Pastoral: To Die in the Country. Über The Trouble with Harry

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Pastoral: To Die in the Country. Über The Trouble with Harry
Pastoral: To Die in the Country.
Über The Trouble with Harry
Einleitung
Nothing amuses me so much as understatement.
Alfred Hitchcock
Im Zentrum des 1955 erschienenen The Trouble with Harry liegt – eine Leiche. Im Register des
Krimi eine altbekannte Requisite, die üblicherweise eine Reihe von Fragen über die Todesursache,
den vermeintlichen Mörder, über Schuld und Sühne aufwirft. Während Hitchcock letzeren Aspekt
nach dostojewskischer Art mit allen dazugehörigen moralischen Gesichtspunkten in Rope (1948)
verhandelt, scheint der leblose in Körper in diesem Fall zunächst keine der genannten Probleme zu
verursachen. Stattdessen wird er zu einer logistischen Angelegenheit erklärt, von jenen, die glauben,
für den Tod verantwortlich zu sein. Als wäre die kriminalistische Frage nach Harry ein red herring
für deren Beantwortung der Fragende in den falschen Film gelockt wurde.
Der schwarze, aber doch im herbstlich-farbenfrohen Dekorum bittersüße Humor um die Indifferenz
und scheinbare Bedeutungslosigkeit eines Mordes, der dem Film einen unerfolgreichen Kinostart in
den USA bescherte1, wird von einem zweiten, das Erzählkonstrukt selbst fundierenden Humor
untermauert, der Hitchcockschen Signatur, die über ihre Sujets verfügt. Dabei entstehen genau
berechnete Informations-Infrastrukturen, die dem Zuschauer zu verstehen geben, was er für den
suspense der Krimistory wissen muss, und zugleich die Grenzen seines Wissens bezeichnen. Vor
dem Hintergrund des oeuvres, das den Namen, die Instanz Hitchcock zu jener omnipräsenten
Verfügungsmacht entwickelt hat, welche ihre Zuschauer auf die Thrillernarrative konditioniert und
sie das fürchten oder gespannt sein gelehrt hat, besteht der untergründige oder die Erzählung
gründende Humor darin, mit diesen Erwartungen zu brechen, ohne diesen Bruch je direkt zu
bekennen. Weiterhin steht alles in der Handschrift geschrieben, die so raffiniert ihre Spuren aussäht,
Erwartungen etabliert, Spannungsbögen bildet oder imitiert und schließlich alles wieder ein- aber
nicht unbedingt auflöst.
Und selbst wenn Hitchcock, wie es heißt, stets den gleichen Film gedreht hat, wäre er wohl nicht
der naughty boy, wenn er schlicht der Meister seines eigenen Fachs geblieben wäre. In der
unmittelbar auf The Trouble with Harry folgenden Filmographie lässt sich immer wieder
beobachten, wie auf verschiedenen Wegen mit der filmisch inkorporierten persona – im Falle
Hitchcocks verschmelzen zusehends Autor und Werk zu einem stilistischen Idiom 2 – mutwillig
gebrochen wird. Im Remake The Man Who Knew Too Much etwa nehmen die Figuren dem
Zuschauer teilweise seine detektivische Eigenleistung ab oder mechanisieren die
Spannungssequenzen, die im Rhythmus einer vulgären Volksweise ablaufen. In der zweiten Version
des eigenen Films klingen die Resonanzen des ersten leise mit. Entgegen den Groschenromanen die
suggerieren, dass die gleiche Geschichte auch nach der zehnten Wiederholung noch Spannung
erzeugt, überführt sich das Remake ironisch selbst seiner Duplizität und seiner falschen Neuheit.
Es wäre nun, wie ich glaube, weniger interessant, The Trouble with Harry auf seine Devianzen
hinsichtlich eines stereotypischen Hitchcockstils zu untersuchen. Der Film soll als singuläres
Phänomen betrachtet werden, dessen stilistischen und erzählerischen Charakteristika sich weder im
Sinne der Kontinuität noch antithetisch aus der Filmographie herleiten lassen. Ich möchte drei
Aspekte herausgreifen, die, wie ich hoffe, das Besondere gerade dieses Hitchcock-Films aufzeigen.
Erstens das Problem der Leiche. Offensichtlich konvergieren in ihr jene die Krimiwerte
umwertenden Motive und Motivationen. Was bedeutet der Tote für die Charaktere? Welchen Bezug
zum Tod, welches Bild des Todes stellt er dar? Kann er als ein MacGuffin interpretiert werden?
1
2
Nach Rohmer und Charbrol hat der Film Hitchcock in Europa und besonders Paris zum Status des auteur erhoben,
wo er auch eine erfolgreichere Rezeption hatte. Vgl. Eric Rohmer, Claude Chabrol, Hitchcock – The First
Forty-Four Films, New York 1979, S.134.
Insofern ist es interessant, dass The Trouble with Harry als Hitchcocks persönlichster Film gilt. Vgl. David Sterritt,
From Transatlantic to Warner Bros. In: A Companion to Hitchcock, Malden 2011, S.327.
Daran anschließend, erzählökonomisch: welchen Einfluss hat er überhaupt auf die Geschichte, das
Figuren-Gefüge?
Daran schließt sich der zweite Aspekt an. Wenn eine Leiche aus The Trouble with Harry keinen
Krimi machen kann, welche anderen Genre-Affinitäten lassen sich feststellen? Die romantischen
Zweierkonstellationen zwishchen den vier Hauptfiguren stellen eher Bezüge zum Melodrama her.
Deshalb soll geprüft werden, wie und ob das Milieu, der Schauplatz und die Bewohner des kleinen
Dörfchens in Vermont, als melodramatischer Rohstoff auf den Vorfall Harry reagieren, ob es sich
bei dem untertreibenden Humor, mit anderen Worten, um das Ergebnis einer Genremélange handelt
und welche Grenzen dabei überschritten werden.
Drittens bleibt der ungewöhnliche Sprachgebrauch näher zu betrachten. Durch die erratischen
Dialoge scheint oft die den Sinn konstituierende Grammatik hervor. Parallel zu den affektiven
Aspekten ist damit die Signifikanz verschoben. In welchem Bezug steht dies zum Ärger mit dem
toten Harry, seiner Beseitigung und der Kommunikation darüber? Welchen Anteil nehmen Sprache
und Musik am Humor des Films?
1. Der Krimi, die Leiche
We're all nice. I don't see how anyone could help but like us.
