Judenverfolgung in Hann. Münden Der Fall Erwin Proskauer

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Judenverfolgung in Hann. Münden Der Fall Erwin Proskauer
Niedersächsisches Justizministerium
Judenverfolgung in Hann. Münden
Der Fall Erwin Proskauer
Vortrag von
Dr. Johann Dietrich von Pezold
am 29. November 2001
Judenverfolgung in Hannoversch Münden:
der Fall Erwin Proskauer 1939
Vortrag von Dr. Johann Dietrich von Pezold,
am 29. November 2001 im Landgericht Göttingen
anlässlich der Ausstellung
„Justiz im Nationalsozialismus – Über Verbrechen im Namen des Deutschen Volkes“
im Landgericht Göttingen
- Leicht überarbeitete Fassung -
Herr Präsident, verehrte Frau Vizepräsidentin, meine Damen und Herren!
Das Ereignis, über das ich heute Abend zu berichten habe, hat sich in der Nacht vom 2. zum 3.
Oktober 1939 in Hannoversch Münden1 zugetragen. Fünf Nationalsozialisten brachten den
29jährigen Erwin Proskauer zu Tode. Erwin Proskauer gehörte der jüdischen Gemeinde in
Münden an. Der Fall wurde vom Sondergericht in Hannover verhandelt und abgeurteilt. Freilich
trat das Sondergericht in diesem Fall nicht als Instrument der Verfolgung von Regimegegnern auf
- waren doch die Angeklagten Täter überzeugte Anhänger des Regimes.
Erlauben Sie mir - bevor ich weiter auf das eigentliche Thema eingehe - einige Vorbemerkungen:
1. Zunächst ist die Quellenlage anzugeben. Grundlage meiner Ausführungen zum Fall selbst ist
nahezu ausschließlich das Strafurteil gegen die fünf Täter bzw. die diesbezügliche Akte im
Bestand Hann. 171a Hannover Acc. 107/83 Nr. 165 des Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv in
Hannover. Da der Haupttäter Bediensteter der Stadtverwaltung Münden war, konnte ich auch die
noch vorhandene Personalakte heranziehen. Zwei den Fall betreffende Aktenstücke enthält ferner
die Akte „Amtshilfeersuchen“ im Archiv der Stadt Hann. Münden.
2. Ich meine im Hinblick auf das übergeordnete Thema: „Justiz im Dritten Reich“ immer wieder und zum Teil auch längere - Passagen aus dem Urteil wörtlich zitieren zu müssen. Tatsächlich oder vielleicht doch nur vermeintlich - signifikante Formulierungen sollten m. E. nicht kondensiert
werden, zumal konzise Formulierungen, die ein Gerichtsurteil ganz überwiegend auszeichnen,
sich kaum noch kondensieren lassen.
3. Als Historiker kann ich mich nur sehr bedingt darauf einlassen - kann es aber auch nicht ganz
vermeiden -, juristische Bewertungen oder Auslegungen über die Tatsache zu zitieren oder zu
referieren und auch explizit zu kommentieren. Dies kann grundsätzlich nur mit juristischem
Sachverstand geschehen. Schon allein deswegen kann ich zu einer alle Aspekte einschließenden
Beurteilung der Frage nicht kommen, in welchem Maße in der gerichtlichen Ahndung des
Verbrechens an Erwin Proskauer ein charakteristisches Beispiel von NS-Justiz zu sehen ist.
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Im folgenden Münden genannt. Die Stadt wird seit 1870 postalisch und seit 1909 bahnamtlich Hann. Münden
genannt. Der historische Name der Stadt wurde erst mit Wirkung vom 1.1.1991 in „Hann. Münden“ geändert
4. Obwohl die Frage der Wahrung des Persönlichkeitsschutzes hier sehr wahrscheinlich irrelevant
ist, meine ich doch, die Namen von vier der fünf Täter verschlüsseln zu sollen. Einer der Täter ist
bereits seit mehr als 50 Jahren tot.
Münden vor dem Nationalsozialismus
Nun sollte ich Ihnen zunächst die sozialen und politischen Verhältnisse in der Stadt des
Geschehens in der gebotenen Kürze charakterisieren:
Die Stadt, in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts gegründet, war vom Fernhandel und der
Flussschifffahrt geprägt und im Zuge der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts eine immer noch kleine, aber doch ansehnliche Industriestadt geworden. Die
Angehörigen der kaufmännischen und handwerklichen Gewerbe sowie Beamte unterschiedlicher
Behörden und öffentlicher Einrichtungen machten etwa reichlich die Hälfte der Mündener
Bewohnerschaft aus. Die andere, knappe Hälfte war der Industriearbeiterschaft zuzurechnen. 1925
hatte die Stadt 12.016 Einwohner, 1939 waren es 14.703.
In Münden herrschte vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten kein ausgesprochen
antisemitisches Klima. Seit den 1870er Jahren hatte sich in Münden eine starke sozialistische
Arbeiterbewegung entwickelt, die sich in ihrer politischen Ausrichtung 1919 - wie überall im
Reich - in die dem demokratischen Rechtsstaat verpflichteten Sozialdemokraten und die am
sowjetischen Rätesystem orientierten Kommunisten gespalten hatte. Die prinzipiell - wenngleich
nicht durchgängig auch praktisch - in ihrer Gegnerschaft zu den Nationalsozialisten vereinten
Sozialdemokraten und Kommunisten kamen bei der Reichstagswahl 1930 auf zusammen 49,7
Prozent der abgegebenen Stimmen, bei der Reichstagswahl im Juli 1932 auf 45,1 und bei der
Reichstagswahl im März 1933 auf 53,8 Prozent. Die NSDAP erreichte nach 17,6 Prozent 1930
(im Reichsdurchschnitt 18,3 Prozent) im Juli 1932 mit 40,2 Prozent (im Reichsdurchschnitt 37,4
Prozent) ihr Maximum und fiel bis zum März 1933 wieder auf 33,5 Prozent ab (im
Reichsdurchschnitt 43,9 Prozent).
Freilich hatte der rassisch motivierte Antisemitismus, der die Jahrhunderte alte religiös und
ökonomisch begründete Judenfeindschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ablöste,
Anfang der 1880er Jahre auch Münden erreicht, aber nicht in besonderem Maße Fuß fassen
können. Allerdings waren nach dem Ersten Weltkrieg an der 1922 zur Forstlichen Hochschule und
1939 zur Forstlichen Fakultät der Göttinger Universität erhobenen Forstakademie antisemitische
Regungen unter den Studenten und auch in der Professorenschaft unverkennbar.
Juden in Münden
Eine jüdische Gemeinde bestand in Münden ununterbrochen seit der Mitte des 17. Jahrhunderts.
