den ganzen Artikel - MBA Programme der HWR Berlin

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OrganisationsEntwicklung
OrganisationsEntwicklung
Zeitschrift für Unternehmensentwicklung und Change Management
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Reflexion | Der Kopf auf dem Silbertablett | Martina Eberl
Der Kopf auf dem
Silbertablett
Zum Mythos der omnipotenten Führungskraft
als Change Manager
Martina Eberl
Die Richtung vorgeben, alles aushalten, alles wissen: Das gegenwärtige Führungsverständnis ist nach wie vor vom
Bild einer omnipotenten Führungskraft dominiert – wenn auch nur implizit. Dies führt auf allen Seiten zu enttäuschten Erwartungen, bringt die Führungskräfte in ausweglose Dilemma-Situationen und wirkt sich verheerend auf
Change-Prozesse aus. Auf der Grundlage von Erfahrungen zahlreicher Führungskräfte zeigt dieser Beitrag Hintergründe auf und bietet mögliche Auswege.
Der Hintergrund
In den vergangenen Jahren habe ich viele Gespräche mit Füh­
rungskräften unterschiedlichster Branchen und Positionen
über deren Führungsalltag geführt. Ich hörte die unterschied­
lichsten Geschichten über die Schwierigkeiten der Steuerung
in und von Veränderungsprozessen. Auch wenn diese Erfah­
rungen höchst individuell sind, so eint einen Großteil von ih­
nen, dass sie ihre Rolle auf die eine oder andere Weise als eine
Art Kampf empfinden, der nicht gewonnen werden kann.
Dieser Kampf wird selten mit Lob gewürdigt, die Bedürfnis­
se der Führungskräfte scheinen keine Rolle zu spielen: Dem
wird «so gut wie keine Aufmerksamkeit geschenkt, denn als
Füh­rungskraft muss man das wohl aushalten…!» (Projekt­mana­
ger strategischer Projekte, 2014).
Das Führungsproblem
«Weltweit sehen Menschen ihre Erwartungen in Führungskräf­
te immer stärker enttäuscht», so lautete die zentrale Botschaft
des Ketchum Leadership Communication Monitors 2012 nach
einer Befragung von rund 4.000 Personen in 12 Ländern. Nur
26 Prozent der Befragten bescheinigten danach den Führungs­
kräften, besser durch schwierige Zeiten navigieren zu können
als noch im Jahr zuvor. In Deutschland waren es gar nur 19
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Prozent – Tendenz fallend. Schaut man in die Pressewelt der
Folgejahre, zeigt sich keine nennenswerte Veränderung. In der
Folge sinkt die soziale Akzeptanz von Führungskräften in der
Wirtschaft, während Misstrauen und Kritik zunehmen (Geb­
hardt, Hofmann & Roehl 2015).
Reflexartig werden die Antworten in «fehlenden Eigenschaf­
ten», «schlechten Führungsstilen» oder «fehlender Kompetenz»
gesucht, eine echte Auseinandersetzung mit möglichen Ursa­
chen unterbleibt dabei fast immer – das gilt besonders für die
Praxis, aber teilweise auch für die Wissenschaft.
Ein Blick in die klassische Führungs- und Changeforschung
zeigt, dass die zahlreich vorhandenen Ansätze zwar in der La­
ge sind, die Vielfalt an Erwartungen und Anforderungen an
Führung zu systematisieren und in Modelle zu übersetzen.
Man denke hier zum Beispiel an das «Lewin’sche Verände­
rungsgesetz», das den Führungskräften in Zeiten des Wandels
rät, sich an der Schrittfolge des «Auftauens», der «Mobilisie­
rung» und der «Verstetigung» zu orientieren und über parti­
zipative Techniken die Mitarbeiter an Bord zu holen (Lewin
1958; Schein 2006), oder an die berühmten acht Schritte er­
folgreichen Veränderungsmanagements von John Kotter, der
de facto die iden­ti­sche Botschaft ausruft, dazu allerdings ein
paar konkretere Ver­haltensempfehlungen gibt (Kotter 1995).
