Einsatzbelastung, Verantwortung und Schuld
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Einsatzbelastung, Verantwortung und Schuld
zum Thema Magazin zum Lebenskundlichen Unterricht Ausgabe 2.2012 Wenn ich die falsche Entscheidung getroffen habe Über das Risiko, im Einsatz schuldig zu werden Alles wird gut! Wenn man das Gefühl hat, es geht zu Ende Schuld kann jeden treffen Die Rolle der Schuld im menschlichen Leben Im Einsatzland angekommen Einsatzbelastung, Verantwortung und Schuld „Jetzt steht er fest – mein Einsatztermin“ www.katholische-militaerseelsorge.de 3 zum Thema | Ausgabe 2.2012 | Einsatzbelastung, Verantwortung und Schuld zum Thema 6 Themenmagazin für Soldatinnen und Soldaten zum Lebenskundlichen Unterricht Ausgabe 2.2012 Liebe Leserinnen, liebe Leser! Auslandseinsätze bringen – wem erzähle ich das? – hohe Belastungen mit sich. In der Vorbereitungszeit sind diese wohl vor allem seelischer Art. Wer macht sich da nicht Sorgen um seine Partnerschaft oder Ehe? Wer fragt sich nicht, ob nach dem Einsatz wohl noch alles so sein wird wie vorher oder ob die Kinder die lange Abwesenheit wohl ohne negative Auswirkungen überstehen werden? Und wer fragt sich nicht zuletzt, ob er/sie wohl heil wieder heimkehren wird? Im Ausland schließlich kommen dann weitere psychische Belastungen hinzu, z. B. durch die Erfahrung ständiger Bedrohung, durch das Erleben von Armut, Leid und Not, durch die spezifischen Bedingungen des Lagerlebens oder durch die Anspannung und auch Angst in Kampfsituationen. Manche Erlebnisse sind so extrem belastend, dass sie den Einzelnen auch überfordern können; posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) sind dann die Folge. Aber auch physische Belastungen, vor allem in Afghanistan, müssen bewältigt werden, so z. B. die Umstellung auf ein anderes Klima, auf die Hitze, den Staub und anderes mehr. Als wäre das nicht alles schon genug, bringen Auslandseinsätze auch noch moralische Belastungen mit sich. Menschen – in welcher Situation auch immer – zu töten, wirft immer moralische Fragen auf: Darf ich das bzw. habe ich das gedurft? War es gerechtfertigt oder hätte es auch eine Alternative gegeben? Darf ich als Vorgesetzte/r den Befehl dazu geben und, wenn ja, unter welchen Bedingungen? Welchen Befehlen ist Folge zu leisten – und welchen unter keinen Umständen? Allein um diese moralischen Belastungen soll es in diesem Heft gehen. Es will sensibilisieren und zum Nachdenken anregen, indem es den Zusammenhang aufzeigt von militärischem Handeln, verantwortlichem Entscheiden und möglichem schuldhaftem Verhalten. Damit verbinden sich die Hoffnung und der Wunsch, dass Sie als Soldat/Soldatin – in welcher Funktion auch immer – stets in der Lage sein mögen, verantwortungsbewusst zu handeln und schuldhaftes Versagen zu vermeiden. Ihr Manfred Suermann 4 „Jetzt steht er fest – mein Einsatztermin“ Der bevorstehende Einsatz wirft seine Schatten voraus 6 Mein Partner muss in den Einsatz Betroffene erzählen 8 Verantwortung – was ist das? Nachdenken über einen häufig gebrauchten, nicht immer gelebten Begriff 10 Schuld kann jeden treffen Über die Rolle der Schuld im menschlichen Leben 8 14 Viele Fragen – schwere Entscheidungen Verantwortung zu tragen kann ganz schön schwer sein 16 Eine Erzählung Walter Back: Mein Kriegseinsatz als Soldat. – „Meine Schuld!