Sie unterlag nach der mit der Revolution von 1848/49 erreichten Emanzipation starken
zahlenmäßigen Fluktuationen und Verschiebungen in der sozialen Zusammensetzung. In der Zeit
der Weimarer Republik waren nahezu alle sozialen Schichten unter den Mitgliedern der jüdischen
Gemeinde in Münden vertreten. Sie hatte zum Zeitpunkt der Machtübernahme der
Nationalsozialisten einschließlich der Kinder vermutlich 88 Mitglieder.
Mit dem „Handelsmann“ Salo Proskauer ist 1887 erstmals ein Träger dieses Namens in Münden
nachweisbar. Er besaß ein Haus in der Altstadt in der zur Fulda hin gelegenen Hinterstraße (heute
Hinter der Stadtmauer). Im gleichen Hause wohnten nach Ausweis der späteren Adressbücher
auch seine Söhne Julius, Eugen und Hermann Proskauer. Sie werden als Althändler und
Produktenhändler bezeichnet, bestritten ihren Lebensunterhalt also in seit alters traditionell
jüdischen Erwerbszweigen und gehörten keinesfalls zu den besser oder gut situierten Juden der
Stadt. (Unter dem heutzutage nicht mehr gebräuchlichen Begriff Produktenhandel ist der Handel
mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen zu verstehen). Der unverheiratete Eugen Proskauer wurde
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1936 von zwei jungen christlichen Denunzianten wegen „Rassenschande“ angezeigt. Nach seiner
Verhaftung erhängte er sich im Gerichtsgefängnis in Göttingen.
Als beim Pogrom vom 9. November 1938 - wegen der vielen dabei zertrümmerten
Schaufensterscheiben von den Nationalsozialisten zynisch-beschönigend „Reichskristallnacht“
genannt - die jüdischen Männer vorübergehend verhaftet wurden, befanden sich unter ihnen auch
Julius, Hermann und Erwin Proskauer. Hermann Proskauer, seine Ehefrau Johanna und ihr Sohn
Erwin wohnten in der Lohstraße Nr.14 (heute Nr. 15). Die etwa 120 Meter lange Lohstraße führt
von der Nordwestecke des Marktes in der Altstadt zur Bremer Schlagd, dem einstigen Anlegeplatz
für die Flussschifffahrt am stadtseitigen Arm der Werra. Etwas stromaufwärts von der
Einmündung der Lohstraße auf die Bremer Schlagd befindet sich über einem natürlichen
Felsabsatz ein sogenanntes Nadelwehr. Auf der reichlich 100 Meter langen Strecke vom
Nadelwehr bis zur Vereinigung mit dem stadtseitigen Arm der Fulda an der Schlagsspitze sind die
Strömungsverhältnisse heftig turbulent.
Fünf Männer hecken einen „Denkzettel“ aus
Knapp elf Monate nach der sogenannten Reichskristallnacht und einen Monat nach dem Überfall
auf Polen, mit dem der Zweite Weltkrieg begann, saßen am späten Abend des 2. Oktober 1939 in
Münden im Gasthaus „Zum weißen Ross“ in der Adolf-Hitler-Straße (seit 1945 wieder Lange
Straße) fünf Nationalsozialisten beisammen: der 45jährige Aufseher beim städtischen Bauamt,
Fritz Schlechthaupt, der 27jährige Kreiswart der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ Erwin
Seiler, der 45jährige Schuhmachermeister Karl Herborg, der 30jährige Dreher Ernst Schuster und
der 29jährige Angestellte Erich Kümmel. Seiler stammte aus Westfalen. Herborg war gebürtiger
Mündener, während Schuster und Kümmel aus dem Saarland stammten und sich erst seit kurzem
als „Rückgeführte von der Westgrenze“ vorübergehend in Münden aufhielten.
Schlechthaupt stammte aus Thüringen. Nach dem Besuch der Mittelschule und einer Lehre bei
einem Katasteramt sowie kurzzeitiger Tätigkeit als Katasteramtsgehilfe war er 1913 zum
Militärdienst eingezogen worden. Mit dem EK II. und dem Frontkämpferkreuz ausgezeichnet,
kehrte er 1919 als Unteroffizier aus dem Felde zurück und heiratete 1921 in Jühnde. Für die Zeit
bis zu seiner Übersiedlung nach Münden im April 1934 wird er in seiner Personalakte als
„Landwirt“ bezeichnet. Am 1. Mai 1934 trat er als Aufseher beim städtischen Bauamt in die
Dienste der Stadt Münden. Seine Aufgabe bestand in der Kontrolle des Zustandes der Straßen und
der Arbeiten zu ihrer Erhaltung im Stadtgebiet.
In die NSDAP und in die SA trat Schlechthaupt am 1. März 1930 ein. Damit war er nach der
Sprachregelung der Nationalsozialisten, wie es auch in seiner Personalakte ausdrücklich vermerkt
ist, ein „alter Kämpfer“. Diese Bezeichnung kam allen zu, die vor der Machtübernahme in die
NSDAP eingetreten waren. Schlechthaupt gründete die NSDAP und die SA in Jühnde. Bis zum 1.
Mai 1932 war er Ortsgruppenleiter in Jühnde, danach Kreisleiter des Landkreises Münden bis zu
dessen vorübergehender Vereinigung mit dem Landkreis Göttingen am 1. Oktober 1932. Vom 27.
Januar bis zum 1. November 1933 war er Ortsgruppenleiter in Münden und seit 1937
Sturmhauptführer einer Mündener SA-Formation. Außerdem war er ehrenamtlich als
Kreisorganisationsleiter der Partei für Münden tätig. Schließlich fungierte er seit Anfang
September 1939 als „Leiter des Quartieramtes für die von der Westgrenze Rückgeführten“. Ein
politisches Führungszeugnis der Mündener Kreisleitung der NSDAP bezeichnete ihn 1937 als
einen der „aktivsten Kämpfer der Bewegung“ und bescheinigte ihm „unermüdliche[n] Einsatzund Kampfbereitschaft für die Idee des Nationalsozialismus vor wie nach der Machtübernahme,
besonders aber in den schweren Jahren der Kampfzeit, sei es als politischer Leiter, SA-Mann oder
Redner.“ Für die Zeit vom 31. August bis zum 12. September 1939 erhielt er vom Bürgermeister
Sonderurlaub unter Fortzahlung der Bezüge zur Teilnahme am Reichsparteitag in Nürnberg.
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Seiler war ebenfalls schon vor der Machtergreifung in die NSDAP und in die SA eingetreten,
während Herborg sich erst im Mai 1933 der SA und 1937 auch der Partei angeschlossen hatte.