Sam Marlowe
Noch bevor der friedlich daliegende Harry zu sehen ist, ertönen aus dem Off drei Schüsse, die, wie
sich später herausstellen wird, von Captain Wiles, einem alten Seefahrer im Ruhestand, abgefeuert
wurden, ein paar Sprachfetzen und ein dumpfer Schlag. Der Blick ruht auf einem mit seiner
Spielzeugwaffe ausgerüsteten Junge, Arnie bei der Erkundung des Waldes, der bei dem ersten Knall
in Deckung geht und sich dann langsam an die Lichtung pirscht, auf der schließlich die Leiche,
durch eine frontale Anfahrt, ins Bild gesetzt wird. Arnie verlässt die Szene, Captain Wiles, betrübt
ob seiner Treffsicherheit und der erfolglosen Hasenjagd, stolpert, nachdem sich der Ausgang von
zweien seiner drei Blindgänger erklärt hat, auf die Szene. War der Junge bisher Agent der Spannung
und der Vorfall ein Mysterium solange das Geschehen um Harry nicht sichtbar war, ändert der Film
nun, im Gegensatz zu dem arglosen Captain Wiles bei der Entdeckung seinen Ton.
Captain Wiles: For ricecake I've done him in. A harmless potshot at a rabbit and I'm a murderer, a
killer. Mother always said I'd come to a bad end. What in Hades were you doing here anyway? I can't
say that I've seen you around here before. If you're going to get yourself shot, do it where you're
known.
Spontan entscheidet er, die Leiche verschwindne zu lassen. Als er dabei ist, den Körper ins Gebüsch
zu ziehen, wird er von seiner Nachbarin überrascht:
Miss Gravely: What seems to be the trouble, Captain?
Captain Wiles: Well, it's what you might call an unavoidable accident. He's dead.
G: Yes. I would say that he was. Of course, that's an unprofessional opinion.
W: Do you know him, Miss Gravely?
G: No. Doesn't live around here.
W: Well, he died around here. That's what counts now.
G: Embarrassing. What do you plan to do with him, Captain?
W: Miss Gravely, without cutting the hem off truth's garment, I'm going to hide him. Cover him up.
Forget him.
In beiden Szenen tauchen bereits die Motive auf, die eine Rechtfertigung für das Eskamotieren des,
wie angenommen, Ermordeten erklären. Erstens: Harry ist nicht von hier. Zweitens: der Unfall war
unvermeidlich. Dies kommt auch in einem prophetischen Monolog des Malers Sam Marlowe zum
Ausdruck, welcher Captain Wiles bei der Leiche findet:
Sam Marlowe: In a way you should be grateful that you were able to do your share in accomplishing
the destiny of a fellow being. Suppose, for instance, it was written in the Book of Heaven that this man
was to die at this particular time at this particular place. And suppose for a moment the actual
accomplishing of his departure had been bungled. Something gone wrong. Uh... Perhaps it was meant
to be a thunderbolt and there was no thunder available, say. Then you come along, and you shoot him
and heaven's will is done and destiny fulfilled. Your conscience is quite clear. You got nothing to worry
about.
In der kleinen unbenannten Stadt scheint niemand auf die Idee zu kommen, dass eine Leiche nicht
Ergebnis göttlicher Vorhersehung sein könnte. Ebenso haben die Toten, die man nicht wiedererkennt, kein tragisches Gewicht. Mit der Ostensibilität des unbelebten Körpers geht eine ethische
wie kriminalistische Blindheit einher. Eine bestimmte Kategorie, der Gegensatz von Schuld und
Sühne, der der versteckten Leiche in Rope ihre Gravität verleiht, scheint nicht vorhanden. Als wäre
die Spur des Lebens verwischt, als hätten die Gesichtszüge, trotzdem sie ihre Konturen behalten,
alle Ähnlichkeit mit einer lebendigen Person verloren. Wie Maurice Blanchot schreibt, hat die
Leiche nur noch Ähnlichkeit mit sich selbst3.
Wie stellt sich diese Ähnlichkeit her? Diese Frage provoziert vielleicht ein idealistisches Motiv, eine
Setzung des Bewusstseins, das sich autonom weiß und sich durch Willen und Verlangen sichtbar
machend kundgibt. Dieses Lebenszeichen ist bis zum Augenblick des Todes ins Gesicht eingraviert
um dann abzufallen und an die Stelle der mimischen Referenzialität eine neutrale Ähnlichkeit mit
sich selbst zu setzen. Emmanuel Lévinas setzt zwei Aspekte des Angesichts voraus als das, was
Ethik möglich macht: die Transzendenz und Unverfügbarkeit des Gegenüber sowie die Sprache,
durch die er mich belehrt, darüber, dass wir, einen unendlichen Abstand zwischen uns,
Objektivierungen vornehmen, die nur allzuschnell von einem Sollipsismus heimgesucht werden, in
dem jeder von seiner totalen Auffassung aus über Vergegenständlichtes zu verfügen meint. 4 So wie
ein geübter Profiler auch den verstorbenen Verbrecher noch als solchen zu identifizieren können
glaubt, versagt sich derjenige, der das Von-Angesicht-zu-Angesicht anerkennt - das ethische Motiv,
seinen Gegenüber nicht als etwas anderes zu verstehen, als er oder sie sich zu erkennen gibt - in der
Leiche etwas über ihre Anwesenheit und Ähnlichkeit mit sich hinaus sehen zu wollen.
Mit dieser Überlegung erhält die Absenz von Ethik in The Trouble with Harry eine Verschiebung.
Es ist vielleicht keine bestürzende Nonchalance5 wie Truffaut im Interview mit Hitchcock glaubt,
mit der die Figuren über Harry disponieren. Sie sind, in der hyperbolischen Pointe des
Nicht-Wahrnehmens der Grausamkeit des Mordes – und das ist die gleichzeitige Untertreibung des
Humors – unfähig, das Antlitz des Toten projektiv zu Vergegenständlichen, ihm etwas Imaginäres
zu entlocken, den Toten in einer Schauergeschichte oder einer Vermutung wieder auferstehen zu
lassen. Er ist tot und bleibt tot. Jetzt muss er nur noch weggeschafft werden.
Noch deutlicher wird dies vielleicht in der Szene, da Harry (bereits zum vierten Mal im
Handlungsverlauf) vom Maler Sam Marlowe, dessen Name wie zum Hohn Ähnlichkeiten mit Paul
Chandlers berühmtem Romandetektiv aufweist, entdeckt wird. Eigentlich nur auf der Motivsuche
für ein neues Landschaftsgemälde entdeckt Marlowe, nachdem er sie bereits gezeichnet hat, zwei
Füße, die aus dem Gebüsch hervorragen. In einer einfachen Schuss-Gegenschußsequenz verschiebt
sich der Körper auf das Papier und wieder hinaus. Nachdem der Maler feststellt, dass dort kein
schlafender, sondern ein toter Wegelagerer seiner Kunst liegt, läuft er zunächst ein paar Schritte
zurück gen Dorf nur um kurz darauf anzuhalten – als hätte er einen Gedankenblitz oder aber etwas
vergessen – und zurückzukehren, um ein Porträt von Harry anzufertigen. Sowohl diese Amnesie, als
auch die Tatsache, dass die Leiche erst im Bild erkennbar wird, sind hier von Interesse.
