1 Der Erste Weltkrieg als museale Landschaft Ypern

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1 Der Erste Weltkrieg als museale Landschaft Ypern
Der Erste Weltkrieg als museale Landschaft
Eine Reise nach Flandern und Nordfrankreich
Felicitas Klingler, Hannah Röttele, Julia Thyroff
Für den Arbeitskreis „Historisches Lernen mit Museen“ war die 100. Jährung des Ersten Weltkrieges
Anlass für eine dreitägige Exkursion nach Flandern (Poperinge/Ypern) und Nordfrankreich
(Somme). Hier befanden sich zentrale Kriegsschauplätze: Um Ypern – der Stadt, die direkt an der
britischen Verteidigungslinie lag – trugen deutsche, britische, französische und belgische Truppen
ab August 1914 einen vierjährigen Stellungskrieg aus; an der Somme fanden immer wieder
kriegerische Auseinandersetzungen statt, so die verlustreichste Schlacht von Juli bis September
1918. Bis heute ist die Region von den Spuren, die der Erste Weltkrieg hinterlassen hat, und dem
stillen Gedenken an die Opfer gezeichnet. Doch auch der Gedenktourismus mit stark britischer
Prägung hat Einzug gehalten und ist ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Auf unserer Reise
besuchten wir Museen zum Ersten Weltkrieg (In Flanders Fields Museum, Ypern/ Historial de la
Grande Guerre, Peronne) sowie Orte, die im Zuge des Krieges dort entstanden und deren Spuren
heute noch zu besichtigen sind: das Talbot House - ein ehemaliger Ruhe- und Erholungsort für
britische Soldaten - sowie die Ausstellung über das französisch-britische Lazarett im
Besucherzentrum des Lissenthoek Military Cemetary. Außerdem das Sanctuary Wood Museum,
eines von zahlreichen Privatmuseen mit Ausgrabungen und Kuriositäten zum Ersten Weltkrieg,
Soldatenfriedhöfe und weitere Orte der Erinnerung und des Gedenkens.
Ypern
In den Schaufenstern finden wir Stahlhelme, die zum Kauf angeboten werden, und poppy flowers,
das Symbol des britischen Totengedenkens, aus Schokolade. Auf den Parkplätzen stehen
englische Touristenbusse und jeden Tag, pünktlich um 20 Uhr, findet am monumentalen
Ehrenbogen Menenpoort eine Kranzniederlegung für die gefallenen britischen Soldaten statt, die
ohne Grab geblieben sind. Die Augen von Hunderten schauen zu; manch einer, dessen Kopf in
der Masse verschwindet, hebt seinen Arm und filmt die Zeremonie mit seinem Smartphone. Eine
Reihe von Freiwilligen tritt vor, legt den Kranz aus roten Mohnblumen nieder, während das
Trompetensignal the Last Post1 ertönt.
Bereits die ersten Beobachtungen, die wir in Ypern machen, führen uns vor Augen, welche
Bedeutung dem Grande Guerre oder Great War in Belgien und Großbritannien heute noch
1„The Last Post” ist ein Horn- oder Trompetensignal, das oftmals bei militärischen Begräbnissen oder
Gedenkzeremonien für die im Krieg gefallenen Soldaten des Commonwealth gespielt wird.
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beigemessen wird. Das nationale Gedenken überlagert sich dabei mit dem familiären Gedächtnis
und prägt den Emotionenhaushalt einer ganzen Nation. Gedacht wird dem unbekannten
Soldaten ebenso wie dem im Krieg gefallenen Großonkel, den man persönlich nie kennen gelernt
hat.
Talbot House
In Poperinge, einer Kleinstadt zwölf Kilometer von Ypern
entfernt, sind wir im Talbot House untergebracht. In dem
großbürgerlichen
Kaufmannshaus
aus
dem
18.
Jahrhundert fanden während des Ersten Weltkriegs
britische Soldaten einen Rückzugsort für eine kurze
Ruhepause von der Front. Poperinge ist zwar nah, doch
gleichzeitig so weit von der Front entfernt, dass die
Soldaten sich in der Stadt sicher fühlen sollen. Sie gehen
im Café A la Grande Poupée tanzen, lernen Mädchen
kennen, verlieben sich vielleicht. Sie bleiben für ein paar
Nächte,
können
durchschlafen,
Bücher
aus
der
hauseigenen Bibliothek lesen, Billard und Klavier
spielen. Erholung finden sie auch im schön angelegten
Das Talbot House vom Garten aus gesehen
Garten; einen Moment der Spiritualität, vielleicht der
Angstbewältigung, in der kleinen Kapelle unter dem Dach. Auch wenn der Ort sich seit dieser
Zeit verändert hat, so ist er ein offenes Haus geblieben, in dem sich Freiwillige aus
Großbritannien im Wechsel für einige Monate um die Gäste kümmern, sie mit Tee und Gebäck
willkommen heißen. Spuren, die auf die Zeit als Erholungsstätte für die Soldaten verweisen,
finden sich in dem „Living Museum“ viele: Fotografien, Zeichnungen und Zeitungsausschnitte an
den Wänden, auch das ein oder andere Möbelstück ist von damals geblieben.
