Süddeutsche Zeitung
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Seite 10 / Süddeutsche Zeitung Nr. 303 HBG POLITIK Silvester/Neujahr/Sonntag, 31. Dezember 2010/1./2. Januar 2011 „Alle wünschen sich ein glückliches Leben“, schrieb der römische Dichter und Staatsmann Seneca im ersten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung. Aber was ist das: Glück? Reichtum, Macht, Liebe, Zufriedenheit, Seelenruhe, Sehnsucht? Lässt es sich lernen? Im Grunde lebten die Deutschen noch nie so glücklich in Frieden und Wohlstand, und doch suchen sie das Glück wie nie. Denn flüchtig und zerbrechlich ist es, und wer versucht, es zu zwingen, dem sei Bert Brecht mit auf den Weg gegeben: „Ja, renn nur nach dem Glück/doch renne nicht zu sehr/denn alle rennen nach dem Glück/das Glück rennt hinterher.“ Von Matthias Drobinski adhava Schiessls Geschichte vom Glück beginnt mit dem Unglück. Seine Frau und er, sie trennten sich, die Liebe war vertrocknet; es blieb die Leere in der Wohnung, im Kopf und im Herzen. In einem der leeren Momente beschloss Madhava, dem alten Leben als Mario Lebewohl zu sagen, und hierherzukommen, nach Bad Meinberg an den Rand des Teutoburger Waldes. Der Komplex einer ehemaligen Kurklinik vereint in sich die Scheußlichkeiten der westdeutschen Plattenbauarchitektur der achtziger Jahre, innen ist er grellbunt und orange ausgemalt. Am Eingang steht Ganesha, der Glücks- und Elefantengott, es riecht nach Weihrauch und Moschus und harzendem Holzregal. In Bad Meinberg steht Europas größtes Yoga-Zentrum, wie stolz der Betreiber verkündet, der Verein Yoga Vidya. Glück ist, hier zu sein, sagt Madhava. Glück ist, um sechs Uhr in der Früh zu meditieren und abends noch einmal, am Tag mindestens zwei Stunden Yoga zu betreiben. Sonnengruß, Krieger, der Hund, der nach unten schaut, so heißen die Figuren der transzendierenden Gelenkigkeit. Das Glück besteht darin, kein Fleisch zu essen und keinen Kaffee zu trinken, auf Zigaretten und Alkohol zu verzichten, mit Gleichgesinnten zu leben, das Karma zu verbessern, indem man in der Küche hilft. Den Job als Werkzeugmacher hat der 50-Jährige schon vor drei Jahren aufgegeben, er hat gut verdient, er reiste durch die Welt, aber das erfüllte ihn nicht. Schon immer war er ein Sucher, erzählt er, ist durch Indien gereist und hat sich vom Ashram in Poona enttäuschen lassen. Jetzt hat sich ein Schleier zwischen ihn und die Welt da draußen gesenkt. Hier ist alles anders: „Devi, Devi, Devi“, sie huldigen in der umgebauten Turnhalle der hinduistischen Allgöttin. Das Intellektuelle hat hier Pause, der Trainingsanzug und die Yogamatte machen sie gleich. Es zählt weder Vergangenheit noch Zukunft. Es ist das Glück der tota- M Seit einigen Jahren sieht es so aus, als wollten gerade die Deutschen das lang verpasste Glück finden, möglichst bald, nicht erst im Jenseits. Sie kaufen die Bücher des rauschebärtigen Benediktinerpaters Anselm Grün und des glattrasierten Arztes Eckart von Hirschhausen, weil beide vom Glück schreiben: Für den Pater kommt es, wenn Tränen zu Perlen werden, für den Mediziner, wenn es auch was zu lachen gibt. Sie buchen Kurse, fasten und treiben Sport, reisen und kaufen Möbel, suchen neue Jobs, Bettoder Lebensgefährten, in der Hoffnung, dass sich nun das größere Glück einstellt. Es ist die Suche nach dem besseren Leben in einer Welt, in der sich jeder sein eigenes Stück Glück schmieden kann, soll, muss. Die Suche wird zunehmend zur Pest, sagt Wilhelm Schmid. „Dein Leben soll immer sein: Friede, Freude, Sonnenschein“ len Gegenwart, von der Madhava erzählt, der schlanke Mann im Strickpullover mit den kurzen grauen Haaren, das Glück der Selbstbeschäftigung und Selbstverwirklichung. Ein Jahr möchte er bleiben, für 350 Euro bei freier Kost und Logis in der Telefonzentrale des Zentrums arbeiten. Vielleicht länger, wenn das Glücksgefühl bleibt. Vielleicht kürzer, wenn die Sehnsucht sich meldet, nach dem, was größer und schöner, höher und tiefer sein könnte. Die Deutschen waren einmal ein Volk der Pflichterfüller. Geprägt vom protestantischen Arbeitsethos oder dem katholischen Naturrecht, taten sie dort, wo der Staat, die Familie oder die Kirche sie hingestellt hatten, was ihnen aufgetragen war. Glück bedeutete für sie, ihre Aufgaben zur Zufriedenheit der anderen erfüllt zu haben. Sie waren Stoiker, deren Ziel es war, gelassen den Lebensplatz zu finden, weniger Epikureer, die Furcht und Schmerz hinter sich lassen wollten. Irdisches Glück, davon erkauften die Romantiker und Mystiker kurze Momente, mit lebenslangem Sehnen, Fasten, Beten. Für die anderen wartete das Glück im Jenseits, am Ende des Weges durchs Jammertal. Vielleicht. Er ist der Mann, der sagt, dass Glück nicht das Wichtigste im Leben ist. Wilhelm Schmid, Jahrgang 