Nachfolgend Blanchot über den Bezug von Leiche und Bild:
The cadaver is its own image. It no longer entertains any relation with this world, where it still
3
4
5
Vgl. Maurice Blanchot, The Two Versions of the Imaginary, in: The Space of Literature, Nebraska 1989, S.257.
Vgl. Emmanuel Lévinas, Totalité et infini, Paris 1971, S.24.
Vgl. François Truffaut, Hitchcock, New York 1985, S.225.
appears, except that of an image, an obscure possibility, a shadow ever present behind the living form
which now, far from separating itself from this form, transforms it entirely into shadow. The corpse is
a reflection becoming master of the life it reflects -- absorbing it, identifying substantively with it by
moving it from its use value and from its truth value to something incredible -- something neutral
which there is no getting used to. And if the cadaver is so similar, it is because it is, at a certain
moment, similarity par excellence: altogether similarity, and also nothing more. 6
Die Leiche hat sich, nicht nur auf der Leinwand, in ein Bild verwandelt. Ein Schatten, der zugleich
nichts weiter als sich, nichts hinter sich und kein Jenseits zur Ansicht bringt. Es ist die vollkommene
Absenz von Metaphysik in der Vorstellung der Leiche, die absolute Abtrennung und Isolation zu
einem dies-da, einem Autoporträt, das nicht vom Betrachter, sondern vom Faktum des Todes selbst
bewerkstelligt wird. Signifkant und Signifikat, Bild und Abgebildetes fallen zusammen.
Abb. 1 und 2: Is this your body, little man? im Bild wird das Bild des Toten sichtbar
Wie das Bild eröffnet die Ansicht des Toten das Problem der Referenz. Nicht zuletzt die
Filmsprache Hitchcocks hat sein Publikum daran gewöhnt, Gesten, Gegenstände, Aussagen als
6 Maurice Blanchot, Nebraska 1989, S.258.
Zeichen zu lesen, deren Verweischarakter zum Agens des suspense wird. Und während ein
schimmerndes Milchglas auf seine Tödlichkeit verweist und ein maniriertes Gebaren den Verdacht
auf sich lenkt, führt Harry diese, mit dem Wissen und Nicht-Wissen der Zuschauer spielenden
Zeichen ad absurdum. Das Rätsel ist gelöst, bevor die Frage gestellt wird.7 Nichtsdestotrotz wird es
ein Porträt Harrys geben, dessen Ausdruck unweigerlich der eines Schlafenden ist. Marlowe, vom
Deputy Sheriff mit der Ähnlichkeit seines Bildes zu einem unbekannten Toten konfrontiert,
verwandelt es zurück ins Regime des Imaginären und mit ein paar Strichen ensteht das Bild eines
wachen Gesichts auf dem Papier.
Sam Marlowe: It was conceived out of memory and half-forgotten impulse and it emerged from the
shadows of abstract emotions until it was born full-grown from the mechanical realities of my
fingertips.
Deputy Wiggs: Oh, now, Sam, don't...
M: I don't have to have a model to draw from. Instead of creating a sleeping face, I could have chosen
an entirely different set of artistic stimuli. My subconscious is peopled with enough faces to cover the
Earth. And the construction of the human anatomy alone is so infinitely variable as to lie beyond the
wildest powers of calculation.
Das gezeichnete Bild der Leiche ist nicht die Abbildung eines realen Toten, das Zelluloidbild des
Toten ist nicht die Abbildung eines Mordes auf diegetischer, oder eines Krimis auf extradiegetischer Ebene. Harry wird, in der Variablität seiner Todesursachen, seines Zirkulierens, das die
Schuld jedes potentiellen Mörders aufschiebt und wie eine Hypothek weiterreicht - gegenüber der
man notfalls Insolvenz anmelden kann weil ihre Forderung sich zwischen der Anzahl der Schuldner
zusehends verflüchtigt – zum narrativen Passepartout, einem sich entziehenden MacGuffin.
Wenn man den MacGuffin definiert als beliebigen Gegenstand, der die Charaktere zwingt, auf eine
von mehreren (zusehends) absehbaren Alternativen hin zu handeln8, ist Harry eine Parodie dieses
innersten Hitchcock-Manövers, wie der Film im Ganzen eine Krimi-Farce ist. Dem MacGuffin
gereicht ein Weniges zur Effektvität, eine Information, die ihn als 'von Interesse für' eines oder
mehrerer Akteure identifiziert. Er kann sich als Täuschung herausstellen, die Hände wechseln,
Glück und Unglück der Figuren herbeiführen. Er kann und darf sich aber nicht in Luft auflösen.
Genau dies soll Harry allerdings tun, zum Verschwinden gebracht werden. Seine Dysfunktionalität,
sein Nicht-Ähneln aller Hypothesen, soll der Erde überantwortet werden, dem Unbewussten das,
wie Marlowe sagt, kein Hort von beständigem, wenn auch totem Fleisch ist, sondern ein virtuelles
Panorama zu verwirklichender, unerahnter Möglichkeiten.
Der Deputy Sheriff, die einzige Figur, die der ansonsten treu gebliebenen Verfilmung von Jack
Trevor Story hinzugefügt wurde9, ist die alleinige Stimme, die Verantwortliche sucht und die
Fantasie aufbringt, eine persistierende Identifikation des neutralen Körpers mit einem tödlichen
Schicksal zu etablieren. Mit einem Idealismus, der Harrys Autoreferenzialität aufheben und der
abstrakten Gerechtigkeit überantworten will, scheint sie deplatziert in einer denaturierten Welt, wo
streng geschieden wird zwischen dem Konkreten, das nur sich selbst ähnelt, und seinem imaginären
Widerpart dem Abstrakten, das als künstlich Gemachtes demarkiert ist.
Vor dem Hintergrund dieser zwei unversöhnten Register können der Leiche drei Funktionen
zugewiesen werden. Erstens treibt sie als Pseudo-MacGuffin die Handlungen nicht voran oder
bezieht sie aufeinander, sondern disloziert sie: jeder involvierten Figur wird eine eigene Version des
Mordes zugewiesen, wobei sich die Summe dieser Versionen schlussendlich in Nichts auflöst. Mit
Leibniz gesprochen, ergeben die Ansichten der Monaden keine kompossible Welt, ein deutliches
Anzeichen dafür, dass Gott, Erschaffer multilinear-gefügter Erzählstränge, tot ist. Zweitens trennt
7 Der rekonstruierte Tathergang, der mit der Konstatiertung eines natürlichen Todes endet, nimmt sich wie eine
nachträglich hinzugedichtete Parodie aus: mit einer Milchflasche auf den Kopf geschlagen, von einem Damenschuh
geprügelt, um schließlich an einem Schlaganfall zu sterben. Wer nicht in böser Absicht handelt, kann kein Mörder sein.