Auch Schuster und Kümmel waren erst nach der Machtergreifung der Partei beigetreten und unter
Schlechthaupt im Quartieramt für die Rückgeführten tätig.
Die Unterhaltung der fünf Männer in der Gaststätte „Zum weißen Roß“ drehte sich um den von
Hitler am 1. September 1939 begonnenen und noch nicht beendeten Krieg gegen Polen, vor allem
um die dort an Deutschen im westpreußischen, seit 1919 zu Polen gehörigen Bromberg verübten
Gräueltaten. Außerdem sprachen sie darüber, dass zwei Mündener SA-Leute in Polen gefallen
waren. Übereinstimmend waren sie der Auffassung, dass die Bromberger Ereignisse von Juden
verübt oder zumindest angestiftet worden waren. Sie kamen zum Ergebnis, dass dafür ein Jude
einen „Denkzettel“ erhalten müsse.
Weit nach Mitternacht begaben sie sich mehr oder weniger angetrunken in die Lohstraße.
Schlechthaupt, Seiler und Herborg drangen gewaltsam in das Haus ein, richteten in der Wohnung
der Familie Proskauer im 2. Stock Verwüstungen an, zwangen Erwin Proskauer, sich anzuziehen,
brachten ihn auf die Straße und trieben oder drängten ihn bis zur Kante der Schlagdmauer. In der
Nähe einer der beiden breiten Treppen, die erst in den 1960er Jahren aus Gründen der
Verkehrssicherheit beseitigt wurden, ließen sie Erwin Proskauer ins Wasser stürzen. Am 19.
Oktober - 16 Tage später - wurde seine Leiche etwa 40 Kilometer weserabwärts bei Lippoldsberg
gefunden.
Angeklagt vor dem Sondergericht
Am 20. Oktober wurden Schlechthaupt und seine vier Mittäter von der Geheimen Staatspolizei
Hildesheim festgenommen. Die polizeilichen, richterlichen und zuletzt staatsanwaltlichen
Vernehmungen erfolgten am 23. und 25. Oktober sowie am 6. November 1939. Die
Staatsanwaltschaft erhob Anklage vor dem Sondergericht beim Landgericht Hannover gegen
Schlechthaupt, Seiler und Kümmel wegen Mordes, gegen Schuster wegen Totschlags, während sie
Herborg zur Last legte, „sich schuldhaft, aber ohne Kenntnis ihrer Tötungsabsicht“, nämlich der
vier andern, an dem Überfall auf Erwin Proskauer beteiligt zu haben.
Das Sondergericht stellte in seiner Sitzung am 22. Juli 1940 fest, dass in der Hauptverhandlung
die Anklage „mit Ausnahme der zum Morde erforderlichen Überlegung, die sich nicht hat
feststellen lassen, ... in vollem Umfang bestätigt worden“ sei. Das Gericht verurteilte
Schlechthaupt, Seiler, Schuster und Kümmel wegen gemeinschaftlichen Totschlags und Herborg
wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Raufhandel. Bestraft wurden
Schlechthaupt mit vier Jahren Gefängnis, Seiler mit drei Jahren, Schuster und Kümmel mit je zwei
Jahren und Herborg mit einem Jahr Gefängnis. Herborg wurde die Untersuchungshaft in vollem
Umfang, den anderen lediglich mit sechs Monaten angerechnet.
Ein Fall, der Fragen aufwirft
Diese skelettierte Schilderung des Falles wirft einige Fragen auf - zunächst die nach der
Zuständigkeit des Gerichts. Die Antwort darauf liefert zugleich die Antwort auf die Frage, warum
überhaupt Anklage erhoben wurde - war doch die Eliminierung der Juden aus der Gesellschaft
unmissverständlich kundgetanes Ziel des nationalsozialistischen Unrechtsstaates.
Sondergerichte gab es bereits in der Zeit der Weimarer Republik. Sie wurden in Zeiten erhöhter
politischer Spannungen eingesetzt - zuletzt am 9. August 1932 von der Regierung des
Reichskanzlers Franz von Papen und wieder aufgehoben am 19. Dezember 1932 von der
Regierung Schleicher. Sie beruhten auf einer Notverordnung des Reichskanzlers Heinrich Brüning
vom 6. Oktober 1931 „’zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zur Bekämpfung
politischer Ausschreitungen’“. Auf dieser Grundlage richteten indessen die Nationalsozialisten
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unter nahezu durchgängig wörtlicher Übernahme der Papenschen Formulierungen Sondergerichte
über eine Verordnung vom 21. März 1933 wieder ein.
Hatte aber die Regierung Papen ihre Sondergerichte u.a. im Hinblick auf den täglichen politischen
Terror und insofern zur Aburteilung von Delikten im Zusammenhang von bürgerkriegsähnlichen
Vorgängen eingerichtet, so bezogen die Nationalsozialisten die Zuständigkeit ihrer Sondergerichte
auf Delikte gegen die Verordnung zum Schutz von Volk und Staat vom 28.2.1933 und die
sogenannte „Heimtückeverordnung“ vom 21.3.1933. Damit waren die Sondergerichte der
Nationalsozialisten zuständig für „politische oder politisierte“ Delikte, die „den Neuaufbau des
Staates gefährdeten“, und demnach eingesetzt „zur Durchsetzung der Gleichschaltung der
Gesinnung“ und „zur Abschreckung oder auch Beseitigung jeglicher Störfaktoren.“
Zunächst wurde in jedem Oberlandesgerichtsbezirk ein Sondergericht eingerichtet, das mit drei
Berufsrichtern besetzt war, die dem Landgericht angehörten, an dem das Sondergericht gebildet
wurde. Vorsitzender Richter war gewöhnlich ein Landgerichtsdirektor, die beisitzenden Richter
Land- oder Amtsgerichtsräte, ab 1939 auch Assessoren. Bezüglich der personellen Besetzung der
Sondergerichte ist die Literatur bisher nicht zu einer einheitlichen Beurteilung der Frage nach der
politischen Zuverlässigkeit der Richter im Sinne des Regimes gelangt.
Im Laufe der Jahre wurde die Zuständigkeit der Sondergerichte im Verordnungswege ständig
erweitert. Einen Wendepunkt markierte die Verordnung vom 20. November 1938. Mit ihr wurde
„die Staatsanwaltschaft ermächtigt, Verbrechen, die zur Zuständigkeit des
Schwurgerichts, der Strafkammer, des Schöffengerichts oder des Amtsrichters gehörten,
vor den Sondergerichten anzuklagen, wenn sie der Auffassung war, ‘dass mit Rücksicht
auf die Schwere oder die Verwerflichkeit der Tat oder die in der Öffentlichkeit
hervorgerufene Erregung die sofortige Aburteilung durch das Sondergericht geboten’ “
war. Damit war die Scheidung zwischen ordentlicher Gerichtsbarkeit und Sondergerichtsbarkeit
aufgehoben. Anlass zu dieser Verordnung war eine Serie schwerer Mord- und Raubfälle im Jahr
1938 gewesen, die Öffentlichkeit stark beschäftigt hatte.
