinrausch, den er beim Gewinnen hat, um sich gut
zu fühlen. Ein ähnliches Verhalten entwickeln Menschen der Oberschicht zu ihrem
wahrgenommen Status und Reichtum.
Der Begriff „Gier“ wird häufig zur Differenzierung von gemäßigtem Ausnutzen und
exzessivem Ausbeuten verwendet. Gier ist daher eine relative Bezeichnung, ähnlich
wie „reich“ ein relatives Wort darstellt. Die Bezeichnung „relativer Mangel“359 wird
verwendet, um die Unzufriedenheit einer Person zu beschreiben, die im Vergleich mit
anderen glaubt, dass ihr eigentlich mehr zusteht. Dieses psychologische Phänomen
endet durch den stetigen Anreiz an materiellem Erfolg im Kapitalismus in einem
Teufelskreis. Es stellt damit eine ernste Wertesystem-Störung dar, was sich
obendrein negativ auf unsere mentale Gesundheit auswirkt.
Unser Lebensstandard und unsere Lebensqualität spielen eine wichtige Rolle für
unsere physische und mentale Gesundheit. Alles, was über diesen Kontext sozialer
Vergleiche hinausgeht, schafft lediglich ernsthafte Neurosen und soziale
Verzerrungen. Nicht nur die Tatsache, dass es kein „Gewinnen“ im Streben nach
357
“The Instinct of Workmanship and the Irksomeness of Labor,“ in Essays in Our Changing Order, Thorstein
Veblen, pp. 93-94
358
An Inquiry into the Principles of the Distribution of Wealth Most Conducive to Human Happiness, William
Thompson, London, William S. Orr, 1850, p.147
359
Relative Deprivation: Specification, Development, and Integration, Iain Walker, Heather J. Smith, Cambridge
University Press, 2001, ISBN 0-521-80132-X, Google Print
121
Wertesystem-Störung
Status und Reichtum gibt - Karrieristen heben sich stark von ihren Mitmenschen ab,
was nur zur Entfremdung und Entmenschlichung führt. Der damit verbundene Verlust
von Empathie hat keinen positiven Effekt auf sozialer Ebene. Die räuberischen
Vergütungen, die uns von der Marktwirtschaft versprochen werden, garantieren
endlose Konflikte und Missbrauch.360
Dass die Neurose vom „mehr und mehr“ Habenwollen der fundamentale Antrieb
sozialer Entwicklungen und Innovationen sei, ist ein Mythos. Ein wenig Wahrheit mag
tatsächlich in dieser intuitiven Vermutung stecken. Die Intention für diesen Fortschritt
war allerdings nicht soziales Engagement, sondern finanzielle Anreize und das
Streben nach Überlegenheit. Vergleichbar ist das mit der Feststellung, dass eine vor
Wölfen fliehende Person ja etwas für ihre Gesundheit tut, da sie rennen muss.
Während positive Effekte durchaus auftreten können, so haben die eigentlichen
Beweggründe in erster Linie rein gar nichts mit besagten Effekten zu tun. Hinzu
kommt, dass schädliche Nebeneffekte und großflächige Lähmungen, die aus der
Idee des Wettbewerbs, dem Auftreten materieller Gier und dem eingebildeten
(sinnlosem) Status entstehen, die Quellen gesellschaftlichen Fortschritts gänzlich
zum Erliegen bringen.
Tatsächlich fand der Wissenschaftler Richard Wilkinson in einem umfassenden
Vergleich der Einkommensungleichheit verschiedener wohlhabender Nationen
heraus, dass Nationen mit geringeren Einkommensunterschieden wesentlich
innovativer sind.361 Zieht man nun noch die Tatsache in Betracht, wie sehr das
Wettbewerbsstreben die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft, so ist es
offensichtlich, dass die Werte von Gleichheit und Zusammenarbeit zu mehr
Kreativität führen, als von der marktwirtschaftlichen Rhetorik traditionell proklamiert
wird.
Als letzten Punkt zu diesem Abschnitt über die negativen Auswirkungen von
Materialismus und der Statuserhaltung wäre die Eitelkeit anzubringen. Mit kleinsten
Ausnahmen rührt unsere heutige auf Eitelkeit basierende Gesellschaft direkt aus den
psychologischen Werten des Kapitalismus und seiner Vorstellung von „Erfolg“. Im
Hinblick auf eine funktionierende Konsumgesellschaft mit der Notwendigkeit eines
„stetigem Kauf“-Wertesystems, ist es nur logisch, dass Marketingstrategien und
Werbung permanent Unzufriedenheit bei uns über uns selbst und unser Aussehen
auslösen.
Eine Studie, die vor einiger Zeit auf den Fiji Inseln durchgeführt wurde, bestätigt dies.
Das Fernsehen wurde zu dieser Zeit dort neu eingeführt; die Bevölkerung ist also
vorher nie in Kontakt mit diesem Medium gekommen. Am Ende der
Betrachtungsperiode zeigte sich deutlich der Einfluss von materiellen Werten und
Eitelkeit. Eine anschauliche Prozentzahl junger Frauen mit völlig gesundem
Aussehen und Gewicht wurde von dem Gedanken beherrscht, dünner zu werden.
Besonders unter Frauen breiteten sich Essstörungen, die es vorher in dieser Kultur
nicht gegeben hat, aus.362
360
Mehr in dem Kapitel: „Struktureller Klassismus und Krieg"
Referenz: The Importance of Economic Equality, Eben Harrell, Time, 2009 | Also See: The Spirit Level by
Richard Wilkinson and Kate Pickett, Penguin, March 2009
362
“Study Finds TV Alters Fiji Girls' View of Body“, Erica Goode, The New York Times, 1999
[http://www.nytimes.com/1999/05/20/world/study-finds-tv-alters-fiji-girls-view-of-body.html]
361
122
Wertesystem-Störung
Ideologische Polarisierung und Schuldzuweisung
Wenn die Frage aufgeworfen wird, was denn nun mit unserer Welt schief gelaufen ist
(in Anspielung auf Armut, ökologische Ungleichgewichte, Unmenschlichkeit,
wirtschaftliche Destabilisierung allgemein u.ä.) schließen sich zumeist polarisierende
Debatten an. Dualitäten, wie „die Rechten und die Linken“ oder „die Liberalen und
die Konservativen“, tauchen auf, die zeigen, dass die menschliche Auffassungsgabe
anscheinend nur starre Einteilungen aller bekannten Möglichkeiten zulässt.
Damit einhergehend finden wir die alte, aber immer noch aktuelle Dualität von
„Kollektivismus gegen freie Marktwirtschaft". Diese Dualität besagt, dass alle
wirtschaftlichen Optionen auf dem scheinbaren demokratischen Willen aller
Menschen in Form des „freien Handels“ basieren sollten - oder, dass eine kleine
Gruppe von Menschen an der Macht sein sollte, die jedem sagt, was er oder sie zu
tun hat. Aufgrund der dunklen Vergangenheit des Totalitarismus im 20. Jahrhundert
kam es zu einer angstbasierten Werteorientierung, die alles ablehnt, was auch nur
ansatzweise den Anschein des „Kollektivismus“ hat. Dies ist heute sehr geläufig und
geht oft mit dem Wort „Sozialismus“ einher, welches häufig in abwertender Weise
benutzt wird.363
Wie zuvor in diesem Kapitel erwähnt, stehen die Möglichkeiten der Menschen in
direkter Beziehung zu dem verfügbaren Wissen - also dem, was sie gelernt haben.
Wenn traditionelle Bildungs- und Gesellschaftsinstitutionen jegliche
sozioökonomische Möglichkeiten innerhalb dieses eingegrenzten Bezugsrahmens
vorgeben, so werden die Menschen diese Annahmen (Meme) wahrscheinlich
widerspiegeln und in Gedanken und Taten fortführen. Wenn du nicht „abc“ bist,
musst du „xyz“ sein - das ist das geläufige Mem. Selbst die politischen Parteien der
Vereinigten Staaten sind nach diesem Dualismus aufgebaut: Wenn du kein
„Republikaner“ bist, musst du ein „Demokrat“ sein usw.
In anderen Worten gibt es eine direkte Hemmung der Möglichkeiten und in diesem
Kontext manifestiert sich oft eine Wertestruktur, welche emotionale Bindung an
falsche Dualitäten aufbaut. Diese Werte sind heutzutage auf vielen Ebenen extrem
fortschrittshemmend. Nebenbei gesagt: Wenn die herrschende Klasse die unteren
Klassen in ihrer Fähigkeit der Einmischung behindern will, so würde sie
vorausschauend daran arbeiten, die wahrgenommenen Möglichkeiten der Menschen
einzuschränken.364
Beispielsweise ist das so genannte „Problem“ der Staatsintervention im freien Markt
ein dauerhaftes Thema der Befürworter des Kapitalismus. Dieses besagt, dass die
Quelle für die problemerzeugende Ineffizienz des Marktes verschiedene Richtlinien
und Handlungen der Regierung sind, die den freien Handel in irgendeiner Weise
stören.365 Dies ist ein Schuldzuweisungsspiel, welches hin und her zwischen denen
363
Beispiel: “Pat Robertson: Obama der 'Sozialist,' möchte die Vereinigten Staaten von Amerika zerstören“, Paige
Lavender, The Huffington Post, 2012, [http://www.huffingtonpost.com/2012/12/14/pat-robertsonobaman2301228.html]
364
Es gibt eine große Kontroverse hinsichtlich des fortlaufenden Niedergangs der westlichen Bildung, speziell in
Amerika.
365
Beispiel: Ronald Reagan: Protectionist, Sheldon L. Richman, 1988 [https://mises.org/freemarket_detail.aspx?
control=489]
123
Wertesystem-Störung
geht, die behaupten, der Markt ist das Problem und denjenigen, die behaupten, die
Einmischung des Staats im Markt ist das Problem.366
Worüber jedoch nie geredet wird, ist die dualität-zerschlagende Realität, dass der
Staat - in seiner historischen Form - eine Erweiterung des kapitalistischen Systems
selbst ist. Die Regierung hat nicht das System geschaffen - das System hat die
Regierung geschaffen. Alle sozioökonomischen Systeme gründen sich auf der
Grundlage der industriellen Prozesse und des grundlegenden Überlebens. Genauso,
wie die Klassenstrukturen im Feudalismus eine Beziehung zu lebensunterhaltendem
Land hatten, machen es heute die so genannten „Demokratien“. Demnach ist die
bloße Idee, dass die Regierung entkoppelt oder ohne Einfluss durch den
Kapitalismus existiert, eine absolut abstrakte Theorie ohne Basis in der Realität. Der
Kapitalismus hat im Endeffekt die Art des Regierungsapparats und dessen Funktion
geformt - nicht anders herum.
Wenn nun von jemandem behauptet wird, dass die staatlichen Regulationen des
Marktes die Ursache aller Probleme seien und dass der Markt besser daran täte,
vollständig „frei“ ohne Beschränkungen struktureller oder gesetzlicher Natur zu sein,
dann ist ihre assoziative Denkfähigkeit gestört. Das gesamte Gesetzsystem als
zentrales Werkzeug von Staaten wird immer unterlaufen und für Taktiken zum
Erhalten von Wettbewerbsvorteilen von Unternehmen missbraucht werden, da dies
eben die grundsätzliche Natur dieses Systems ist. Jeder, der etwas anderes
erwartet, setzt moralische Beschränkungen im Wettbewerb voraus. Dies ist allerdings
absolut unsachlich. Solche moralischen und ethischen Annahmen beruhen auf keiner
Grundlage, besonders wenn das sozioökonomische System auf Macht, Ausbeutung
und Wettbewerb (welche sogar als Tugenden eines „guten Geschäftsmannes“
angesehen werden) basiert.
Wenn eine gewinnstrebende Institution Macht innerhalb der Regierung erlangen
kann (was ja das Ziel des Lobbyismus ist) und den Regierungsapparat zugunsten
ihres Unternehmens oder Industrie manipulieren kann, dann ist das einfach ein gutes
Geschäft. Nur wenn der Wettbewerb in extreme Maße der Unfairness ausartet, wird
gehandelt, um die Illusion eines „Gleichgewichts“ zu erhalten. Das ist zum Beispiel
bei Anti-Kartell-Gesetzen der Fall.367 Diese Gesetze existieren in Wirklichkeit nicht,
um den „freien Handel“ oder Ähnliches zu schützen, sondern um extreme
Wettbewerbsabsichten innerhalb des Marktes abzuschwächen - wobei jede Partei,
egal durch welches Mittel, auf ihren Vorteil aus ist.368
366
Eine passende Aussage des berühmten Ökonomen Milton Friedman zu dem Thema: „Die Regierung hat drei
Hauptaufgaben. Sie sollte die militärische Verteidigung der Nation bereitstellen. Sie sollte die Verträge zwischen
Individuen durchsetzen. Sie sollte die Bürger vor Kriminalität gegen sie selbst oder gegen ihr Eigentum schützen.
Wenn die Regierung mit ihren guten Absichten versucht die Wirtschaft zu dirigieren, Moralität zu legitimieren oder
speziellen Interessen hilft, geht das nur auf Kosten von Ineffizienz, Motivationsverlust und der Verlust der Freiheit.
Die Regierung sollte ein Schiedsrichter sein, kein aktiver Spieler."
367
Selbst Adam Smith implizierte in seinen Schriften, dass der Geschäftsmann jedes zur Verfügung stehende
Mittel benutzt, um Wettbewerb zu vermeiden und Monopole sicherzustellen: „Die Menschen der gleichen Branche
treffen sich nur selten, selbst nicht für Belustigung und Ablenkung. Die Gespräche jedoch enden in einer
Verschwörung gegen die Öffentlichkeit oder in irgendeiner Absprache, um die Preise zu erhöhen." [An Inquiry into
the Nature and Causes of the Wealth of Nations, Adam Smith, New York, Modern Library, 1937 p. 128]
368
Der Ökonom Thomas Hodgskin schrieb im frühen 19. Jahrhundert: „Es ist in den Augen der Gesetzgeber nicht
genug, dass der Reichtum selbst tausende von Reizen hat. Sie haben ihm zusätzlich eine Vielzahl an Privilegien
gegeben." [Travels in the North of Germany, Describing the Present State of Social and Political Institutions, the
Agriculture, Manufactures, Commerce, Education, Arts and Manners in That Country, Particularly in the Kingdom
of Hanover, Thomas Hodgskin, T. Edinburgh, Archibald Constable, 1820, vol. 2, p. 228]
124
Wertesystem-Störung
Die Abgeordneten aller Regierungen in der Welt sind selbst nahezu ausnahmslos
aus der Unternehmerschicht. Demnach sind Geschäfts-Wertesysteme tief in den
Köpfen der Machthabenden verankert. Thorstein Veblen schrieb zu dieser Tatsache
im 20. Jahrhundert: „Die verantwortungsbewussten Offiziellen und deren
administrative Offiziere - insofern sie überhaupt noch mit Recht die „Regierenden“
oder die „Administratoren“ genannt werden können - stammen ausnahmslos und
typischerweise von diesen begünstigten Klassen; Adlige, vornehme Herren oder
Geschäftsleute, die alle für den selben Zweck zum selben Schluss kommen. Der
springende Punkt ist, dass der gewöhnliche Mensch nicht in diese Kreise kommt und
nicht bei den Beratungen teilnimmt, die vermeintlich das Schicksal der Nation
wegweisen.“369
Wer nun damit argumentiert, dass der freie Markt gar nicht „frei“ ist (da er ja so stark
von staatlicher Seite reguliert wird), hat überhaupt nicht verstanden, was „frei“ im
Zusammenhang mit unserem System bedeutet. Es ist eben nicht die „Freiheit“ aller,
sich auf „faire“ Art und Weise im offenen Marktgeschehen zu beteiligen (oder was
überzeugte Kapitalisten uns sonst noch weismachen wollen); nein, die wahre Freiheit
liegt nur darin alle erdenklichen Mittel zur Dominanz, Unterdrückung und
Ausschaltung anderer im Wettbewerb nutzen zu dürfen. Das bedeutet, dass eine
wirkliche „Chancengleichheit“ nicht möglich ist. Tatsächlich ist es so, dass sich ohne
den Eingriff der Politik in den Markt mit Maßnahmen, wie den Anti-Kartell-Gesetzen
oder den großen Rettungsschirmen für die Banken, das gesamte System der
Marktwirtschaft schon lange selbst vernichtet hätte. Ökonomen, wie John Maynard
Keynes, haben diese in das System integrierte Instabilität zwar grundsätzlich
verstanden und vorhergesehen, den wahren Umfang davon haben sie aber gewaltig
unterschätzt.370
Individualismus & Freiheit
Allzu oft sprechen Leute über „Freiheit“ als wäre es eher eine unbeschreibliche
Einstellung/Attitüde/Haltung, als eine greifbare Tatsache. Man hört diese Rhetorik
heute ständig in den politischen und wirtschaftlichen Instituten, in denen man
Assoziationen zwischen „Demokratie“ und dieser „Freiheit“ macht, beide auf der
Ebene des traditionellen Wählens und der Bewegung des Geldes an sich durch
unabhängigen freien Handel. Diese soziopolitischen Meme werden durch angeführte
Beispiele von Unterdrückung sowie den Verlust der Ungebundenheit und Freiheit in
ehemaligen Gesellschaftssystemen polarisierend verstärkt, um die derzeitige
Situation zu verteidigen.