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Martina Eberl | Der Kopf auf dem Silbertablett
An diesen Ansätzen ist per se nichts auszusetzen – ganz im
Gegenteil sind ihre Erfolge sogar empirisch belegt. Woran liegt
es also dann, dass Führungskräfte immer schlechtere Noten
bekommen?
Die Omnipotenzthese: Versuch einer
Ursachenanalyse
Das heutige Verständnis von Führung ist nach wie vor implizit
von der Vorstellung der omnipotenten Führungskraft geprägt,
also einem Rollenverständnis, das per Definition alles kann,
auf alles eine Antwort weiß und auch alles aushalten kann.
Dieses Rollenverständnis ist zum einen das Ergebnis gesell­
schaftlicher Sozialisationsprozesse, in denen durch Geschich­
te(n), Medien oder auch Wunschdenken eine Vorstellung über
«gute» und «schlechte» Führung entstanden ist. Zum anderen
vermittelt das akademische Bildungssystem nicht selten ein
(Selbst)-Bild des Managers, das suggeriert, Unternehmen dann
erfolgreich zu führen, wenn Analyse und Planung nur gut ge­
nug sind. Vermitteltes Selbstbild und gesellschaftliche Erwar­
tungen zusammen führen dazu, dass es für die Führungskraft
kaum möglich ist, Unsicherheit oder Unkenntnis einzugeste­
hen – geschweige denn offenzulegen (Brockner 1992; Brockner,
Rubin & Lang 1981).
Nr. 3 |2015
| Reflexion
Das alles wäre weniger problematisch, wenn Unternehmen in
stabilen Wettbewerbsumfeldern und in verlässlichen Struktu­
ren mit fixierbaren und realistisch abschätzbaren Zielen agie­
ren würden. Dass dem so nicht ist, liegt auf der Hand. Ganz im
Gegenteil hat sich die Führungssituation im 21. Jahrhundert
stark dynamisiert und flexibilisiert (Eisenhardt 2002). Kleinere
oder größere Veränderungen mit entsprechenden Projekten
stehen auf der Tagesordnung und mischen sich mehr und
mehr in den vermeintlich routinemäßigen Führungsalltag.
Omnipotenzthese
Omnipotenz (lat. omnis: alle, potentia: Kraft, Vermögen, Fähigkeit) bezeichnet in der Philosophie die hypothetische Fähigkeit eines Wesens, jedes Geschehnis hervorrufen oder beeinflussen zu können. In Bezug auf
Führungskräfte ist mit der Omnipotenzthese ein Führungsmenschenbild
des Alleskönners und Alleswissenden gemeint. Charakteristisch für die
omnipotente Führungskraft ist entsprechend die denktechnische Unmöglichkeit des Scheiterns.
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Reflexion | Der Kopf auf dem Silbertablett | Martina Eberl
Die Folge der heutigen Führungswelt sind widersprüchliche
Ziele, un­klare Informationsflüsse, wechselnde Führungs-Ge­
führ­ten-Be­ziehungen, Mehrfachrollen und zahlreiche Entschei­
dungsarenen, in denen sich eine Führungskraft bewähren soll
und muss (Schneider 2002; Floyd & Lane 2000). Ebenso erge­
ben sich aus der Dynamisierung des Führungsumfeldes un­
mittelbare Konsequenzen für die Führungskraft, da klassische
Einflusspotenziale wie «Expertenwissen», «Belohnungs- und
Bestrafungsmacht» oder «formale Macht» angesichts unsi­che­
rer und unklarer Situationen unter Umständen an Wirkungs­
kraft verlieren.
Trotz dieser neuen Situationsmerkmale orientieren sich vie­
le Führungskräfte in ihrem täglichen Führungsverhalten un­
bewusst an den oben skizzierten Omnipotenz-Erwartungen,
spüren aber gleichzeitig immer häufiger, dass diese Verhal­
tensmuster nicht mehr funktionieren bzw. zum Scheitern füh­
Situation einer Führungskraft — Beispiel
Eine Führungskraft, die sich selbst als «typischen Middle-Manager» bezeichnet, wurde eingestellt mit der Aufgabenstellung, die bestehende
Mannschaft auf das zukünftige neue Geschäftsmodell auszurichten und
dazu zu befähigen, in diesem neuen Modell Dienstleistungen zu entwickeln. Nach eineinhalb Jahren sieht sich dieser Manager als gescheitert
an und ohne eine ehrliche Chance auf Erfolg:
Er stecke in der paradoxen Situation, «zu verlieren, egal was ich tue…».