In der Tat hatte das Mündener Verbrechen zwar nicht die Öffentlichkeit im buchstäblichen Sinne
beschäftigt, wohl aber hatte es das Tagesgespräch hinter vorgehaltener Hand in der Stadt gebildet.
Insoweit war die Zuständigkeit des Sondergerichts gegeben. Ein weiteres mag hinzugekommen
sein: Das Regime war bemüht, so weit als möglich den Anschein der Rechtstaatlichkeit zu wahren.
So wurden die organisierten Verfolgungsmaßnahmen gegen die Juden gewöhnlich mit einem
anonymen kollektiven Volkswillen legitimiert. Aktionen von Einzelpersonen waren hingegen dem
Ansehen des Regimes schädlich und wurden geahndet. Darauf wies das Gericht in seiner
Urteilsbegründung mit der Bemerkung hin, dass Schlechthaupt „sich bewusst über das ihm
bekannte, durch schriftliche Anordnung des Standartenführers vom 25. September 1939 nochmals
verschärfte Verbot jeder Einzelaktion gegen Juden hinweggesetzt hat“.
Auf der Grundlage der Geständnisse, „die Angeklagten im Vorverfahren bei ihrer polizeilichen
Vernehmung abgelegt, vor dem Richter bestätigt und gegenüber der Staatsanwaltschaft im
wesentlichen nochmals wiederholt“ hatten, stellte das Gericht den Tathergang folgendermaßen
fest, und betonte, dass es keinen Zweifel habe, „dass die früheren Geständnisse der Angeklagten
der Wahrheit entsprechen“.
Der Tathergang
Danach waren sich die fünf Täter, als sie die Gaststätte „Zum weißen Ross“ verließen, darüber
einig gewesen, Erwin Proskauer „aus seiner Wohnung in der zur Werra führenden Lohstraße
herauszuholen und ihn ins Wasser zu werfen oder, wie Schlechthaupt sich ausdrückte, ‘zum
Kaffeeholen nach Wilhelmshaven zu schicken’“. In der Wohnung der Familie Proskauer erklärte
Schlechthaupt „unbekümmert um das Flehen und Jammern der Eltern: ‘Jungchen, Deine letzte
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Stunde hat geschlagen’“. Als Erwin Proskauer darauf bat, ihn doch gleich zu erschießen,
erwiderte Schlechthaupt: „’Eine Kugel ist für Dich viel zu schade, wir wollen Dich lieber ins
Wasser werfen’“.
Vor dem Hause wurde Erwin Proskauer von Seiler misshandelt. Alle fünf drängten dann „in
einem Halbkreise den Proskauer die Lohstraße entlang an die Kaimauer der Werra, sodass er
schließlich in der Nähe der ersten Treppe gegenüber dem Packhof ins Wasser sprang.“ Danach
entfernten sich vier der Täter in Richtung Innenstadt, ohne sich um das weitere Schicksal ihres
Opfers zu kümmern. Lediglich Herborg blieb zurück.
Es gelang unterdessen Erwin Proskauer, über die Treppe wieder aufs Trockene zu kommen. Als er
dort mit Herborg einige Worte wechselte, kehrten die andern zurück, weil sie ihren fünften
Komplizen vermisst hatten. Als Erwin Proskauer sie sah, flüchtete er in Richtung auf die
Schlagdspitze. Schuster und Kümmel setzten ihm nach. Schlechthaupt und Seiler folgten in
kurzem Abstand. Erwin Proskauer sah „schließlich keinen andern Ausweg mehr, als am Ende der
Kaimauer in den Fluss zu springen. Schuster sah ihn noch eine kurze Strecke stromabwärts im
Wasser waten und dann in einem Strudel verschwinden, der sich hier durch den Zusammenfluss
der Werra und der Fulda bildet.“
Danach waren die Täter zunächst unschlüssig, ob sie sich noch über das weitere Schicksal von
Erwin Proskauer vergewissern sollten, zumal Herborg sagte, er wisse, dass Proskauer ein guter
Schwimmer sei. Trotzdem machten sich Schlechthaupt und Seiler auf den Weg zur gegenüber
liegenden Fuldainsel, dem Tanzwerder. Während aber Schlechthaupt schon auf der
Fußgängerbrücke dorthin umkehrte, behauptete Seiler, er sei bis zum eigentlichen Zusammenfluss
von Werra und Fulda am Weserstein gegangen, ohne von Proskauer noch etwas wahrgenommen
zu haben.
Die Hauptverhandlung
In der Hauptverhandlung hatten die Angeklagten indessen nach Auffassung des Gerichts versucht
sich herauszureden und behauptet, sie hätten Erwin Proskauer lediglich verprügeln wollen.
Schlechthaupt gab zwar seine Äußerungen in der Wohnung der Familie Proskauer zu, wollte sie
aber lediglich als Redensarten aufgefasst wissen, die Proskauer in Angst versetzen sollten. Das
Gericht hielt ihm darauf seine Aussage bei der polizeilichen Vernehmung vor, in der er offen
zugegeben hatte, „dass man gemeinsam den Plan gefasst habe, den Juden in die Werra zu werfen
und aus dem Leben zu befördern.“ Bei der richterlichen Vernehmung hatte er noch erläuternd
hinzugefügt, er sei „seit 1930 ein ausgesprochener Judengegner“. Beim Pogrom von 9.
November 1938 sei zudem „die Familie Proskauer zu gut weggekommen.“ Der junge Proskauer
hätte schon damals verschwinden müssen. Sie hätten jetzt wegen der Bromberger Gräuel und für
den Tod der beiden Mündener SA-Männer Rache nehmen wollen, „indem wir den Proskauer
beseitigen wollten. Wir hatten also gemeinsam den Plan gefasst, Proskauer umzubringen.