Ferner wurden diese Werte von den kreativen Arbeiten der Philosophen, Künstler
und Schriftsteller verstärkt, die einflussreich beim Vorantreiben von verschiedenen
ideologischen Begriffen dieser „Freiheit“ waren. Oftmals geschah dies auf Kosten
gesellschaftlicher Verwundbarkeit, welche zur Erhöhung dieser dogmatischen
369
An Inquiry into the Nature of Peace and the terms of its Perpetuation, Thorstein Veblen, Harvard Law, pp.326327
370
Die keynesianische Schule sieht, anders als die mehr libertären, freie Marktwirtschaft-Schulen des
wirtschaftlichen Denkens (wie die österreichische Schule), den regelmäßigen Eingriff durch die Regierung als
notwendig an, um bestimmte Probleme zu vermeiden. In den Worten des online Business Wörterbuchs: „Diese
Theorie führt weiter aus, dass die freie Marktwirtschaft keine selbstregulierenden Mechanismen besitzt, die zu
Vollbeschäftigung führen. Keynsianische Ökonomen drängen zu und rechtfertigen eine Intervention der
Regierung in der Wirtschaft durch die Politik, deren Ziel es ist Vollbeschäftigung und Preisstabilität zu erreichen."
[http://www.businessdictionary.com/definition/Keynesian-economics.html]
125
Wertesystem-Störung
Polarisierung führte.371 Kurzgefasst, viel Angst und emotionale Macht beinhaltet die
Vorstellung einer sozialen Veränderung und wie sie sich vielleicht auf unser Leben im
Hinblick auf Freiheit und Individualität auswirkt.
Wenn wir jedoch einen Schritt zurücktreten und darüber nachdenken, was Freiheit
abseits dieser kulturellen Memen heißt, so stellen wir fest, dass Freiheit relativ ist,
wenn wir die menschliche Geschichte mit den verschiedenen Lebensstandards und
auch die Möglichkeiten der Persönlichkeitsentfaltung betrachten. Um nun zu
entscheiden, was Freiheit ist und wie wir sie bewerten können, müssen wir sie
einerseits aus einer historischen Perspektive (a) und andererseits aus der
Perspektive der Möglichkeiten in der Zukunft (b) betrachten.
(a) Historisch gesehen ist die grundlegende Sorge eine Angst vor Macht und der
Ausnutzung von Macht. Die menschliche Geschichte besteht sicherlich zu einem
beachtlichen Teil aus Machtkämpfen. Diese wurden durch tief religiöse und
philosophische Glaubenssysteme und Werte angetrieben, die sich als Sklaverei, die
Unterdrückung der Frauen, immer wieder auftretende Völkermorde, Strafverfolgung
wegen Ketzerei (freie Meinungsäußerung, oder was als „freies Denken“ bekannt war
und ist), das göttliche Recht der Könige und Ähnliches manifestierten. In diesem
Kontext könnte man argumentieren, dass die menschliche Geschichte voll von
gefährlichem, unbegründeten Aberglauben war. Dieser Aberglaube galt aufgrund der
damaligen primitiven Werte/Erkenntnisse als unantastbar - auf Kosten des
menschlichen Wohlergehens und des gesellschaftlichen Gleichgewichts. Die Angst
und Knappheit der früheren Zeit scheint das schrecklichste Verhalten aus der
„menschlichen Natur“ hervorgebracht zu haben. Oft suchten Menschen nach Macht
als ein Mittel, um der Ausnutzung von Macht zu entgehen - ein Teufelskreis.
Jedoch ist es von höchster Wichtigkeit zu erkennen, dass wir uns in einem
Übergangsprozess befinden und altertümliche Werte und Annahmen ablegen. Dabei
erkennt die weltweite Kultur und deren Institutionen langsam die wissenschaftliche
Kausalität sowie dessen Nutzen bei der Frage nach dem Realen. Demnach sieht
man deutlich einige positive Entwicklungen.
Wir bewegten uns in den meisten Ländern der Welt von der „göttlichen“ ultimativen
Macht der genetisch vorbestimmten Könige und Pharaos zu einem System der sehr
begrenzten aber generellen öffentlichen Teilhabe durch einen so genannten
„demokratischen Prozess“. Ausbeutung von Menschen, Unterdrückung und Sklaverei
haben ihre gewöhnlich religiösen, rassenbedingten oder geschlechtsbedingten
Begründungen verloren und sich zumindest dahingehend verbessert, dass Sklaverei
in der Welt heute in der weniger drastischen Form der „Lohnsklaverei“ - durch den
Platz in der wirtschaftlichen Hierarchie bestimmt - auftritt. Die Marktwirtschaft hat
auch - über all ihre historischen Formen - die rassenähnlichen „Kasten“ überwunden,
da man heute einen gewissen Grad an (beschränkter) sozialen Mobilität hat und weil
Einkommen generell mehr „Freiheit“ bedeutet.372
371
Ayn Rands berühmter Roman „Die Hymne des Menschen" ist ein erwähnenswertes und einflussreiches
Beispiel dieser künstlerischen Entstehung dieser Werte. Sie spielt in einer dystopischen Zukunft, in der die
Menschheit in ein weiteres Mittelalter mit Irrationalität, Kollektivismus, und sozialistischem Denken und
Wirtschaften eingetreten ist. Das Konzept der Individualität wurde eliminiert. Beispielsweise wird der Gebrauch
des Wortes „Ich" mit dem Tod bestraft.
372
Soziale Mobilität wird strukturell durch das kapitalistische System gehemmt. Dabei erhält ein kleiner
Prozentsatz statistisch gesehen zusätzlich eine Aufwärtsmobilität. Die soziale Mobilität in den USA (Heimat des
„amerikanischen Traums) fiel auch stetig. Siehe: “Exceptional Upward Mobility in the US Is a Myth, International
126
Wertesystem-Störung
Solche fortschrittlichen Tatsachen müssen erwähnt werden, da der Kapitalismus trotz all seiner Schwächen - auch bestimmte gesellschaftliche Bedingungen
verbessert hat. Die immer noch elitäre und voreingenommene grundlegende
Prämisse, eine Gruppe strukturell und soziologisch über andere Menschen zu
stellen, hat sich jedoch nicht verändert. Diese Bevorzugung einer „Gruppe“ basiert
zwar nicht mehr auf Geschlecht, Rasse oder Religion, aber dafür auf zwanghafte
Zweckmäßigkeit und Wettbewerbsmentalität, um sich auf Kosten anderer an die
oberste Stelle der Klassenhierarchie zu stellen.
Man könnte sehr gut argumentieren, dass der Kapitalismus das Sklaverei-System
der Postmoderne ist. Mit einer neuen Werteausrichtung der „Wettbewerbsfreiheit“,
wodurch es erhalten wird. Diese neu erfundene Vorstellung der „Freiheit“ sagt im
Grunde genommen, dass wir alle „frei“ sind zu konkurrieren und uns nehmen dürfen,
was wir können. Jedoch gibt es - wie zuvor erwähnt - so einen Zustand der
„absoluten Freiheit“ ohne Ausbeutung, Unterdrückung und strukturelle Vorteile zu
erschaffen, nicht. Das ist klarerweise unmöglich. Wenn also Befürworter des
Kapitalismus die erbrachten gesellschaftlichen Verbesserungen als Beweis für die
gesellschaftliche Wirksamkeit heranziehen, so müssen wir auch erkennen, dass der
Ursprung nicht in dem Interesse der menschlichen Freiheit lag, sondern ein Echo
sozialer Engstirnigkeit ist, die die Kultur für Jahrtausende verschmutzte und sich aus
einer allgemeinen Psychologie des Elitismus und der Knappheit begründet.
Heute steht echte Freiheit in direkter Korrelation zu der persönlich verfügbaren
Menge an Geld. Die unter der Armutsgrenze Lebenden haben gegenüber den
Wohlhabenden enorme Beschränkungen der persönlichen Freiheit. So reden
Befürworter der freien Marktwirtschaft oft von den „Zwängen" im Zusammenhang mit
der Staatsgewalt; Die Realität der wirtschaftlichen Zwänge wird jedoch ignoriert.
Traditionelle Wirtschaftstheoretiker benutzen dauerhaft Rhetorik, die vermuten lässt,
alles basiere auf der freien Wahl innerhalb der freien Marktwirtschaft: ob eine Person
einen Arbeitsplatz annehme oder nicht sei ihre Wahl.
Jedoch haben diejenigen, die in Armut leben (was übrigens die meisten sind)373 eine
starke Beschränkung ihrer Wahlfreiheit. Die Drücke ihres beschränkten
wirtschaftlichen Spielraums erzeugt einen Zustand außerordentlicher Nötigung durch
den sie Arbeitsplätze annehmen müssen, die noch nicht einmal das Überleben
sichern, sondern zudem oft Opfer einer enormen Ausbeutung durch geringe Löhne
sind. Tatsächlich ist allgemeine Armut in diesem Zusammenhang eine positive
Bedingung für die kapitalistische Klasse, da es Kosteneffizienz in der Form von
billiger Arbeit gewährleistet.
Also auch wenn wir mit der Zeit einige gesellschaftliche Verbesserungen erreicht
haben, so sind diese Verbesserungen nur eine Variation der geläufigen Themen von
generellem Elitismus, Ausbeutung und Fanatismus. Die lange Vergangenheit von
angenommener Ressourcenknappheit und Beschränkungen in Produktionsmethoden
Studies Show“, Science Daily [http://www.sciencedaily.com/releases/2012/09/120905141920.htm] Also See:
“Harder for Americans to Rise From Lower Rungs“, New York Times, 2012
[http://www.nytimes.com/2012/01/05/us/harder-for-americans-to-rise-from- lower-rungs.html?pagewanted=all]
373
Auch wenn der Armutsstandard je nach Region relativ ist, leben über 50% der Welt laut einer 2005
durchgeführten Weltbank Studie von weniger als 2.50$ pro Tag (oder 912$ pro Jahr)
[http://www.globalissues.org/article/26/poverty-facts-and-stats]
127
Wertesystem-Störung
hat diese Idee im malthusianischen Sinne verstärkt.374 Dabei wird die Idee der
nahezu wirtschaftlichen Gleichheit aller einfach als unmöglich angesehen.
(b) Jedoch hat die moderne Wissenschaft und die exponentielle Entwicklung von
technologischen Anwendungen, zusätzlich zum tieferen Einblick in unser
Menschsein,375 die Tür für zukünftige Möglichkeiten des gesellschaftlichen
Fortschritts geöffnet und demnach auch die Erweiterungsmöglichkeiten unserer
Freiheit, wie wir sie noch nie gesehen haben.
Dieses Bewusstsein erschafft ein Problem, da die Möglichkeit des Erreichens dieser
Freiheit stark durch die Werte und etablierten Institutionen der traditionellen
kapitalistischen Ordnung gehemmt wird. In anderen Worten: Das Marktsystem kann
diese Verbesserungen einfach nicht fördern, da diese Verbesserungen in letzter
Konsequenz gegen die Mechanismen des Systems selbst gehen würden.
Beispielsweise würde die korrekt angewandte Effizienz auf technischer,
wissenschaftlicher Ebene heute einen hohen Lebensstandard für jeden Menschen
auf der Erde bieten,376 einhergehend mit der Eliminierung von gefährlicher und
monotoner Arbeit durch die Anwendung von kybernetischer Mechanisierung.377
Heute verbringt der Großteil der Menschen die meiste Zeit entweder am Arbeitsplatz
oder schlafend. Viele dieser Arbeitsplätze bereiten keine Freude378 und sind von
zweifelhaftem Wert für die wahren persönlichen oder gesellschaftlichen Beiträge und
Entwicklungen.
Wenn wir also über grundlegende Freiheit nachdenken, so heißt das, in der Lage zu
sein, sein Leben in der Weise zu führen, wie man es möchte - innerhalb der
Vernunft.379 Der erste Schritt ist ein Leben ohne Sorgen über das grundsätzliche
Überleben und die Gesundheit von einem selbst und der Familie. Jedoch ist das
„Arbeit für Einkommen“-System eine der heute existenten „unfreiesten" Institutionen,
nicht nur bezüglich der innewohnenden wirtschaftlichen Nötigung, sondern ebenso
bezüglich der Unternehmensstruktur selbst, die strikt von oben nach unten eine auf
Hierarchie basierende Diktatur ist.
Traurigerweise, trotz dieser realen und existenten Möglichkeiten, bekämpfte und
bekämpft die Wertesystem-Störung aus dem kapitalistischen Modell und dessen
paranoider Angst vor allem außerhalb dieses Modells weiterhin diese Möglichkeiten
der erhöhten Zustände von Freiheit. Tatsächlich wird die Idee von grundlegender
gesellschaftlicher Unterstützung in Form von „Sozialhilfe“ oder ähnlichem bekämpft;
sogar zum Teil mit dem Argument, sie behindere den offenen Markt - denselben
Markt, der in der Realität diese Armutszustände erzeugt hat.
374
Siehe den Abschnitt zu Malthus und Ricardo in dem Kapitel „Wirtschaftsgeschichte".
Klarstellung: Gesellschaftlich zusammenhängende oder psychosoziale Auswirkungen der Beziehung zwischen
Mensch und Gesellschaft haben einige starke Tatsachen über die Ursprünge von fehlgeleitetem oder
zerstörerischem Verhalten aufgezeigt. Siehe das Kapitel „Definieren der Volksgesundheit" für weitere
Erklärungen.
376
Eine detallierte Hochrechnung davon wird in Teil III dieses Textes präsentiert.
377
Eine detallierte Hochrechnung davon wird in Teil III dieses Textes präsentiert.
378
Referenz: New Survey: Majority of Employees Dissatisfied, Forbes, Susan Adams 2012
[http://www.forbes.com/sites/susanadams/2012/05/18/new-survey-majority-of-employees-dissatisfied/]
379
Natürlich kann es weder „reine" Freiheit in der natürlichen Welt geben, da diese durch Naturgesetze
beherrscht wird, noch kann unbegrenzte Freiheit in den gesellschaftlichen Bedingungen existieren, die sich mit
Lebensstandards für soziale Stabilität beschäftigt. Beispielsweise kann niemand die „Freiheit" haben jemand
anderen umzubringen. Solche Gesellschaftsverträge und Werte existieren, damit andere nicht misshandelt
werden, weil das schnell zu Ungleichgewicht und Destabilisierung führt.
375
128
Wertesystem-Störung
Als letzte Bemerkung zu dem Thema der „Freiheit“: Die kapitalistische Theorie,
sowohl in ihrer historischen als auch modernen Form, besteht ohne Beziehung zu
den erdlichen Ressourcen und den herrschenden ökologischen Gesetzen. Neben
der primitivsten Wahrnehmung von Knappheit, welches ein Indiz der häufigen
„Angebot und Nachfrage“-Werttheorie ist, ist die wissenschaftliche Natur der Welt
abseits dieses Modells - sie ist außerhalb. Diese Nichtberücksichtigung kombiniert
mit der Ausnutzung und Kostenreduzierungs-Realität innerhalb des Anreizsystems
des Marktes, ist das, was die gewaltigen Umweltprobleme erzeugt; Von
Bodenverarmung, über Umweltverschmutzung, über Waldzerstörung, bis hin zu
nahezu allem über was wir auf ökologischer Ebene denken können. Wenn wir die
frühen Entwicklungen dieser Philosophie analysieren, können wir darüber
spekulieren wie es logischerweise dazu kam. Aufgrund der größtenteils auf
Landwirtschaft basierten Produktion und dem Minimalismus der frühen „Handwerks“Güterproduktion war unsere Möglichkeit zu dieser Zeit die Umwelt negativ zu
beeinflussen beschränkt. Wir waren damals nicht so eine große Bedrohung, da sich
die gewaltige Industrie, wie wir sie heute kennen, noch nicht entwickelt hatte.