Die «Mannschaft» und mit ihr die Organisation hat in der Zwischenzeit
Kräfte mobilisiert, die den Nutzen des neuen Geschäftsmodells in Frage
stellen. Die Geschäftsführung erwartet aber (zu Recht) nach wie vor die
Neuausrichtung. «Gebe ich bei der Mannschaft nach, habe ich zwar die
Chance, auf der persönlichen Ebene wieder näher an die Mitarbeiter heranzukommen, inhaltlich habe ich aber nichts gewonnen ..., tue ich das
nicht, begebe ich mich also in den Kampf, führt dies paradoxerweise auch
zu einer Verfestigung der konterkarierenden Macht- und Anreizstrukturen». Hilfe von Seiten der Geschäftsführung ist nicht zu erwarten, da das
Problembewusstsein für die Effekte strukturell verursachter Dilemmata
nur schwach bis wenig ausgeprägt ist oder zumindest keine Notwendigkeit dafür gesehen wird, deren Auflösung anzugehen.
Die (weit verbreitete) Devise des Managers lautet mittlerweile: «Wei­
termachen wie bisher und möglichst unauffällig aus der Schusslinie verschwinden!». Ein nach eigener Aussage unbefriedigender Zustand, zumal
sowohl von der «Mannschaft» als auch von der Geschäftsführung ja doch
irgendwie erwartet wird, dass man seine Rolle ausübt, also das Projekt
führt.
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ren. Wagen Führungskräfte dann doch einmal den Schritt aus
der Deckung und «präsentieren ihren Kopf auf einem Silber­
tablett...» (Gericke 2015), indem sie die Notwendigkeit für bei­
spielsweise veränderte Rahmenbedingungen eines ChangeProjekts oder die Unmöglichkeit der Zielerreichung in den
bestehenden Organisationsstrukturen zum Ausdruck bringen,
wird den «Mutigen» von der Geschäftsführung entgegengewor­
fen, «...dass man als (Projekt)-Manager mit den gegebenen
Rahmenbedingungen klar kommen müsse, schließlich sei man
dafür eingestellt worden, genau das zu tun, bzw. man selbst
dafür sorgen müsse, sich die passenden Rahmenbedingungen
zu schaffen» (Manager eines mittelständischen Unternehmens,
2015). Die Ironie an diesen Situationen liegt darin, dass eben
gerade die aktive(re) Integration der Geschäftsführung in den
Implementierungsprozess sehr häufig eine solche Rahmen­
bedingung darstellt.
In zahlreich geführten Diskussionen und Gesprächen mit
«Change-Führungskräften» kommt dabei zum Ausdruck, dass
in den oberen Führungsetagen das Dilemma häufig durchaus
erkannt wird, man an einer Veränderung der Situation aber
(zu) wenig interessiert ist, insbesondere dann, wenn die Rolle
der Führungsetage selbst in den Fokus gerät. Im Ergebnis be­
deutet das: Die Führungskraft von heute «soll» mit tradierten
Rollenerwartungen und -strukturen zukunftsfähiges Manage­
ment betreiben, kann dies aber kaum oder gar nicht realisie­
ren. Im Ergebnis werden wertvolle Ressourcen (Zeit, Geld,
Ener­gie) verbrannt, man denke hier nur an die hohe Miss­
erfolgs­quote bei der Strategieumsetzung respektive der Steue­
rung von Change-Projekten (Menz et al. 2011).