“ 18 Im Einsatzland angekommen Nicht einfach, mit allem Neuen zurechtzukommen 22 Verantwortung im militärischen Einsatz „Führen nach Auftrag“ und das Problem der richtigen Entscheidung 24 Wenn ich die falsche Entscheidung getroffen habe Über das Risiko, im Einsatz schuldig zu werden 26 Alles wird gut! Wenn man das Gefühl hat, es geht zu Ende 22 30 Unterrichtsmaterial 36 Sudoku, Vorschau, Impressum 26 Fotos: Herbert Orth/TIME & LIFE Images/gettyimages.com; AFP/gettyimages.com; Alain Jocard/gettyimages.com; glendali/sxc.hu Auslandseinsätze bringen hohe Belastungen mit sich Foto: Mike Zimmermann; Titelfoto: Lucie Holloway/istockphoto.com 2 Editorial www.katholische-militaerseelsorge.de zum Thema | Ausgabe 2.2012 | Einsatzbelastung, Verantwortung und Schuld „Jetzt steht er fest – mein Einsatztermin“ Der bevorstehende Einsatz wirft seine Schatten voraus Von Manfred Suermann E igentlich war es absehbar“, dachte er bei sich, „alle Anzeichen hatten dafür gesprochen und es war ja auch in meiner Einheit deutlich genug angekündigt worden.“ Nur einen Termin für den Auslandseinsatz hatte es noch nicht gegeben. Und so hatte er das Ganze nicht recht wahrhaben wollen, den Gedanken verdrängt. Auch mit seiner langjährigen Freundin hatte er nur einmal kurz darüber gesprochen, dass da was auf sie zukommen könnte; aber dann hatten sie das Thema einfach totgeschwiegen. Hatten sie beide Angst davor, weil sie nicht wussten, wie sie damit umgehen sollten? Doch jetzt war die Sache auf dem Tisch: der Einsatz des nächsten Kontingents – und er war dabei. Jetzt half nichts mehr, kein Kopf-in-den-Sand-Stecken, kein Davonlaufen. Jetzt musste er der Realität ins Auge sehen, und seine Freundin mit ihm. „Was kommt da auf uns zu? Wie wollen wir das bewältigen? Wird die Beziehung halten?“ Solcherlei Fragen schossen ihm durch den Kopf. Er musste an seinen Kameraden denken, der verheiratet war, Familie hatte. Und obwohl er bei sich dachte, dass ein Auslandseinsatz für Frau und Kinder auch nicht leicht sein dürfte, beneidete er ihn fast ein wenig: „Bieten Ehe und Familie nicht doch eine größere Sicherheit?“, fragte er sich. Für die einen ist es fast schon Routine, weil sie zum wiederholten Male in den Einsatz gehen. Für andere aber ist es das erste Mal. Da gilt es, sich mit vielem auseinanderzusetzen, Absprachen zu treffen, Entdenen, die einem am nächsten stehen, vorzubereiten und sich mit seinen Ängsten und Sorgen zu beschäftigen. Für manchen beginnt hier bereits die Einsatzbelastung. Foto: Cultura/Spark Photographic/gettyimages.com scheidungen zu fällen, den Abschied von Mit der Zeit kam er mit vielen Kameraden ins Gespräch, fast alle trieben die gleichen Gedanken und Sorgen um. Und man kann gar nicht sagen, was überwog: die Unsicherheit, was sie wohl da im Ausland erwarten würde, das mulmige Gefühl bei der Vorstellung, in militärische Auseinandersetzungen zu geraten, oder doch eher die Sorge um das Persönliche, dass man nach der Rückkehr vor dem Nichts stehen könnte, weil Beziehungen doch nicht gehalten haben, die Liebe nicht stark genug war. Es war ihm nicht verborgen geblieben, dass alles möglich war, schließlich kannte er einige, die bereits im Auslandseinsatz gewesen waren, manche sogar mehrmals. Einer von ihnen, mit dem er sich ganz gut verstand und mit dem er auch schon mal außerhalb des Dienstes etwas unternahm, sagte ihm ganz deutlich: „Da kommt jetzt eine Verantwortung auf dich zu, da