Diese Entwicklung zeigt, dass unter der Oberfläche des Kapitalismus eine alte
Perspektive sitzt, die immer eher unzeitgemäßer wird mit immer mehr auftretenen
Konsequenzen, während unsere technologischen Kapazitäten unsere Fähigkeit die
Welt zu verändern erhöht. Eine Parallele dazu ist die Institution des Krieges.
Wettbewerbsbetonte Werte und Kriegsführung waren eine tolerierbare Realität, als
der Schaden durch einfache Musketen Jahrhunderte zuvor beschränkt war. Heute
haben wir Nuklearwaffen, die alles zerstören können.380 Wenn wir nun eine
evolutionäre Perspektive einnehmen, sehen wir, dass der Kapitalismus eine Praktik
und Werteorientierung war, die uns in bestimmten Weisen geholfen hat, aber die
Trends zeigen nun eine innewohnende Unreife des Systems, die zu immer mehr
Problemen führen wird, wenn es weiter besteht.
Die „Vermarktung" des Lebens
Als letzter Punkt zu diesem Kapitel sei gesagt, dass der Trend einer immer stärker
werdenden „Vermarktung" des Lebens eine tiefe Verzerrung unserer Werte
hervorgerufen hat. Da „Freiheit" kulturell mit „Demokratie" assoziiert wird und
Demokratie im wirtschaftlichen Sinne mit der Fähigkeit zu kaufen und verkaufen
assoziiert wird, so kam es zu einer Kommerzialisierung und Kommodifizierung (d.h.
für Ware halten und somit Käuflichkeit) von nahezu allem.
Traditionelle Werte und Rhetorik früherer Generationen haben die Nutzung von Geld
oft als eine „kalte" Notwendigkeit gesehen. Dabei wurden einige Elemente unseres
Lebens als „heilig" angesehen und demnach nicht zum Verkauf gebracht. Bei
Prostitution finden beispielsweise unsere kulturellen Werte oft ein Gefühl der
Entfremdung. In den meisten Ländern ist diese Handlung illegal, auch wenn es wenig
gesetzliche Rechtfertigung gibt, da Geschlechtsverkehr selbst legal ist. Nur wenn das
Element des Kaufs ins Spiel kommt wird sie als verwerflich angesehen.
Jedoch werden solche Heiligkeiten, die durch die Kultur fortgeführt wurden, immer
mehr durch die Markt-Denkweise überdeckt. Heute kann - ob legal oder illegal 380
Albert Einstein wird oft zitiert als er sagte: „Ich weiß nicht mit welchen Waffen der 3. Weltkrieg geführt werden
wird, aber ich weiß, dass der 4. Weltkrieg mit Stöcken und Steinen geführt werden wird." [The New Quotable
Einstein, Alice Calaprice, Princeton University Press. 2005 p.173]
129
Wertesystem-Störung
nahezu alles gekauft oder verkauft werden.381 Man kann das Recht kaufen CO2Emissions Regulierungen zu umgehen,382 man kann seine Gefängniszelle gegen
einen Beitrag verbessern,383 das Recht gefährdete Tierarten zu jagen kaufen384 und
sich sogar in Prestigeuniverstitäten einkaufen, obwohl man den
Aufnahmeanforderungen nicht entspricht.385
Es wird zu einem seltsamen Zustand, wenn die normalsten und natürlichsten
Handlungen des menschlichen Lebens durch Geld als Anreiz bestimmt werden, wie
das Anspornen der Kinder zum Lesen,386 oder Gewichtsverlust zu fördern.387 Was
bedeutet es psychologisch für ein Kind, wenn der Anreiz Geld für grundlegende
Handlungen ist? Wie wird es deren zukünftigen Sinn für Belohnungen beeinflussen?
Das sind wichtige Fragen in einer zum Verkauf stehenden Welt, wobei das WerteLeitbild daraus besteht nur etwas zu machen, wenn es auch Geld bringt.
Solche Markt-Werte zeigen eine deutliche gesellschaftliche Verwerfung, da die
Essenz der menschlichen Entscheidungen und ihre Existenz transformiert wird. Auch
wenn wir uns nicht besonders um triviale Probleme scheren, wie die Tatsache, dass
man Zugang zu der Fahrgemeinschaftsspur kaufen kann, wenn man alleine fährt388,
so ist jedoch die größere Manifestierung einer Kultur, die darauf aufbaut alles zum
Verkauf anzubieten eine Entmenschlichung der Gesellschaft, da jeder und alles auf
eine Ware reduziert wird, die es auszunutzen gilt.
So schockierend es klingen mag: Heute gibt es mehr Sklaven als je zuvor in der
menschlichen Geschichte. Illegaler Menschenhandel war und ist eine gewaltige
Industrie für den Profit, wobei Männer, Frauen und Kinder in verschiedenen Rollen
verkauft werden.
Das US Außenministerium veröffentlichte: „Es wird geschätzt, dass 27 Millionen
Männer, Frauen und Kinder rund um den Globus Opfer des so genannten
Oberbegriffs „Menschenhandel“ sind. Die Arbeit, die darin steckt diese Kriminalität zu
bekämpfen, ist die Arbeit das Versprechen der Freiheit einzuhalten - Freiheit von
Sklaverei für die Ausgebeuteten und die Freiheit für die Überlebenden um ihre Leben
fortzuführen. “389
Am Ende des Tages würden die meisten Menschen, die an das freie MarktKapitalismus System glauben, in ethischer Hinsicht erzürnt über diese gewaltigen
menschlichen Misshandlungen in der Welt sein, wobei sie oft Trennungen zwischen
„moralischen“ und "unmoralischen“ Handlungen des Handels machen. Dennoch
bleibt die Tatsache, dass es lediglich verschiedene Grade der Stärke in der
Anwendung sind. Von einem komplett philosophischen Standpunkt aus gibt es
381
Suggested Reading: What Money Can't Buy: The Moral Limits of Markets, Michael J. Sandel, Farrar, Straus
and Giroux, 2012
382
Bezüglich der EU kann dies online hier eingesehen werden: www.pointcarbon.com
383
“For $82 a Day, Booking a Cell in a 5-Star Jail“, New York Times, April 29, 2007
384
“Saving the Rhino Through Sacrifice“, Brendan Borrell, Bloomberg Businessweek, December 9, 2010
385
“At Many Colleges, the Rich Kids Get Affirmative Action: Seeking Donors“, Daniel Golden, Wall Street.
Journal, February 20, 2003
386
“Is Cash the Answer“, Amanda Ripley, Time, April 19, 2010, pp.44-45
387
“Paying people to lose weight and stop smoking“, Kevin G. Volpp, Issue Brief, L.D. Institute of Health
Economics, University of Pennsylvania, vol. 14, 2009
388
“Paying for VIP Treatment in a Traffic Jam“, Wall Street Journal, June 21 2007
389
Trafficking in Persons Report 2012, US Department of State
[http://www.state.gov/j/tip/rls/tiprpt/2012/192351.htm]
130
Wertesystem-Störung
keinen technischen Unterschied zwischen verschiedenen Formen der
Marktausbeutung. Die inhärente Psychologie - die Wertesystem-Störung - hat und
wird weiterhin räuberische Gleichgültigkeit innerhalb der Kultur fortführen und nur
wenn die strukturellen Mechanismen von unserem Ansatz für gesellschaftliche
Organisation entfernt werden, so werden die vorher benannten Probleme gelöst
werden können.
131
Struktureller Klassismus, der Staat und Krieg
Struktureller Klassismus, der Staat und Krieg
„Der Mensch ist der einzige Patriot. Er stellt sich selbst, sein Land und seine Flagge über alles andere,
und spottet über andere Nationen und hält eine Vielzahl an kostenintensiven, uniformierten
Kopfgeldjägern bereit, um Teile anderer Völker zu ergreifen, und sie davon abzuhalten, seine Teile zu
ergreifen. Und in den Intervallen zwischen diesen Kampagnen wäscht er das Blut seiner Hände rein
und arbeitet für 'die allgemeine Brüderlichkeit der Menschheit' - mit Worten.“390 - Mark Twain
Überblick
Seit Beginn der aufgezeichneten Geschichte waren menschliche Konflikte eine
beständige Charakteristik der Gesellschaft. Auch wenn Rechtfertigungen dafür auf
Annahmen über unveränderbare menschliche Neigungen zu Aggressionen und
Territorialverhalten bis hin zu den religiösen Ansichten von polarisierten
metaphysischen Kräften wie „Gut und Böse“ beruhen, so hat die Geschichte gezeigt,
dass Konfliktsituationen generell eine rationale Korrelation zu den
Umgebungszuständen und/oder kulturellen Bedingungen haben. Von der direkten,
angstvollen Stressreaktion der „Kampf oder Flucht“-Neigung391 bis zu ruhiger,
berechneter Planung strategischer nationaler Kriegsführung gibt es immer einen
Grund für solche Konflikte. Das generelle Interesse der Öffentlichkeit, Konflikte zu
reduzieren, erfordert natürlich, dass wir die gesamte Kausalität erfassen, so tief wie
wir nur können, um vernünftige Lösungen zu finden.
Dieses Kapitel wird zwei Kategorien der „Kriegsführung“ untersuchen: Die
„Imperialistische Kriegsführung“ und den „Klassenkrieg“. Auch wenn sie scheinbar
verschieden sind, wird hier argumentiert, dass die Wurzel der psychologischen
Mechanismen dieser zwei Kategorien, im Grunde genommen, dieselben sind.
Weiterhin sind einige Mechanismen dieses „Kampfes“ in der Realität trügerischer und
verdeckter, als viele meinen würden. Die zentrale These ist, dass die Quelle von all
diesen scheinbar unveränderbaren Realitäten in der sozioökonomischen Prämisse
selbst verankert ist - in diesem Kontext als eine bestimmte sich verstärkende
Psychologie und demnach als ein soziologisches Schema - nicht in den
Veranlagungen unserer Gene oder das Fehlen von einigen moralischen Fähigkeiten.
Anders ausgedrückt, werden diese heutigen Tatsachen nicht von ideologisch isolierte
Gruppen wie Beispielsweise Schattenregierungen eines Landes oder einige
besonders „gierige“ Geschäftsmentalität angetrieben - sondern eher durch die
zugrunde liegenden Werte von nahezu jedem in der aktuellen sozioökonomischen
Situation, die wir kulturell als „normal“ erachten. Unterschiedlich ist nur der Grad in
welchem diese Werte beansprucht werden und zu welchem Zweck.
Imperialer Krieg: Der Aufstieg des Staates
Die neolithische Revolution ungefähr vor 12.000 Jahren392 war ein wichtiger
Scheidepunkt für die menschliche Gesellschaft. Lebten wir seinerzeit ausschließlich
„von den Früchten der Natur“ - also den beschränkten natürlichen Regenerationen
des Lebensraums - so haben wir uns hin zu beschleunigenden Trends der
390
What is Man? And other Irreverent Essays, “Man's place in the animal world“, Mark Twain, 1896, p.157
Die „Kampf oder Flucht“-Reaktion (oder Stressreaktion) wurde als erstes von dem physiologen Walter
Bradford Cannon beschrieben. Seine Theorie besagt, dass Tiere gegenüber Bedrohungen mit einem Ausstoß
des Sympathikus reagieren, wodurch das Tier auf Kampf oder Flucht vorbereitet wird.
392
Auch Agrarrevolution genannt. Diese war die erste historisch belegbare Revolution in der Landwirtschaft. Sie
war ein großer Umbruch vieler menschlicher Kulturen von einer Lebensart des Sammelns und Jagens hin zu
Landwirtschaft und Sesshaftigkeit, die eine immer größer werdende Bevölkerung ernähren konnte und die
Grundlage für die modernen Gesellschaften heute legte.
391
132
Struktureller Klassismus, der Staat und Krieg
Umweltkontrolle und Ressourcenmanipulation bewegt. Diese Entwicklung der
Landwirtschaft und die Erschaffung von arbeit-vereinfachenden Werkzeugen war der
Anfang von dem, was wir heute beobachten können, wenn das Spektrum der
menschlichen Möglichkeiten die Wissenschaft für die Veränderung der Welt, zu
unserem Vorteil zu nutzen, nahezu unbegrenzt erscheint.393
Jedoch hat diese anfangs langsame technologische Anpassung bestimmte Muster
und Veränderungen in Bewegung gesetzt, die viele der Probleme erzeugt haben, die
wir heute für gewöhnlich halten. Ein Beispiel wäre, wie Ungleichgewichte durch
relative Armut und wirtschaftliche Stratifizierung als Konsequenz dieser neuen
Möglichkeiten zustande kamen. In den Worten des Neurowissenschaftlers und
Anthropologen Dr. Rober Sapolsky: „Jäger und Sammler-Gesellschaften [hatten]
tausende von natürlichen Quellen für Nahrung. Die Landwirtschaft veränderte all
dies. Durch die Erzeugung von starker Abhängigkeit auf ein paar dutzend
Nahrungsquellen [...] erlaubte die Landwirtschaft die Lagerbildung von
überschüssigen Ressourcen und demnach unweigerlich die ungleiche Lagerung
dieser, also die Stratifizierung der Gesellschaft und die Erfindung der Klassen. Dies
erlaubte das Entstehen der Armut.“394
Gleichermaßen wurde der eher nomadische Lebensstil der Jäger und Sammler
langsam durch sesshafte, protektionistische Stämme ersetzt und dann letztendlich
durch regionale stadtähnliche Gesellschaften. In den Worten von Richard A. Gabriel
in seinem Werk „Eine kurze Geschichte des Krieges“: „Die Erfindung und Verbreitung
der Landwirtschaft in Verbindung zu der Domestizierung von Tieren im 5.
Jahrtausend v. Chr wird als Entwicklung anerkannt, die den Weg für das Aufkommen
der ersten großflächigen, komplexen städtischen Gesellschaften bahnte. Diese
Gesellschaften, die nahezu zeitgleich, ungefähr 4000 v. Chr, sowohl in Ägypten als
auch in Mesopotamien entstanden, benutzten Steinwerkzeuge. Jedoch bereiteten
innerhalb von 500 Jahren die Steinwerkezeuge und Waffen den Weg für Bronze. Mit
der Bronzeherstellung kam es zu einer Revolution in der Kriegsführung.“395
Zu dieser Zeit kam auch das Konzept des „Staats“ auf, wie wir es kennen, und die
dauerhafte „Streitmacht“ entstand. Gabriel führt weiter aus: „Diese frühen
Gesellschaften erschafften die ersten Beispiele der staatsregierten Institutionen;
Zuerst als zentralisierte Stammesfürstentümer und später als Monarchien. [...] Zur
selben Zeit verlangte die Zentralisierung die Erschaffung einer administrativen
Struktur, die in der Lage war, die gesellschaftlichen Aktivitäten und Ressourcen im
Sinne des Gemeinwohls zu dirigieren. [...] Die Entwicklung von zentralen
Staatsinstitutionen und einem unterstützendem Regierungsapparat verleihte den
Militärstrukturen unweigerlich Form und Stabilität. Das Ergebnis war die Expansion
und Stabilisierung der früher ungebundenen und unsicheren Kriegerkaste. [...] 2700
v. Chr. gab es in Sumer eine vollständig erschaffene Militärstruktur und ein
stehendes Heer, so wie es heute auf ähnliche Weise organisiert wird. Das stehende
Heer entstand als ein dauerhafter Teil der Gesellschaftsstruktur und wurde seitdem
393
Literaturempfehlung: Exponentially Accelerating Information Technologies Could Put an End to Corporations
[http://scienceprogress.org/2011/06/exponentially-growing-information-technology-will-put-an-end-to-corporations/
]
394
Why Zebras Don't Get Ulcers, Robert Sapolsky, W. H. Freeman, 1998, p.383
395
A Short History of War: The Evolution of Warfare and Weapons, Richard A Gabriel, Strategic Studies Institute,
U.S. Army War College, Chapter 1, 1992
133
Struktureller Klassismus, der Staat und Krieg
durch viele Behauptungen gesellschaftliche legitimiert. Seitdem war es immer mit
uns.“396
Imperialer Krieg: Illusionen
Der „Imperialismus“ wird, wie folgt, definiert: „Als Imperialismus bezeichnet man das
Bestreben eines Staatswesens oder dessen Anführers, seinen Einfluss auf andere
Länder oder Völker auszudehnen, bis hin zu deren Unterwerfung und Eingliederung
in das eigene Umfeld. Dazu gehört, eine ungleiche wirtschaftliche, kulturelle oder
territoriale Beziehung aufzubauen und aufrechtzuerhalten.“397
Auch wenn die traditionelle Kultur generell den imperialen Krieg als eine Variation
des Krieges ansieht (unter der Annahme, dass es andere Formen des bewaffneten
nationalen Konflikts gibt), so wird hier argumentiert, dass die ursprüngliche Basis
aller nationalen Kriege tatsächlich in ihrer Art imperialistisch ist. Die buchstäblich
Tausende von Kriegen in der aufgezeichneten Menschheitsgeschichte haben
größtenteils mit der Aneignung von Ressourcen oder Territorien zu tun. Dabei
arbeitete eine Gruppe daran, ihre Macht und materiellen Wohlstand auszuweiten und
die andere arbeitete daran, sich vor denen, die ihre Macht und Reichtum erobern
wollten, zu schützen.