1953, lebt als freier Philosoph in Berlin, er wohnt in einer Altbauwohnung mit Frau und Kindern und vielen Büchern. Vor drei Jahren hat er ein Büchlein übers Glück geschrieben. Es soll dem Leser, wie er schreibt, „eine kleine Atempause inmitten der Glückshysterie“ verschaffen, und weil Glück gerade gut geht, hat er 130 000 Exemplare verkauft. „Viele Menschen sind süchtig nach Glück und werden so unglücklich“, sagt er. Bis vor zwei Jahren war er philosophischer Seelsorger am Spital Affoltern bei Zürich, er hat die Rastlosen betreut, die glauben, das Leben sei eine große Loveparade, bis sie ausgebrannt sind, sowie die Verbitterten, die Schuldige dafür suchten, dass das Glück sie geflohen hatte. Je mehr Geld im Spiel war, desto tiefer reichte das Unglück. Schmids Büchlein unterscheidet zwischen dem Zufallsglück, das kommt oder ausbleibt wie der Sechser im Lotto, und er sagt, er sei überrascht, dass es tatsächlich Menschen gibt, die dieses Glück so selbstverständlich haben, wie es die anderen flieht. Dann kommt das Wohlfühlglück, das darin besteht, die Lust zu mehren und den Schmerz zu mindern; es lebt aus dem Augenblick, der bleiben soll und doch bald vorbei ist. Es ist das Glück der Endorphine, die das Hirn ausschüttet, ob beim Orgasmus, beim Marathon oder beim Schokoladeessen. Gegen die Heiligung dieses Wohlfühlglücks schreibt Schmid an. Er hat ja gar nichts gegen Sex, Dauerlauf und Schokolade. Er hat etwas gegen die Illusion, das Leben könne aus lauter Höhepunkten bestehen und die Tiefen ausklammern, die Mühsal, das Vergebliche, die Traurigkeit. Er hat etwas dagegen, dass fehlendes Glück als Krankheit angesehen und mit Medikamenten behandelt wird. Dass alles Dunkle verdrängt wird, bis die Depression da ist, weil es vor lauter Höhepunkten keine Tiefen mehr geben darf, das permanente Wohlfühlen schal wird und bis ins Unerfüllbare nach Dosissteigerung verlangt. Lächle oder stirb – seit zehn Jahren nimmt das zu, sagt Schmid. Die Träume von der besseren, friedlichen Welt waren vorbei, auf einmal wollten alle Veranstalter, dass er übers Glück redet. Er tat es, und die Säle waren voll von unglücklichen Menschen, die wissen wollten, wo das Glück zu finden sei. Er redet dann vom „Glück der Fülle“, das akzeptiert, dass Glück und Unglück Der Stress der Elternschaft Wer Kinder bekommt, sagt Nattavudh Powdthavee, wird nicht glücklicher. Eltern seien mit ihrem Leben wie auch mit ihren Partnerschaften insgesamt weniger zufrieden als Kinderlose, schreibt der britische Ökonom in The Happiness Equation. „Das Erstaunliche ist bloß, dass jede menschliche Kultur das Gegenteil annimmt: dass Kinder glücklich machen“, sagt Powdthavee. Kleiner Trost: Nach der Geburt eines Kindes sind gestresste Eltern zwar zwei oder drei Jahre deutlich unzufriedener – doch dann gehen die Kurven wieder nach oben. Das zumindest zeigt das deutsche Sozio-ökonomische Panel. Hinduistische Göttin, Teutoburger Wald, Turnhalle. im Leben abwechseln und dass Glück nur spürt, wer das Unglück kennt. Das macht heiter und gelassen, sagt Schmid. Er spricht vom glücklichen Unglücklichsein und nennt es Melancholie; der Melancholische spürt, dass die Welt unerlöst ist, ohne sie als Jammertal zu empfinden. Schließlich redet er vom Sinn, der wichtiger sei als das Glück. Sinn bedeutet, die Welt jenseits der Selbstbeschäftigung zu sehen, die Gemeinschaft, das Transzendente. Wer beim Wohlfühlglück stehenbleibt, kann keine Kinder erziehen oder Alte pflegen, Weltliteratur schreiben oder ein Medikament erfinden. Sinnsucher dagegen schon. Der Winterabend senkt sich über die Bücherwand, das Selterswasser sprudelt aus, und Schmid erzählt, dass er nie das Glück gesucht habe. Glücklich waren seine Eltern, Bauersleute in der Kriegs- und Nachkriegszeit, sechs Kinder zogen sie groß, Menschen im Hier und Jetzt waren sie. Hat er wirklich nie das Glück gesucht? Nie, sagt er. Und wirkt nicht sehr unglücklich dabei. Vera Schrade dagegen wollte immer Menschen glücklich machen. Als Grundschülerin schrieb sie in die Poesiealben ihrer Freundinnen: „Dein Leben soll immer sein / Friede, Freude, Sonnenschein“; sie hat große Augen, ein strahlendes Lächeln und sagt, dass sie Menschen öffnen könne. So gesehen ist es ein Glück, dass die 52-Jährige in ihrer Praxis mit heller Ledercouch in einem Bungalow in München-Bogenhausen gelandet ist, und nicht in einem Seminarraum der Pennsylvania State University blieb, wo sie übers Glück geforscht hat. Sie will Menschen helfen, ihr Glück zu finden, ist überzeugt, dass das geht. Es gibt Menschen, die haben die Fähigkeit, positiv zu sehen, was auch passiert. Es gibt andere, die können das nicht, denen kann man helfen, Krisen zu überwinden. Denn das Bewusstsein bestimmt auch das Sein, das erkannte Buddha