In einer stärker individuell begründete Facette der Omni­
potenzthese ist häufig eine Führungssituation zu beobachten,
in der es Führungskräfte jedem Recht machen möchten, in­
dem sie die Mitarbeitenden an anstehenden Entscheidungen
beteiligen und auf ihre Anliegen eingehen. Damit entspre­
chen Führungskräfte dem viel beschworenen und hierzulan­
de sozial erwünschten Paradigma eines «partizipativen» und
«personenorientierten» Führungsverhaltens, ohne darüber zu
reflektieren, ob, wann und in welcher Form dies tatsächlich
gebraucht und gewollt wird (Wendenburg 2015). So holt sich
eine Führungskraft die Meinungen ihrer Mitarbeitenden auch
dann ein, wenn die wegweisenden Entscheidungen gar nicht
mehr beeinflusst werden können. Oder auf Nachfrage seitens
der Mitarbeiter nach Verantwortlichkeiten für bestimmte Auf­
gaben wird einer klaren Entscheidung grundsätzlich ausgewi­
chen, um niemanden in seinem Kompetenzfeld zu beschnei­
den. Obwohl in der Selbsteinschätzung der Führungskraft al­
les getan wird, um den zahlreichen Erwartungen zu entspre­
chen, ist Unmut und Unzufriedenheit seitens der Mitarbeiten­
den und im weiteren Verlauf auch der Führungskraft die Folge.
Oberflächlich gesehen handelt es sich hier um «schlechtes»,
weil nicht erfolgreiches, Führungsverhalten. Bei genauerer Be­
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Martina Eberl | Der Kopf auf dem Silbertablett
| Reflexion
Handlungsempfehlungen zur Veränderung des Management- und Führungsbildes
1. Wertschätzung und Anerkennung der Führungsrolle
Nicht nur Mitarbeitende benötigen Wertschätzung, sondern auch «der Mensch»
in der Führungskraft. Genau dies geht aber mit dem häufig implizit praktizierten Omnipotenz-Ansatz verloren. Die Führungskraft von heute erhält
selten von ihren Vorgesetzten und so gut wie nie von ihren Mitarbeitenden
Anerkennung, Wertschätzung oder auch einfach nur Verständnis.
Um einen anerkennenden Umgang konkret zu stärken, wäre beispielsweise die Einführung speziell darauf ausgerichteter Upward-Feedbacks denkbar,
die auf der einen Seite die Wertschätzung der Mitarbeitenden indirekt stärken, andererseits die gesamte Führungsmannschaft daran erinnern, dass es
einen Maßstab jenseits der eigenen und anderer Vorurteile gibt, nämlich eine
gewünschte Führungskultur und auch eine eigene Identität als Führungskraft. Damit könnte die Sinnlosigkeit des Omnipotenz-Ansatzes allen Beteiligten in regelmäßigen Abständen vor Augen geführt und sukzessive entkräf­
tet werden.
2. Kompetenzaufbau im Change-Leadership
Zur Wertschätzung der Führungsrolle gehört eine ordentliche Führungsausbildung bzw. die Investition in den Kompetenzaufbau. Auf diesem Weg können (neue und noch unerfahrene) Führungskräfte frühzeitig lernen, wie man
Mitarbeiter durch Veränderungen führen kann und wie es eher weniger gelingt. Die häufig zu beobachtende Beförderungspraxis, Führungskräfte «ins
kalte Wasser zu werfen», um sich in ihren neuen Positionen zu behaupten,
führt leider ebenso häufig dazu, dass sie sich zwar an ihren neuen Mitarbeitenden ausprobieren und Erfahrung sammeln können, gleichzeitig aber unabsichtlich ungeschicktes Führungsverhalten an den Tag legen, weil schlichtweg Unkenntnis über die Führungszusammenhänge im Change besteht. Die
Folge: In den ohnehin komplexeren und dynamischen Veränderungssituationen
wird die Führungssituation eher noch verschärft und die (beidseitige) Spirale geringer Wertschätzung und/oder Akzeptanz erst Recht in Gang gesetzt.
Mit der fundierten begleitenden Ausbildung der Führungskräfte könnte
viel gewonnen werden, führt doch die Reflexion auf Führung in Veränderungsprozessen bereits zu einer Sensibilisierung für die Besonderheiten die­
ser Situation und eröffnet zumindest das Potenzial für die Führungskräfte,
informierter und sicherer durch Veränderungsprozesse zu führen.