Selbst die vielen historischen Konflikte, die oft, oberflächlich betrachtet, nur
ideologisch motiviert erscheinen, sind in Wirklichkeit versteckte imperiale
wirtschaftliche Handlungen. Beispielsweise werden die christlichen Kreuzzüge des
elften Jahrhunderts oft als ausschließlich religiöse Konflikte oder als ideologischer
Eifer betrachtet. Eine tiefere Recherche offenbart jedoch einen starken Unterton der
Ausweitung des Handels und der Ressourcenaneignung - unter dem Deckmantel
des „religiösen“ Krieges.398 Das soll nicht heißen, dass Religionen, historisch
gesehen, nicht der Ursprung von enormen Konflikten waren, sondern, dass es oft
eine starke Vereinfachung in Geschichtstexten gibt, bei denen die wirtschaftliche
Relevanz oft missachtet oder ignoriert wird. Unabhängig davon hält die Idee des
„moralischen“ Kreuzzugs als eine Art Rechtfertigung für nationalen, wirtschaftlichen
Imperialismus bis heute an.399
Tatsächlich kann man tiefe „Zwang-Tendenzen“ durch die gesamte Geschichte
beobachten, wenn es um den Gewinn der Unterstützung durch die Öffentlichkeit für
Krieg geht. Beispielsweise reicht ein kurzer Blick in die Geschichte, um zu sehen,
dass alle „offensiven“ Kriegshandlungen - also Krieg durch eine bestimmte Macht
aus egal welchen Grund (keine Antwort auf eine direkte Invasion) - aus den
Repräsentanten und Verantwortlichen des Regierungskörpers hervorgehen - nicht
den Bürgern. Kriege tendieren, durch eine Art angekündigten Vorschlag, ausgehend
396
ebd.
Quelle der Definition des Imperialismus http://de.wikipedia.org/wiki/Imperialismus
398
Referenz: Economic Development of the North Atlantic Community, Dudley Dillard, Prentice-Hall, New Jersey,
1967, pp.3- 178.
399
Religion als Mittel für politische Unterstützung der imperialen Kriegshandlungen zu benutzen, ist historisch
gesehen geläufig. Selbst in den Vereinigten Staaten von Amerika gibt es einen Unterton des religiösen Krieges
oder im Willen „Gottes“ zu Handeln, der andauernd von Politikern für die kürzlichen militärischen Handlungen
benutzt wird. Islamische und jüdische Staaten scheinen das selbe zu machen [ENGLISCHER TEIL FEHLT?].
Beispielsweise zeigt bei dem Israel-Palästina Konflikt (der generell als tief religiöser Konflikt um das „heilige“ Land
angesehen wird) bei genauerem hinsehen, dass die Religion, auch wenn sie in der Öffentlichkeit tatsächlich ein
wichtiger Faktor ist, nicht der Ursprung des Konfliktes ist. Die wahre Ursache ist ein elitärer Imperialismus und
generell Ressourcendiebstahl. Dabei wird die Religion genutzt, um die Unterstützung der Öffentlichkeit zu
erlangen. Leseempfehlung: http://www.thejakartaglobe.com/globebeyond/israel-palestine-not-a-religiousconflict/558353
397
134
Struktureller Klassismus, der Staat und Krieg
von der Staatsmacht, zu beginnen; Dieser wird dann durch die staatsunterstützten
Medienunternehmen angetrieben;400 wodurch die Bürger langsam dazu gebracht
werden, diesen Vorschlag anzuerkennen. Auch hilft es dem Staat sehr, wenn es eine
Form der emotionalen starken Provokation gibt, die dann so manipuliert werden
kann, um den beabsichtigten Krieg weiter zu rechtfertigen.401
Solche Taktiken der Manipulation der Bürger können viele Formen annehmen. Die
Nutzung von Angst, Ehre, (Rache), patriotischem Paternalismus402 und Moralität und
die „gemeinsame Verteidigung“ gehören heute zu den gewöhnlichsten Tricks.
Tatsächlich werden alle Kriegshandlungen in der Öffentlichkeit als „Verteidigung“
gerechtfertigt, selbst wenn keine vernünftige, greifbare öffentliche Gefahr gefunden
werden kann. Jedoch liegt im Kern tatsächlich eine Wahrheit, wenn es um diese Idee
des „Verteidigungskrieges“ geht,403 da die Handlung der imperialen Mobilisierung
auf einer sehr realen, aber dennoch versteckten Form der wirtschaftlichen und/oder
politischen Angst basiert - die Angst vor dem Verlust von Kontrolle oder Macht. In
anderen Worten: Auch wenn keine direkte, unmittelbare Gefahr von einer
bestimmten Aggressornation ausgeht - so gibt es eine auf lange Sicht
wettbewerbsbetonte Notwendigkeit, dauerhaft seine Macht vor zukünftigem Verlust
zu sichern. Das ist eine sehr reale und begründete Angst. Die „Verteidigung“ ist also
eine elitäre Selbsterhaltung der Oberschicht und demnach häufig moralisch in seiner
wahren Form vor der Öffentlichkeit nicht rechtfertigbar, also werden stattdessen
diese Tricks benutzt, um die öffentliche Einwilligung zu bekommen.404
Der Ökonom und Soziologe Thorstein Veblen schrieb 1917 in seinem berühmten
Werk „Eine Abhandlung über die Natur von Frieden und die Bedingungen der
Fortführung“ zum Thema der öffentlichen Überzeugung: „Jede kriegsähnliche
400
Charakteristisch für staatskontrollierte Medien sind Medien, die durch die Finanzierung der Regierung
produziert werden. Dies ist heute immer noch häufig in der Welt vorzufinden und oft mit Staatspropaganda
verbunden. In den USA hat sich eine ähnliche jedoch subtilere Form entwickelt - etwas das wir UnternehmensStaatskontrollierte Medien nennen könnten.
401
Ehemaliger US Berater für Nationale Sicherheit Zbigniew Brzezinski hat das gut verstanden und hat in seinem
berühmten Werk: „Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ geschrieben: „Die Einstellung
der amerikanischen Öffentlichkeit gegenüber der nach außen getragenen amerikanischen Macht wurde immer
zwiespältiger. Die Öffentlichkeit unterstützte Amerikas Eingriff in den 2. Weltkrieg zum größten Teil aufgrund des
Schock-Effekts nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor. „(Basic Books Publishing, 1998, pp. 24-5) “ ...
während Amerika eine immer multi-kulturellere Gesellschaft wird, wird sie es schwierig finden einen Konsens in
der Außenpolitik zu finden, außer in dem Fall, dass eine gewaltige und weitläufig wahrgenommene äußere
Bedrohung wahrgenommen wird (Basic Books Publishing, 1998, p.211)
402
Der Begriff Paternalismus wird wie folgt definiert: „Mit Paternalismus (von lat. pater = „Vater“) wird eine
Herrschaftsordnung beschrieben, die im außerfamiliären Bereich ihre Autorität und Herrschaftslegitimierung auf
eine vormundschaftliche Beziehung zwischen Herrscher/Herrschern und den Herrschaftsunterworfenen
begründet.“ http://de.wikipedia.org/wiki/Paternalismus
Der Begriff „staatlicher Paternalismus“ beschreibt das „Bestreben [eines Staates], andere [Staaten] zu
bevormunden, zu gängeln“ http://www.duden.de/rechtschreibung/Paternalismus
403
In der modernen Welt wird der Begriff „Präventivkrieg“ oft benutzt, um eine aggressive Handlung zu
rechtfertigen. Mit der Begründung, dass es ja eine Verteidigung gegen einen kommenden Angriff des Ziels ist.
404
Ehemaliger US Berater für Nationale Sicherheit Zbigniew Brzezinski drückt diese „paternalistische
Verteidigung“ deutlich in seinem Werk „Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ aus. Er
schrieb über die Notwendigkeit die Welt in der Kontrolle Amerikas zu halten folgendes: „Amerika ist jetzt die
einzige weltweite Supermacht und Eurasien die weltweit wichtigste Arena. Demnach wird das, was mit der
Machtverteilung auf dem eurasischem Kontinent passiert von entscheidender Bedeutung für Amerikas weltweite
Vorherschaft und historisches Erbe sein. “ (Basic Books Publishing, 1998, p.194) „Um es in die Terminologie der
Imperien der brutaleren Vergangenheit zu setzen: Die drei großen Leitbilder der imperialen Geostrategie sind es
Zusammenschlüsse zu vermeiden und Sicherheitsabhängigkeit unter den Vasallenstaaten aufrecht zu erhalten,
Nachschübe zu schützen und flüssig zu halten, und die Barbaren daran hindern zusammen zu kommen.“ (ebd.,
p40) „Demnach müssen die Vereinigten Staaten von Amerika sich etwas einfallen lassen, wie sie mit den
regionalen Koalitionen umgehen, die versuchen Amerika aus Eurasien zu vertreiben und demnach Amerikas
Status als Supermacht gefährden.“ (ebd., p.55)
135
Struktureller Klassismus, der Staat und Krieg
Unternehmung, die unternommen werden soll, muss die moralische Befürwortung
der Gemeinschaft oder einer effektiven Mehrheit in der Gemeinschaft haben. Es wird
folglich das erste Anliegen des kriegsführenden Staatsmannes sein, diese
moralische Kraft für das Abendteuer, zu welchem er neigt, in Bewegung zu setzen.
Es gibt zwei Hauptmotivatoren: [...] Die Erhaltung oder Erweiterung des materiellen
Interesses der Gemeinschaft (real oder künstlich) und die Verteidigung der
Nationallehre. Zudem sollte vielleicht noch ein dritter erwähnt werden: Die
Erweiterung und Fortführung der Kultur der Nation.“405
Der letzte Punkt „die Fortführung der Kultur der Nation“ wird am besten durch die
häufige moderne westliche imperiale Behauptung der Verbreitung von „Freiheit und
Demokratie“ dargestellt. Diese Behauptung nimmt eine paternale Position ein, mit der
die Idee postuliert wird, dass das aktuelle politische Klima einer Zielregion einfach zu
inhuman ist und die Intervention, um den Bürgern zu „helfen“, eine „moralische
Notwendigkeit“ wird.
Veblen führt weiter aus: „All der Patriotismus wird als Weg und Kriegstreiberei unter
kompetenter Verwaltung dienen, auch wenn [die Menschen] für gewöhnlich nicht zu
solch kriegerischer Stimmung neigen. Unter guter Verwaltung kann das gewöhnliche
patriotische Gefühl für das Kriegsabendteuer durch jede vernünftige, geschickte und
zielgerichtete Zusammenkunft von Staatsmännern mobilisiert werden. Davon gibt es
zahlreiche Beispiele.“406 „ [...] Man kann [ebenso] ohne Probleme verallgemeinern,
dass wenn die Feindseligkeiten schon stark durch den ambitionierten Staatsmann
angefacht worden sind, so kann man sich auf die Nation verlassen, die
Unternehmung zu unterstützen, unabhängig von dem Wert dieses Konflikts.“407
In den USA ist der Spruch „Ich bin gegen den Krieg aber unterstützte die
Soldaten“408 häufig unter denen anzufinden, die den Konflikt selbst verabscheuen,
aber immer noch als respektvoll gegenüber ihrem Land erscheinen möchten. Dieser
Spruch ist interessant, da er eigentlich irrational ist. Um logischerweise die „Soldaten
zu unterstützen“ würde bedeuten, die Rolle eines „Soldaten“ zu unterstützen,
demnach auch die Handlungen, die von dieser Rolle verlangt werden. Die implizierte
Andeutung ist hier natürlich, dass man die Notwendigkeit des Krieges unterstützt und
demnach die Männer und Frauen in den Streitkräften unterstützt, die dieser
Notwendigkeit nachkommen. Die Aussage selbst ist jedoch vollkommen
widersprüchlich und existiert als eine Form des „Doppeldenkens“409, da die
Ablehnung des Krieges heißt, man müsste die Handlungen derer ablehnen, die an
ihm mitmachen. Es ist ähnlich so, als würde man sagen: „Ich bin gegen den
Menschen tötenden Krebstumor, aber ich unterstütze das Recht des Krebstumors zu
leben.“
Die bewaffneten Streitkräfte wurden historisch von der Öffentlichkeit immer hoch
respektiert und das wird weiterhin von der Regierung glorifiziert bis zu dem Punkt, an
405
„Eine Abhandlung über die Natur von Frieden und die Bedingungen der Fortführung“, Thorstein Veblen, Echo
Library, 1917 p.16
406
ebd. p.7
407
ebd. p.16
408
Referenz: Can You Support the Troops but Not the War? Troops Respond
[http://www.huffingtonpost.com/paul-rieckhoff/can-you-support-the-troopb26192.html]
409
Doppeldenk (engl. doublethink; in älteren Übersetzungen: Zwiedenken) ist ein Neusprech-Begriff aus dem
dystopischen Roman 1984 von George Orwell und beinhaltet die Fähigkeit, in seinem Denken zwei
widersprüchliche Überzeugungen aufrechtzuerhalten und beide zu akzeptieren.
http://de.wikipedia.org/wiki/Doppeldenk
136
Struktureller Klassismus, der Staat und Krieg
dem die „Ehre“ ein irrationales Eigenleben entwickelt. Tatsächlich wird es sogar
psychologisch durch eine eingebaute Zeremonialisierung verstärkt. Ehre wird durch
Auszeichnungen, Medaillen, Paraden, Gesten des Respekts und weitere
Lobpreisungen formalisiert, die die Öffentlichkeit beeindrucken sollen hinsichtlich des
vermeintlichen Wertes der Handlungen der Soldaten und demnach der Institution des
Krieges. Das verstärkt weiterhin das kulturelle Tabu, bei dem die Kritik an
irgendeinem Element des Kriegsapparates als Respektlosigkeit gegenüber den
Opfern der Streitkräfte gesehen wird.
Vom Standpunkt des echten Schutzes und der Problemlösung aus, wie ein
„ehrenhafter“ Feuerwehrmann, der ein Kind aus einem brennenden Gebäude rettet,
ist die Bewunderung berechtigt. Die selbstlose, altruistische Handlung, sein eigenes
Leben zu riskieren, um andere zu retten, ist natürlich eine ehrenhafte Tat. Im Kontext
des historischen Krieges jedoch rechtfertigt der persönliche Altruismus des Soldaten
nicht die seine vielen Handlungen nationaler und imperialer Aggression - egal wie gut
die Absichten der Soldaten sein mögen.
Weiterhin erzeugt diese angst-orientierte Machterhaltung durch den etablierten
Regierungsapparat natürlich auch einen „Neben-Krieg“ gegen die einheimischen
Bürger selbst, welcher in Zeiten des Krieges oft verstärkt wird. Diejenigen, die den
nationalen Konflikt kritisieren oder sich diesem entgegenstellen, wurden in der
Vergangenheit immer mit direkter Unterdrückung, kulturellen Ausschreitungen und
auch mit öffentlicher Feindseligkeit begegnet. Die häufigen und unklaren
Rechtsverstöße des „Verrats“410 und der „Aufhetzung“411 sind historische Beispiele
dessen. Zusätzlich zu dem Trend der Einschränkung der Rechte der Bürger in Zeiten
des Krieges, manchmal sogar auch der Meinungsfreiheit.412
Gesellschaftlich wird der Begriff „Patriotismus“ so oft eingesetzt, dass diejenigen, die
den Krieg nicht unterstützen, oft abgewiesen werden, da sie demnach nicht die
Bürger unterstützen, wodurch sie entfremdet werden. In letzter Zeit wurden die, die
gegen den Krieg sind und vielleicht sogar bei Protestaktionen gegen ihn mitgemacht
haben, durch den Staat als „Terroristen" bezeichnet.413 Eine starke Anschuldigung
mit enormen gesetzlichen Konsequenzen, wenn die Autoritäten diese als wahr
bestätigen.