Hierüber waren sich auch die vier anderen Mittäter völlig im Klaren, dass Proskauer im Wasser
ertränkt werden sollte.“ Schließlich hatte Schlechthaupt gegenüber dem Staatsanwalt erklärt:
„Der Jude sollte weg. Er sollte aus dem Leben befördert werden“. Nachdem alle Angeklagten
vernommen worden waren und das Gericht ihm diese Auslassungen vorhielt, sagte Schlechthaupt,
„er habe seine früheren Aussagen in dem Gefühl gemacht, dass ihnen als SA-Männern nichts
passieren könnte. Auch hätten sie dabei wohl etwas aufgeschnitten.“
Auch Seiler behauptete vor Gericht, man habe lediglich die Absicht gehabt, „Proskauer ‘richtig
zu verprügeln’“. Auch ihm hielt das Gericht seine früheren Aussagen vor. Bei der polizeilichen
Vernehmung hatte er zugegeben: „Es war mir natürlich bekannt, dass dieser Jude Proskauer ins
Wasser geworfen werden sollte“. Er habe aber nicht darüber nachgedacht, dass Proskauer dabei
ertrinken könnte. Als das Gericht Seiler sein früheres Geständnis vorhielt, sagte er, „er habe
damals nicht geglaubt, dass wegen solcher Sache eine Mordanklage erhoben würde“.
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Ebenso hatte Herborg bei der polizeilichen Vernehmung bestätigt, „dass Proskauer ins Wasser
sollte. Wir haben ihn dann so an den Rand der Kaimauer gedrängt, dass er wohl keinen Platz
mehr zum Stehen hatte und so von der hohen Mauer ins Wasser herunter musste“. Er habe sich
aber keine Gedanken gemacht, ob Proskauer dabei ertrinken könnte.
Auch Schuster hatte bei den vorangegangenen Vernehmungen zugeben, ihm sei klar gewesen,
dass Proskauer ins Wasser geworfen werden sollte. Auch hätten sie ihn „dann alle so vor sich
hergetrieben und bis an die Mauer gedrängt, dass er keinen anderen Ausweg mehr fand, als ins
Wasser zu springen.“ Dieses hatte auch Kümmel vor der Polizei bestätigt, bestand aber in der
Hauptverhandlung darauf, „nur davon gewusst zu haben, dass Proskauer verprügelt werden
sollte.“
Das Gericht wertete nach der Hauptverhandlung alle Erklärungen, mit denen die Angeklagten ihre
früheren Geständnisse zu entkräften gesucht hatten, als „plumpe Ausreden und nicht wert, ernst
genommen zu werden.“ Sie hätten in den vorangegangen Vernehmungen „den Mut zur Wahrheit“
aufgebracht, weil sie sich des Ernstes ihrer Lage nicht bewusst gewesen seien und nur mit
disziplinarischen Folgen gerechnet hatten.
Das Gericht bewertet den Sachverhalt
In der Bewertung der festgestellten Sachverhalte für die Strafzumessung stellte das Gericht
zunächst fest: Wenn auch alle fünf Angeklagten sich „von vornherein darüber einig gewesen sind,
den Proskauer ins Wasser zu werfen, so war dies doch nur für den Angeklagten Schlechthaupt mit
dem Entschluss, ihn zu töten, gleichbedeutend.“ Seiler habe die Absicht Schlechthaupts an dessen
Äußerungen in der Wohnung der Familie Proskauer erkannt, sich trotzdem an dem Vorhaben
weiter beteiligt und sich dadurch den Tötungsvorsatz zu eigen gemacht, zumal ihm angesichts der
Strömungsverhältnisse bewusst gewesen sei, dass sie Proskauer in Todesgefahr brachten. Zudem
wertete das Gericht Seilers Kontrollgang auf dem Tanzwerder nicht als Ausdruck der Sorge um
Proskauers Schicksal, sondern im Gegenteil als Versuch, sich darüber zu vergewissern, „dass
Proskauer sich nicht nochmals gerettet habe.“
Auch bei Schuster und Kümmel stellte das Gericht fest: „Spätestens in diesem Augenblick, als sie
Proskauer bis unmittelbar an den Abgrund getrieben hatten, fassten sie in dem Bewusstsein, dass
er durch den Sturz ins Wasser ertrinken müsste, auch den Vorsatz ihn zu töten.“ Herborg
hingegen sei der einzige gewesen, „der von Anfang an - gleichgültig ob mit Recht oder nicht Proskauer für einen guten Schwimmer gehalten hat“ und daher fest damit gerechnet habe, dass er
„sich schwimmend retten würde“. Auch war für ihn die Aktion beendet, nachdem Proskauer sich
zunächst wieder an Land gekommen war. Seine Absicht war es zunächst nur gewesen, Proskauer
gemeinsam mit den andern zu verprügeln. Es hatte ihm danach genügt, dass er ins Wasser
getrieben worden war.
Herborg hatte sich daher lediglich der gemeinschaftlichen und insofern gefährlichen
Körperverletzung in Tateinheit mit Raufhandel schuldig gemacht, während das Gericht die
anderen vier Täter „der gemeinschaftlichen vorsätzlichen Tötung“ (§ 212 StGB) für schuldig
befand. Es habe sich aber nicht feststellen lassen, fährt das Urteil fort, „dass sie die Tat mit
Überlegung ausgeführt, also einen Mord begangen haben.“ Zu diesem Befund kam das Gericht
angesichts der mehr oder weniger starken Alkoholisierung der Täter sowie ihrer Erregung, die sie
zu ihrer Tat geführt hatte.
Schlechthaupt als Haupttäter, der zuerst mit Schuster und Kümmel in einem anderen Lokal der
Mündener Innenstadt gewesen war, ehe sie sich ins „Weiße Ross“ begaben, wo sie mit Seiler
verabredet waren und Herborg zufällig getroffen hatten, - Schlechthaupt hatte im Laufe des
Abends etwa sechs bis sieben mittlere Glas Bier sowie zwei oder drei Glas Steinhäger getrunken.
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Obwohl er zu Abend gegessen hatte, ging das Gericht davon aus, dass ihm infolge von
Übermüdung und Überarbeitung, die sein zumeist nächtlicher Dienst auf dem Quartieramt für die
Rückgeführten in den Wochen zuvor mit sich gebracht hatte, „der Alkohol stark zu Kopf
gestiegen“ war. Er war auch nicht in der Lage gewesen, einen PKW zuverlässig zu steuern, als er
vor dem Aufbruch aus dem „Weißen Ross“ zur Wohnung der Familie Proskauer noch zwei andere
Gäste nach Hause brachte. Nach dem Gutachten des Gerichtsmediziners machte ein derartiger
Alkoholisierungsgrad Schlechthaupt „unfähig, das Für und Wider seiner Tat klar abzuwägen, die
Tötung also mit Überlegung auszuführen“.
Bei Seiler, der zwischenzeitlich am Abend auch mit dienstlichen Angelegenheiten in seiner
Eigenschaft als KdF-Funktionär tätig gewesen war, und daher etwas weniger getrunken hatte, kam
das Gericht zu den gleichen Erwägungen wie bei Schlechthaupt, „wenn auch im verminderten
Maße“. Auch bei ihm war der Gerichtsmediziner zu dem Ergebnis gekommen, dass Seiler „ein
sorgfältiges Abwägen der für und gegen die Tat sprechenden Gründe unmöglich“ gewesen sei,
wonach das Gericht „die zum Morde erforderliche Überlegung“ ausschloss.