vor 3000 Jahren: Glück kann man lernen. Die Ausgebrannten kommen zu ihr, deren Leben perfekt sein soll und die an der Selbstüberforderung kaputtzugehen drohen, Schauspieler und Models, die vom gespielten Glück leben, Alleinerziehende, die nicht mehr weiter wissen. Denen verschafft sie „Termine mit sich selbst“, wie sie sagt, damit die Klienten lernen, auf sich zu achten, ihre Stärken kennen und schätzen zu lernen, sich über die kleinen Dinge zu freuen. Vom Schlechten, von den Verletzungen der Kindheit, dem Unglück des bisherigen Lebens, haben die meisten schon genug geredet, es soll nicht verschwiegen werden, aber auch nicht alles beherrschen. „Es wirkt“, sagt sie, „es gibt genügend Untersuchungen, die das belegen.“ Glück ist eine Frage der Haltung, und Illustrationen: Oliver Weiss Werde glücklich . . . aber schnell! Haltungen kann man trainieren. Den rastlosen Glückssuchern fehlt das Glückscoaching, findet sie. Und hat sich den Begriff patentieren lassen. Heidelberg, die letzte Station der Reise. Die Willy-Hellpach-Schule zeigt viel Glas und einen freundlich gelben Anstrich. Im Musiksaal guckt Johann Sebastian Bach ernst von der Wand, daneben zeigt Eminem seine Muskeln; 19 möchtegernreife Mädchen und pubertätslaute Jungen tröpfeln in den Raum, sie heißen Marlo oder Tamara, sind 15 oder 16 Jahre alt, Neuntklässler, die oft von der Hauptschule kommen und nun den Realschulabschluss anstreben. Vor ihnen steht Ernst Fritz-Schubert, der Schulleiter, ein 62-Jähriger mit grauem Schnauzer und Lachfaltenaugen, voll pädagogischem Eifer. „Sagt den anderen, was eure Stärken sind!“ ruft er in den Raum. Schweigen. Den meisten hier wird täglich erklärt, welche Schwächen sie haben. „Hilfsbereit und nett“, nuschelt einer der Jungs, die anderen atmen auf, ja, das können sie alle sagen. „Stellt euch im Kreis auf“, sagt Fritz-Schubert. Stampfen, Händeklatschen, sie nehmen den Rhythmus auf, einer sagt seine Stärke, die anderen wiederholen im Chor: hilfsbereit! nett! Es klingt wie bei einem afrikanischen Beschwörungsritual. Auf einmal sind da neue Wörter: „Liebevoll!“, sagt Michelle. „Selbstbewusst!“ ruft Tabea. Es ist die sechste Schulstunde, doch die Schüler haben ihren Spaß. Ernst Fritz-Schubert hat diesen Glücksunterricht vor drei Jahren als Wahlpflichtfach eingeführt; er war es leid, immer nur Wissen im Kopf der Schüler anzuhäufen. Die Schule solle doch die „Fülle des Lebens“ zeigen, hat er kurz vor Unterrichtsbeginn im Direk- torenzimmer gesagt, und die Kerze brannte dazu. Die Jugendlichen sollen ihre Stärken entdecken, „selbstwirksam werden“, wie er sagt. Fünfer und Sechser hat er abgeschafft fürs Schulfach Glück. Als er mit seiner Idee kam, fragten sie im Kultusministerium, ob er das Fach nicht „Lebenskompetenzerwerb“ nennen wolle, das klinge seriöser; sie hielten Fritz-Schubert für einen netten Spinner. Nun hat er die Wirkung des Unterrichts untersuchen lassen: Glücks-Schüler sind ausgeglichener und sozialverträglicher, sie können sagen, was sie wollen und was nicht. Glück ist lernbar. Auch für Jugendliche, an denen die Glückshysterie des gehobenen Bürgertums vorbeirauscht. „Schließt die Augen“, sagt Fritz-Schubert, „ihr seid im Kino, der Film hat einen Titel: Ich. Es ist ein wunderbarer Film.“ Die Mädchen kuscheln sich aneinander, die Jungs rutschen im Stuhl nach unten. Wie wollen sie einmal sein? Was ist wichtig im Leben, wofür lohnt es sich zu kämpfen? Sie sollen Ziele aufschreiben. „Abi machen, ein Haus und ein Auto haben“, steht da. Oder: „Reich werden, eine Firma gründen.“ Und: „Einer der besten Handballtorhüter der Welt sein.“ Nicht ganz leicht für Fritz-Schubert, der doch zeigen will, dass es Wichtigeres gibt als Geld und Erfolg. Egal. Der Lehrer hat Rundhölzer mitgebracht, jeder Schüler soll ein Holzende packen, sie stellen sich nebeneinander, eine wacklige Brücke entsteht. Wer will, kann das Blatt mit seinen Lebenszielen ans Ende dieser Brücke legen und über die Hölzer laufen, getragen von den Klassenkameraden. „Da flieg’ ich doch auf die Schnauze“, murmelt einer. Doch keiner wird fallengelassen. Die Brücke wackelt, aber sie hält, erleichtert lächelnd springen die Mutigen dem Lebensziel entgegen. Ein kleines Stück Glück, am Ende der sechsten Stunde. Das kurze Freudenfeuer der Hochzeit Der Charme des richtigen Partners Der Wert des Einkommens Der Frust der Lebensmitte Der Horror der Arbeitslosigkeit Je mehr sich Partner der Hochzeit nähern, umso zufriedener werden sie, stellt der Ökonom Bruno Frey fest. Bloß: Die Freude dauert nicht lang. „Nach einiger Zeit sind die beiden nur noch ein bisschen zufriedener, als wenn sie nicht geheiratet hätten“, sagt Frey. Ungewiss ist auch, was kausal ist: Macht einen der Trauschein wirklich glücklich? Oder heiraten eher