Dieser „Neben-krieg“ kann jedoch in einen noch tieferen Mechanismus zerlegt
werden - etwas, das man eine Art Gesellschaftskontrolle in Unterstützung der
imperialen Absicht nennen könnte. In vielen Ländern wird heute entweder durch
Zwang von der Geburt an414 oder durch Überredungskunst hin zu gesetzlich
410
Definition von „(Hoch-)Verrat“: „Verbrechen gegen den inneren Bestand oder die verfassungsmäßige Ordnung
eines Staates“ http://www.duden.de/rechtschreibung/Hochverrat
411
Definition von „Aufhetzung“: „das Aufhetzen des Volks durch demagogische Reden o. Ä.“
http://www.duden.de/rechtschreibung/Volksverhetzung
412
Von den japanisch-amerikanischen Internierungslagern, die über 127000 US Bürger gefangen nahmen,
[http://www.ushistory.org/us/51e.asp] bis zu der Auflösung der Bürgerrechte wie dem „Habeas Corpus“,
[http://www.salon.com/2009/04/11/bagram3/] bis hin zu der Verhaftung wegen freier Meinungsäußerung,
[http://www.history.com/this-day-in-history/us-congress-passes-sedition-act] Rechteverletzungen zu Kriegszeiten
waren die Norm.
413
Ein aktuelles Beispiel dessen war die „Occupy Bewegung“, die, wie später bekanntgegeben wurde, als eine
mögliche Gruppe von Terroristen durch das FBI eingestuft wurde. [http://www.justiceonline.org/commentary/fbifiles-ows.html]
414
Beispielsweise Israel erzwingt eine nahezu vollständige Wehrpflicht seiner Bürger
[http://www.aljazeera.com/news/middleeast/2012/07/20127853118591495.html]
137
Struktureller Klassismus, der Staat und Krieg
bindenden Verträgen415 auf vielen Ebenen manipulativer Druck bzw. die Motivation
erzeugt, der Bundeswehr beizutreten. Werbestrategien wie „Geld für das Studium“
oder „persönliche Errungenschaften“ sind geläufig. Dadurch werden natürlich die
unteren Ränge der wirtschaftlichen Hierarchie angesprochen.416 Die USA haben zu
einigen Zeiten jährlich Milliarden ($4.7 Milliarden im Jahr 2009) für weltweite
Öffentlichkeitsarbeit, um das Bild in der Öffentlichkeit über die Rekrutierung zu
verbessern, ausgegeben.417
Imperialer Krieg: Ursprung
Wenn die traditionellen, propagierten Illusionen zur Verteidigung des organisierten
menschlichen Mordens und Ressourcendiebstahls überwunden worden sind und ihre
oberflächlichen Rechtfertigungen wie bevormundender Patriotismus, Ehre und
Protektionismus beiseite gelegt worden sind, so sehen wir, dass Krieg heute eine
Eigenschaft des eigentumsorientierten und knappheitsgetriebenen
Geschäftssystems ist. Es wäre falsch zu sagen, Krieg sei ein Produkt des
Kapitalismus selbst, da es Krieg lange vor dem Kapitalismus gab. Wenn wir die
Annahmen selbst jedoch auseinandernehmen, sehen wir, dass Krieg tatsächlich eine
zentrale unveränderbare Eigenschaft des Kapitalismus ist, da es lediglich eine
fortgeschrittene Manifestierung der selben trennenden, wettbewerbsbetonten,
veralteten Werte und Praktiken ist.
Genauso wie ein Unternehmen mit anderen Unternehmen derselben Branche um
Einkommen zum Überleben konkurriert, wobei letztendlich das Monopol oder Kartell
ersucht wird (wenn möglich), so sind alle Regierungen der Erde grundlegend in der
selben Form des Überlebens verankert. Um die USA hier als Fallstudie zu nehmen:
2011 hat dieses Land ungefähr 2.3 Billionen US$ an Einkommenssteuern allein
erhalten.418 Diese Einnahmen sind wichtig für die Funktion von dem, was man
tatsächlich die Geschäftsinstitution „USA“ nennen kann. Genauso wie die jährlichen
Gewinne von Microsoft dessen Funktion beeinflussen. Die USA sind in Wahrheit ein
Unternehmen in ihrer Form und Funktion. Mit all ihren registrierten Unternehmen, die
in ihrem heimischen gesetzlichen Netz existieren und als Töchterunternehmen dieser
Mutterinstitution bezeichnet werden können, die wir traditionell die „US Regierung“
nennen.
Demnach müssen alle Handlungen der US Regierung, ebenso die der
konkurrierenden Regierungen in der Welt, natürlich einen starken Geschäftssinn in
ihrer Funktion unterstützen. Was jedoch dieses „Mutterunternehmen“ (USA) von
seinen Töchterunternehmen (Unternehmen) unterscheidet, ist das Maß der
Möglichkeiten, in welchem sie sich selbst erhalten können und einen
Wettbewerbsvorteil wahren. Die Notwendigkeit, die Hauptantriebe der Wirtschaft zu
erhalten, ist wesentlich und ein kurzer Blick auf die Geschichte der USA bezüglich
der Frage, wie sie in der Lage waren den Status als „Weltmacht“ zu erlangen und zu
halten, zeigt diesen Geschäftssinn deutlich. Die Manifestierung davon ist im Prinzip
kaum von einem bestimmten Unternehmen zu unterscheiden, welches ein
Geschäftsmonopol errichten möchte. Nur dass in diesem Fall dieses weltweite
415
Referenz: Why Is Getting Out of the U.S. Army So Tough? [http://nation.time.com/2012/05/04/why-is-gettingout-of-the- u-s-army-so-tough/]
416
Referenz: Military recruiters target isolated, depressed areas
[http://seattletimes.com/html/nationworld/2002612542recruits09.html]
417
Quelle: Pentagon Spending Billions on PR to Sway World Opinion
[http://www.foxnews.com/politics/2009/02/05/pentagon-spending-billions-pr-sway-world-opinion/]
418
Quelle: Federal Revenues by Source [http://www.heritage.org/federalbudget/federal-revenue-sources]
138
Struktureller Klassismus, der Staat und Krieg
Monopol („Imperium" /Weltmacht) nicht durch gesetzliche Richtlinien beschränkt
wird, wie das häufig bei inländischen gesetzlichen Richtlinien der Fall ist. Hier wird es
mit Gewalt zum Schauplatz eines imperialen Krieges.
Tatsächlich ist es interessant genug (aber nicht unerwartet), dass der Akt der
Selbsterhaltung durch das Militär selbst zu einem starken lukrativen Geschäft
geworden ist, welches oft den wirtschaftlichen Zustand der Nation und demnach die
Profite der unternehmerischen Bestandteile verbessert. Heute können wir diese
wirtschaftlichen Vorteile auf die massiven Militärausgaben419,420 zusätzlich zum
Wiederaufbau der Kriegsgebiete durch die kommerziellen Töchterunternehmen des
Eroberstaats ausweiten.421 Hinzu kommt das langsame Zerschreddern der Integrität
eines Landes durch Handelstarife, Sanktionen und Schuldenauferlegung, um die
Bevölkerung zum Vorteil der transnationalen Industrien zu unterdrücken422 423 und
viele weitere moderne Konventionen dieses „Wirtschaftskriegs“.
Diese Thematik wurde wahrscheinlich am besten von einem von Amerikas am
meisten ausgezeichnetem Armeeoffiziere des 20. Jahrhunderts ausgedrückt: Major
General Smedley D. Butler. Butler424 war der Autor seines berühmten, nach dem
zweiten Weltkrieg veröffentlichten Buches „War is a Racket“ (zu dt. etwa „Der Krieg
ist eine Gaunerei“). Er schrieb bezüglich dem Geschäft des Krieges folgendes: „Krieg
ist Gaunerei. Er war es schon immer. Es ist wohl die älteste, locker die profitabelste
und sicherlich die bösartigste. Es ist die einzige mit internationalem Ausmaß. Es ist
die einzige in denen die Profite in Dollar und die Verluste in Leben gezählt
werden.“425
Er schrieb 1935 ebenso: „Ich habe 33 Jahre und vier Monate im aktiven Militärdienst
verbracht. Während dieser Zeit habe ich zum größten Teil als hohes Tier für das
große Geschäft, für Wallstreet und die Bänker, gearbeitet. Kurz gesagt war ich ein
Gauner, ein Gangster des Kapitalismus. 1914 habe ich daran mitgeholfen Mexiko
und besonders Tampico sicher für amerikanische Ölinteressen zu machen. Ich habe
geholfen, dass Haiti und Kuba gute Orte für die City-Bank Jungs werden, um Umsatz
zu machen. Ich half bei der Vergewaltigung von einem halben Dutzend
mittelamerikanischer Republiken zum Vorteil der Wall Street. Ich half 1902 bis 1912
bei der Säuberung Nicaraguas für das internationale Bankenhaus der Brüder Brown.
Ich entdeckte 1916 die Dominikanische Republik für die amerikanischen
Zuckerinteressen. Ich half 1903 dabei Honduras reif für amerikanische
Obstunternehmen zu machen. 1927 half ich dabei, dass Standard Oil ungestört in
China weitermachen konnte. Wenn ich es im Nachhinein betrachte, hätte ich Al
419
Referenz: The 25 Most Vicious Iraq War Profiteers [http://www.businesspundit.com/the-25-most-vicious-iraqwar- profiteers]
420
Referenz: Ten Companies Profiting Most from War [http://247wallst.com/2012/02/28/ten-companies-profitingmost-from- war/]
421
Referenz: Advocates of War Now Profit From Iraq's Reconstruction
[http://articles.latimes.com/2004/jul/14/nation/na- advocates14]
422
Referenz: Deadly Sanctions Regime: Economic Warfare against Iran [http://www.globalresearch.ca/deadlysanctions- regime-economic-warfare-against-iran/5305921]
423
Referenz: Confessions of an Economic Hit Man: How the U.S. Uses Globalization to Cheat Poor Countries Out
of Trillions [http://www.democracynow.org/2004/11/9/confessionsofaneconomichitman]
424
Referenz: Banana Wars: Major General Smedley Butler [http://militaryhistory.about.com/od/1900s/p/BananaWars-Major-General-Smedley-Butler.htm] 425 War is a Racket, Smedley D. Butler, William H Huff Publishing,
1935, Chapter 1, p.1
425
(leer)***
139
Struktureller Klassismus, der Staat und Krieg
Capone ein paar Tipps geben sollen. Das beste was er konnte, war seine Gaunerei
in 3 Distrikten durchzuführen. Ich führte sie auf 3 Kontinenten durch.“426
John A. Hobsons (1858-1940) monumentales Werk „Imperialismus: Eine Studie“
beschreibt die Tendenz als einen „gesellschaftlich parasitären Prozess, durch den
die Finanzinteressen innerhalb eines Staats alle Zügel der Regierung an sich reißen,
was zu einer imperialen Ausweitung führt, um wirtschaftliche Blutsauger schneller in
ausländische Körper eindringen zu lassen, wodurch dessen Reichtum abgesaugt
wird, um den heimischen Luxus zu unterhalten.“427
Viele würden solche Handlungen nun als Form der „Korruption“ ansehen, jedoch ist
diese Begründung in weiter Perspektive schwierig zu rechtfertigen. Das ethische und
moralische Argument der „Fairness“ und „Unfairness“ hat keine überzeugende
Integrität innerhalb der systematischen Rahmenbedingungen des Kapitalismus. Das
ist einer der unglücklichen Interpretationsfehler von denen, die aktiv am „Weltfrieden“
oder an „Anti-Kriegs“ Bewegungen arbeiten, aber dennoch das wettbewerbsbetonte
Marktmodell verteidigen. In anderen Worten: Der „Weltfrieden“ scheint einfach keine
Option im aktuell-akzeptierten Modell der Wirtschaftspraktik zu sein.
Jeder Schritt in der Umsetzung des weltweiten Kapitalismus nach der europäischen
Vorlage, war mit enormer Gewalt, Ausnutzung und Unterdrückung verbunden.
Europäischer Kolonialismus,428 das Fangen von afrikanischen „Sklaven“ aus
Eigennutzen und zum Handeln, die erzwungene Unterdrückung unzähliger
Menschen in den Kolonien, die Einrichtung privilegierter Schutzgebieten und Macht
für die vielen von der Regierung erschaffenen oder von ihr geschützten
Unternehmen, beschreiben nur die Oberfläche des tatsächlichen Charakters dieses
„Kriegssystems“ ab.
Thorstein Veblen schrieb 1917 in direkter Verbindung mit dem, was er „pekuniäre“
oder monetäre Grundlage des Krieges nannte: „Im Verlauf der Argumentation zeigt
sich, dass die Erhaltung des aktuellen monetären Gesetzes und der Ordnung, mit all
seinen Fällen von Eigentum und Investition, inkompatibel mit einem nichtkriegsführendem Staat des Friedens und der Sicherheit ist. Dieses aktuelle Schema
von Investitionen, Geschäften und [industrieller] Sabotage hat auf lange Sicht
bessere Überlebenschancen, wenn heutige Bedingungen der Kriegsvorbereitung und
nationaler „Unsicherheit“ erhalten werden oder wenn der prognostizierte Frieden in
einem problematischen Zustand ist. Unsicher genug, um die nationalen Feinde
wachsam zu halten [...]“.429 „Also wenn genügend der Prognostizierer dieses
Friedens ebendiesen hoffentlich dauerhaft ermöglichen wollen, so sollte es
unweigerlich Teil deren Bestrebens sein, von vorneherein Ereignisse in Kraft zu
setzen, die die aktuellen Eigentumsrechte und Rechte des Preissystems
unterdrücken und letztendlich aufheben.“430
Weitere Indizien dessen können in den modernen Formen der indirekten Gewalt
gefunden werden. Diese beinhalten Ansätze „wirtschaftlicher Kriegsführungs“, die als
426
Originally in Common Sense, 1935. Reproduced in Hans Schmidt's Maverick Marine: General Smedley D.
Butler and the Contradictions of American Military History. University Press of Kentucky, 1998 p.231
427
Imperialism: A Study, J.A. Hobson, University of Michigan Press, Ann Arbor, 1965, p.367
428
Referenz: Western Colonialism defined: [http://www.britannica.com/EBchecked/topic/126237/colonialismWestern]
429
„Eine Abhandlung über die Natur von Frieden und die Bedingungen der Fortführung“, Thorstein Veblen, B.W.
Hubsch, 1917 pp.366- 367
430
ebd., p.367
140
Struktureller Klassismus, der Staat und Krieg
kompletter Gewaltakt selbst dienen können oder als Teil eines Einleitungsverfahrens
für traditionelle Militärhandlungen. Beispiele beinhalten Handelstarife, Sanktionen,
Schuldenauferlegung und viele weitere weniger bekannte, geheime Methoden, um
ein Land zu schwächen.431
Internationale Finanzinstitutionen wie die Weltbank und der IMF werden von
gewaltigen Staats- und demnach Geschäftsinteresse geleitet und haben die Macht
Schulden zuzuweisen, um leidende Länder zu retten. Das passiert auf Kosten der
Lebensqualität der Bürger, oft mit der Inbesitznahme der natürlichen Ressourcen
oder Industrien durch ausgewählte Privatisierung oder weitere Mittel, die die Funktion
eines Landes schwächen können, sodass es auf andere angewiesen ist - oft zum
Vorteil der außenstehenden kommerziellen Interessen.432
Das ist einfach eine verdecktere Form der Unterdrückung, wie es beispielsweise bei
der britischen Imperiumsausweitung durch die „East India Company“ geschehen ist die kommerzielle Macht, die die neu eroberten regionalen Ressourcen und
Arbeitskräfte im 17. Jahrhundert in Asien ausgebeutet haben.433 Die amerikanische
Imperiumsausweitung kam jedoch - anders als die Britische - nicht nur durch
militärische Handlungen alleine zustande, auch wenn ihre Präsenz selbst heute
immer noch enorm ist.434 Stattdessen kam diese Imperiumsausweitung durch die
Nutzung komplexer Wirtschaftsstrategien zustande, die andere Länder in die
Unterwerfung zu US Wirtschafts- und Geowirtschaftlichen Interessen neu
positionierte.435
Klassenkrieg: tief-verwurzelte Psychologie
Fahren wir mit dem „Klassenkrieg“ fort. Dieses Phänomen wurde jahrhundertelang in
historischer Literatur beschrieben. Zum Teil basierend auf Annahmen der
menschlichen Natur, zum Teil auf Annahmen der nicht vorhandenen Kapazität der
Erde, Produktionsmittel jedermanns Bedürfnis zu stillen, und zum Teil durch die
wichtigere Erkenntnis, dass das System des Marktkapitalismus unweigerlich
Klassenteilung und Ungleichgewichte zur Folge hat, aufgrund der innewohnenden
sowohl strukturellen als auch psychologischen Mechanismen.