8 Meist wird der McGuffin entweder als beliebiges Objekt oder als bestimmtes Objekt verstanden, das jedoch nie
einen inhärenten Wert hat. Vgl. Mladen Dolar, Hitchcock's Objects in: Everything You Always Wanted to Know
about Lacan (But Were Afraid to Ask Hitchcock), London 1992, S.44.
9 Patrick McGilligan, Alfred Hitchcock – A Life in Darkness and Light, New York 2004, S.487.
sie, wie gezeigt, die Realität ihrer absoluten Präsenz von der Irrealität des Mordes, den sie nicht
repräsentiert. Damit höhlt The Trouble with Harry das Herz des Krimis aus, das tödliche Verbrechen
und sein subsequentes, dem corpus delicti eingeschriebes forensisches Zeichensystem. Drittens
leitet sie die Annäherungen zwischen Captain Wiles und Miss Gravely sowie zwischen Sam
Marlowe und Jennifer Rogers ein. Wie dieses romantischen ménage à deux zustandekommen, wird
Gegenstand des nächsten Kapitels sein.
Existiert – in diesem Mikrosystem – die Idee des Todes, ein metaphysisches Residuum eingelassen
ins Diesseits? Die Prädestinationstheorie von Sam Marlowe scheint darauf hin zu deuten. Die
Leichtfertigkeit, mit welcher der tote Harry abgetan wird, erfordert genauere Betrachtung. Redet
Marlowe über diese Leiche vor seinen Augen? Entschwindet nicht, was in seinem raisonnement
fellow being heißt, infolge der Nahtlosigkeit seiner Vorbestimmung dem kontigenten Vorfall, dem
Körper, welchem das Blut aus dem Kopf tritt? Der Unterschied zwischen der Einschreibung Harrys
im book of heaven und der Aufhebung und Klärung, der Befriedung des einzelnen Filmtodes, dem
zu lösendem Rätsel, besteht darin, dass in letzerem die zwei genannten Register in der leblosen
Gestalt zusammenfallen, während sie in der ersten zu zwei diametralen, unendlichen Fluchtlinien
auseinanderstreben – dem Himmel, dessen Engel die leere Botschaft der Namen tragen und dem
Körper, der endlos auf sich selbst verweist – und so die Schuldfrage eskamotieren. Umso
vernichtender dass sich niemand zum stellvertretenden Registrator der heavenly records verpflichtet
fühlt und selbt der hohle Name mit der Vergrabung der Leiche vergessen werden soll.
Abschließend kann, in Anbetracht der Tatsache, dass Harrys Obduktion alle Involvierten im
Nachhinein für unschuldig erklärt, die Frage gestellt werden, ob damit nicht eine Konzession an die
Zensur gemacht wurde. Dagegen spricht, dass die Absolution a posteriori nicht die
Entsorgungsabsicht, das mehrfache Ein- und Ausgraben mildert. Im Gegenteil tritt damit nur die
Hyperbel eines weiteren Hitchcock-Motivs in Kraft, der perfekte Mord, der keiner ist. Wie die
folgenden Kapitel zeigen werden, sind die Subversionen, die The Trouble with Harry vornimmt,
gerade in ihrer perfiden Art, am Ende wieder einen Schein herzustellen – in diesem Fall die
Schuldlosigkeit – wirksam. Damit entgeht der Humor der Indienstnahme durch eine
moralistisch-kritische Pointe.
2. Das Melodram
Dem Melodram als Genre begenet man üblicherweise mit politisch-soziologischen Vorbehalte
Vorbehalten, die auch die Film selbst gegenüber ihrer Materie artikuliert haben. So wie der
Spätwestern Anfang der 1970er begann, das Ideal der Westward-Expansion, die Besitznahme und
den Genozid durch die europäischen Siedler explizit darzustellen und zu kritisieren, biegt sich auch
das filmische Melodram, wie etwa in Gestalt von Douglas Sirks All That Heaven Allows auf die
Vorraussetzungen seines Unterhaltungswertes zurück. Dies passiert in Sirks und in Hitchcocks Film
auf unterschiedlichem Weg: während ersterer durch einen dem Narrativ immanenten Konflikt die
Konventionen, auf denen die Persönlichkeiten der Figuren basieren, im Film verhandelt, arbeitet
Hitchcock indirekter. Wie schon in Bezug auf das Problem der Leiche, erscheint alles – in seiner
selbstverständlichen Absurdität – gewöhnlich. Da sich in The Trouble with Harry Aspekte des
Krimis und des Melodrams die Hand geben, möchte ich zweiteres aus ersteren entwickeln und die
Verschiebungen, die der Film in Bezug auf den Inhalt und Form des Melodrams darstellt – die
Beziehungen zwischen Captain Wiles und Miss Graveley sowie zwischen Sam Marlowe und Annie
Rogers – nachzeichnen.
Um eine Grenze zu markieren, sei hier die These von Jackie Byars zum Melodram aufgeführt:
American Ideology was in need of melodrama, the modern mode for constructing moral identity.
Melodrama, as a mode, pervades many genres and through them presents a way to refuse the
recognition of a world drained of transcendence. [...] Melodrama, like realism, roots itself in the
everyday, but melodrama exploits excessive uses of representational conventions to express that which
cannot (yet) be said, that which language alone is incapable of expressing .10
Das Melodram, so folgt daraus, ist bereits eine Kopie, die von den Konventionen, ihrerseits
Abbilder und Kondensationen von Kommunikation, angefertigt wird. Dem Exzess der Immanenz –
der Kontingenz, auf die eine Welt drained of transcendence folgt, soll mit der Stereopysierung von
Rollenbildern, der Normativität sozialer Zusammenhänge und hierachischer Ordnungen abgeholfen
werden. Melodramen entwickeln im Rahmen ihrer Szenarien, etwa dem Schauplatz der
Kernfamilie, standartisierte Problemkonstellationen, deren Ausgang ebenso schematisiert ist wie
deren Auflösung. Moral identiy entsteht, oder soll nach Meinung filmwissenschaftlicher Ansätze
wie dem von Bryars entstehen, indem die reiterierte Formel, mit der Melodramen ihre Konflikte
lösen, schon vorraussetzt, dass die Figuren des Films nach dieser Verlangen, der Idee, die sie
erschaffen hat und in die sie zurückkehren.
Problematisch an diesem Ansatz ist, und das zeigt auch das Melodram The Trouble with Harry, dass
hier Ideologiekritik ihrem Feind erst noch die Waffen in die Hand drücken muss, um überhaupt von
ihm reden zu können. So wie der Umgang mit Harrys Leiche keine zynische Kritik der Ethik ist –
die ohnehin nur als Metafilm oder message denkbar wäre – greift bei Melodramen, indem sie
emotionale Konflikte inszenieren und rhythmisieren, die Absichtsunterstellung, der Mittelschicht
ihr Weltbild gefühlsökonomisch vorzuspiegeln, vielleicht zu kurz. Das Residuum, that which
cannot (yet) be said leitet sich filmimmanent nicht als zurückbleibender Rest von einer festen
Formation des Gegebenen ab. Eine andere Auffassung dieses Irrationalismus bietet Thomas
Elsaesser.
