Erika Brinkmann/ Falko Peschel

Transcrição

Erika Brinkmann/ Falko Peschel
Falko Peschel
Widerspruch! Schreiben lernt man am besten durch freies Schreiben
Zur Buchrezension „Schreibstörungen bei Kindern erkennen und behandeln (Kisch/ Pauli) von Petra Vogt
In der letzten „Fragen und Versuche“ (Heft 148/2014, 45-49) hat Petra Vogt als Sonderpädagogin auf der Suche nach
Rat und Tat eine kommentierte Zusammenfassung des o.g. Buches dargeboten. Da Zusammenfassungen immer hilfreich sind, freut man sich natürlich entsprechend. Nachdem man dann schmunzelnd über das „Inklusionskind“ (das es
so natürlich unter all den anderen auch Inklusionskindern gar nicht geben kann) gestolpert ist, wurde es schon herausfordernder. Zumal sich Petra Vogt explizit auf Walter Hövels Artikel der FUV 146 „Was beim Schreiben nach Gehör
herauskommt“ bezieht. Ich bin absolut kein Verfechter von Zensur, finde die FUV allerdings schon manchmal sehr
fahrlässig, wenn ohne jeden Hinweis Positionen gedruckt werden, die völlig im Gegensatz zu den freinetpädagogischen Grundsätzen der Zeitschrift stehen und nicht so einfach als Glosse oder Diskussionsprovokation erkennbar sind.
Es gibt genügend möglicherweise nicht kundige Leser wie Studierende oder Lehramtsanwärter, die in einer Zeitschrift
der Freinet-Kooperative nach Freinet-Pädagogik suchen und u.U. nicht gekennzeichnete Artikel, die eine grundsätzliche Gegenposition vertreten, nicht richtig einordnen können.
Wenn die Redaktion also nicht entsprechend anmerken möchte, tut es nun ein Leser …
Das Problem der Zusammenfassung, das sich meines Erachtens ergibt, ist, dass hier mögliche aus der Sonderpädagogik heraus tradierte Diagnosen und Therapien einzelner Kinder mit Auffälligkeiten beim Schriftspracherwerb so kombiniert werden, dass der Eindruck einer Regelmäßigkeit oder Allgemeingültigkeit entsteht. Obwohl ich der Meinung
bin, dass es mittlerweile auch genügend empirische Hinweise darauf gibt, dass viele der genannten Positionen eben
nicht zu verallgemeinern sind und viele der „Störungen“ der Kinder vielleicht sogar eher Resultate bestimmter Unterrichtsformen und gutgemeinter Hilfen sind, formuliere ich sie hier sicherheitshalber nur vor dem Hintergrund meiner
eigenen Erfahrungen (dokumentiert und evaluiert u.a. in Peschel 2002, 2003):
Grundsätzliches:
Bei uns schreiben die Kinder vom ersten
Schultag an frei und dabei meist am
Computer. Sie verschriften dabei ausschließlich ihre eigenen Texte. Die Bildersuche bei Google, bei der man zu jedem
Gedanken, sei es in einer Geschichte oder
bei einem Vortrag, direkt eine große
Auswahl an Illustrationen findet, macht
das Schreiben mittlerweile über die gesamte Schulzeit hinweg zu einem völligen
Selbstläufer. Es gibt trotz vieler Kinder
(zu Beginn zwei Drittel der jahrgangsgemischten Lerngruppe!), die als sprachoder lernbehindert, als autistisch, leserechtschreib-schwach oder lerngestört
diagnostiziert wurden, eben keinen speziellen Schreib- oder Rechtschreibunterricht mit vorgegebenen Texten, Aufsatzthemen, Teilleistungsübungen etc. Diese begegnen den Kindern nur kurz einmal im vierten Schuljahr im „Survivaltraining 5. Klasse“, um sie vor dem Übergang an die nächste Schule als Arbeitsformen kennengelernt zu haben.
Ansonsten geht das Schreiben – wie auch alle anderen Fächer – ganz im Offenen Unterricht auf. Die Ergebnisse in der
über die gesamte Schulzeit halbjährlich durchgeführten Hamburger Schreibprobe als normiertem Rechtschreibtest
haben in all unseren Durchgängen in den letzten 20 Jahren immer hoch signifikant überdurchschnittliche Ergebnisse
trotz durchschnittlicher bis unterdurchschnittlicher Eingangsvoraussetzungen der Schüler ergeben. Sogar die Kinder
mit diagnostizierter LRS schaffen i.d.R. nach den vier Jahren Werte über dem üblichen Durchschnitt. Von daher:
Buchstaben werden nicht „be-griffen“ und benötigen kein „Lernen mit allen Sinnen“
Es gibt keine Hinweise darauf, dass „Schreiben mit der Hand“ den Schriftspracherwerb erleichtert. Unsere Erfahrung
z.B. ist genau gegensätzlich, weil durch das freie Schreiben am Computer eine qualitativ völlig andere und dauerhafte
Schreibmotivation erzeugt wird, als es früher beim alleinigen Schreiben mit der Hand war. Die Kinder kommen in die
Schule und schreiben Geschichten über Playmobil- oder Legofiguren. Sie halten Vorträge über Hobbys und Interessen. Bei uns lässt sich nicht erkennen, dass z.B. die Handschrift durch Computernutzung leiden würde – es gibt nach
wie vor viele Kinder mit toller und auch immer welche mit weniger toller Handschrift.