David Ricardos Aussage (einer der Mitwirker zur freien Marktwirtschaft), dass „Wenn
Löhne steigen sollten [...] dann [...] würden Profite gezwungenermaßen sinken“,436 ist
eine einfache Anerkennung der durch die Struktur bedingten, garantierten
Klassenkonflikte, da die Löhne sich auf die untere „Arbeiterklasse“ beziehen und die
Profite auf die obere „Kapitalistenklasse“. Wenn einer gewinnt, verliert der andere.
Gleichermaßen hat selbst Adam Smith in seinem kanonischen „Wohlstand der
431
Referenz: Our Economic Warfare [http://www.foreignaffairs.com/articles/70162/percy-w-bidwell/our-economicwarfare]
432
Wie von den Untersuchungen des STWR über die Weltbank herausgefunden wurde: „In den meisten der
Kunden-Länder ist dies nahezu der einzige Weg Zugang zu internationalen Handel, Finanzentwicklung und
privatem Investitionskapital zu bekommen. Es leitet seine Macht und Richtlinien von den reichst Aktionären ab -Regierungen, die die G7 ausmachen ... die routinehaft die Bank nutzen, um lukrativen Handel und
Investitionsdeals in Entwicklungsländern für die jeweiligen transnationalen Unternehmen sicher zu stellen.“
Referenz: IMF, World Bank & Trade [http://www.stwr.org/imf-world-bank-trade/corporate-power-and-influence-inthe-world-bank.html]
433
Referenz: East India Company [http://www.britannica.com/EBchecked/topic/176643/East-India-Company]
434
Seit 2011 ist das US Militär in über 140 Ländern stationiert. Mit ungefähr 660+ Basen. Referenz:
http://www.politifact.com/truth-o-meter/statements/2011/sep/14/ron-paul/ron-paul-says-us-has-military-personnel130-nation/
435
Referenz: Why the Developing World Hates the World Bank
[http://tech.mit.edu/V122/N11/col11parek.11c.html]
436
„Principles of Political Economy and Taxation“ (dt. Politische Ökonomie und Besteuerung)
141
Struktureller Klassismus, der Staat und Krieg
Nationen“ die Art der Machterhaltung auf der Verhaltensebene (psychologisch)
ausgedrückt: „Die Zivilregierung, so wie sie für die Sicherheit von Eigentum
gegründet wurde, ist in der Realität die Verteidigung der Reichen gegen die Armen,
oder von denen die einiges an Eigentum haben gegen die, die gar keins haben.“437
Jedoch scheint die tatsächliche Nutzung der Regierung zum Zweck der Ober- oder
Geschäftsklasse sturer Weise von Smith, Ricardo und sogar vielen heutigen
Ökonomen ignoriert zu werden, denen es scheinbar nicht möglich ist bzw. die
unwillig sind, heutige Ereignisse in Betracht zu ziehen. Selbst die engagiertesten,
laissez-faire Marktökonomen drücken immer noch die Notwendigkeit einer Regierung
und seines Rechtsapparats aus mit der Funktion eines „Schiedsrichters“, um das
Spiel „fair“ zu halten. Begriffe wie „Vetternwirtschaft“ (Crony Capitalism) werden oft
unter der Annahme benutzt, dass eine „Kollusion“ (geheime Absprache) zwischen
Regierungsabgeordneten und den scheinbar getrennten Unternehmensinstitutionen
eine unethische oder „kriminelle“ Handlung wären.
Jedoch ist es, wie zuvor erwähnt, unlogisch anzunehmen, dass die Art der Regierung
im Kern etwas anderes ist als ein Mittel, um die Unternehmen zu unterstützen, die
den Reichtum eines Landes ausmachen. Der Geschäftsapparat ist in Wirklichkeit die
Nation in technischer Form, trotz der oberflächlichen Behauptung, dass ein
„demokratisches“ Land auf den Interessen der Bürger selbst basiert. Tatsächlich
könnte man sogar argumentieren, dass keine Regierung in der aufgezeichneten
Geschichte jemals den Bürgern einen rechtmäßigen Platz in der Regierung oder
Gesetzgebung gegeben hat. Innerhalb des Kontext des Kapitalismus, der immer
noch eine Manifestierung von jahrhundertealten Werten und Annahmen ist mit klarer
Tendenz zum Elitismus, so ist es interessant, wie der Mythos der „Demokratie“ sich
selbst in der heutigen Welt erhält.
Um diesen Punkt weiter auszubauen: Einer der Gründerväter der US amerikanischen
Verfassung, James Madison, drückte seine Bedenken bezüglich der Notwendigkeit,
die politische Macht der unteren Klassen zu unterdrücken, aus. Er schrieb: „Wenn
heute in England die Wahlen für alle Klassen frei wären, so würde der Besitz der
Landbesitzer unsicher sein. Ein Ackergesetz würde bald erlassen. Wenn diese
Annahme korrekt ist, würde die Regierung nicht länger die Interessen der ländlichen
gegen neue Innovationen schützen. Landbesitzer müssen einen Anteil in der
Regierung haben, um ihre wertvollen Interessen zu unterhalten sowie zu schützen
und um mit den anderen im Ausgleich zu sein, sowie sie zu kontrollieren. Sie müssen
so konstituiert sein, dass sie die Minderheit der Reichen von der Mehrheit schützen.
Der Senat müsste demnach dieser Aufgabe nachkommen; und, um diese Zwecke zu
erfüllen, muss er Dauerhaftigkeit und Stabilität besitzen.“438
Wenn wir also mit dem Bewusstsein anfangen, dass die Idee der weltweiten
„Demokratie“ stark durch das kapitalistische Anreizsystem gehemmt wird, dass
versucht Macht auf der Staatsebene zu erhalten, um der Oberklasse politische und
demnach finanzielle Macht zu erhalten, so zeigt sich ein deutlicheres Bild wie tief
dieser Klassenkrieg eigentlich geht. Wahrscheinlich der bemerkenswerte Aspekte ist,
dass die Mechanismen der Klassenteilung in unserem Alltagsleben zwar existieren,
aber unentdeckt bleiben, da sie strukturell in den Finanz-, politischen- und
Rechtsapparat eingebaut sind.
437
438
„Der Wohlstand der Nationen“, Adam Smith, 1776, par. V.1.2
Notes of the Secret Debates of the Federal Convention of 1787, Robert Yates, Alston Mygatt, p.183
142
Struktureller Klassismus, der Staat und Krieg
Klassenkrieg: Strukturelle Mechanismen
In der modernen Welt, in der 1% der Weltbevölkerung 40% des weltweiten
Reichtums besitzt,439 sehen wir, dass sowohl in der Systemstruktur als auch in der
Anreizpsychologie starke Mechanismen existieren, die zu diesen extrem
unverhältnismäßigen Reichtumsungleichgewichten führen, sie erhalten und sogar
beschleunigen. Natürlich bedeutet es in einer Welt, in der alles auf einer finanziellen
Basis aufbaut, dass großer Reichtum großer Macht entspricht. Demnach ermöglicht
diese Macht eine robustere Strategie für wettbewerbsbetonten Gewinn und zur
Selbsterhaltung und folglich hat sich diese Macht auch in die Struktur des
Gesellschaftssystems selbst weiterentwickelt. Dadurch ist der Reichtum der
Oberklasse ohne große Anstrengungen gesichert, während die unteren Klassen
enorme strukturelle Barrieren überwinden müssen, um irgendeine Ebene der
finanziellen Sicherheit erreichen zu können.
Einige Mechanismen dieser Klassenkrieg-Unterdrückung sind ziemlich offensichtlich.
Beispielsweise die Diskussion über die Besteuerung und wie es eine historische
Bevorteilung der reichen Unternehmer gegenüber den armen Arbeitern gab.440 Dies
kommt durch die Argumentation zustande, dass die Reichen zugleich die
„Eigentumsklasse“ darstellen und daher mehr finanzielle Freiheiten zur Erzeugung
von Arbeitsplätzen bekommen sollen.441 Nebenbei gesagt, ist es einfach zu sehen,
wie wenig Wahrheit tatsächlich in diesem einseitigen Argument steckt, da durch den
finanziellen Druck durch Steuern die Kaufkraft der Bevölkerung – und damit
wirtschaftliches Wachstum – stärker beschränkt wird als die Beschneidung des
exzessivem Reichtums der Reichen.442 Die einzige Ausnahme diesbezüglich, die das
Argument der Reichen als „Arbeitsplätzeerzeuger" überschreitet, ist das Aufkommen
einer Plutonomie, die am Ende dieses Kapitels erläutert wird. Abgesehen von den
klassenbegünstigenden Besteuerungen existieren vier weitere wichtigere strukturelle
Faktoren, die hier diskutiert werden müssen: (a) Schulden, (b) Zinsen, (c) Inflation
und (d) Einkommensungleichheit.
(a) Schulden sind eine falsch verstandene Gesellschaftspraktik, da die meisten
annehmen, Schulden wären in der heutigen Gesellschaft lediglich eine von vielen
Möglichkeiten oder Optionen. In Wirklichkeit basiert das gesamte Finanzsystem
buchstäblich auf Schulden. Alles Geld wird in der modernen Wirtschaft durch Kredite
erzeugt, die von Zentral- oder Geschäftsbanken herausgegeben werden, die Geld
lediglich aus der Nachfrage selbst erzeugen.443 Dieser grundlegende Mechanismus
der Gelderzeugung ist eine mächtige Kraft der wirtschaftlichen Unterdrückung. Die
Schulden der Privathaushalte bestehen aus Krediten von Kreditkarten, Hauskrediten,
Autokrediten und Studien-/Bildungskrediten. Dadurch stecken die niedrigeren
Klassen von Natur aus in Verbraucherschulden als die höheren, da die Unfähigkeit,
soziale Grundgüter (Auto oder Haus) zu bezahlen, sie dazu zwingt, Bankkredite
aufzunehmen.
439
Referenz: One percent holds 39 percent of global wealth [http://www.rawstory.com/rs/2011/05/31/one-percentholds-39-percent-of-global-wealth/]
440
Referenz: Poor Americans Pay Double The State, Local Tax Rates Of Top One Percent
[http://www.huffingtonpost.com/2012/09/21/poor-americans-state-local-taxesn1903993.html]
441
Referenz: Don't Tax the Job Creators [http://www.cnbc.com/id/48290347/Don039tTaxtheJobCreatorsRomney]
442
Referenz: Private Debt Kills the Economy [http://www.globalresearch.ca/private-debt-kills-theeconomy/5303842]
443
Für eine detallierte Beschreibung des Geldschöfungsprozesses siehe: Modern Money Mechanics, Federal
Reserve Bank of Chicago, 1961
143
Struktureller Klassismus, der Staat und Krieg
Das Ergebnis ist, dass der Schuldendruck dauerhaft auf den Schultern der großen
Mehrheit lastet. 444,445,446 Natürlich sind die Löhne und Einkommensraten allgemein
so niedrig wie möglich, um das vorherrschende kapitalistische Ethos der
Kosteneffizienz zu unterstützen, auf dem die gesamte Gesellschaft konstruiert wurde.
So zeigt sich, dass die Löhne der durchschnittlichen Arbeiter nur die grundlegenden
Kreditzahlungen ermöglichen, zur Deckung der Grund- und Überlebensbedürfnisse.
Demnach ist ein „auf der Stelle treten“ nahezu allgegenwertig und die soziale
Mobilität – speziell die Möglichkeit, in der Klassenhierarchie aufzusteigen - stark
behindert, ganz zu schweigen von den Schwierigkeiten sich von allen Schulden
jemals befreien zu können.447
(b) Zinsen: Verbunden mit den Schulden ist die Profiteigenschaft, die mit dem
Verkauf von Geld selbst zusammenhängt. Da die kapitalistische Marktwirtschaft
generell die Kommerzialisierung von nahezu allem unterstützt, ist es keine
Überraschung, dass Geld selbst durch den Verkauf mit dem Zweck des Profites
erzeugt wird. Das geschieht in Form des Zinses. Ob es nun eine Zentralbank ist, die
Geld im Austausch gegen Sicherheiten der Regierung erschafft oder eine
Geschäftsbank, die einem normalen Bürger ein Hypothekendarlehen gewährt,
Zinsgebühren sind fast immer zu entrichten.
Wie in vorherigen Kapiteln erwähnt, erschafft dies eine Situation, in denen mehr
Schulden erzeugt werden, als Geld im Umlauf ist, um diese zu bezahlen. Wenn ein
Kredit gewährt wird, wird nur die so genannte „Grundmenge“ erzeugt. Die
Geldmenge eines Landes besteht aus dieser „Grundmenge“, die den
zusammengenommenen Wert alles aus Krediten stammenden Geldes
(Gelderzeugung) widerspiegelt. Die Zinsgebühr andererseits existiert nicht. Das
heißt, dass auf gesellschaftlicher Ebene, all die, die zinsbehaftete Kredite
aufnehmen, Geld in der existierenden Geldmenge finden müssen, um diese
zurückzuzahlen. Da alle Zinszahlungen von der Grundmenge entzogen werden, ist
es eine logische mathematische Konsequenz, dass bestimmte Kredite nicht
zurückgezahlt werden können. Es gibt einfach zu keinem Zeitpunkt genug Geld im
System.448
Das Ergebnis ist ein starker abwärtsgerichteter Klassendruck auf die Schuldner, da
es immer diese grundlegende Knappheit in der Geldmenge selbst gibt. Zusätzlich
muss jeder, der versucht, seine Kredite zurückzuzahlen, sich der unabwendbaren
Realität stellen, dass es stets jemanden geben wird, der die Kreditrückzahlung nicht
erbringen kann. Der Bankrott ist daher ein typisches Phänomen bei denen, die „den
Kürzeren ziehen“. Noch verstörender ist die Art, auf welche mit denen umgegangen
wird, die unfähig sind, ihre Kredite zu bezahlen. Die Kreditverträge und
444
Referenz: U.S. Credit Card Debt Grows, Fewer Americans Make Payments On Time
[http://www.huffingtonpost.com/2012/11/19/us-credit-card-debt-growsn2158010.html]
445
Referenz: Drowning In Medical Debt? Filing For Bankruptcy Could Be Your Life Raft
[http://articles.businessinsider.com/2012-01-27/news/306697141bankruptcy-filers-medical-debt-credit-score]
446
Referenz: The Debt That Won't Go Away [http://www.cnbc.com/id/40680905]
447
Literaturempfehlung: http://www.theatlantic.com/business/archive/2013/01/the-american-household-is-diggingout-of- debt-in-the-worst-possible-way/272657/
448
Ein häufiger Einwand gegen diese Analyse ist die Annahme, dass die Zinseinkünfte wieder in die Geldmenge
durch Sparkonnten, Geldmarkteinlagen und andere Investitionen gespeist wird. Dabei wird angenommen, dass
Geld während der Rückzahlung erzeugt wird. Das stimmt jedoch nicht. Zahlungen durch Zinseinkünfte werden
durch die Profite der Finanzinstitutionen erzeugt. Diese Annahme verändert die Gleichung also nicht. Die für die
Zahlung benötigte Zinsgebühr existiert einfach nicht in der Geldmenge.
144
Struktureller Klassismus, der Staat und Krieg
Rechtssysteme unterstützen die Macht der Banken, sodass sie einfach in Besitz
nehmen, was der Schuldner nicht zahlen konnte.449
Wenn wir über diese Fähigkeit des „in Besitz nehmens“ nachdenken, ist es eigentlich
eine Form des Diebstahls. Wenn es unabwendbar ist, dass jemand die
Kreditrückzahlungsforderungen aufgrund der Knappheit in der Geldmenge nicht
erfüllen kann, dann ist das Anhäufen von realem, physischen Eigentum der Banken
aufgrund dieser vertraglich bedingten Inbesitznahme ebenso unabwendbar im Laufe
der Zeit. Das bedeutet, dass Banken (die immer der Oberschicht gehören) Häuser,
Autos und sonstiges Eigentum den unteren Klassen wegnehmen können, da das
Geld – was sie aus dem Nichts in der Form eines Kredits geschaffen haben – nicht
an sie zurückgezahlt wird. Das ist im Wesentlichen eine versteckte Form des
physischen Reichtumstransfers von den unteren an die oberen Schichten.