Just as in dreams certain gestures and incidents mean something by their structure and sequence,
rather than by what they literally represent, the melodrama often works by a displaced emphasis, by
substitute acts, by parallel situations and metaphoric connections. In dreams, one tends to „use“ as
dream material incidents and circumstances from one's waking experience during the previous day, in
order to „code“ them, while nevertheless keeping a kind of emotionale logic going, and even
condensing images into that, during the dream at least, seems an inevitable sequence. Melodramas
often use middle-class American society, its iconography and the family experience in just this way as
their manifest „material“, but „displace“ it into quite different pattern, juxtaposing stereotyped
situations in strange configurations, provoking clashes and ruptures which not only open up new
associations but also redistribute the emotional energies which suspense and tensions have
accumulated, in disturbingly different directions.11
Beide Vorschläge setzen dieselbe Dichotomie voraus, zwischen dem Drama, das mit kohärenten
Charakteren arbeitet, die ihre Gefühle gemäß ihrer Konstitution ausagieren und dem Melodrama,
dessen Charaktere sich aus einer wie auch immer generischen emotionalen Situation ableiten.
Während Bryars dem Melodrama aber unterstellt, mit seinen Klischees und Stereotypen ein
schlechtes Drama zu sein, plädiert Elsaesser für eine der Freudschen Traumdeutung verpflichteten
Semantik des Melodramas, das die traumatische kleinbürgerliche Idylle in ungeahnte, teils
abgründige Bahnen führt. Die Nähe, die die Kernfamiliensituation Vater-Mutter-Kind zur
Psychoanalyse vorschlägt und auch im Melodrama als Traumarbeit mitschwingt, muss dabei nicht
mehr als oberflächlich sein.
Das supplementäre Phänomen, das deplatziert zu sein scheint und nicht für sein Symbol, den Tod,
sondern nur für sich selbst steht, dabei trotzdem eine Logik in Gang bringend und forwärts treibend,
ist in Gestalt Harrys begegnet. Das traumhaft pittoreske und farbenfrohe Vermont, der
sonnengegerbte Kapitän, die junge hübsche Witwe, gehören sie zur iconography of middle-class
American society? Hat schon die autologische Referenz der Leiche die Verweisungszusammenhänge in Verwirrung gebracht, so möchte ich vor dem Hintergrund von Elsaessers
10 Jackie Bryars, All That Hollywood Allows: Re-reading Gender in 1950s Melodrama, London 1991, S.7ff.
11 Thomas Elsaesser, Tales of Sound and Fury: Observations on the Family Melodrama, in: Imitations of Life: A
Reader on Film & Television Melodrama, Detroit 1991, S.82.
Behauptung vorschlagen, dass sich dieses ikonographische Reservoir, gleichsam das
Alltagsmaterial, das der Traum des Films werden soll, sowie seine Melodramatik sinnvollerweise
strukturell fassen lässt. Die Leiche versammelt, informiert und infiziert die Beziehungen, die auf
ihre Weise an der semantischen Verrückung teilnehmen. Diese Entfaltung soll nun betrachtet
werden.
Im ersten Kapitel wurde bereits das Zusammentreffen von Captain Wiles und Miss Gravely am
mutmaßlichen Tatort erwähnt. Miss Gravely, deren Nachmane auf das immer neu geschaufelte Grab
anzuspielen scheint, teilt das peinliche Geheimnis um Harry mit Wiles und verspricht
Geheimhaltung darüber. Der Anlass wird benutzt, um ihren Nachbarn auf einen Tee und high bush
blueberries einzuladen. Wie sich noch herausstellen wird, bestand der Grund für die Einladung
darin, dass auch Miss Gravely sich des Mordes schuldig glaubte, als sie dem verwirrten Harry, der
sie anfiel und ins Gebüsch zog, mit dem Metallabsatz ihres Lederschuhs auf den Kopf schlug.
Das melodramatische Gefüge, die romantische Spannung zwischen der Jungfer in besten Jahren und
dem alleinstehenden Kapitän wird durch die Leiche, das nächstenfreundliche Schweigen und
Verschwinden lassen, vermittelt. Miss Gravely, charakterisiert als a lady of gentle habits and
upbringing, a lady to hide her feelings ist durch dieses Doppelinteresse an Wiles gebunden. Wann
immer die Situation zwischen beiden – aus puritanischer Sicht – anzüglich wird, stellt sie Harry in
den Vordergrund der Diskussion. Sein endgültiges Begräbnis wird auch die Funktion haben, die
Beziehungen, die er gestiftet hat, ohne seine Last weitergehen zu lassen. Miss Gravelys Geständnis
wird von einer Situation eingeleitet und provoziert, in der beide Figuren, wie alle Figuren so oft im
Film, von Anspielungen konfrontiert werden, denen es dezent auszuweichen gilt. In Wiles Wohnung
findet sie diesen, gelehnt an die Galionsfigur einer Meerjungfrau.
Abb. 3: I knew you weren't as prim and starchy as they made out.
Umso agitierender, dass Captain Wiles selbst nicht merkt, welch unangenehmen Projektionen er
Miss Gravely aussetzt, deren Zurückhaltung von dem feierlichen Ausdruck ihres hölzernen
Widerparts kontrastiert wird. Die Situation ist dem Hauptkonflikt des Films analog, ein lebloser
Körper, der durch seine deutliche Sichtbarkeit alle Betroffenen in Verlegenheit bringt. In Hitchcocks
The Man Who Knew Too Much ein Jahr später findet sich eine ähnliche Komplikation.
Abb. 4: Der falsche Ambrose Chapelle
Hier versucht Dr. McKenna verzweifelt, Informationen von einer Person zu erhalten die sie, weil er
sie verwechselt hat, gar nicht haben kann. Der Ausdruck des Tigers koinzidiert mit der Wut von
McKenna, der doch nur seinen entführten Sohn wiederhaben möchte und die Komik besteht darin,
dass er sich dabei immer mehr wie ein Raubtier verhält, was ihm, im Angesicht des ausgestopften
Tigers, vielleicht nicht entgeht. Ebenso entgeht Miss Gravely nicht, dass der Platz der Meerjungfrau
ihr gebühren könnte.
Rollenbilder werden symbolisch aus-, Gefühle von der Leiche überlagert. In der emotionalen
Situation ist eine verschiebende und aufschiebende Semantik am Werk, die für den untertreibenden
Ton des Humors sorgt.
Miss Gravely: I'm trying to tell you that the reason that I asked you to coffee and blueberry muffins
was because I felt...