Kurios finden wir die Hausregeln, die an die Wand geheftet wurden. Sie sind charakteristisch für
das, was das Haus für die Soldaten sein wollte und vermitteln eine Idee davon, welche
Herausforderung es gewesen sein mag, einen Ort der Ruhe und des Ausgleichs in der Zeit des
Krieges und der Verrohung von Mensch und Sitten zu schaffen. Auf einem Schild vor der Tür, die
den Hausflur in zwei Hälften teilt, ist zum Beispiel zu lesen:
„If you are in the habit of spitting on the carpet at home, please do spit here.”
Auf einem anderen Schild, das neben der Tür, die in den Garten führt, angebracht ist, steht
einfach nur:
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„Come into the garden and forget about the war. “
Das Talbot House und das dazu gehörige Museum, das sich in einem separaten Gebäude befindet,
zeigen den Krieg von einer anderen Seite: Aus der Perspektive von Menschen, die eine heile Welt
suchen. Der prekäre Charakter dieser Welt wird in der Aufladung von Poperinge, einer kleinen
unscheinbaren Stadt in Flandern, die während des Ersten Weltkrieges zum „kleinen Paris“
avancierte, sowie der räumlichen und zeitlichen Nähe zu den Schauplätzen des Ersten
Weltkrieges deutlich.
In Flanders Fields Museum
Im Stadtzentrum von Ypern besuchen wir das
In Flanders Fields Museum. Der Name geht auf
das gleichnamige Gedicht zurück, verfasst vom
kanadischen
Allgegenwart
Lieutnant
und
John
Normalität
McCrae.
des
Die
Todes
beschreibt McCrae darin im Kontrast zu den
roten Mohnblumen, den singenden Lärchen
und dem leuchtenden Sonnenuntergang auf
Das In Flanders Fields Museum in der ehemaligen
Tuchhalle von Ypern
Flanderns Feldern.
Untergebracht ist das Museum in einer wieder
aufgebauten, prächtigen Tuchhalle. Der Originalbau – wie auch ein Großteil der Stadt – war
während des Ersten Weltkrieges zerstört worden. Die englische Seite hatte sich gewünscht, den
zerstörten Zustand Yperns als Mahnmal zu belassen. Doch in Flandern entschied man sich
anders. Reparationszahlungen, die von deutscher Seite geleistet wurden, führten zum
Wiederaufbau der Tuchhalle und der Stadt.
Die Ausstellung im Museum ist chronologisch strukturiert. Ein Schwerpunkt liegt auf der
Darstellung des Kriegsverlaufs. Ergänzt wird diese ereignisgeschichtliche Präsentation mit
persönlichen Zeugnissen: Objekte, Zeitzeugenberichte oder Feldpostbriefe.
Der Schrecken des Krieges bestimmt die Ästhetik der Ausstellung: Der Ausstellungsraum ist
verdunkelt; schwarz und rot sind die dominierenden Farben. Die Ausstellungselemente stehen
dicht beieinander und schließen Tunnelgänge – so einen, in dem schockierende Fotografien von
Kriegsversehrten und entstellten Gesichtern zu sehen sind – mit ein. Als akustische Untermalung
kommt ein dumpfes, monotones Hintergrundgeräusch zum Einsatz, das die räumliche und
visuelle Wirkung der Ausstellung verstärkt. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass die
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Gestaltung darauf abzielt, bei Besuchenden ein Gefühl der Beklemmung und Bedrohung zu
erzeugen, ihnen also bestimmte Emotionen durch eine multiple sinnliche Ansprache nahelegt.
Innovativ
finden
wir
gefilmte Theaterinszenierungen, in
denen
zum
Beispiel
der
Weihnachtsfrieden aus Perspektive der Soldaten unterschiedlicher Nationalitäten erzählt wird.