Um auf das Thema des Zinses zurückzukommen: Solche Tatsachen betreffen die
oberen Schichten nur geringfügig. Sie haben es für gewöhnlich durch ihren
Überschuss an Reichtum überhaupt nicht nötig Kredite aufzunehmen. Die Knappheit
in der Geldmenge aufgrund der Zinsen lastet daher immer auf den Schultern der
unteren Schichten. Gleichzeitig werden die Reichen weiter abgesichert, da sie Geld
aus den Zinsen auf ihre Spareinlagen, Einlagenzertifikaten und weiterem beziehen.
Damit wandelt sich die soziale Unterdrückung der Armen direkt zur Bevorteilung der
Reichen um.450
(c) Inflation wird generell wie folgt definiert: „Inflation bezeichnet in der
Volkswirtschaftslehre eine allgemeine Erhöhung der Güterpreise, die entsprechend
das Absinken der Kaufkraft zur Folge hat.“451 Leider gibt diese Definition wenig
Einsicht in die tatsächliche Kausalität. Auch wenn es viele Diskussionen über die
Ursache von Inflation in verschiedenen wirtschaftlichen Schulen gegeben hat,452 so
hat sich die „Quantitätstheorie“453 als die relevanteste herausgestellt. Kurz gesagt,
erkennt diese Theorie, dass umso mehr Geld es in Zirkulation gibt, umso mehr
Inflation gibt es (also steigende Preise). In anderen Worten: Wenn alles gleich bleibt
und wir die Geldmenge verdoppeln, so würden sich die Preise auch verdoppeln etc.
Das neue Geld verdünnt den Wert des existierenden Geldes in einer Art AngebotNachfrage-Wertetheorie.
Die Konsequenz hiervon ist, was wir eine „versteckte Steuer“ nennen können, welche
auf die Ersparnisse und festen Einkommen der Menschen anfällt. Nehmen wir einmal
an, dass die Inflationsrate 3,5% pro Jahr beträgt. Wenn man $30,000 besitzt, wird
man in 10 Jahren damit nur noch Produkte im Wert von ungefähr $21,000 kaufen
können.454 Während es so scheint, als ob dies einen einheitlichen Effekt auf die
449
Nebenbei ist es interessant zu wissen, dass Banken, durch die der Kredit für den Kauf (wie bei einem Haus)
zustande kommt, in der Lage sind den gesamten Besitz zu beschlagnahmen - unabhängig davon, wie viel vorher
gezahlt wurde. Selbst wenn 99% des Kredits gezahlt worden ist, so können sie immer noch 100% des Besitzes
beschlagnahmen, wenn die letzte Zahlung nicht getilgt wurde.
450
Wenn eine Person beispielsweise 1 Millionen US$ in eine Geldmarkteinlage mit jährlich 3% Zinsen anlegt wird
sie 30000 US$ pro Jahr erzeugen, lediglich für diese Einlage allein. Prozentual gesehen scheinen 3% nicht viel
zu sein. In absolutem Wert jedoch, verglichen mit dem durchschnittlichen Einkommen, ist es ziemlich viel.
451
Inflation definiert http://de.wikipedia.org/wiki/Inflation
452
Literaturempfehlung: Macroeconomics: Theory and Policy, Robert J. Gordon, „Modern theories of inflation“
McGraw-Hill, 1988
453
Quantitätstheorie definiert: http://de.wikipedia.org/wiki/Quantit%C3%A4tstheorie
454
3.5% jährlicher Verlust nach 10 Jahren. Ausgangswert $30,000. Jahr 1: $28,950; Jahr 2: $27,937; Jahr 3:
$26,960; Jahr 4: $26,017; Jahr 5: $25,107; Jahr 6: $24,229; Jahr 7: $23,381;Jahr 8: 22,563; Jahr 9: $21,774; Jahr
10 $21,012
145
Struktureller Klassismus, der Staat und Krieg
gesamte Gesellschaft hat, so sind die Auswirkungen auf die Armen gravierender als
auf die Reichen, wenn es ums Überleben geht. Eine Person mit Ersparnissen im
Wert von 3 Millionen Dollar wird von einem 3,5 prozentigem Verlust an Kaufkraft
nicht behindert. Eine Person, die jedoch nur $30,000 an Ersparnissen hat, und
eventuell daran arbeitet, eine Anzahlung für ein zukünftiges Haus zu tätigen, ist von
dieser „versteckten Steuer“ stark beeinträchtigt. Das fehlende Geld, um die Schulden
zu decken, erzwingt ständig neue Kredite in der Wirtschaft. Daran gekoppelt ist der
heute weltweit benutzte Gelderweiterungsprozess – bekannt als das
Mindestreservebankwesen.455
Entgegen der weit verbreiteten Ansicht werden die meisten Kredite nicht vom
existierenden Guthaben der Bank entnommen. Sie werden in Echtzeit erzeugt und
sind nur von einem festgelegten Anteil des existierenden Guthabens
eingeschränkt.456 Kurz gesagt, aufgrund dieses Prozesses können im Laufe der Zeit
für jede Einzahlung von $10,000, etwa $90,000 daraus erschaffen werden, in Form
von Darlehen und Einzahlungen quer durch das gesamte Bankensystem.457 Diese
Verschachtelung von Geld im Zusammenhang mit Zinsdruck, welcher die Knappheit
der Geldmenge erzeugt, offenbart, dass das System grundsätzlich inflationär ist.
(d) Einkommensunterschiede in der Gesellschaft haben sowohl eine psychologische
als auch strukturelle Kausalität. Psychologisch werden sie zum Teil durch den
grundlegenden Profit- und Kostenerhaltungs-Mechanismus angetrieben, der benötigt
wird, um wettbewerbs- und funktionsfähig in der Marktwirtschaft zu bleiben. In
vielerlei Hinsicht kann dieser Anreiz als kognitiv strukturell betrachtet werden, da es
eine Verhaltensgrenze gibt, die alle Spieler in der Marktwirtschaft annehmen
müssen, wenn es um das Überleben geht. Dieses Interesse der Selbsterhaltung
durch Kosteneffizienz und Maximierung von Profiten (neben der Funktion als
Grundlage des kapitalistischen Spiels) kann dies wiederum deutlich als allgemeine
Überlebensphilosophie oder generell menschliches Wertesystem erweitert werden.
In anderen Worten: Die gesellschaftlichen Werte werden durch diese wirtschaftliche
Notwendigkeit der dauerhaften Selbsterhaltung geändert und sehr oft manifestiert
sich dies in Verhalten, welches (in Abstraktion) als „exzessiv“, „egoistisch“ oder
„gierig" bezeichnet werden kann. Tatsächlich ist es jedoch so, dass solche
Eigenschaften lediglich als Erweiterung oder Sache des Grades ist, wenn es um die
grundlegende Konditionierung des „vorne bleibens“ geht.
Demnach sollte uns der generelle Trend der erhöhten Einkommensunterschiede
nicht überraschen.458 Auch wenn die USA mit seiner tief wettbewerbsbasierten Art
455
Für eine detallierte Beschreibung des Mindestserve Bankwesens siehe: Modern Money Mechanics, Federal
Reserve Bank of Chicago, 1961
456
Um Modern Money Mechanics zu zitieren: „Natürlich geben sie [die Banken] keine Kredit aus dem
existierenden Geld, welches sie als Einlagen bekommen. Wenn sie das täten, würde kein zusätzliches Geld
erzeugt werden. Was sie machen, wenn sie neue Kredite machen akzeptieren sie einen Schuldschein im Tausch
gegen Kredit auf das Konto des Kreditnehmers... Die Reserven werden durch diese Kredittransaktionen nicht
verändert. Die neuen Einlagen jedoch, stellen neue Einlagen im Bankensystem dar.“ [Modern Money Mechanics,
Federal Reserve Bank of Chicago, 1961]
457
Modern Money Mechanis zitiert: „Der gesamte Betrag der Expansion, der stattfinden kann...bis hin zu seinen
theoretischen Grenzen, so können die ursprünglich 10000 US$ innerhalb des Bankensystems zu einer Expansion
bis hin zu 90000 US$ an Bankenkredit (Kredite und Investitionen) führen und unterstützt eine Gesamtsumme von
100000 US$ an neuen EInlagen unter der 10% Reserveanforderung.“
458
Literaturempfehlung: U.S. Income Inequality: It's Worse Today Than It Was in 1774
[http://www.theatlantic.com/business/archive/2012/09/us-income-inequality-its-worse-today-than-it-was-in1774/262537/]
146
Struktureller Klassismus, der Staat und Krieg
ein extremes Beispiel der Klassenunterschiede ist,459 ist dieser Trend jedoch ein
weltweites Phänomen geworden.460 Auch wenn es Diskussionen über historische
Trends verglichen mit heutigen Trends geben kann und warum es gerade diese Zeit
solche enorm wachsenden Einkommensunterschiede erzeugt - so können wir
Schlussfolgern, dass es bestimmte strukturelle Faktoren gibt, die in das System
gekommen sind und diese Faktoren unterstützen dieses Unterschiede. Wir können
ebenso Schlussfolgern, dass diese Mechanismen keine Anomalien des Systems sind
- sondern eher eine natürliche Entwicklung des Kapitalismus mit der Zeit
repräsentieren.
Die Einkommen durch beispielsweise „Kapitalerträge“ sind ein guter Punkt. Auch
wenn sie scheinbar nur eine kleine Abweichung des generellen Einkommens sind,
sehen einige Wirtschaftsanalytiker in den Kapitalerträgen die „Hauptursache der
Einkommensunterschiede in den USA“.461 Einkünfte aus Kapitalvermögen werden
wie folgt definiert: „Der Art nach gehören zu den Einkünften aus Kapitalvermögen alle
Entgelte aus der Nutzungsüberlassung von (Geld-)Kapital, das heißt die Früchte aus
der Kapitalnutzung.“462 Dieses Wort wird am häufigsten im Zusammenhang mit dem
Verkauf von Aktien, Anleihen, Derivaten, Termingeschäften und weiteren abstrakten
„Handels“-Mitteln verwendet.
Allein in den USA schöpfen die obersten 0.1% der Bevölkerung ungefähr die Hälfte
aller Kapitalerträge ab,463 und diese Erträge machen 60% des Einkommens der 400
Reichsten aus.464 Dieser Klassenmechanismus der Kapitalerträge ist interessant,
weil es eine privilegierte Form des Einkommens ist. Auch wenn der Aktienmarkt für
konservative gemeinsame Anlagefonds und Pensionsinvestition von der allgemeinen
Bevölkerung benutzt werden können, ist er eigentlich ein Spiel der Oberklasse, wenn
es um substantielle Gewinne geht, da das hohe Maß an Kapital, welches Anfangs
benötigt wird, diese hohen Gewinne ermöglicht. Genauso wie der Elitismus des
hohen Einkommens durch Zinsen sind Kapitalerträge ein klassensichernder
Mechanismus, der durch bestehenden Reichtum angetrieben wird.
Dazu kommen die Einkommensunterschiede aufgrund der verschiedenen Positionen
innerhalb der Unternehmenshierachie. In einer Studie des Canadian Centre for
Policy Alternatives wurde herausgefunden, dass Kanadas obersten Geschäftsführer
das jährliche Einkommen des durchschnittlichen Arbeiters in drei Stunden
machen.465 In den USA sind laut den Untersuchungen des Economic Policy Institute
„die durchschnittlichen jährlichen Verdienste des ersten 1% stiegen von 1979 bis
2007 um 156%; für die ersten 0.1% stiegen sie um 362%. Im Kontrast dazu haben
459
Referenz: The Unequal State of America: a Reuters series [http://www.reuters.com/subjects/incomeinequality/washington]
460
Referenz: Income Inequality Around the World Is a Failure of Capitalism
[http://www.theatlantic.com/business/archive/2011/05/income-inequality-around-the-world-is-a-failure-ofcapitalism/238837/ ]
461
Referenz: The Top 0.1% Of The Nation Earn Half Of All Capital Gains
[http://www.forbes.com/sites/robertlenzner/2011/11/20/the-top-0-1-of-the-nation-earn-half-of-all-capital-gains/ ]
462
Kapitaleinkommen quelle
http://de.wikipedia.org/wiki/Eink%C3%BCnfte_aus_Kapitalverm%C3%B6gen_(Deutschland)
463
Referenz: Capital gains tax rates benefiting wealthy feed growing gap between rich and poor
[http://www.washingtonpost.com/business/economy/capital-gains-tax-rates-benefiting-wealthy-are-protected-byboth-parties/2011/09/06/gIQAdJmSLKstory.html]
464
Referenz: Questioning the Dogma of Tax Rates [http://www.nytimes.com/2011/08/20/business/questioningthe-dogma-of-lower-taxes-on-capital-gains.html?pagewanted=all&r=0 ]
465
Referenz: Top Canadian CEOs make average worker’s salary in three hours of first working day of year
[http://business.financialpost.com/2012/01/03/top-canadian-ceos-make-average-workers-salary-in-three-hours/ ]
147
Struktureller Klassismus, der Staat und Krieg
die 90 bis 95% einen Lohnzuwachs von 34%, weniger als ein Zehntel der obersten
0.1%. Arbeiter in den unteren 90% haben den geringsten Zuwachs von 17% von
1979 bis 2007.“466
Sie fuhren fort: „Die gewaltigen Anstiege an Einkommensunterschiede sind einer der
Hauptantriebe der enormen Aufwärtsumverteilung der Haushaltseinkommen der
oberen 1%. Der andere Grund ist der Anstieg an Kapitaleinkommen und der
wachsende Anteil der Einkommen, die in das Kapital gehen anstatt in Löhne und
Kompensierung. Das Ergebnis dieser drei Trends ist mehr als eine Verdopplung der
Anteile des Gesamteinkommens der oberen 1% in den USA zwischen 1979 und
2007 und ein großer Anstieg des Einkommensunterschieds zwischen denen an der
Spitze und der großen Mehrheit. 2007 war das durchschnittliche jährliche
Einkommen der oberen 1% 42 mal größer als das Einkommen der unteren 90% (von
14 mal größeren in 1979). Einkommen der oberen 0.1% waren 220 mal größer (von
47 mal größeren in 1979).“467
Ähnliche Trends findet man in anderen Industrienationen. Selbst China hat 2013 das
Problem der wachsenden Einkommenskluft diskutiert und Vorschläge gebracht diese
zu verringern.468 Die OECD haben 2011 in einem Bericht gezeigt, dass Länder mit
geringen Einkommensunterschieden in der Vergangenheit in den letzten Jahrzent
signifikante Anstiege verzeichneten. [469, 470]
Zusammenhänge in Form der klar definierten strukturellen Mechanismen sind
schwierig festzumachen hinsichtlich diesem generellen Trend der Beschäftigung in
Beziehung zur Einkommensungleichheit. Die Kombination aus dem Kapitalismus
innewohnenden Wertesystems des psychologischen Anreizes der Selbsterhaltung
und Selbstmaximierung, verbunden mit flexiblen Gesetz-, Steuer- und
Finanzvariablen, zusätzlich zu dem grundlegenden strategischen Vorteil, der von der
Oberklasse aufgrund der existierenden Reichtumssicherheit erhalten wird, erzeugt
einen komplexen synergistischen Mechanismus der klassenerhaltung und
Unterdrückung nach außen.
Ein subtiler aber dennoch enthüllender Punkt ist, dass während der letzten
Rezessionen in den USA sich die Kluft zwischen Arm und Reich noch weiter
ausgeweitet hat.471 Es ist grundsätzlich zu Schlussfolgern, dass wenn das
Wirtschaftssystem ohne strukturelle Eingriffe zum Vorteil der Wohlhabenden
bestehen würde, so würde eine landesweite Rezession des Ausmaß wie es 2007
und die folgenden Jahre der Fall war alle negativ beeinflussen - unabhängig der
466
Referenz: CEO pay and the top 1% [http://www.epi.org/publication/ib331-ceo-pay-top-1-percent/ ]
ebd.