Schuster und Kümmel, die nicht zu Abend gegessen, aber etwa sieben bis acht Glas Bier und fünf
Steinhäger getrunken hatten, waren in einem Maße alkoholisiert gewesen, dass der
Gerichtsmediziner verminderte Verantwortlichkeit im Sinne des Paragraphen 51 Absatz 2 des
StGB annahm. Das Gericht schloss daher auch bei ihnen aus, dass sie „zu einer klaren
Überlegung“ fähig gewesen seien. Herborg dagegen, der im Laufe des Abend zwar auch etliche
Glas Bier getrunken, aber auch zu Abend gegessen hatte, hielt das Gericht für voll verantwortlich,
zumal er selbst erklärt hatte, keineswegs angetrunken gewesen zu sein.
Nachdem das zu einer Verurteilung wegen Mordes erforderliche Tatbestandsmerkmal der
Überlegung wegen der Alkoholisierung der Täter ausgeschieden war, setzte das Gericht bei der
Strafzumessung zu ihren Gunsten an, dass sie nicht vorbestraft waren. Einen weiteren, zumindest
nach heutigem Verständnis sehr eigentümlichen Milderungsgrund sah das Gericht darin, „dass sie
die Tat nicht aus persönlichen Beweggründen, sondern im Zuge des allgemeinen Kampfes gegen
das Judentum begangen haben“. Insbesondere Schlechthaupt hielt das Gericht seinen „zur
Erregung gesteigerten Judenhass“ zugute, „der gerade in Proskauer ein geeignetes Opfer fand
und der im langjährigen Kämpfertum für die Bewegung seine menschliche Achtung vor dem
Leben eines Juden auf ein Mindestmaß herabgesetzt hatte.“
Schlechthaupts gesteigerte Erregung sah das Gericht als ausgelöst an durch die vorangegangene
Unterhaltung über die Bromberger Gräuel sowie den Tod der beiden SA-Kameraden und seine
Überzeugung, „dass an beidem letzten Endes nur die Juden schuld seien.“ Das Urteil fährt dann
erläuternd fort:
„Seine Erregung suchte sich ihr Ziel in dem später getöteten Proskauer und fand in ihm
insofern noch neue Nahrung, als der Angeklagte schon seit 1930 im Kampf für die
Bewegung wiederholt auf den Widerstand des Proskauer gestoßen sein und von ihm sogar
Drohungen erhalten haben will. Auch war Proskauer ihm als ein besonders übler
Vertreter seine Rasse, insbesondere wegen seiner bis in die letzte Zeit fortgesetzten
Annäherungsversuche an deutsche Mädchen bekannt und ihm, trotzdem Proskauer im
November 1938 für längere Zeit in Schutzhaft genommen war, bereits wiederum durch
sein freches herausforderndes Benehmen aufgefallen. Beides zusammen hinderte den
Angeklagten Schlechthaupt zwar an einer ruhigen Überlegung, beeinträchtigte aber nicht
seine Fähigkeit, sich über das Gesetzwidrige seines Vorhabens klar zu sein und trotz
seines inneren Drängens zur Tat von ihr Abstand zu nehmen. Der Angeklagte
Schlechthaupt trägt daher die volle Verantwortung.“
Erschwerend für Schlechthaupt wertete dass Gericht, „dass er die erhöhte Verantwortung, die ihm
seine leitenden Stellungen in der Partei und in der SA auch für seine allgemeine Lebensführung
auferlegten, außer Acht gelassen und sich bewusst über das ihm bekannte, durch schriftliche
9
Anordnung des Standartenführers vom 25. September 1939 nochmals eingeschärfte Verbot jeder
Einzelaktion gegen Juden hinweggesetzt“ hatte. Er habe daher die schwerste Strafe verdient, und
„nur mit Rücksicht auf seine großen Verdienste für die Bewegung und seine ehrenvolle Teilnahme
am Weltkrieg“ sei das Gericht unter der gesetzlichen Höchststrafe geblieben.
Auch Seiler, „der sich ebenfalls bereits seit 1931 für die Bewegung kämpferisch eingesetzt hatte“,
hielt das Gericht „Erbitterung auf die Juden und ihrer menschliche Minderbewertung“ zugute, die
auch bei ihm „auf Grund seines frühen Einsatzes für die Bewegung schon in der Kampfzeit
anzunehmen sind“. Strafmildernd wertete das Gericht ferner, dass Seiler „sich sowohl als Mitglied
der Partei wie vor allem als Angehöriger der SA. von dem Angeklagten Schlechthaupt abhängig
fühlte und auch aufgrund des erheblichen Altersunterschiedes ihm die Verantwortung für die von
Schlechthaupt ausgegangene Tat glaubte überlassen zu können.“ Auch bei Schuster und Kümmel
wertete das Gericht das Gefühl der Abhängigkeit und den erheblichen Altersunterschied als
Milderungsgrund. Herborg kam am glimpflichsten davon, weil keinen „Tötungswillen“ gehabt
habe.
Bewertung des Urteils
Das Urteil - vier Jahre Gefängnis für Schlechthaupt, drei Jahre für Seiler, zwei Jahre für Schuster
und Kümmel und ein Jahr für Herborg - erscheint heutzutage zumindest dem juristischen Laien
ausgesprochen milde, hatte doch das Gericht die vorherige Tötungsabsicht bei vier der fünf Täter
ausdrücklich festgestellt. Diese Absicht war auch konsequent in die Tat umgesetzt worden.
An dieser Stelle liegt es nahe, die tatsächliche, mutmaßliche oder auch nur scheinbare Milde des
Urteils dem Status des Gerichts zuzuschreiben - gelten doch die Sondergerichte zweifellos zu
Recht als ganz überwiegend erbarmungslos agierende Instrumente des nationalsozialistischen
Unrechts- und Gewaltregimes in der Verfolgung von Regimegegnern.
Im vorliegenden Fall ging es hingegen nicht um Regimegegner, sondern gerade um überzeugte
Anhänger des Regimes, so dass man eine reziproke Haltung des Herangehens anzunehmen geneigt
ist, zumal das Gericht anscheinend große Mühe darauf verwendet hatte, die dem Urteil zugrunde
zu legenden Tatbestandsmerkmale soweit einzugrenzen, dass eine Verurteilung wegen Totschlags
unter Zubilligung mildernder Umstände möglich war.