Menschen, die ohnehin zufriedener sind? Schwer zu sagen. Klar ist immerhin, dass Männer nach einer Hochzeit länger zufrieden bleiben als Frauen. Das kann man als männliche Großzügigkeit sehen – oder als emotionale Dumpfheit. Ziehen Gegensätze sich an? Oder leben nur Gleichgesinnte friedlich zusammen? Kann man beides nicht bejahen, sagt der Ökonom Gert Wagner. Etliche Eigenschaften des Partners – dessen Sozialverträglichkeit oder Offenheit für Erfahrungen – wirken sich statistisch nicht auf die eigene Lebenszufriedenheit aus. Man kann mit Altruisten genauso gut leben wie mit Egoisten. Ein Charakterzug jedoch wirkt: Wer einen emotional labilen Partner hat, ist unzufriedener als jemand mit ausgeglichenem Gefährten. Allerdings: Die eigene Neurose senkt das Lebensglück noch stärker als die Neurose des Partners. Eher unzufrieden sind Menschen, die in erster Linie nach Geld und Karriere streben. Besser geht es jenen, die sich primär um die eigene Familie kümmern und überdies hilfsbereit sind, sagt der Ökonom Wagner. Was nicht heißt, dass Geld unwichtig wäre: Steigendes Einkommen macht zunächst glücklicher, bemerkte der Wirtschaftswissenschaftler Richard Easterlin – allerdings nutzt sich dieser Effekt ab, wenn sich Menschen an Wohlstand gewöhnen. In den USA zeigte sich: Von 75 000 Dollar Jahreseinkommen an löst mehr Geld nicht mehr Glücksgefühle im Alltag aus, sagt der Nobelpreisträger Daniel Kahneman. Fragt man Menschen, ob Dreißig- oder Siebzigjährige mit dem Leben zufriedener sind, vermuten viele: Es müssen die Dreißigjährigen sein. Leider falsch. Die Zufriedenheit sinkt nach dem 18. Geburtstag kontinuierlich, erreicht in den Vierzigern einen Tiefpunkt – um dann jahrelang langsam zu steigen. Der Psychologe Arthur Stone zeigt, dass subjektiv empfundene Sorgen nach dem 50. Geburtstag schwinden; auch der Zorn der Menschen nimmt ab. Mag sein, dass sie ihre Schwächen und Stärken eher akzeptieren; vielleicht akzeptieren sie auch das eigene Altern, wodurch der Frust der Lebensmitte nachlässt. Kaum etwas deprimiert so sehr wie Arbeitslosigkeit. Bei keinem anderen Lebensereignis – Ausnahme: der Tod des Partners – sinkt die Zufriedenheit so drastisch wie beim Sturz in die Arbeitslosigkeit. Sogar eine Scheidung oder der Tod der eigenen Eltern werden als weniger schlimm empfunden. Und während Witwen und Witwer statistisch einige Jahre nach dem Tod des Lebensgefährten fast die Lebenszufriedenheit von früher erreichen, gelingt das dauerhaft Arbeitslosen nicht, stellt Jürgen Schupp fest. Es sei sogar schlimmer, den Job zu verlieren, als vom Arbeitslosen zum Hartz-IV-Empfänger abzusteigen. Wie soll das Schulfach heißen? Die Bürokraten wollten: „Lebenskompetenzerwerb“. Silvester/Neujahr/Sonntag, 31. Dezember 2010/1./2. Januar 2011 HF2 POLITIK Süddeutsche Zeitung Nr. 303 / Seite 11 Glück ist, einen Rufmord zu überstehen Glück ist, wieder ein Gebiss zu haben Glück ist, wenn es doch noch ein Visum gibt „Es passierte vor drei Jahren in Courchevel, Frankreich, und ging durch die Presse. Damals verbrachte eine Gruppe junger Frauen den Abend mit dem Oligarchen Michail Prochorow, einem der reichsten Männer Russlands. Ich war auch dabei. Wir waren zuerst in einem Restaurant, danach feierten wir in einem Nachtklub. Um zwei Uhr ging ich schlafen. Morgens um sieben kam die Polizei und nahm uns alle mit. Man steckte uns in verschiedene Zellen. Uns wurde Prostitution vorgeworfen. Beim Verhör stellten sie uns absolut unanständige, kompromittierende Fragen. Es war beleidigend. Nach einem Tag wurden wir freigelassen. Ein Jahr später begann der Prozess. Und genau vor einem Jahr entschied das Gericht, dass das Vorgehen der Polizei unrechtmäßig war. Wir wurden für unschuldig erklärt, die Franzosen nahmen alle Vorwürfe zurück. Sie entschuldigten Mascha Gornuschetschkina, 25, sich offiziell. Das war für mich wirklich aus Moskau, Russland. Foto: nien ein Moment des Glücks.“ „So eine zweite Chance kriegt man im Leben nur einmal. Ich habe meinen festen Verkaufsplatz für die Straßenzeitung Biss, und der Doktor Bolz hat immer Hefte bei mir gekauft. ,Das, was Sie da im Mund haben, geht gar nicht. Da muss man was machen‘, hat er dann mal gesagt. Ich hatte ja keinen einzigen Zahn mehr, alles weggebrochen, ich konnte fast nur Weichgekochtes essen. Ein paar Monate später war es so weit: Nach sieben Stunden Operation hatte ich ein neues Gebiss, alles an einem Tag hat der Doktor in seiner Zahnklinik gemacht, völlig umsonst. Das wäre finanziell für mich nie machbar gewesen. 30 000 Euro! Ich hab ja einiges hinter mir, Krankheiten wie Knochentuberkulose, die Arbeitslosigkeit. Jetzt bin ich der glücklichste Mensch der Welt, kann alles essen, Fleisch, Nüsse. Bei den harten Sachen bin ich aber noch vorsichtig. Wer mich kennt, der sagt, dass man Peter Schratz, 57, aus München, mich kaum mehr wiedererkennt. Und Deutschland. Foto: BolzWachtel ich selbst fühl’ mich wie neu geboren.