hilft kein Weglaufen! Und ich meine jetzt nicht deine Verantwortung als Soldat im Ausland, sondern gegenüber den Menschen, die hier sind, die dir was bedeuten, die du liebst und nicht verlieren willst …“ Das waren klare Worte für ihn. Und je mehr er sich mit der Zeit in Gedanken auf das Bevorstehende einließ, desto stärker wurde sein Gefühl dafür, was Verantwortung heißen könnte. In diesem Zusammenhang fiel ihm ein, was ihm ein schon einsatzerfahrener Soldat mal erzählt hatte: Ein junger Hauptmann habe sich für die Zeit seines Auslandseinsatzes eine „Zweitfrau“ gemietet und mit ihr – außerhalb des Camps – in einer eheähnlichen Beziehung in einer angemieteten Wohnung gelebt; zu Hause habe der Soldat Frau und Kinder gehabt. – Damals schon hatte er verstanden, dass so ein Auslandseinsatz offensichtlich auch mit „Angeboten“ verbunden sein kann, die ganz schön in Versuchung führen können – und wo man sich dann entscheiden muss. Es lag zwar schon eine Zeit lang zurück, aber er erinnerte sich plötzlich ganz genau daran, was in seiner Einheit die Runde machte: dass die Frau eines Kameraden ausgezogen war, mit Sack und Pack, mit dem Kind und allem, was ihr gehörte, weil sie erfahren hatte, dass ihr Mann im Ausland mit einer Kameradin was angefangen hatte. „So kann’s gehen“, dachte er damals, „aber natürlich nicht bei mir“, da war er sich sicher. Doch jetzt, wo sein Einsatz bevorstand, fing er an zu grübeln, was er tun könne, damit ihm nicht Gleiches widerfahren würde. Und obwohl es ihm mehr als schwerfiel, begann er, sich sehr selbstkritisch zu prüfen und zu fragen, wie viel ihm an seiner Freundin lag, wie tief seine Gefühle für sie waren und wie viel Liebe er für sie empfand. Und er forderte auch seine Freundin auf, Gleiches zu tun. Schließlich wollten sie ehrlich zueinander sein und sich keinen Illusionen hingeben. Denn in ihm war die Überzeugung gewachsen, dass ihre Beziehung nur dann eine Chance haben würde, wenn sie sich jetzt klarmachten, was sie einander bedeuteten. Erst wenn sie hier Sicherheit hätten, so ahnte er, könnten sie sich daranmachen, zu überlegen, wie sie Versuchungen widerstehen und die lange Zeit gut überbrücken könnten. Doch während er das Glück hatte, mit seiner Freundin in ein wirklich gutes Gespräch zu kommen, stellte er fest, dass sich bei manchen Kameraden – selbst bei jenen, die schon länger verheiratet waren – nicht unerhebliche Probleme auftaten. „Offenbar“, so dachte er bei sich, „hat hier die Gewohnheit die Beziehung alltäglich werden lassen und so manche Probleme zugedeckt.“ Aber er hoffte, dass alle zu dem zurückfinden würden, was sie einmal verbunden hatte. n 5 zum Thema | Ausgabe 2.2012 | Einsatzbelastung, Verantwortung und Schuld 7 Mein Partner muss in den Einsatz Und eine ebenfalls Betroffene antwortet: Hallo, mein Freund, mit dem ich seit fünf Jahren zusammenlebe, ist Zeitsoldat bei der Bundeswehr. Ich hatte damit schon immer ein Problem, weil er schon oft für längere Zeit auf Lehrgänge musste und wir auch drei Jahre lang eine Wochenendbeziehung hatten. Die längste Zeit, die er weg war, waren vier Wochen am Stück. Ich will ganz ehrlich sein: Ich HASSE die Bundeswehr und alles, was damit zu tun hat. Sie macht mir mein Leben zur Hölle. Er weiß das auch und hört auch damit auf, weil es ihm selbst keinen Spaß mehr macht und er auch sieht, wie ich leide. Jetzt soll er bald für mindestens