Normgerecht prüfen — aber mit Verstand

Transcrição

Normgerecht prüfen — aber mit Verstand
messen & prüfen
Erfolgreiches Qualitätsmanagement durch
dynamisches Prüfwesen
Normgerecht prüfen — aber
mit Verstand
Prüfnormen sind wesentliche
Fixpunkte innerhalb des Prüf­
wesens. Das sture Befolgen
von Normvorgaben, ohne
Hinterfragen der individuellen
technischen Erfordernisse,
führt jedoch häufig zur Fehl­
interpretation von Qualitäts­
unterschieden.
_____ Das historisch gewachsene, aktuell
gültige Normenwesen ist grundsätzlich
mit Recht unverrückbarer Stützpfeiler
für die meisten Vorgänge in den verschiedensten Bereichen der Prüftechnik.
Normen gewährleisten maximale Prüfsicherheit durch genauestens definierte
Vorgehensweise, mit der dadurch erzielten Präzision und Wiederholgenauigkeit.
Die einfache und knappe Vorgabe, ein
Material zum Beispiel gemäß/nach
Norm XYZ zu prüfen, lässt im Idealfall
keine Missverständnisse bezüglich der
Vorgehensweise zu und überlässt somit
nichts dem Zufall. Perfekte Aussichten
also, bei simpler Befolgung der Normvorgaben? In der Prüfrealität stellt sich dies
immer öfter anders dar:
Zunehmend sind auch Materialien zu
prüfen, die, auch wenn sie nur geringfügig von den gewohnten Eigenschaften abweichen, trotzdem nicht bestmöglich mit der gewohnten vorgegebenen Prüfspezifikation dargestellt werden können, weil diese ihren abweichenden Eigenschaften prüftechnisch
nicht bestmöglich und vollständig
gerecht wird.
Viele Anwender stehen diesen veränderten Anforderungen oft statisch
gegenüber, obwohl ihnen die hiermit
einhergehende Diskrepanz grundsätzlich klar ist. Auf Kosten bedarfsgerechter
Prüfung wird dann kontinuierlich nach
Vorgaben geprüft, die zwar historisch
etabliert, aber für diese Materialien
längst überholt sind.
Hier wäre mehr Mut von Nutzen - Mut
zum Hinterfragen, Mut zur Verabredung, Mut, den ersten Schritt zu tun.
Die Verbesserung vieler Prüfsituationen wäre so naheliegend wie einfach
durch die simple klare Verabredung
aller am jeweiligen Prüfsachverhalt
Beteiligten. Oft kann der überwiegende
Teil der jeweiligen Normvorgabe beibehalten werden, so dass die verabredete
Vorgehensweise nicht mehr gemäß/
nach, sondern “in Anlehnung an“ Norm
XYZ, mit klarem Hinweis auf die verabredete Änderung in der Vorgehensweise,
benannt werden kann. Somit ist die historische Prüfverwandtschaft weiterhin
klar ersichtlich.
Je mehr Anwender sich einer derart
modifizierten Prüfung bedienen, um so
eher wird hieraus eine weitere gültige,
diesmal jedoch bedarfsgerechtere Normvorgabe entstehen können. Nämlich
Für die Gitterschnittprüfung
beschreibt die DIN EN ISO 2409
zwei Arten von verwendbaren
Schneidgeräten: Beim präzise
definierten Mehr­schneidengerät
(links), dringen stumpfe,
dreieckige Stirn­flächen der
Schneiden in die zu prüfende
Beschichtung ein. Beim Einschneidengerät (rechts) dringt
die mit sehr variablem Schneidenwinkel akzeptierte Schneide
scharf schneidend in die
Beschichtung ein.
2 JOT 5.2011
messen & prüfen
dann, wenn die entsprechenden normenrelevanten Gremien auf “gelebte“
Abweichungen innerhalb der Prüfrealität aufmerksam werden.
Erichsen ist als Entwickler und Lieferant von Prüftechnik hochinteressiert an
von der Norm abweichenden Anforderungen, um seinen Part an der zwingend
nötigen, kontinuierlichen Weiterentwickelung zukunftsorientierter Prüftechnik angemessen wahrnehmen zu können.