Ob Linkshänder am Computer die Maus besser links als rechts bedienen oder Kinder das Zehnfingersystem erlernen
möchten oder nicht, kann ruhig ihnen überlassen werden – die meisten werden zu letzterem erst einmal keine Zeit
haben, weil sie einfach schreiben möchten. Ob es für später gut ist, bleibt dahingestellt (der Autor ist z.B. mit seinen
zwei Zeigefingern schneller als viele Zehnfingerschreiber und empfindet sein System nicht als nachteiliger …)
Der Fehler mit dem schönen Sprachspiel „Sachen be-greifen“ kann man vor dem Hintergrund eines frontalen, handlungsarmen Unterrichts verstehen, aber er hat auch schon in anderen Fächern wie der Mathematik und dem Sachunterricht zu katastrophalen Fehlformen geführt, wenn Kinder, die schon längst auf einem höheren Entwicklungsstand waren, jahrelang Materialien benutzen mussten. Guckt man diesen Kinder zu, sieht man schnell, dass die Aufgaben meist
so im Kopf gelöst werden und danach die Materialien nachgestellt werden – oder aber die Materialien werden benutzt,
ohne zu verstehen, wofür sie stehen. Das Aberledigen von Schemata ist nicht zwangsläufig konstruktives Lernen.
Es ist gut, wenn Kinder die Lernkanäle nutzen
können, die ihnen entsprechen – genau dafür
muss der Offene Unterricht sorgen. Aber es ist
fatal, wenn ein „Lernen mit allen Sinnen“ dazu
führt, dass alle Kinder Buchstaben nachspuren
- und sie vielleicht gutgemeint auch noch
nachkneten, nachbacken, nachessen, nachturnen und nachtanzen müssen. All das ist für
eine gesamte Klasse genauso Zeitverschwendung wie Lautier- und Schreibübungen, Fingerspiele und Sprechreime, denn in dieser Zeit
könnten von den Kindern eigene Gedanken
auf individuellem Niveau aufs Papier gebracht
werden. Es wird einfach Lebenszeit vertan.
Und wer das Verschriften eben noch nicht
kann, der ist auch noch nicht so weit. Man
kann Auflautieren nicht lehren – aber man lernt es als inzidentellen und impliziten Mustererwerb genauso wie das
Rechtschreiben ganz schnell in einer Gruppe, die individuell frei schreibt. Wer noch nicht so weit ist, dem hilft auch
das Nachmalen der Buchstaben auf noch so schönem Papier nicht – im Gegensatz zu einem kleinen oder großen Partner beim freien Schreiben, der dem Schreibanfänger beim Vergleichen der durch eigenes Auflautieren gefundenen
Laute des eigenen Textes mit den zu den Abbildungen auf der Buchstabentabelle gehörigen Lauten hilft.
Die Didaktik des Offenen Unterrichts ist eine Nicht-Didaktik
Genauso wie der „Offene Unterricht“ ein „Nicht-Unterrichten“ ist, genauso ist seine „Didaktik“ eine „NichtDidaktik“. Natürlich gibt es konzeptionelle Hilfen, aber sie sind alle individualpsychologisch geprägt. Genauso wenig
wie im Offenen Unterricht Lehrgänge oder Karteien abgearbeitet werden und an deren Stelle die Eigenproduktion des
Kindes tritt, genauso gibt es eben keine didaktischen Stufen „vom Einfachen zum Differenzierten“, vom „Schnellen/Rhythmischen zum „Automatisierten/Generalisierten“. Die Lebenswelt ist komplex und das Kind muss ins „kalte
Wasser springen“ und durch „freien Ausdruck“ und „tastendes Versuchen“ die Lebenswelt zu seiner Lebenswirklichkeit machen – immer und immer wieder. Bei uns präsentieren die Erstklässler nach ihrer Einschulung immer schneller
ihre ersten Power-Point-Vorträge – einschließlich der vielfältigen Animationen, die ich nicht hätte einfügen können.