Man mag ferner geneigt sein, die Haltung des Gerichts auf seine personelle Besetzung
zurückzuführen. Dieser Gedanke führt indessen in keiner Weise weiter, sondern unmittelbar ins
Spekulative: Waren die Richter überzeugte und eifrige Diener des Regimes - wovon ganz
überwiegend, aber nicht durchgängig in der Literatur ausgegangen wird - so wäre ihnen ohne
weiteres eine milde Haltung unterstellen, die ihren Ausdruck sogar in Rechtsbeugungen gefunden
haben könnte. Standen sie aber dem Regime zurückhaltend oder sogar kritisch gegenüber, so
könnte man ihnen im eigenen, persönlichen Interesse zutrauen, zu einem Urteil kommen zu
wollen, das den politischen Zielsetzungen des Regimes nicht widersprach.
Obwohl im Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv in Hannover keine Personalakten über die
Richter am Sondergericht Hannover vorhanden sind, kann auf Grund eines Hinweises in der
Literatur immerhin davon ausgegangen werden, dass im Sommer 1940 wahrscheinlich einer der
drei Richter nicht Mitglied der NSDAP war. Ein anderer Richter war der in der Ausstellung hier
im Hause ausführlich vorgestellte Dr. Wilhelm Schmedes. Willfährigkeit gegenüber dem Regime
ist auch - nach allem, was man über ihn weiß - beim beteiligten Gerichtsmediziner anzunehmen.
Die kritische Betrachtung des Urteils hat vielmehr zunächst bei der Frage anzusetzen, was es mit
dem offenbar entscheidenden Tatbestandsmerkmal der „Überlegung“ auf sich hat? Hier ist darauf
hinzuweisen, dass der Paragraph 211 StGB „Mord“ zum Zeitpunkt der Tat noch einen wesentlich
anderen Wortlaut hatte als heute: „Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, wird, wenn er die
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Tötung mit Überlegung ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Tode bestraft“. Zu einer
Neufassung des Paragraphen 211, die der heutigen weitgehend entspricht, kam es erst durch eine
Änderung vom 4. September 1941.
Erläuternd heißt es 1936 in der Guttentagschen Sammlung Deutscher Reichsgesetze beim
Paragraphen 211 zum Tatbestandsmerkmal der Überlegung: „Mehr als Vorsatz: Klarheit über das
Tun und Bewusstsein der zur Tat hintreibenden und von ihr abhaltenden Beweggründe; Fähigkeit,
verstandesmäßigen Erwägungen zu folgen“.
Überlegung hatte das Gericht ausgeschlossen. Dieser Auffassung war der Staatsanwalt in der
Hauptverhandlung gefolgt. So wäre zunächst Paragraf 212 StGB „Totschlag“ in Betracht
gekommen. Er lautete: „Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, wird, wenn er die Tötung nicht mit
Überlegung ausgeführt hat, wegen Totschlags mit Zuchthaus nicht unter fünf Jahren bestraft“.
Von mildernden Umständen, die das Gericht anerkannt hatte, ist in diesem Paragraphen noch
nichts gesagt. Anzuwenden war folglich der Paragraf 213 StGB „Totschlag unter mildernden
Umständen“, mit dem Wortlaut: „War der Totschläger ohne eigene Schuld durch eine ihm oder
einem Angehörigen zugefügte Misshandlung oder schwere Beleidigung von dem Getöteten zum
Zorne gereizt und hierdurch auf der Stelle zur Tat hingerissen worden, oder sind andere
mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter sechs Monaten ein.“ Die
mildernden Umstände waren - wie erläuternd in der schon genannten Gesetzesausgabe gesagt
wird, - „ausschließlich subjektiv gedacht“; und weiter heißt es: „Auch in dem gesetzlichen
Beispielfall („zum Zorn gereizt - zur Tat hingerissen“) kommt es nicht darauf an, ob die Annahme
des Totschlägers, er sei schuldlos misshandelt oder schwer beleidigt worden, richtig war“. Ferner
umfasste die im Gesetzestext genannte Beleidigung nach den Erläuterungen „jede schwere
Kränkung“ und eine „Verhältnismäßigkeit zwischen der Schwere der Kränkung und der Tat ist
...... nicht erforderlich“
Hatte nicht dann das Gericht, das ausdrücklich die Angetrunkenheit und den „zur Erregung
gesteigerten Judenhass“ als Milderungsgrund anerkannt hatte, - und hier sträuben sich einem die
Nackenhaare - alles richtig gemacht? Zweifel erscheinen allerdings angebracht, ob das Gericht die
Erregung aus Judenhass nicht juristisch ganz unzulässigerweise in seine Schlussfolgerungen
eingeführt hat? Das Urteil hält sich auch sehr lange damit auf, die aus dem Judenhass herrührende
Erregung plausibel zu machen. Die Kränkung, die die Erregung hervorgerufen hatte, konnte pointiert gesagt - nur darin bestanden haben, das Erwin Proskauer Jude war. Heutzutage ist eine
derartige Argumentation wohl völlig abwegig und undenkbar.
Insoweit aber die Erregung aus Judenhass als ein ausschlaggebendes Moment für die
Strafzumessung eingeführt werden konnte, haben wir es sehr wohl mit einem Beispiel von
regimekonformer Rechtsprechung zu tun und wenn noch nicht mit NS-Justiz - immerhin hatte das
Gericht sich offenbar um ein prozessual korrektes Verfahren bemüht - so jedenfalls doch mit
Justiz im Nationalsozialismus.
Vorzeitig aus der Haft entlassen
In NS-Justiz ging der Fall freilich nach dem Urteil über. Lediglich Herborg hat seine Strafe voll
verbüßt. Schuster und Kümmel wurden schon am 23. bzw. 24. Dezember 1940 - fünf Monate nach
dem Urteil - auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen. Ebenfalls auf dem Gnadenwege bei
einer dreijährigen Bewährungsfrist wurden Schlechthaupt und Seiler am 20. April 1941 - „Führers
Geburtstag“! - auf freien Fuß gesetzt. Im Ergebnis hatten die Verurteilten Täter wegen der
Rufschädigung des Regimes einen nachhaltigen Denkzettel erhalten. Um die Sühne des
Totschlagverbrechens war es wohl nicht eigentlich gegangen.