“ „Ich hatte es fast aufgegeben. Wie sollte ich das schaffen? Die Frau, die ich heiraten will, wartet auf mich in den Usambara-Bergen. Nikola kommt aus Deutschland und ist Landschaftsgärtnerin. Aber jetzt arbeitet sie gerade dort drüben in Tansania. Und ich muss sie irgendwie treffen – jetzt, wo sie mir schon so weit entgegengekommen ist nach Ostafrika. Aber wie? Ich sitze in meiner Heimat Burundi. Ohne Pass, ohne Flugticket, ohne Visum. Wir haben beide wenig Zeit. In zwei Wochen muss ich bei ihr sein, ansonsten werden wir uns lange nicht mehr sehen. Mein Gott. Das schaffe ich niemals, denke ich. Aber ich gebe nicht auf, nicht jetzt, wo meine große Liebe aus Deutschland auf mich wartet. Nikola rechnet nicht mehr mit mir. Aber dann, an einem Sonntag, stehe ich doch vor ihrer Tür. Alle Reisepapiere noch bekommen. Wahnsinn. Wir starren uns ungläubig Désirée Nzisabira aus Burundi, an, dann fallen wir uns in die lebt in Kampala, Uganda. Foto: oh Arme. Untrennbar für lange Zeit.“ Glück ist, von einem Obstladen zu träumen Glück ist, auf einer Eisscholle zu überleben Glück ist, wenn die Mutter in der Tür steht „Der glücklichste Moment war der, als mein Bruder Dario in der Kupfermine San José gerettet wurde. Nach dem Unglück haben wir zwei Monate und neun Tage darauf gewartet. Dann gebar der Berg. Im Lager Esperanza haben wir uns vorher zurechtgemacht, die Haare frisiert. Dario hatte uns aus der Tiefe eine chilenische Flagge mit Widmung geschickt. ,Mit viel Liebe für Elizabeth und Maria Segóvia, von ihrem Bruder Dario Segovia, Minenmann aus San José‘, stand darauf, alle 33 hatten unterschrieben. Wir sind 13 Geschwister, einfache Leute, und standen plötzlich im Mittelpunkt der Weltnachrichten. Wir waren das nicht gewohnt, aber wir sind den Medien dankbar. Der Präsident Piñera hatte versprochen, dass sie alle herausholen, Gott sei Dank hat es geklappt. Hoffentlich hilft das, damit so was nie mehr passiert. Mein Bruder soll nicht mehr im Bergwerk arbeiten. Sein Elizabeth Segovia aus Traum ist ein eigener Lastwagen und Copiapó, Chile. Foto: pb ein Obstladen.“ „Ich bin 68 Jahre alt und ein Fischer aus St. Lunaire im Norden Neufundlands. Ich müsste eigentlich tot sein, aber ich habe zwei Nächte auf einer Eisscholle überlebt. Mein Motorboot stieß im April 2009 mit einer Eisscholle zusammen und kenterte. Ich geriet unter das Boot, aber irgendwie trieb ich an die Oberfläche. Mit zwei Fingern hielt ich mich an einem Metallring am Boot fest. Dann stieß es erneut auf Eis, und ich wurde auf eine Scholle geworfen. Das Boot sank. Ich war durchnässt, es war furchtbar kalt. Ich presste das Wasser aus den Socken. Nach zwei Stunden sah ich zwar Boote und einen Hubschrauber, aber die sahen mich nicht. Nach der ersten Nacht konnte ich auf einen angeschwemmten Gaskanister aus meinem Boot sitzen, sonst hätte ich immer stehen müssen. Das Schlimmste waren die Dunkelheit und meine Furcht vor Eisbären, die übers Eis wandern. Rex Saunders, 68, aus St. LunaiNach 42 Stunden rettete mich ein Schiff re, Kanada. Foto: Hope Young der kanadischen Küstenwache.“ „Meine Mutter war als Jüdin auf einem der letzten Schiffe aus Marseille den Nazis entkommen, mit mir im Bauch. Ich kam in Havanna in einem Internierungslager zur Welt, August 1942. Ihr Bruder in New York unterstützte uns finanziell. Aber er starb plötzlich, und wir hatten nichts mehr. Meine Mutter bekam ein Visum, um seine Angelegenheiten zu regeln – es galt nur für sie. Ich blieb bei einer Kinderfrau zurück, sie versuchte, eine Einreisegenehmigung für mich zu ergattern. Nichts ging. In ihrer Verzweiflung schrieb sie an Eleanor Roosevelt, die Frau des Präsidenten. Wieder nichts. Dann wurde sie im Sommer 1945 ins Außenministerium nach Washington bestellt. Dort gab man ihr den Brief. Am Rand stand, handschriftlich: „Kann man nichts für diese Frau tun? ER“ Ein paar Wochen später öffnete meine Kinderfrau wie zufällig eine Tür, da stand meine MutArlette Jassel-Goldstein, 68, aus ter. Ich fiel in Ohnmacht. Der glückBethesda (Maryland), USA rkl lichste Moment meines Lebens.