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3. Aufbau konsistenter Anreizsysteme
Ebenso verhaltensbeeinflussend sind die unternehmensindividuellen Mechanismen der Beanreizung und deren Ausgestaltung. Häufig finden sich in
den Verfahren zur Messung von «Management-Leistung» solche Faktoren
wieder, die im Dienste plankonformen und eindeutig messbaren Führungsverhaltens stehen und die Erfüllung von Erwartungen würdigen, die ihren
Ursprung in der Vergangenheit haben. Zukunftsbezogene Erwartungen, also
solche, die an der erfolgreichen Umsetzung eines Veränderungsprojektes
hängen und somit bereits heute zu planabweichenden Ergebnissen führen
(müssen), spielen dagegen kaum eine Rolle (Ford & Greer 2005). Genau diese
Faktoren, etwa die Berücksichtigung der kompetenten Handhabung von Widersprüchen, Unsicherheiten oder Überraschungen, stellen aber einen mindestens genauso wichtigen Aspekt erfolgreicher Führungsarbeit dar. Dies
gilt ganz besonders für die Steuerung von Veränderungen, da diese immer in
einem Spannungsfeld von bestehenden und zukünftigen Strukturen erfolgen
(Eberl et al. 2012). Es macht deshalb Sinn, solche Aspekte, die mit der Steuerung und Realisation von Veränderung einhergehen, in der Konstruktion von
Anreizsystemen mit einem eigenen Wert zu versehen.
4. Stärkung der Führungsidentität
Primär auf der Individualebene ansetzend können Maßnahmen zum Aufbau
von Führungskompetenz ergriffen werden, die es den Führungskräften ermöglichen, Erfahrungen und Techniken im Umgang mit widersprüchlichen
Situationen aufzubauen bzw. zu erproben. Dazu gehört das (Wieder-) Erlernen des gezielten Einsatzes des «Nein» ebenso wie die Fähigkeit des aktiven
Zuhörens. Letzteres ist eine mittelbare Form der Partizipation, die dazu beiträgt, dass unterschiedliche Meinungen und Erwartungen «angehört» und
bei zu treffenden Entscheidungen berücksichtigt werden können, dies aber
nicht zwangsläufig müssen (Zuhören ist ungefährlich, aber chancenreich!).
Unabhängig davon, in welcher Form Führungskräfte in ihrer neuen Rolle unterstützt werden, kommt es ganz wesentlich darauf an, aus dem reflexartigen Führungsmodus bewusst herauszutreten und die eigene Führungsidentität aktiv stärken zu können.
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Reflexion | Der Kopf auf dem Silbertablett | Martina Eberl
trachtung offenbart sich aber ein sehr viel tiefer liegendes
Di­lemma, welches auch treffend als «Schizophrenie des Füh­
rens» beschrieben wird (Gebhardt, Hofmann & Roehl 2015),
sich nämlich bewusst oder unbewusst auf die sozial und auch
organisationskulturell erwünschte Verhaltensnorm einlassen
zu müssen/wollen, gleichzeitig aber an der Darbietung der
strukturierenden und Ziele durchsetzenden Führungsaktivi­
täten beurteilt zu werden.
«Der Omnipotenzanspruch wird
strukturell an die Führungskräfte herangetragen.»
Wie könnte ein Weg aus dem Dilemma aussehen?
Da eine unmittelbare Veränderung komplexer Gesellschafts­
normen unmöglich ist, bleibt eine Erneuerung des Manage­
ment- und Führungsbildes in der betriebswirtschaftlichen Aus­
bildung und Praxis. In Think Tanks und auf wissenschaftlichen
Konferenzen ist dies schon auf den Weg gebracht. So wird über
«Future Forms of Leading» oder «Post-heroisches Management»
nachgedacht (Jironet & Starren 2013; Gebhardt, Hofmann &
Roehl 2015) und auf diese Weise die Ausbildung eines neuen/
anderen Bildes der «erfolgreichen» Führungskraft angestoßen.
In diesem Bild wird der Mythos der «omnipotenten Führungs­
kraft» Stück für Stück entkräftet und Führung in eine Richtung
entwickelt, in der man sich auf den Umgang mit Komplexität,
Unsicherheit UND Dynamik versteht. Dies geschieht, indem
diese schwierige Aufgabe auch zu einer Aufgabe der Gesamt­
organisation gemacht wird und entsprechende organisationa­le
Kompetenzen aufgebaut werden (Schreyögg & Eberl 2015).