Captain Wiles: Sympathy.
G: Gratitude.
W: But I'm the one who should be grateful.
G: No, I was grateful. I am grateful. I'm grateful to you for burying my body.
Die Sympathie wird nicht im Raum stehen gelassen. Angesichts der in ihrer Menge immer bizarrer
werdenden Verstrickungen der Figuren in den Todesfall Harry ist es nicht auszuschließen, dass Miss
Gravelys Geständnis eine Erfindung ist, die sie handlungsimmanent vor der peinvollen Konfession
von Gefülen bewahrt und damit melodramatisch das emotionale Potential in Richtung auf einen
weiteren Storytwist treibt. Das Geflecht Leiche – Beziehungen kann also in zwei Richtungen
gelesen werden, zwischen denen der Film changiert und die einen Teil seiner absurden Logik
ausmachen, die, wie schon im ersten Kapitel gesehen, gar nicht in einer Pointe aufgehen will: Harry
verbindet die Figuren, die irgendwie an seinen Tod beteiligt waren, aber genauso erdichten sich die
Figuren diese Beteiligung selbst, um ihre Affektionen zueinander über den leichenhaften Kanal
laufen zu lassen, der für die Unbescholtenheit aller ein vitales Interesse darstellt. Damit wäre The
Trouble with Harry das Gegenteil einer Séance, anstatt als lebendes Medium mit den Toten zu
kommunizieren, kommunizieren die Lebenden über ein totes Medium.
Um den prospektiven Ehevertrag zwischen sich zu besiegeln, müssen nicht nur Wiles und Gravely,
sondern auch Sam Marlowe und die junge Witwe und Exfrau von Harry, Jennifer Rogers, das
Rauschen des Kanals minimieren, indem sie ihn unter die Erde verlegen. Und während jedes
erneute Begräbnis ein Liebesbeweis zwischen wechselnder Personnage ist, kann die Tatsache dieser
stellvertretenden Funktion am Ende doch nicht eskamotiert werden:
Sam Marlowe: Hold it. Hold it. Hold it.
Jennifer Rogers: What's wrong, Sam?
M: Harry. We're not quite finished with him yet.
J: Well, Sam, if anybody's through, it's Harry. He's been buried three times.
M: Before we can get married, you're gonna have to prove that you're free. To prove you're free, you'll
have to prove that Harry...
J: Is dead. What a horrible complication.
Der gelöste Knoten, der die Personen legal zueinander finden lässt, kommt dadurch zum Ausdruck,
dass Harry aufhört, das Movens der Begegnungen zu sein sowie Affektionen zu vermittelen und der
Film dann, wenn alle Beziehungen gestiftet sind, zu einem melodramatischen Happy End findet. In
der letzten Szene, da der wiederhergestellte Harry wie am Vortag in der Lichtung liegt und von
Arnie zum zweiten Mal entdeckt werden soll, schließt die Wiederholung den Kreis, durch den die
Reziprozität der Figuren im ersten Durchlauf um Harry herum hergestellt wurde. Ist er in Hinblick
auf den Krimi, wie gezeigt, ein leerer oder sich entziehender MacGuffin, erfährt er seine
melodramatische Neuinszenierung, indem er als Beziehungskatalysator dient. Darin liegt der
vielleicht morbide Ton des Films, der einen Toten anführt, wo sonst die unvermittelten Affektionen
der Figuren ihren Platz hätten. Der ausgetauschte MacGuffin verwischt die Grenzen zwischen
Krimi und Melodram. Wenn demnach der melodramatische Film der Ort ist, an dem Gefühle in
traumähnlicher Semantik neu ausgehandelt werden, ist The Trouble with Harry, zweifellos ein
authentisches Melodram. Indem es dem kleinbürgerlichen Pietismus, der für Gefühle wie Liebe und
Lust eine vorgehaltene Hand oder eine Schaubühne zur Ausübung benötigt, und für den Affektionen
wie der zwischen Captain Wiles und Miss Gravely einen elephant in the room darstellt, eine, durch
den Genretransfer ganz in ihrer Bedeutung veränderte Grundfigur hinzufügt, die im Ergebnis eher
den Zuschauer als die Charaktere irritiert.
Im Anschluss an die beiden Kapitel, von denen das erste von der Grundhypothese ausging, dass The
Trouble with Harry ein Krimi wäre und des zweiten, das ihn als Melodram betrachtete, soll nun die
vermittelnde Rolle der Sprache und der Einsatz der Musik besprochen werden.
3. Sprache
Wie ist die Sprache an der Neukonstruktion von genretypischen Formeln und deren Handlungen
beteiligt? Da sie dem Narrativ ein selbstreflexives Moment liefert und Begründunszusammenhänge
für die Absichten und Taten der Figuren hergibt, wird sie in Zusammenhang mit dem Humor und
dessen Sinnverschiebungen stehen. Nachfolgend ein Auszug aus dem Dialog der ersten Begegnung
zwischen Sam Marlowe und Jennifer Rogers, die ihre Ehe zum Verstorbenen vorstellt.
Jennifer Rogers: Suppose some night I wanted him to do something. Like the dishes, for example. His
horoscope just wouldn't let him.
Sam Marlowe: You're absolutely right.
R: There are some things I just don't like to do by myself.
M: And no one with any true understanding would blame you for it.
Der Sinn verteilt sich auf zwei Ebenen. Zum einen das indirekte Sprechen, hier die sexuelle
Metapher, derer es im Film viele gibt und die immer dann zum Einsatz kommt, wenn beide
Gesprächspartner über ein abwesendes love interest reden, während die Leiche die Affektionen der
Anwesenden reguliert. Zum anderen entkernt die Benutzung der Sprache, und das war das Merkmal
des Melodrams, die Absichten der Charaktere und stellt sie damit als selbstbezügliche Akteure in
Frage. Da The Trouble with Harry kein Drama ist, scheint es, muss man nicht nach der Innerlichkeit
ihrer Figuren suchen. Unbeeindruckt fährt Jennifer fort.
R: This morning there was a knock on the door. Before I opened it, I knew he was standing on the
other side.
M: What did he want?
R: Me. He wanted me because I was his wife. He wanted me because, as he put it, he suddenly felt
some basic urge. Loneliness.
M: What did you feel?
R: I felt sick. Did you see his moustache and his wavy hair?
M: When I saw him, he was dead.
R: He looked the same when he was alive, except he was vertical.
M: So he entered. What did you say?
R: Nothing. I hit him over the head with a milk bottle and knocked him silly.
M: Silly?
R: Bats. Tappy. He went staggering up towards the woods saying he was gonna find his wife and drag
her home if it killed him.
M: Apparently it did.