“ Protokolle: nien, ojo, perr, pb, bca.,rkl Was ist Glück? Sechs Menschen erinnern sich an einen großen Moment in ihrem Leben „Der Mensch sehnt sich nach mehr“ Alois, der vom Bär gefressen wurde Psychologie-Professor Steven Hayes zum Unterschied zwischen Zielen und Werten Ein Leben soll nicht nur lang, sondern auch schön sein? Das ist eine Idee der Moderne Werte sind wichtiger als Glücksgefühle – so lautet eine der Botschaften von Steven Hayes. Der Professor für Psychologie an der Universität von Nevada in Reno ist international bekannt geworden mit neuen Methoden zur Behandlung von Ängsten und Depressionen. SZ: Der englische Philosoph John Stuart Mill sagte im 19. Jahrhundert: Besser ein unzufriedener Mensch als ein zufriedenes Schwein. Sind Sie seiner Meinung? Hayes: Wenn die Unzufriedenheit von der menschlichen Sehnsucht nach Sinn herrührt, dann stimme ich ihm zu. Der Ausspruch zielt aber darauf ab, dass Zufriedenheit auf verschiedene Weise erreicht werden kann. Die gängigste Form ist der Genuss. Ein Schwein ist hier leicht zufriedenzustellen. Der Mensch sehnt sich nach mehr. Es gibt viele Dinge, von denen wir glauben, dass sie uns glücklich machen, die aber genau das Gegenteil bewirken. SZ: Zum Beispiel? Hayes: Der Missbrauch von Drogen ist eine Technik, um kurzfristig einen Zustand zu produzieren, der sich wie Glück anfühlt. Nur funktioniert das auf Dauer nicht. Sinnenfreude ist wichtig, aber ebenso die Freude, die man spürt, wenn man weiß, wofür man im Leben steht. SZ: Sind Sie selbst glücklich? Hayes: Ich bin ein Mensch auf dem Weg. Ich sitze hier an meinem Computer und mache meine Arbeit. Ich bekomme Mails von Menschen aus der ganzen Welt, die sich abmühen mit ihrem Leben. Ich beantworte jede einzelne Mail. Es ist etwas Erfüllendes, Menschen auf diese Weise zu erreichen. Doch das ist nur ein Schnappschuss von vielen im Laufe eines Tages. Aber ich weiß eines ganz genau: Als ich mich früher darauf konzentrierte, meine Ängste loszuwerden, waren meine Augen für andere verschlossen. SZ: Sie litten unter Panikattacken. Hayes: Und je stärker ich mich darauf konzentrierte, davon loszukommen, desto mehr habe ich mich darin verstrickt. Am Schluss hat sich alles nur noch dar- um gedreht. Ich hatte Angst vor Gruppen zu reden, sogar ein Gespräch wie dieses hätte mir große Angst gemacht. Andererseits habe ich mich wirklich um andere Menschen und ihr Leid gekümmert. SZ: Was haben Sie sich selbst geraten? Hayes: Wenn Sie vor einer Gruppe von Leuten reden wollen, sollten Sie sich darauf konzentrieren, was Sie wirklich sagen wollen, und nicht so sehr darauf, was Sie fühlen. Ein anderes Beispiel: Wenn ein Patient unter Panikattacken leidet und in ein Einkaufszentrum geht, dann „Je mehr man dem Glück nachläuft, desto schwerer ist es zu fassen, wenn es dann kommt.“ sollte er keine Schlacht gegen seine Angst führen, nur um zu zeigen, dass er stärker ist als sie. Er sollte sich sagen: Ich bin hier, um etwas zu kaufen. Sie konzentrieren sich also darauf, warum Sie hergekommen sind. Sie verpflichten sich, diese Erfahrung zu machen, auch wenn Ihr Gefühl sagt: Das ist zu hart! SZ: Und das hilft? Hayes: Ich war drauf und dran, meine Karriere zu ruinieren, weil ich sogar Probleme hatte, eine Klasse zu unterrichten. Das Konzept hat nicht nur mir geholfen, sondern auch vielen anderen, das zeigt auch die Forschung. Und ja, es hat dazu geführt, dass ich den Fokus von innen nach außen gelegt habe. Ich habe die Energie nach außen gerichtet, statt dauernd meine Gefühle innen neu zu ordnen. SZ: Sie sagen: Je mehr wir gegen Ängste kämpfen, desto größer werden sie. Hayes: Sie können sich auf Gedanken, Gefühle und Erinnerungen konzentrieren, die Sie nicht mögen und Ihr Leben als ein Problem betrachten, das man lösen muss. Aber all dem, was passiert ist, wohnt Bedeutung und Weisheit inne. Zum Beispiel, wenn Sie in einer Beziehung betrogen worden sind. Im Schmerz darüber liegt etwas Bedeutsames. Denn er sagt etwas darüber aus, wie sehr Sie sich nach Beziehung, Vertrauen und Sinn sehnen. Wir können solch schwierige Gefühle und Gedanken wegschieben. Dann aber werden sie weiter wachsen und sich auf Bereiche des Lebens ausdehnen, wo sie nicht hingehören. SZ: Was soll man mit den Nöten tun? Hayes: Wenn Menschen Panikattacken erlitten haben, wird sich irgendwann alles im Leben nur darum drehen. Dasselbe geschieht bei Menschen, die unter Depression leiden. Es geht darum, einen Weg zu finden, wie wir mit unserer Lebensgeschichte und unseren Gefühlen im Augenblick bleiben und davon lernen können. Dann aber sollten wir die Aufmerksamkeit auf das richten, was uns wirklich wertvoll ist. SZ: Karriere machen, Geld verdienen? Hayes: Geld verdienen, das ist ein Ziel und kein Wert. Die Frage lautet: Was wollen Sie mit dem Geld tun? Meistens wollen sich die Menschen besser fühlen und die Dinge einfacher haben. Stellen Sie sich vor, Sie sollten nur einen einzigen Satz über Ihr Leben schreiben. Der wird kaum lauten: Hier liegt Joe, der sich sein ganzes Leben damit abgemüht hat, Geld zu machen. Ein Wert sagt etwas über die Qualität des Lebens, das wir uns ersehnen. Wenn Sie ein Mensch sein wollen, der andere liebt, dann werden Sie nie damit fertig sein. Egal wie sehr Sie geliebt haben, es geht immer weiter. SZ: Wieso sind die Menschen