Eine gewisse Bestätigung dieser Einschätzung mag man in einer Bemerkung sehen, die sich ergab,
als sich der Oberstaatsanwalt beim Landgericht Göttingen 1959 veranlasst sah, bei Kriegsende
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verloren gegangene Akten zu rekonstruieren und zu diesem Zweck an den Oberstaatsanwalt in
Hannover schrieb. Dort wurde die Beantwortung der Anfrage einem Ersten Staatsanwalt
übertragen, der unter anderem berichtete, „dass ich Mitte oder Ende Oktober 1939 vom
Generalstaatsanwalt in Celle ..... als Sondersachbearbeiter mit der Führung von Ermittlungen
beauftragt wurde, die die Tötung eines Juden in Hann. Münden betrafen.“ Er habe nach
Abschluss der Ermittlungen den Entwurf einer auf gemeinschaftlichen Mord (oder Totschlag)
lautenden Anklage verfasst, der „mit den Akten und entsprechendem Bericht höheren Orts
vorzulegen war.“ Am weiteren Gang des Verfahrens sei er aber nicht mehr beteiligt gewesen, weil
er zum Wehrdienst eingezogen wurde. „Lediglich von Hörensagen habe ich später einmal
erfahren, dass mein Anklageentwurf höheren Orts nicht gebilligt worden sei, vermutlich weil er zu
scharf gehalten war.“
Literaturhinweise:
Der Autor:
Hubert Schorn
Der Richter im Dritten Reich. Geschichte und
Dokumente, Frankfurt/M. 1959
Geb. 1936 in Tallinn(Reval)/Estland.
Banklehre 1957-1959. Studium der
Rechtswissenschaft, Geschichte und Anglistik
an den Universitäten in Hamburg, Stockholm
und Göttingen. Promotion in Göttingen 1973
(Reval 1670 - 1687. Rat, Gilden und
schwedische Stadtherrschaft ). 1975 - 1977
Forschungsassistent am Seminar für Mittlere
und neuere Geschichte in Göttingen. 1978 2001 Stadtarchivar in Hann. Münden.
Hermann Weinkauff
Die deutsche Justiz und der
Nationalsozialismus. Ein Überblick, Stuttgart
1968 bis 1974 (= Quellen und Darstellungen
zur Zeitgeschichte Bd. 16/I-III)
Teil I: Albrecht Wagner, Die Umgestaltung
der Gerichtsverfassung und des Verfahrensund Richterrechts im Nationalsozialistischen
Staat, Stuttgart 1968
Teil II: Rudolf Echterhölter, Das öffentliche
Recht im nationalsozialistischen Staat,
Stuttgart 1970
Teil III: Walter Wagner, Der
Volksgerichtshof im Nationalsozialistischen
Staat, Stuttgart 1974
Veröffentlichungen:
Otto Alexander Webermann: Studien zur
volkstümlichen Aufklärung in Estland.
Friedrich Gustav Arvelius (1755 - 1806) als
Bearb. u. Hrsg (1978); Sozialdemokraten in
Niedersachsen 1945/46 (1983); Das Stapelrecht
der Stadt Münden 1247 - 1824 (Nieders. Jahrb.
f. Landesgeschichte Bd. 70/1998) sowie
zahlreiche weitere Publikationen zur
Geschichte der Stadt Hann. Münden.
Mitglied der Baltischen Historischen
Kommission und der Historischen Kommission
für Niedersachsen und Bremen.
Lothar Gruchmann
Justiz im Dritten Reich 1933 - 1940:
Anpassung und Unterwerfung in der Aera
Guertner, München 1988 (= Quellen und
Darstellungen zur Zeitgeschichte Bd. 28)
Diese Rede erscheint zur Wanderausstellung „Justiz
im Nationalsozialismus – Über Verbrechen im
Namen des Deutschen Volkes“, die seit Januar 2001
in niedersächsischen Gerichten gezeigt wird:
Amtsgericht Hannover:
27. Januar bis 17. April 2001
Landgericht Oldenburg:
8. Mai bis 6. Juli 2001
Oberlandesgericht Celle:
27. Juli bis 4. Oktober 2001
Landgericht Göttingen:
8. 11.2001 bis 14.1.2002
Landgericht Verden:
27. Januar bis 27. März 2002
Landgericht Braunschweig:
Johann Dietrich von Pezold
Judenverfolgung in Münden 1933 - 1945.
Dokumentationen aus dem Archiv der Stadt
Münden Heft 1, 2. üb. und erw. Aufl. Münden
1988.
Anna Blumberg-Ebel
Sondergerichtsbarkeit und “Politischer
Katholizismus“im Dritten Reich, Mainz 1990
(=Veröffentlichungen der Kommission für
Zeitgeschichte Reihe B. Bd. 55)
12
15. April bis 18. Juni 2001
•
Weitere Ausstellungsorte 2002/2003:
Lüneburg
Osnabrück
Bückeburg
Stade
Aurich
Papenburg
Nordenham
Weitere Informationen zur Ausstellung, zum
Begleitprogramm
und
schriftliches
Informationsmaterial erhalten Sie beim:
Niedersächsischen Justizministerium
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Herrn Stefan Weigang
Am Waterlooplatz 1
30169 Hannover
Tel. (0511) 120 50 30
Mobil (0179) 41 90 337
Fax (0511) 120 99 50 30
Außerdem erschienen in dieser Reihe:
... am 11. April 1945 befreit: Das
Strafgefängnis Wolfenbüttel und die Justiz im
Nationalsozialismus. Rede von Dr. Rainer
Litten am 11. April 2000 anlässlich des 55.
Jahrestages der Befreiung der Gefangenen
des Strafgefängnisses Wolfenbüttel
•
Das juristische Erbe des „Dritten Reiches“ –
Beschädigungen der demokratischen
Rechtsordnung. Vortrag von Prof. Dr. Joachim
Perels im Amtsgericht Hannover am 5. April 2001
•
Warum gab es nur so wenige, die Courage zeigten?
Rede des Niedersächsischen Justizministers Prof.
Dr. Christian Pfeiffer am 27. Juli 2001 im
Oberlandesgericht Celle
•
Das „gesetzliche Unrecht“ der NS-Justiz und die
Bedeutung der demokratischen Rechtsordnung –
Rede von Dr. Rainer Litten am Vorabend des 9.
November 2001 im Landgericht Göttingen
•
Senatspräsident am Oberlandesgericht Celle: Das
Schicksal des Dr. Richard Katzenstein. Vortrag von
Dr. Brigitte Streich im Oberlandesgericht Celle
•
Die Staatsanwaltschaft im Dritten Reich als
„gegebene Lenkungsbehörde“. Vortrag von Prof.
Dr. Hinrich Rüping am 8. November 2001 im
Landgericht Göttingen (z.Zt. im Druck)
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Bestrafung der „Rechtsschänder“ – eine
Herausforderung für den demokratischen
Rechtsstaat nach dem Ende diktatorischer Systeme.
Vortrag von Prof. Dr. Peter Steinbach am 30.
August 2001 im Oberlandesgericht Celle (z.Zt. im
Druck)
– Weitere Texte in Vorbereitung –
Herausgeber:
Niedersächsisches Justizministerium
Am Waterlooplatz 1
30169 Hannover
Februar 2002
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