Die Schauspieler, die fast in voller Körpergröße zu sehen sind, treten den Besuchenden hier
durch Körperlichkeit und Präsenz gegenüber; lassen sie auf diese Weise gleichsam zu
anwesenden Teilhabern ihrer Erzählung werden. Trotz dieser gelungenen szenographischen
Elemente vermissen wir hier die Quellen der gesprochenen Texte. Ein Umstand, der auch an
anderen Stellen in der Ausstellung immer wieder auffällt.
Historial de la Grande Guerre
Im Kontrast zu dem emotionalisierenden Konzept des In Flanders Fields Museum steht das
renommierte Historial de la Grande Guerre. Dieses besuchen wir in der Kleinstadt Péronne. Auf
dem Weg dorthin fahren wir nicht nur immer wieder an Friedhöfen mit ungezählten weißen
Grabkreuzen vorbei, sondern auch durch zahlreiche nordfranzösische Ortschaften, von denen
jede ein eigenes Kriegerdenkmal besitzt. Die Gründung des Historial de la Grande Guerre im Jahr
1992 war eine Reaktion auf die vielen Touristen in der Region, die die Denkmäler und
Gräberfelder besuchen; Péronne selbst war während des Ersten Weltkrieges zerstört worden.
Der helle, moderne Museumsbau fügt sich in die Kulisse einer mittelalterlichen Stadtbefestigung
ein; im Inneren sind die Räume großzügig und lichtdurchflutet und erfüllen damit zwei
grundlegende Kriterien einer gelungenen Museumsarchitektur. Für Henri Ciriani, den
Architekten des Museumsbaus, steht dieser in dialektischem Verhältnis zum „Krieg“ als
Ausstellungsthema, denn Architektur, so Ciriani, könne Krieg nicht widerspiegeln; die Tätigkeit
des Architekten sei per se ein Werk des Friedens.2 Auch die Ausstellungsmacher – ein
Historikerteam aus Frankreich, Großbritannien und Deutschland – versuchen nicht, den Ersten
Weltkrieg in der Ausstellung darzustellen oder seine Atmosphäre nachzuempfinden, sondern
wählen einen mentalitätsgeschichtlichen und multiperspektivischen Zugang, der die Stimmung
innerhalb der Bevölkerung in Frankreich, Deutschland und Großbritannien vor dem Krieg
thematisiert: seine Auswirkungen auf das zivile Leben, wie zum Beispiel die Ernährung, Feldpost
oder Kriegspropaganda; außerdem zentrale Aspekte des Krieges und des Soldatenlebens, etwa
technische Neuerungen in der Kriegsführung, die medizinische Versorgung oder die Freizeit und
den Fronturlaub. Auch die Nachgeschichte des Krieges - das Totengedenken oder die
persönliche Verarbeitung - werden in der Ausstellung zum Thema gemacht.
2 Vgl. André Brieudes: Du Châteua Médiéval À L’Oeuvre Contemporaine.
In: Caroline Fontaine/Annette
Becker/Stéphane Audoin-Rouzeau: Les Collections de l’Historial de la Grande Guerre, Paris 2008, S.17.
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Die Ausstellung besitzt einen collagenhaften,
künstlerischen Ansatz, die den Besuchenden
abverlangt, unterschiedliche Versatzstücke
zusammenzufügen, um die Geschichte der
Menschen, die den Ersten Weltkrieg als
Zivilisten oder Soldaten erlebt haben, zu
montieren und erzählbar zu machen. Dieser
Ansatz setzt ein großes Vertrauen in die
Besuchenden, birgt aber ebenso das Risiko,
Blick in einen der Ausstellungsräume des Historial de la
dass sie sich - je nach Vorwissen und
Grande Guerre
Museumserfahrung - alleine gelassen fühlen.
Auch für uns erschließt sich die eine oder andere Idee, die hinter der Ausstellungskonzeption
steht, erst in der Nachbesprechung. Gleichzeitig lädt gerade das Bruchstückhafte,
Unvollständige, Nicht-Verstandene ein, immer wieder und immer wieder neu über das Gesehene
nachzudenken und darüber zu sprechen.
Eindrücklich in Erinnerung geblieben ist uns ein großer Tisch, der sich im Ausstellungsabschnitt
der Nachgeschichte befindet. Auf diesem finden sich Unmengen an Ausgrabungsgegenständen:
Flaschen, Patronenhülsen, Schuhe, Helme und andere. Überbordend und ungeschützt liegen sie
da. Allein das kleine Schild mit der Bitte, nichts zu berühren, hindert daran, mit der Hand in den
Haufen Patronenhülsen zu fassen und sie wie Sandkörner durch die Finger rieseln zu lassen. Die
Masse, die Unmittelbarkeit, das scheinbar „Nicht-Inszenierte“ stoßen die Besuchenden hier wie
an keiner anderen Stellen auf die Reflexion der Selbsttätigkeit des Museums, das den Kriegsmüll
– eben die Gegenstände, die immer noch massenhaft in der Erde Flanderns und Nordfrankreichs
liegen – musealisiert und so zum Zeichenträger werden lässt.