In beiläufiger Weise erklärt Jennifer, wie sie ihren schwer verletzten und verwirrten Gatten in die
Wälder taumelnd entlässt. Die Form der entscheidenden Frage: What did you say? in der die
Motivation, schließlich das, was den Angriff grausam erscheinen lassen könnte, erlaubt es, in der
Antwort genau diese Motivation verschwinden zu lassen weil sie, insofern sie auf den Fortgang der
Handlung und nicht auf die Verfasstheit der Befragten abzielt, falsch gestellt ist. Auch die Replik
auf das knocking silly verrät nichts über die Intensität, mit der Jennifer zuschlug, sondern wird in
eine Reihe von Synonymen gestellt, die nicht die erzählte Handlung, sondern das Wort silly näher
umschreiben. In dieser Weise, Sprache nicht als Ausdruck von emotionalen Zuständen zu benutzen
sondern sie durch die Grammatik gleiten zu lassen, steht das Script einer Wittgensteinschen
Sprachskepsis nahe. Dieser über Fragen und Antworten:
Wenn ich jemandem einen Befehl gebe, so ist es mir ganz genug, ihm Zeichen zu geben. Und ich würde
nie sagen: Das sind ja nur Worte, und ich muß hinter die Worte dringen. Ebenso, wenn ich jemand
etwas gefragt hätte und er gibt mir eine Antwort (also ein Zeichen) bin ich zufrieden - das war es, was
ich erwartete - und wende nicht ein: Das ist ja eine bloße Antwort. 12
Wie sich keine der Figuren daran stört, wenn die Antwort auf eine konkrete Frage plötzlich in eine
abstrakte Klasse springt (silly, das Adjektiv), stört sich auch niemand daran, dass eine Leiche in
Hinsicht auf den gewesenen Menschen sehr konkrete Implikationen hat. Analog der Verschiebung
und zeitweiligen Aufhebung von Affektionen im toten Kanal entlasten die Dialoge ihre Sprecher,
indem sie sie von dem grundlegenden Bekenntnis sprachlicher Subjektivität in der Form cogito
ergo sum oder dem Sprechen mit realexistierender Ich-Referenz, entbinden. Das kaum idealistische
Verständnis des Todes geht einher mit einer wenig idealistischen Auffassung davon, was es heißt, zu
töten. Das wird durch die Sprache reflektiert, wenn etwa Miss Gravely beschreibt, wie sie sich
gegen den verwirrten Harry zur Wehr setzt.
Miss Gravely: I won. My shoe had come off in the struggle, and I hit him. I hit him as hard as ever I
could.
Captain Wiles: You killed him
G: I must have done it. I was annoyed, Captain. Very annoyed.
W: Naturally.
G: I don't think I've ever been so annoyed.
Annoyed scheint genausowenig wie Jennifers sick eine akkurate Selbstbeschreibung zu sein, in der
man von der eigenen Selbstverteidigung mit tödlichem Ausgang spricht. Auch hier klingt nach,
dass sich die Figuren über die Leiche hinweg aufeinander beziehen, sich ins Vertrauen nehmen,
12 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt 2003, §503.
durch sie oder über sie hinweg redend. In Hinsicht auf das melodramatische Motiv, der Darstellung
des über das sagbare Hinausgehende ringen die Dialoge unentwegt um die Gefühle, die sie sich
aufgrund ihrer sprachlichen Vorraussetzungen nicht mitteilen können, aus einem Genre stammend,
das Artikulation von Gefühlen nur über Umwege zulässt. Mit Lyotards Begriff des differend wird
sich zeigen, dass sich The Trouble with Harry dieser Problemlage auf ironische Weise bewusst ist.
In the differend, something "asks" to be put into phrases, and suffers from the wrong of not being able
to be put into phrases right away. This is when the human beings who thought they could use
language as an instrument of communiation learn through the feeling of pain which accompanies
silence (and of pleasure which accompanies the invention of a new idiom), that they are summoned
by language, not to augment to their profit the quantity of information communicable through existing
idioms, but to recognize that what remains to be phrased exceeds what they can presently phrase, and
that they must be allowed to institute idioms which do not yet exist. 13
Entgegen Lyotards Überlegungen, die im Zusammenhang mit der Unsagbarkeit um den Holocaust
und dessen Historisierung stehen, ist für diese Arbeit das Vergnügen interessant, das bei der
Kreation eines neuen Idioms entsteht. Das vielleicht schwarzhumorige Vergnügen, mit dem man
eine Leiche in einem recht verstockten melodramatischen Milieu platziert und die Konsequenzen
abwartet.14 Gegenüber der schmerzhaften Erfahrung des Lyotardschen Widerstreits, die die Grenzen
des Sagbaren realisiert, amüsiert sich The Trouble with Harry von Anfang an darüber, dass man mit
Sprache überhaupt Authentizität zu schaffen versucht. So begegnet man der Konventionalität – von
Sprache, Leiche, dem Verlangen von elderly spinsters – mit dem ironischen Idiom, das aus ihrer
kreuzweisen Verquickung und Verrückung entsteht. Welche Rolle spielt dabei die Musik als
potentiell sprachübergreifendes Instrument?
Der Score, Hitchcocks erste Zusammenarbeit mit Bernard Hermann, hält sich sehr eng an das
kadrierte Geschehen. In gedämpfter Weise ventilieren die musikalischen Themen die Emotionen,
teils an die Charaktere, teils an die Situation gebunden, die auf Handlungsebene verstellt sind. So
exklamieren die Blechbläser bei Harrys Anblick einen kurzen Schrecken. Die Pastorale, welche die
Landschaftsszenen des Films eröffnet, macht bei den ersten Schüssen, die die Holzbläser wie ein
Echo aufnehmen werden, eine pirschende Bewegung der Unsicherheit, die von da an die Leiche
besingen wird, wann immer jemand Unbekanntes sich ihr zu nähern versucht. Das
Landschaftsmotiv akzentuiert mit seinen wie Herbstblättern fallenden Streichern nicht nur die
Jahreszeit, sondern im übertragenen Sinn ebenso die aufkeimende Liebe der Figuren in ihrem
Lebensabend, Captain Wiles und Miss Gravely. Auch die Musik scheint dabei keineswegs
interessiert, in dem Geschehen mit harten Interventionen Schrecken oder Gravität erahnen zu
lassen, welche die Figuren selbst nicht zeigen. Vielmehr stellt sie, zusammen mit der Landschaft,
die unaufdringliche Bühne, in der sich die Geschichte um Harry in geschlossener Ironie abheben
kann.