so aufs Glück fixiert? Hayes: Wir werden mit den Herausforderungen der modernen Welt nicht wirklich fertig. Wir werden hin- und hergeworfen, in kleine Stücke gehackt, alles wird immer schneller. Wir sind Medien ausgesetzt, Konflikten und Urteilen. Die Menschen sehnen sich nach inneren Frieden, aber wissen nicht, wie sie ihn erreichen sollen. Sie gehen die Probleme des Geistes auf die gleiche Weise an, wie wenn sie einen Fußboden aufwischen. SZ: Gibt es Wichtigeres als Glück? Hayes: Ich halte es mit dem griechischen Konzept der Eudaimonia: Es geht darum, im Einklang mit den persönlichen Werten zu leben, mit den Dingen, die man für bedeutsam hält – in der Familie, in Beziehungen, im Beruf. Glück ist sicher ein Ziel des Lebens. Aber je mehr ihm die Menschen hinterherlaufen, desto schwerer wird es für sie, das Glück zu fassen, wenn es tatsächlich kommt. SZ: Sind die Menschen im Westen zu sehr mit sich selbst beschäftigt? Hayes: Ja. Wenn man Menschen nach Momenten befragt, die Bedeutung hatten in ihrem Leben, dann sagen 99 Prozent, dass es immer mit anderen Menschen zu tun gehabt hat. Menschen sehnen sich danach, verbunden zu sein. Die moderne Welt hat uns aber in einen exzessiven Individualismus hineingezogen. SZ: Also zählen Werte, nicht Glück? Hayes: Es gibt so viele schwierige Dinge, mit denen man umgehen muss, nicht zuletzt mit der Tatsache, dass wir sterben müssen. Wenn Sie sich aber darauf verlegen, was wirklich Bedeutung für Sie selbst hat, wenn Sie es aus freien Stücken wählen, und nicht etwa, weil es Ihrer Mutter gefällt, dann werden die Werte zu Ihrem Kompass. Steven Hayes, 62, forscht seit 1986 an der Universität Nevada in Reno. Er entwickelte eine Methode, mit der er seine eigenen Panikattacken besiegte. Foto: UNR Interview: Sebastian Beck te. Prinzessinnen mussten schielende und feiste Unholde auf kalten Schlössern heiraten, wenn es die Staatsräson gebot, der Sohn den elterlichen Hof übernehmen, die Tochter die Pflege der Alten. Das Unglück, das aus den Konventionen erwuchs, hat viele Bücher gefüllt; ihr Inbegriff ist Goethes „Werther“. In Thomas Manns „Buddenbrooks“ widersetzt sich die Kaufmannstochter Tony zunächst dem Willen des Vaters, zum Wohle der Firma den fiesen Herrn Grünling zu ehelichen – in der Kirche aber predigt der Pastor: „Ein jugendliches, noch kindliches Weib, das keinen eigenen Willen und keine eigene Einsicht besitze und dennoch den liebevollen Ratschlüssen der Eltern sich widersetze, das sei strafbar, das wolle der Herr ausspeien aus seinem Munde.“ Und Tony Buddenbrook fügt sich, sie geht in ihr Unglück. Diese Geschichte spielt um 1845, da war die amerikanische Unabhängigkeitserklärung schon älter, als ein Mensch damals im Durchschnitt erwarten durfte zu werden. Sie definierte unabänderliche Rechte des Bürgers, darunter „Life, Liberty and the Pursuit of Happiness“, das Recht auf Leben, Freiheit und auf das Streben nach Glück. Der Staat lebt von der Teilnahme seiner Bürger und lässt ihnen die Freiheit, ihr Glück zu machen. Finden sie es nicht, hält er sich heraus, in einem Maße, das uns als kalt und unsozial erscheint. Denn hier ist es anders herum: In Deutschland erwarten sehr viele Bürger vom Staat, dass der für ihr Glück zu sorgen hat. So ergibt sich ein merkwürdiger Widerspruch. 1945, in den Ruinen jenes Krieges, der von Deutschland ausgegangen und mit ungeheurer Gewalt auf das Land zurückgeschlagen war, hätte niemand vorherzusagen gewagt, ob das Glück den Deutschen je wieder lachen würde. Heute ist das Land frei und vereint, reich, respektiert, stolz auf seine De- mokratie, politisch stabil, gesellschaftlich fortschrittlicher denn je. Wenn europäische Regierungschefs sich als lächerliche Despoten gerieren wie in Italien oder als bedenkliche wie in Ungarn, schütteln die Deutschen die Köpfe. Die Deutschen sind wie wohlhabende, vom Glück verwöhnte Kinder der Geschichte. Aber glücklich sind die Deutschen, jedenfalls beunruhigend viele von ihnen, trotzdem nicht. Teile der Bevölkerung fühlen sich vom Staat vernachlässigt wie von einer unglücklichen Liebe, und sie reagieren darauf verletzt, gereizt, mit Wut. Und das ist weniger jener Teil der Menschen, die vom Wohlstand der anderen weit entfernt sind. Die Wutbürger, welche Wortschöpfung, sind eher die anderen: die, von denen man denkt, sie hätten bereits alles. Doch die alte deutsche Liebe zum Staat lebt in ihnen fort, freilich in der so zeitgeistigen wie seltsamen Erwartung, der Staat sei dafür zuständig, ihnen Zumutungen zu ersparen, die dem Vorrang des privaten Glücks vor allem anderen im Wege stehen könnten. Und die Wutbürger selbst definieren, was als Zumutung zu verstehen ist. Das kann ein Versuch sein, der Stadt Stuttgart einen schöneren und praktischeren Bahnhof zu