Sanctuary Wood Museum
Ausgegrabener Kriegsmüll begegnet uns auf unserer Reise auch an anderen Orten wieder. Zum
Beispiel als clevere Geschäftsidee des Privatmuseums Sanctuary Wood, das sich den
Besuchenden als authentischer Kriegsschauplatz präsentiert.
Gegründet wird das Sanctuary Wood Museum von einem Bauern, der es versteht, aus der Not
eine Tugend zu machen. Nach dem Krieg ist sein Acker verwüstet, von Schützengräben
durchzogen. Er macht ihn der Öffentlichkeit zugänglich und baut außerdem ein kleines Haus
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darauf, in dem er Kriegsmüll und Kuriositäten präsentiert, die einen Bezug zum Ersten
Weltkrieg haben.
Das Museum wird über eine Kneipe betreten, in der sich die Besuchenden vor oder nach dem
Museumsbesuch erfrischen können. Von dort kommen sie in einen Ausstellungsraum, in dem ein
langer Tisch steht, auf dem sich hölzerne Guckkästen befinden. Die Besuchenden nehmen auf
Hockern Platz, drehen an dem schwarzen Knopf, der links an den Guckkästen angebracht ist. Sie
betrachten Kriegsfotografien mit 3D-Effekten, die von professionellen Fotografen mit
stereoskopischen Kamera aufgenommen wurden. Nach dem Krieg, vor knapp hundert Jahren,
standen diese Guckkästen in Kneipen, dienten der Unterhaltung und den voyeuristischen
Bedürfnissen. Auch heute noch bringen die Fotografien den Betrachtenden das Kriegsgeschehen
sehr, manchmal zu nahe. Auf einem Foto sehen wir Soldaten, die Picknick auf einer Wiese
machen. Die Soldaten sitzen der Kamera zugewandt und integrieren, so scheint es, den
Betrachter in ihre Runde, der - wir ertappen uns dabei - zu erkennen versucht, welcher Belag auf
ihren Broten liegt. Eine andere Fotografie zeigt den Aufwand, den es erfordert, ein
Artilleriegeschoss in Stellung zu bringen: Mindestens zehn Soldaten sind dabei zugange, das
Geschoss im Matsch zu positionieren. Wieder andere zeigen verwüstete Landschaften aus
Schlamm. Darin vereinzelt herausragende Baumstümpfe oder Äste, starre Leichen oder
halbverweste Schädel.
In den Vitrinen, die an den Wänden des Ausstellungsraums entlangführen, befinden sich
Uniformen, Waffen, Patronenhülsen und Fotos. Außerdem ein Flipper, Vasen, alte
Flugzeugmotoren und ein Schirmständer, der aus Patronenhülsen gefertigt wurde. Die Ordnung
der Dinge ist nur manchmal zu erkennen: Dann etwa, wenn Patronenhülsen neben
Patronenhülsen liegen; eine Narrationslinie erschließt sich den Betrachtenden jedoch nicht.
Nach
dem
Ausstellungsbesuch
betreten
wir
das
Außengelände, wo Schützengräben und Granatenkrater zu
sehen sind. Über die Montagebemühungen und Eingriffe
der
Museumsbetreibenden,
die
seit
Kriegsende
vorgenommen wurden, werden wir im Dunkeln gelassen.
Gerade die schlammigen Tunnel und Grabengänge lassen
vermuten, dass das Gelände regelmäßig frei geschaufelt
und von wucherndem Unkraut bereinigt wird. Über den
Verlauf der Front und die Situation der Soldaten lässt sich
nur spekulieren. Zu wenig gibt der Ort preis. Wer kämpfte
hier gegen wen? Wie richteten die Soldaten hier ihren
Schlafplatz ein? Und wie war es hier überhaupt möglich, Schlaf zu finden?