Von dieser Ironie lässt sich sinnvollerweise aber nur sprechen, wenn man den semantisch
verworrenen, strukturell klaren Widerstreit als solchen setzt. Die Musik führt in ihren figurierenden
Weisen einen Kontrast ein, wie eine parallele Fabel, welche mit ihren Mitteln die Geschichte, den
Bildern nebengeordnet, völlig anders erzählt. Während die Sprache in Quasi-Traumarbeit, in Verlust
und Rekonfiguration der unmittelbaren Bedeutung, die ihr die lokutionären Akte15 der Figuren
13 Jean-Francois Lyotard, The Differend – Phrases in Dispute, Minnesota 1988, S.13.
14 Darüber Hitchcock zu Truffaut: It's as if I had set up a murder alongside a rustling brook and spilled a drop of
blood in the clear water. Francois Truffait, New York 1985, S.227. In einem ungefähr zeitgleich entstandenen
Interview sagt Hitchcock über den Film: Where did I lay the dead body? Among the most beautiful colors I could
find. Autumn in Vermont. Went up there and waited for the leaves to turn. We did it in counterpoint. I wanted to take
a nasty taste away by making the setting beautiful. I have sometimes been accused of building a film around an
effect, but in my sort of film you often have to do that if you want to get something other than the cliché. Alfred
Hitchcock, Hitchcock Talks About Lights, Camera, Action in: Hitchcock on Hitchcock – Selected Writings and
Interviews, Berkeley 1997, S.312.
15 Ich wähle diesen Term von Austin, weil er nur die raue Oberfläche von sprachlichen Äußerungen einbegreift und
im Gegensatz zu illokutionären Akten kein Subjekt impliziert, was z.B. im Unterschied zwischen der Betrachtung
verleihen, ihre Zeichenhaftigkeit und die Variabilität ihrer Bedeutung immer mit sich führt, erzählt
die Musik eine straight story, der die Bedingungen für die Effekte des Gesprochenen abgehen. So
spielt der Film, abgesehen von den langen Dialogszenen, denen oft keine Musik unterlegt wird,
ständig in mindestens zwei verschiedenen Sinnregistern, der figürlichen Musik in Symbiose mit der
malerischen Szenerie inklusive der Gestalt und Erscheinung der Charaktere, die in diesen Einklang
nicht einfach einen Riss einführen, sondern gemeinschaftlich und nach gegenseitiger Absprache den
Nährboden für Klischees, die Form des Melodramas als auch die Form des Krimis, untergraben.
Schluss
Einen Schritt zurücktretend, erscheint The Trouble with Harry wie ein klar gerahmtes Gemälde,
durchzogen von Rissen zwischen dem Sinnlichen und dem Sinnvollen, mit einem Fleck in der
Mitte, der vielleicht einem Bild angehört, das zuvor auf der Leinwand gemalt wurde und, ob
absichtlich oder unabsichtlich, ins neue Bild hindurchscheint. Dieses unbekannte Bild, der
whodunit, welcher der Film gewesen sein könnte, wird nun auf absurde Weise von der Personnage
eines kleinen Dorfes rekonstruiert. Der Krimi-Aspekt gleicht dem Auftragen eines pastosen Strichs
auf rauem Grund.
Eine zweite Bewegung ist feiner und entspricht in etwa dem, was Deleuze in Bezug auf Hitchcock
das Weben genannt hat.16 Das Spinnen der Figurenkonstellation um Harry herum und über ihn
hinweg hat unweigerlich Umwege, Überkreuzungen und Verknotungen zufolge, welche die
Eigenart des Melodrams, semantische Neuordnungen vorzunehmen, durch einen ausgehöhlten
MacGuffin vermitteln. Harry ist der Faktor, der die melodramatischen Kräfte aktiviert und zugleich
verwirrt. Dieser Aspekt lässt unerwartete Komplementärkontraste entstehen, in denen das
Phänotypische der Figuren, denen das Kolorit neue Bezüge verliehen hat, erkennbar bleibt.
Die musikalische und gesprochene Sprache teilen sich auf in eine begleitende und eine entgleitende
Sinndimension. Während erstere das Sichtbare konturiert und dem Film eine ästhetische Konsistenz
verleiht, hilft zweitere, sich von den Figuren ablösend und auf der Oberfläche der Ereignisse ihre
eigene grammatische Oberfläche aufzeigend, die Register der Genre zu verwischen und die
Unwahrscheinlichkeit der Intensionen und Handlungen auf ironische Weise wahrscheinlich zu
machen.
Wenn, wie in der Einleitung vermutet, eine zweite Art des Hitchcockschen Humors schlicht darin
besteht, völlige Kontrolle über die mise-en-scène zu haben, so stellt The Trouble with Harry davon,
in seiner absurden Kohärenz, zugleich Einlösung und Auflösung dar. Denn was sich
notwendigerweise entzieht, in der sorgfältigen Zusammenstellung und Beschwörung der Paradoxien
vor dem bukolischen Hintergrund und dem Schließen des Kreises am Ende des Films ist das, was
Hitchcock gemacht haben würde, hätte er diesen Film gedreht.
der Aussage des Versprechens und dergleichen Aussage in Hinsicht auf denjenigen, der sie macht, zum Ausdruck
kommt. Auf lokutionärer Ebene ist eine Unterscheidung zwischen wahr und falsch sinnos. Vgl. John L. Austin,
How to Do Things with Words, Oxford 1962, S.9ff.
16 Vgl. Gilles Deleuze, Cinema 1 - The Movement Image, London 1986, S.200.
Anhang
Literaturverzeichnis
Austin, John L., How to Do Things with Words, Oxford 1962
Blanchot, Maurice, The Two Versions of the Imaginary, in: The Space of Literature, Nebraska 1989
Bryars, Jackie, All That Hollywood Allows: Re-reading Gender in 1950s Melodrama, London 1991
Deleuze, Gilles, Cinema 1 - The Movement Image, London 1986
Dolar, Mladen, Hitchcock's Objects in: Everything You Always Wanted to Know about Lacan (But
Were Afraid to Ask Hitchcock), London 1992
Elsaesser, Thomas, Tales of Sound and Fury: Observations on the Family Melodrama, in:
Imitations of Life: A Reader on Film & Television Melodrama, Detroit 1991
Hitchcock, Alfred, Hitchcock Talks About Lights, Camera, Action in: Hitchcock on Hitchcock –
Selected Writings and Interviews, Berkeley 1997
Lévinas, Emmanuel, Totalité et infini, Paris 1971
Lyotard, Jean-Francois, The Differend – Phrases in Dispute, Minnesota 1988
McGilligan, Patrick, Alfred Hitchcock – A Life in Darkness and Light, New York 2004
Rohmer, Eric, Chabrol, Claude, Hitchcock – The First Forty-Four Films, New York 1979
Sterritt, David, From Transatlantic to Warner Bros. In: A Companion to Hitchcock, Malden 2011
Truffaut, François, Hitchcock, New York 1985
Wittgenstein, Ludwig, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt 2003
Abbildungsverzeichnis
Abb.1: The Trouble with Harry, Universal, NTSC, 00:25:02
Abb.2: The Trouble with Harry, Universal, NTSC, 00:25:09
Abb.3: The Trouble with Harry, Universal, NTSC, 00:58:03
Abb.4: The Man Who Knew Too Much, Universal, NTSC, 01:04:02