Gelegentlich lassen jedoch auch langjährig etablierte, gültige Normvorgaben
eine verwirrende Bandbreite innerhalb
der zulässigen Vorgehensweisen zu. Diese Bandbreite sorgt bei den beteiligten
Anwendern unnötigerweise für Probleme, zum Beispiel hinsichtlich der Vergleichbarkeit wie auch Kommunizierbarkeit der Ergebnisse.
Unterschiedliche Prüfergebnisse
an verschiedenen
Unternehmensstandorten
Dazu ein aktuelles Beispiel: Bei einem
renommierten deutschen Vorzeigeunternehmen, einem “Globalplayer“, der
gewiss Nichts dem Zufall überlässt und
sich bei der Qualitätssicherung seiner
Produkte exakt an die entsprechenden
Normvorgaben hält, wurden vor kurzem
bei Haftungsprüfungen per Gitterschnitt
unakzeptabel große Unterschiede bei
den sogenannten Gitterschnittkennwerten ermittelt.
Die Haftungsprüfungen wurden an
unterschiedlichen Standorten des Unter-
JOT 5.2011
nehmens durchgeführt. Unmittelbare
Folge war ein sofortiger Produktionsstopp mit eiligst anberaumter Ursachenprüfung. Alle betroffenen Anwender
haben nach bestem Wissen und Gewissen normgerecht geprüft und sich exakt
an die Vorgaben der entsprechenden,
langjährig etablierten Norm DIN EN ISO
2409 gehalten. Trotzdem wurden an
unterschiedlichen Standorten auf Materialien derselben Chargen unterschiedliche Kennwerte ermittelt.
Innerhalb einer Konferenzschaltung
mit den relevanten Instanzen des Unternehmens, wurde ein Mitarbeiter (der
Autor) von Erichsen in beratender Funktion involviert und konnte so entscheidend bei der Ermittlung der Ursache
mitwirken.
Die DIN EN ISO 2409 beschreibt zwei
Arten von verwendbaren Schneidgeräten: Einerseits ein Einschneidengerät
mit sehr variabel akzeptiertem Schneidenwinkel (20° - 30°), bei dem die
Schneide, einem Skalpell gleich, scharf
schneidend in die zu prüfende Beschichtung eindringt. Hier werden häufig handelsübliche “Teppichmesser“ beziehungsweie auch so genannte “Cuttermesser mit Abbrechklinge“ verwendet,
deren Auftauchen in einem normgerechten Prüfkontext wohl doch eher befremdlich erscheint. Zum Anderen ein Mehrschneidengerät mit präzise definierter
Geometrie, wobei der in die zu prüfende
Beschichtung eindringende Teil der parallel angeordneten Schneiden als stumpfe dreieckige Stirnfläche vorliegt.
Mit beiden unterschiedlichen Schneidgeräten durchgeführte Gitterschnitte
sind normgerecht im Sinne der DIN EN
ISO 2409. Dennoch sind die Schneidgeräte hinsichtlich ihrer Einwirkung auf
die zu prüfende Beschichtung, und somit
auch hinsichtlich der ermittelten Kennwerte, definitiv weder vergleichbar noch
miteinander kompatibel kommunizierbar.
Die differenten Kennwerte bei dem
betreffenden Unternehmen hatten, wie
sich im Laufe der Problemklärung bestätigte, tatsächlich ihren Ursprung bei der
parallelen Verwendung beider unterschiedlicher, jedoch zulässiger Schneidgerät-Typen.
Nachdem die Ursache bekannt war,
konnte man für die Zukunft eine intern
einheitliche Vorgehensweise bei der Prüfung verabreden, um die qualitätsgeprüfte Produktion schnellstmöglich wieder aufzunehmen.
Das beschriebene Fallbeispiel verdeutlicht die Vorteile von Hinterfragung,
Kommunikation und Verabredung, selbst
bei bereits gelebter und gewissenhaft
treuer Befolgung von Normvorgaben.__|
Der Autor:
Günter Kalinna,
Produktmanager
Oberflächentechnik,
Erichsen GmbH & Co. KG,
Hemer,
Tel. 02372/96 83-43,
[email protected],
www.erichsen.de
3