Eine Dimension dieser Kompetenz behandelt die Frage
nach dem Umgang mit Emotionen und Affekten in der Orga­
nisation. Menschen haben in Zeiten von Unsicherheit und
Dynamik typischerweise ein ungleich höheres Bedürfnis nach
Sicherheit, Geborgenheit, Wertschätzung und Orientierung.
Das bedeutet für die einzelne Führungskraft, aber besonders
für die gesamte Organisation, dass sie Möglichkeiten finden
muss, genau diesen Bedürfnissen Rechnung zu tragen. Dazu
kann die Etablierung einer den Umgang mit Unsicherheit un­
terstützenden Unternehmenskultur ebenso gehören, wie die
Entscheidung, etablierte Belohnungsmechanismen (auch ent­
gegen eines kurzfristigen Gewinnkalküls) nicht sofort zu deak­
tivieren. Aber auch über die Bereitstellung von Zeit und Raum
für das Ausleben bekannter und/oder den Aufbau neuer (Füh­
rungs)-Rituale kann die kompetente Organisation Sicherheit
und Geborgenheit vermitteln, welche sowohl die Geführten
als auch die Führenden für den Umgang mit den dynami­
schen Anforderungen des postmodernen Wettbewerbs emoti­
onal und psychisch stärkt.
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Fazit
Die omnipotente Führungskraft ist also kein Mythos. Sie ma­
nifestiert sich tatsächlich in unterschiedlichen Formen im re­
alen Arbeitsalltag. Dabei zeigt sich der Omnipotenzanspruch
weniger in Form eines entsprechenden Selbstbildes, sondern
wird strukturell an die Führungskräfte herangetragen. «Der
Alleskönner und Alleswisser ist ein Auslaufmodell, das Omni­
potenzdilemma besteht aber nach wie vor...» (Volkenandt,
Geschäftsführer, 2014). Somit wäre es am eigentlichen Prob­
lem vorbei gedacht, eine Lösung für den effektiveren Umgang
mit widersprüchlichen Situationen und Unsicherheit aus­
schließlich auf der Individualebene zu suchen. Im schlimms­
ten Fall würde sich damit die schizophrene Führungssituation
sogar verstärken.
Stattdessen sollte bei der Auseinandersetzung mit den viel­
fältigen und naturgemäß widersprüchlichen Erwartungen an
Führungskräfte das Augenmerk auch auf die Besonderheiten
der (in der Regel zusätzlich übernommenen) verantwortlichen
Steuerung von Veränderungsprozessen liegen. Dabei geht es
mittelbar darum, den «Omnipotenzmythos» zu entkräften, un­
mittelbar aber zunächst darum, Führungskräften einen Raum
für die notwendigen Veränderungen im Führungsverhalten zu
eröffnen. Dazu gehört im Kern, ihnen und ihrer spannungsge­
ladenen Führungsarbeit mit Wertschätzung und Aufmerk­
samkeit zu begegnen sowie einen organisationalen Kontext
(etwa über die Abbildung entsprechender Faktoren in den Be­
wertungs- und Anreizsystemen) zu schaffen, der einen realis­
tischen Umgang mit dem Spannungsfeld zwischen Struktur
und Veränderung erleichtert. Dies entlastet nicht nur die Füh­
rungskraft von dem permanenten Gefühl der Überlastung bzw.
unmöglichen Zielerfüllung, sondern kann auch die Erfolgs­
quote bei der Umsetzung strategischer Ziele sowie des damit
einhergehenden Wandels erhöhen. In der Folge dürfte die
Wahrnehmung der Leistung von Führungskräften eine posi­
tive Wende nehmen. Nicht ein per se anderes Führen ist also
gefragt, wohl aber ein Paradigmenwechsel im Umgang mit
den Erwartungen an Führung.
Prof. Dr. Martina Eberl
Hochschule für Wirtschaft und Recht,
Berlin; ABWL, insb. Management und
Organisation; Akademische Leiterin des
berufsbegleitenden MBA Change Management am Institut für Management, Berlin
Kontakt:
[email protected]
Nr. 3 |2015
Martina Eberl | Der Kopf auf dem Silbertablett
| Reflexion
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