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Auch auf dem Außengelände stoßen wir immer wieder
auf kleine und größere Haufen von Kriegsmüll, der
ungeschützt
und
für
die
Besuchenden
greifbar,
herumliegt: Verrostete Stacheldrähte, Unmengen von
Patronenhülsen, Schaufelteile. Wie eine Rumpelkammer,
ein lange nicht betretener Dachboden hat das für uns
seinen Reiz. Dennoch bleibt es den Besuchenden im
Sanctuary Wood Museum selbst überlassen, das Gesehene
zu erkennen, zu kontextualisieren und zu interpretieren,
denn es gibt keine Beschriftungen und Erläuterungen.
Besucherzentrum und Lissenthoek Military Cemetery
Wie das Sanctuary Wood Museum macht auch das Besucherzentrum des Lissenthoek Military
Cemetery, das sich außerhalb von Poperinge befindet, einen Ausschnitt des Krieges zum Thema,
der sich unmittelbar vor Ort abgespielt hat:
Erzählt wird die Geschichte eines französisch-britischen Lazarettzentrums, das 1915 samt eines
Friedhofs angelegt wurde. Als Spur, die auf seine Geschichte verweist, ist der Friedhof geblieben,
außerdem Reste von Bahngleisen.
Die Ausstellung im Besucherzentrum stößt uns auf die Organisationsleistung und
ausdifferenzierte Infrastruktur, die der Erste Weltkrieg erforderte. Anfänglich als einfaches
Lazarett gedacht, wird dasselbe im Zuge des Krieges zu einem Lazarettzentrum ausgebaut und
erhält den Charakter einer „kleinen Stadt“: Neben befestigten Straßen, die Namen tragen, gibt es
eine Kapelle, Strom-, Klär- und Müllverbrennungsanlage, Gemüse- und Obstgärten oder einen
Sportplatz für das Personal, auf dem regelmäßig Training und Sportturniere veranstaltet
werden. Eindrücklich zeigt die Ausstellung außerdem, wie der Krieg zum Motor des
medizinischen
Fortschritts
wird:
Operations-
und
Behandlungsmethoden
werden
weiterentwickelt; die Orthopädie erfährt in den Kriegsjahren eine rasante Weiterentwicklung.
In Erinnerung bleibt uns insbesondere eine Hörstation, die eine Auswahl von Quellen vorstellt.
So Erlebnisse aus dem Lazarett, aber auch Zeugnisse, die auf die Gedenkkultur verweisen und
bis in die heutige Zeit reichen. Wir hören den Tagebucheintrag einer Krankenschwester, die den
Tod eines Patienten schildert; ebenso den Auszug eines Briefes, der von einer Großnichte am
Grabstein niedergelegt wurde oder typische Sätze, die als solche in der Lazarettzeitung
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festgehalten wurden und Einblicke in die Ängste, Sorgen, aber auch Routinen vermitteln.
Bruchstückhaft geben sie die Atmosphäre im Lazarettzentrum wieder:
„Schwester, denken Sie, dass ich es bis nach Hause schaffe?“
„War das eine Bombe?“
„Wer macht die Aufnahme?“
„Die Säge bitte.“
„Haben Sie falsche Zähne?“
Auf einem Bildschirm finden wir außerdem die Kurzbiographie von dem Engländer Sandy
William Edwin, der am 5. September 1917 - einem, so können wir lesen, sonnigen Tag - im
Lazarettzentrum verstorben ist und auf dem Militärfriedhof begraben liegt. Er war 24 Jahre,
geboren in Kalkutta, verheiratet, Manager in einem Transportunternehmen und Leutnant der
Royal Air Force. Die Koordinaten seines Grabes: XVIII H-8.
Der 5. September, das ist heute. Am Himmel sind Wolken, doch es ist angenehm warm. Mit den
Koordinaten im Kopf gehen wir nach draußen, in Richtung des Friedhofs. Die Koordinaten
helfen, dass wir uns auf dem Friedhof, dessen weiße Kreuze nur durch ihre Inschrift
unterscheidbar sind, orientieren können. Wir werden zu Spurensuchern, ordnen die Fragen in
unserem Kopf, die sich wie von selbst einstellen: Wer war Sandy William Edwin? Gab es
vielleicht einen Angehörigen, der genau wie wir jetzt auf der Suche nach seinem Grab die
Gräberreihen abgeschritten, die weißen Kreuze in der Reihe gezählt hat? Was mag ihm durch
den Kopf gegangen sein?
Zurück in Göttingen und Basel sind wir immer noch beschäftigt mit den Eindrücken, die die
Reise bei uns hinterlassen hat.
Wir bedanken uns herzlich bei Prof. Tobias Arand und PD Dr. Patrick Ostermann, dass sie
diese Reise organisiert, begleitet und uns diese Erfahrungen ermöglicht haben.
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