Schreibvoraussetzungen und Schreibvoraussetzungsvoraussetzungen und Schreibvoraussetzungsvoraussetzungsvoraussetzungen …
Es kann ja sein, dass man als Wissenschaftler am Reißbrett Kriterien für Koordination und visuelle Wahrnehmung, für
Blick-, Blatt-, Stift- und Sitzhaltung erstellen kann, aber man kann die Kinder auch einfach so wie sie sich wohlfühlen
schreiben lassen. Ihr individuelles Moment setzt sich sowieso durch – genauso wie beim freien Schreiben auch keine
Schreibrichtung vorgegeben werden kann – denn sie sollen ja alleine mit der Buchstabentabelle schreiben lernen und
nicht vor jedem Buchstaben fragen, wie er gezeichnet werden soll. Ich finde die Mühe der Lehrer diesbezüglich immer
interessant – und bitte die hartgesottenen Verfechter kleinster Schreibrichtungs- und Teilleistungsübungen dann immer, einmal in ihren 3. oder 4. Schuljahren zu gucken, wie die Kinder die Zahl „1“ schreiben: Mindestens die Hälfte
der Großen schreibt sie dann nämlich nicht mehr wie als Schulanfänger gelernt von oben nach unten, sondern wie
selbst gewollt, von unten nach oben. Mehr muss man dazu nicht sagen.
Sitzhaltung die Sitzhaltung beim Schreiben sollte möglichst aufrecht sein; der Schreibarm darf
nicht mit dem Körpergewicht belastet werden;
während des Schreibens muss das Kind still sitzen! (Vogt 2014, 47)
(Ich musste beim Lesen dieses Hinweises
sofort an einen ehemaligen Klassenkameraden denken, der außerhalb der Schule nur
auf dem Boden liegend gearbeitet, d.h.
gelesen, geschrieben und gezeichnet hat –
auch noch später sehr erfolgreich in seinem
eigenen Graphik-Design-Studio …)
Fazit
Für mich ist es erstaunlich, wie einfach
eine eng gelenkte und pathologisierende Schreibdidaktik so dargestellt wird, als würde sie mit freiem Schreiben oder
„Freiem Ausdruck“ vereinbar sein. Ich vermute mittlerweile, dass die fortschrittlichen Unterrichtsmethoden, zu denen
ich den auf echten Eigenproduktionen basierenden „Offenen Unterricht“ genauso zähle wie gute, auf Kinderproduktionen basierende Freinet-Pädagogik, u.a. im Rahmen der Inklusion von einer hochgezüchteten Super-Didaktik vereinnahmt werden. Das, was einmal aus Gründen von Freiheit und Selbstbestimmung zu offenem Lernen geführt hat, wird
heute sauber didaktisch-methodisch kategorisiert und pass- und persongenau zum didaktischen Individualrezept. Das
Förderwesen ist halt ein Riesenmarkt – und scheint durch alle möglichen scheinbaren Erfolgsrezepte abgesichert.
Dass personenbedingte Besonderheiten motorischer, wahrnehmungspsychologischer, genetischer oder anderer Art
auch den Schriftspracherwerb beeinflussen können, ist offensichtlich – es ist ja gerade die Einzigartigkeit der Person,
die eben ein höchst individuelles Lernen bedingt – aber eben ein von der Person ausgehendes, nicht von außen aufgesetztes … Dass in diesem Zusammenhang einige Ideen des o.g. Buches im speziellen Einzelfall als Ideenkiste hilfreich sein können, sei unbenommen. Aber es ist kein Wegweiser für den (freien) Schriftspracherwerb.
Von daher kann ich nur mit Bezug auf das o.g. „Inklusionskind“ daran erinnern:
Inklusion ist nicht etwas Ähnliches oder eine „Weiterentwicklung“ von Integration, sondern das genaue und krasse
Gegenteil mit ganz anderem Menschenbild.
Integration erfordert zunächst immer ein Segregieren, ein Herausnehmen einer Person aus einer Gruppe. Gut gemeint
wird jemand am vermeintlichen (Mittel-)Maß gemessen, seine Abweichung als Defizite und Teilleistungsstörungen
beurteilt und im Anschluss an eine entsprechende Diagnose eine Förderung oder sogar Therapie beschlossen:
Das Integrationskind ist geboren.
Inklusion ist etwas ganz ganz anderes.
Peschel, Falko: Offener Unterricht – Idee, Realität, Perspektive und ein praxiserprobtes Konzept zur Diskussion. Baltmannsweiler 2002
Peschel, Falko: Offener Unterricht in der Evaluation. Baltmannsweiler 2003
Vogt, Petra: Schreibstörungen bei Kindern erkennen und behandeln. In: Fragen und Versuche. Heft 148. Prinzhöfte 2014
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