bauen. Das kann die Einrichtung einer Kinderkrippe in der Straße sein, was regelmäßig Prozesswellen durch genervte Anwohner auslöst. Das kann die Existenz von Einwanderergruppen sein, die man nicht kennt und von denen man nichts wissen will und nichts weiß, weshalb man in den Literaturhäusern überreizten Predigern wider den Islam zujubelt. Der Wutbürger kann links sein oder rechts, ängstlich oder dauerbebend vor Zorn, nur eines ist er nicht: glücklich. Für die Demokratie ist das auf Dauer eine Belastung. Vielleicht waren viele schon mal weiter, damals, als das Glück hierzulande noch nicht daheim war. 1787, kurz vor einer Epoche neuer Kriege, schrieb Johanna Schopenhauer: „Die Franzosen pflegten spottend zu behaupten, dass wir Deutschen, wenn irgend jemand etwa ein Bein gebrochen hat, ihn immer noch glücklich preisen, weil er nicht zugleich den Hals brach, was doch leicht hätte geschehen können.“ Der Vorteil des Sports Die Last des nahen Todes Die Chance auf Veränderung Schlanke Menschen sind glücklicher als dicke? Von wegen. Der Ökonom Wagner stellt fest, dass der Body-Mass-Index (BMI) kaum Einfluss auf die Lebenszufriedenheit hat. Lediglich sehr dicke Frauen mit einem BMI von mehr als 30 und sehr dünne Männer mit einem BMI von unter 18,5 seien signifikant weniger zufrieden. Anders beim Sport: Wer regelmäßig trainiert, ist laut Statistik glücklicher. Wagner zeigt allerdings auch, dass privates Glück nicht nur schwitzend erreicht wird: Auch Menschen, die häufig einen Gottesdienst besuchen, sind zufriedener als andere. Dass die Lebenserwartung der Menschen steigt, weiß man. Doch sind die gewonnenen Jahre auch gute Jahre? Lange Zeit dachte man: Nein, länger wird bloß die Phase des Leidens am Lebensende. Inzwischen wissen Epidemiologen: Die gewonnenen Jahre sind Jahre bei guter Gesundheit. Entsprechend steigt bei Älteren die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben leicht an; erst in den letzten vier Jahren vor dem Tod sinkt sie, sagt der Psychologe Denis Gerstorf. Die „Last des nahen Todes“ zeige sich in Gestalt von Krankheiten, die die Fähigkeiten des Einzelnen überfordern, zufrieden zu bleiben. Glücksgefühle seien Ergebnisse von Genen und Vererbung, schrieben David Lykken und Auke Tellegen in einer Zwillingsstudie: „Der Versuch, glücklicher zu werden, ist so vergeblich wie der Versuch, größer zu werden.“ Unsinn, erwidern Bruce Headey, Ruud Muffels und Gert Wagner. Sie zeigen, dass sich innerhalb von zwanzig Jahren viel ändern kann: Nach dieser Spanne war ein Drittel ihrer Befragten viel zufriedener oder unzufriedener als am Anfang. „Unsere Entscheidungen haben Einfluss auf unsere Zufriedenheit“, folgert Wagner. Von Joachim Käppner enn jemand so richtig Pech hatte, gedachten die Altvorderen seiner und seines Unglücks mit Gedenksprüchen, liebevoll angebracht auf Tafeln, Steinen oder Kruzifixen: „Hier hat noch der Alois gsessn, bevor der Bär ihn aufgefressen. Am 14. Augustus, gelobt sei Jesus Christus.“ In den fernen Jahrhunderten, als die Berge noch „schröcklich“, die Wälder tief und unheilvoll drohend, Krieg und Mord ständig möglich waren, erschien es selbst sehr gläubigen Menschen als großes Glück, einigermaßen heil durchs Leben zu kommen: zu sehen, wie die Kinder groß werden, ihnen etwas vom eigenen Lebenswerk weiterzureichen, dem Schicksal so vieler anderer zu entrinnen. Zu verdanken war es, in der Vorstellungswelt naiver Volksfrömmigkeit, dem Wirken Gottes oder der Schutzheiligen. In den Wallfahrtskirchen von Andechs oder Gößweinstein oder anderswo, meist in der Provinz, hängen noch die Votivtafeln, die dieses Eingreifen höherer Mächte illustrieren: die Bäuerin, die vom Apfelbaum herunterfällt, der Senner, den die Lawine überrascht, der Kutscher, der beim Radbruch auf die Pflastersteine schlägt; auf noch älteren Bildern sind es auch Wölfe im Schnee und ein einsamer Jäger, dem das Pulver nass wurde; marodierende Soldaten wie die Panduren des Franziskus Freiherr von der Trenck; die Pest, die ihre Todesfinger über das Kinderbett hebt. Und doch ging, wenigstens hier, wenigstens für diese Menschen, alles gut. Die Apfelpflückerin fiel dank der Gottesmutter in der Bildecke weich und der Kutscher in den Bach; der Senner grub sich aus dem Schnee; der Pandurensäbel verfehlte das Haupt; die Wölfe schlichen ins Unterholz; das Kind überlebte. „Glück und Glas, wie schnell bricht das“, heißt ein Sinnspruch aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, als ein Leben schnell zerbrochen war. So groß war die existenzielle Not, dass dagegen das individuelle Glück, die Erfüllung privater Wünsche, bis tief ins 18. Jahrhundert hinein wenig Platz hat- W Im Dreißigjährigen Krieg hieß es: „Glück und Glas, wie schnell bricht das.“ Zusammenstellung: Felix Berth