468
Referenz: China Issues Proposal to Narrow Income Gap
[http://www.nytimes.com/2013/02/06/world/asia/china-issues- plan-to-narrow-income-gap.html]
469
Referenz: Society at a Glance 2011 - OECD Social Indicators
[http://www.oecd.org/social/socialpoliciesanddata/societyataglance2011-oecdsocialindicators.htm]
470
Referenz: 10 Countries With The Worst Income Inequality: OECD
[http://www.huffingtonpost.com/2011/05/23/10-countries-with-worst-incomeinequalityn865869.html#s278244&title=1Chile]
471
U.S. Volkszählungsdaten zeigen: „Die oberen 20% der Amerikaner - diejenige, die mehr als 100000US$ pro
Jahr machen - bekamen 49.4% aller Einkommen, die in den USA erzeugt worden sind. Die unteren 20%,
diejenigen, die unter die Armutsgrenze fallen, machten 3.4%. Das Verhältnis von 14.5 zu 1 war ein Anstieg von
13.6 im Jahr 2008 und doppelt so gering 7.69 im Jahr 1968. An der Spitze haben die reichsten 5% der
Amerikaner, die mehr als 180000 US$ machen ein wenig zu ihren jährlichen Einkommen, so die daten. Familien
im mittleren 50000 US$ Bereich sanken ebenso ab“
[http://www.huffingtonpost.com/2010/09/28/income-gap-widens-census-n741386.html]
467
148
Struktureller Klassismus, der Staat und Krieg
sozialen Schicht. Jedoch 2010 berichtet, dass „die wohlhabendsten 5% der
Amerikaner, die mehr als 180.000$ verdienten, einen geringfügigen zuwachs des
Jahreseinkommen verzeichneten [...] Die Jahreseinkommen der Familien um den
50.000$ Bereich fielen."472
Als letzter Punkt zu dem Thema der Einkommensungleichheit ist es wichtig zu
erwähnen wie sich das Wirtschaftswachstum des Landes oft auf die Oberklasse
bezieht, wodurch die generelle wirtschaftliche Relevanz der unteren Klassen
reduziert wird. Der Begriff „Plutonomie“ ist in diesem Fall passend. Eine „Plutonomie"
wird wie folgt definiert: „Wirtschaftswachstum, das von der reichsten Oberklasse
erzeugt und konsumiert wird. Plutonomie bezeichnet eine Gesellschaft in der der
Großteil des Reichtums von einer immer kleiner werdenden Minderheit kontrolliert
wird; so wird das Wirtschaftswachstum der Gesellschaft abhängig von den
Reichtümern dieser selben wohlhabenden Minderheit.“473
Die beste Weise die Art einer Plutonomie und die Relevanz in der modernen Zeit zu
beschreiben ist vielleicht die Worte derjenigen zu hören, die diese Entwicklung
begrüßen. 2005 hat die Citigroup (eine mächtige weltweite Bank) eine Reihe von
internen Memos zu dem Thema produziert und sie waren ziemlich offen in ihrer
Analyse und den Schlussfolgerungen.
Sie schrieben: „Die Welt ist in zwei Blocks aufgeteilt - die Plutonomie und den Rest.
Die USA, UK und Kanada sind die führenden Plutonomien - Wirtschaften, die von
den Reichen angetrieben werden.“474 „In einer Plutonomie gibt es keine Tiere wie
„den U.S. Konsumenten“ oder „den Engländischen Konsumenten“ oder auch den
„russischen Konsumenten". Es gibt wenige reiche Konsumenten, die jedoch den
gewaltigen Teil des Einkommens und Konsums ausmachen. Dann gibt es den Rest,
die vielen „nicht-reichen“, die jedoch nur einen überraschend kleinen Teil des
nationalen Kuchens ausmachen."475 „Wir sollten uns nicht so sehr darum scheren
was der durchschnittliche Konsument - sagen wir die 50% - machen werden, da der
Konsument (wie wir denken) weniger wichtig für die zusammengefassten Daten sein
wird, im Gegensatz zu den Stimmungen der Reichen und was diese machen werden.
Das ist einfach ein Thema der Mathematik, nicht Moral.“476
Mit 20% der amerikanischen Bevölkerung in Kontrolle von 85% Reichtum des
Landes477 ist es deutlich, dass diejenigen, die diese 85% benutzen wichtiger für das
BIP oder Wachstum der Wirtschaft sind. Was das bedeutet ist, dass das
Finanzsystem wenig Anreize hat sich um die Aktionen oder das Wohlbefinden des
Großteils der Öffentlichkeit kümmern.
Sie fahren fort: „Der Kern unserer Plutonomie-These [ist], dass die Reichen die
dominante Quelle des Einkommens, Reichtums und der Nachfrage in PlutonomieLändern wie England, USA, Kanada und Australien sind [...] Zweitens glauben wir,
dass die Reichen in den nächsten Jahren reicher werden, dabei werden die
Kapitalisten (die Reichen) als Ergebnis einen größeren Teil des BIP bekommen,
letztendlich durch die Globalisierung. Wir glauben, dass der weltweite Vorrat an
472
Referenz: Income Gap Widens: Census Finds Record Gap Between Rich And Poor
[http://www.huffingtonpost.com/2010/09/28/income-gap-widens-census-n741386.html]
473
„Plutonomie“ definiert: [http://de.wikipedia.org/wiki/Plutonomie]
474
Plutonomy: Buying Luxury, Explaining Global Imbalance, Citigroup Internal Memo, October 16th 2005, p.1
475
ebd., p.2
476
The Plutonomy Symposium — Rising Tides Lifting Yachts, Citigroup Internal Memo, September 29, 2006, p.11
477
Referenz: Wealth, Income, and Power [http://sociology.ucsc.edu/whorulesamerica/power/wealth.html]
149
Struktureller Klassismus, der Staat und Krieg
Arbeitskraft in Schwellenländern eine Lohninflation in Schach halten wird und
Profitmargen erhöhen wird - gut für die Reichtümer der Kapitalisten, relativ schlecht
für entwickelte Märkte der einfachen/outsourcebaren Arbeit. Dies prophezeit Gutes
für die Unternehmen, die an die Reichen verkaufen oder diesen Dienstleistungen
anbieten.“478
Bezüglich der Wichtigkeit der restlichen Bevölkerung heißt es in dem Memo: „Die
größte Gefahr für die Plutonomie sehen wir in Form von mehr Forderungen für die
Reduzierung von Einkommensungleichheiten, gleichere Reichtumsverteilung und die
Kritisierung von Kräften wie der Globalisierung, die den Profit und
Reichtumswachstum erhöht haben.“479 „Unsere Schlussfolgerung? Die drei Hebel die
Regierungen und Gesellschaften ziehen könnten, um der Plutonomie ein Ende
bereiten könnten, sind klein. Die Eigentumsrechte sind generell immernoch Intakt,
Besteuerungsrichtlinien neutral bis vorteilhaft und die Globalisierung hält den
Nachschub an Arbeitskräften oben, dass zu einer Bremsung der Lohninflation
führt.“480, 481
Auch wenn die Plutonomie keine Quelle des Klassenkonfliktes ist, so ist sie doch
sicherlich ein Ergebnis. Chrystia Freeland Autorin von Plutocrats: The Rise of the
New Global Super-Rich and the Fall of Everyone Else kommentiert die Natur dieser
eingerahmten Psychologie in der reichen Minderheit: „Man macht so etwas nicht auf
diese glucksende Art, beim Zigarre rauchen auf dieser verschwörerischen Schiene.
Du machst das, indem du dich selber davon überzeugst, dass das was in deinem
persönlichen Eigeninteresse ist auch im Interesse von allen Anderen ist. Du
überzeugst dich also davon, dass die öffentliche Versorgung, also Investition in
Bildung, die die soziale Mobilität überhaupt erst ermöglicht, gekürzt werden muss,
sodass das Haushaltsdefizit sinkt und so deine Steuern sich nicht erhöhen. Und was
mir wirklich Sorgen bereitet ist, dass es so viel Geld und so viel Macht an der Spitze
gibt und die Kluft zwischen diesen Menschen an der Spitze und den Anderen so groß
ist, dass die soziale Mobilität abgewürgt wird und wir eine transformierte Gesellschaft
sehen werden.“482
Zusammenfassung
Viel könnte zu dem vielseitigen Kampf auf diesem Planeten gesagt werden,
größtenteils immer wieder rückführend auf Finanz- und Marktmächte und deren
institutionelle Erhaltung. Von physischer Gewalt bis hin zu subtiler gesetzlicher
Manipulation ist diese Thematik allgegenwertig und dominant.
Man könnte sogar argumentieren, dass dem Fortschritt selbst der Krieg erklärt
wurde, da etablierte Unternehmen (die einen gewaltigen Marktanteil in einer
bestimmten Branche halten) oft daran arbeiten rücksichtslos alles auszuschalten was
mit ihnen konkurrieren kann, selbst wenn das Produkt fortschrittlicher oder
nachhaltiger ist.483 Veränderung und Fortschritt selbst sind werden in dem
478
Revisiting Plutonomy: The Rich Getting Richer, Citigroup Internal Memo, March 5th, 2006, p.11
The Plutonomy Symposium — Rising Tides Lifting Yachts, Citigroup Internal Memo, September 29, 2006, p.11
480
Plutonomy: Buying Luxury, Explaining Global Imbalance, Citigroup Internal Memo, October 16th 2005, p.24
481
Für eine detaliertere Analyse der Citigroup-Dokumente siehe:
http://www.insideriowa.com/en/opinion/index.cfm?action=display&newsID=17761
482
National Public Radio (October 15, 2012) "A Startling Gap Between Us And Them
In'Plutocrats'"[http://www.npr.org/2012/10/15/162799512/a-startling-gap-between-us-and-them-in-plutocrats]
483
Eine bekanntes Beispiel dieses gehemmten Fortschritts für die ERhaltung des Profits war der erfolgreiche
Versuch der Ölindustrie und demnach der US REgierung den Fortschritt eines vollständig elektrischen Fahrzeugs
479
150
Struktureller Klassismus, der Staat und Krieg
kapitalistischen System nicht begrüßt, da sie oft den Erfolg von etablierten
Institutionen stört. Die unglaublich langsame Anwendungsrate neuer Nachhaltigkeit
fördernden technologischen Methoden ist ein Paradebeispiel.484
Tatsächlich gibt es auf Unternehmensebene nicht nur einen ständigen Krieg, um den
Wettbewerb zu reduzieren, sondern es gibt auch eine andauernde Ausbeutung der
Öffentlichkeit. Adam Smith hat diese Tatsache in dem „Wohlstand der Nationen“
erwähnt. In dieser heißt es: „Das Interesse der Händler in jedem bestimmten
Handelszweig oder in der Produktion unterscheidet sich immer und ist sogar
entgegen gesetzt zu dem der Öffentlichkeit [...] Den Wettbewerb zu reduzieren ist
immer im Interesse der Händler. [...] Den Wettbewerb zu reduzieren [...] dient den
Händlern, sodass sie die Profite über das natürliche Maß steigern können, um, zu
derem eigenen Vorteil, eine absurde Steuer auf den Rest der Mitbürger legen.“485
Auf der nationalen Ebene scheint „Frieden“ heute nur eine Pause zwischen
Konflikten auf der Bühne der weltweiten Zivilisation zu sein. Es gibt nahezu zu jedem
Zeitpunkt irgendwo auf der Welt einen Krieg und wenn es keinen gibt, dann
beschäftigen sich die Großmächtige damit, bessere Waffen zu bauen und/oder alte
Waffen an andere Länder zu verkaufen, die in der gleichen Weise handeln - alle nicht
nur im Namen des Schutzes, sondern auch im Namen des „guten Geschäfts“.486
Selbst Nationen haben eine Form der Klassenhierarchie angenommen. Dabei
unterdrücken dominante erste Welt Länder die 3. Welt Länder. In historischer
Literatur finden wir Begriff für solche Gefälle wie Supermächte, Mächte, Untermächte
und Vasallenstaaten. Die nationalen Klassenhierarchie und die strukturellen
Mechanismen, die dieses Gefälle in Stand halten, unterscheiden sich nicht stark von
denen, die die gesellschaftlichen Klassen aufrechterhalten.
Wenn beispielsweise das Schuld- und Zinssystem, wie zuvor beschrieben, sehr gut
darin sind einen Druck auf die unteren Klassen auszuüben wodurch strukturell deren
Wohlstand und soziale Mobilität beschränkt wird, so gibt es die gleichen Effekte bei
der Unterdrückung einer Nation durch die Weltbank und den Internationalen
Währungsfond.487 Sogar John Adams, der zweite Präsident der USA hat dies
ausgedrückt: „Es gibt zwei Wege ein Land zu erobern und zu versklaven. Einer ist
durch das Schwert. Der andere durch Schulden.“488
Auf der breitesten Ebene wird der echte Krieg gegen Problemlösungen und
menschliche Harmonie geführt. Der echte Krieg wird gegen ein Mächtegleichgewicht
und gegen soziale Gerechtigkeit geführt. Der echte Krieg wird gegen die Idee der
wirtschaftlichen Gleichheit geführt.489, 490 In den Worten des Richters am obersten
in den 1990er Jahren zu entwickeln [Empfohlenes Video: “Who Killed the Electric Car?“:
http://www.imdb.com/title/tt0489037/synopsis]
484
Referenz: Oil Giants Loath to Follow Obama’s Green Lead
[http://www.nytimes.com/2009/04/08/business/energy-environment/08greenoil.html?pagewanted=all&_r=0]
485
An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, Adam Smith, Modern Library Reprint, 1937,
New York, p.250
486
Referenz: The U.S.: Arms Merchant to the Developing World [http://nation.time.com/2012/08/28/theres-nobusiness-like- the-arms-business-2/
487
Referenz: Structural Adjustment—a Major Cause of Poverty [http://www.globalissues.org/article/3/structuraladjustment-a-major-cause-of-poverty]
488
Zitat: http://www.john-adams-heritage.com/quotes/
489
Referenz: 'Extreme' Poverty in US Has More Than Doubled, Study Says
[http://www.moneynews.com/Economy/Extreme- Poverty-US/2012/03/06/id/431627]
490
Referenz: Of the 1%, by the 1%, for the 1% [http://www.vanityfair.com/society/features/2011/05/top-onepercent- 201105]
151
Struktureller Klassismus, der Staat und Krieg
Gerichtshof, Louis D. Brandeis: „Wir können eine Demokratie in diesem Land haben
oder wir können konzentrierten Reichtum in den Händen der wenigen haben, aber
wir können nicht beides haben.“491
Überall auf der Welt reden die Menschen von der Notwendigkeit der Gleichheit. Die
meisten gebildeten Menschen in der Welt haben keinen Respekt gegenüber
Geschlechts- oder Rassenvorurteilen. Sexistisch oder rassistisch zu sein wurde zu
einer tief verabscheuten Idee, auch wenn es nicht lange her ist, dass in der
westlichen Welt solche kulturellen Ansichten als „normal“ angesehen wurden. Es
zeigt sich in dem Verlauf der Geschichte ein Ziel, welches ist die Gesellschaft
gleicher zu machen, was auch, per Definition, die zugrunde liegende Idee der
„Demokratie“ ist.
In mitten all dessen wird die am stärksten unterdrückende Form des getrennten
menschlichen Leides zum größten Teil unerkannt fortgeführt. Heute unterdrücken
einen nicht Rassen, Geschlechte oder Glaubensbekenntnisse - sondern die
Institutionen der Klassen. Es ist heute ein Thema der „Reichen“ und „Armen“.
Genauso wie der Rassismus, diskriminieren undspalten diese ideologischen und
letztendlich strukturellen Formen der Unterdrückung die menschliche Spezies auf
heftige und destruktive Weise.
Im weiten Kontext ist dieses Theater der multidimensionaler Kriegsführung - eine
Welt im Krieg mit sich selbst - komplett unnachhaltig. Im Anbetracht der
beschleunigenden gesellschaftlichen Probleme wird es klarer, dass das Ethos des
extremen Wettbewerbs und enger Selbsterhaltung auf Kosten von Anderen - ob nun
persönliche, auf Unternehmensbasis, klassenbasiert, ideologisch oder auf
Staatsebene - nicht die Lösung dieser Probleme oder langanhaltenden menschlichen
Wohlstand bringen wird. Es wird eine neue Art des Denkens benötigen diese
soziologischen Trends zu überkommen und im Kern dieses kulturellen Wandels liegt
die Veränderung der sozioökonomischen Prämisse selbst.
491
As quoted by Raymond Lonergan in Mr. Justice Brandeis, Great American (1941), p.42
152

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