vier Monate in den Auslandseinsatz gehen, und ich habe das Gefühl, dass ich das nicht überlebe. Für mich kommt das einem Weltuntergang gleich. Ich muss dazusagen, dass ich an einer Panikstörung leide und es mir grundsätzlich psychisch schon nicht so gut geht, was ich aber in letzter Zeit wieder relativ gut im Griff hatte. Ich fühle mich dann zu Hause einfach so einsam, dass ich durchdrehen könnte. Klar gehe ich arbeiten und mache auch sonst alles, was ein normaler Mensch tut, aber das Problem ist einfach, dass, wenn ich abends nach Hause komme, niemand da ist! Und das nicht nur vier Wochen, sondern eine Ewigkeit. Das so lange durchzuhalten, schaffe ich einfach nicht. Ich bin schon jetzt total fertig und heule nur noch. Mein Freund sagt zwar, dass er mich versteht, aber ich glaube nicht, dass er sich wirklich vorstellen kann, wie das ist, da er ja noch nie alleine war. Ich habe auch schon über Trennung nachgedacht, da ich diese ewige Ungewissheit und dieses Alleinsein einfach nicht mehr ertrage. Habt ihr einen Rat für mich? Aber bitte sagt mir nicht, dass ich das ja vorher gewusst habe. Das ist nämlich nicht so. Ich hätte mir nie gedacht, dass es SO schlimm wird, sonst hätte ich mir das zweimal überlegt. Außerdem war damals die ganze Situation mit Afghanistan usw. noch nicht so wie jetzt. Hannah Hallo Hannah, ich weiß genau, wie es dir geht. Ich bin auch mit einem mittlerweile Exbundeswehrsoldaten zusammen. Als ich ihn vor vier Jahren kennengelernt habe und er mir gesagt hat, dass er bei der Bundeswehr ist, hatte ich auch nicht gewusst, was noch alles auf mich zukommen würde. Ich wusste zwar, dass wir uns hauptsächlich am Wochenende sehen würden und manchmal auch zwei, drei Wochen gar nicht, aber den Afghanistan-Einsatz hab ich auch nicht vorausgesehen. Eines Tages hat er mich in den Arm genommen, angefangen zu weinen und mir gesagt, dass er so glücklich mit mir ist, ihn aber die Bundeswehr in ein paar Monaten nach Afghanistan schicke, für damals auch vier Monate! Ich wusste nicht, wie ich das überstehen sollte, hatte mir damals auch viele Gedanken gemacht, wie es weitergehen soll, ob ich glücklicher wäre, wenn ich mich von ihm trennen würde. Darauf fand ich aber nur eine Antwort (die auch für dich gilt!): Eine Trennung wäre keine Lösung. Das Problem war ja nicht, dass die Liebe nicht mehr da war, sondern dass eine schwierige Zeit auf uns zukommen sollte. Und mal ganz ehrlich: Was ist eine Beziehung schon wert, wenn man diese wegen einer „schwierigen Situation“ aufgeben will? Ich weiß, wie du dich fühlst, es ist der Schmerz, die Einsamkeit, die man verdrängen und am liebsten loswerden möchte, und man weiß nicht, wie! Aber glaub mir, diese „Trennung“ macht eure Liebe stärker, ich weiß, dass es schwer ist, es war mit eine der schwierigsten Zeiten in meinem Leben, aber das geht vorbei! Und auch die vier Monate gehen rum, du wirst sehen. Ich konnte es erst auch nicht glauben, aber es kommt der Tag, da fängst du an, die Wochen zu zählen! Und bald ist dein Schatz wieder da! Wir haben uns damals Briefe geschrieben (das war ne Freude, darauf zu warten, dass der nächste Brief kommt!) und er hat angerufen, wenn er konnte. Aber das Wichtigste ist, dass du in dieser Zeit Freunde hast, die dir zur Seite stehen, für dich da sind und dich ablenken! Ich bin damals jedes Wochenende weggegangen, musste einfach raus, zu Hause verfällt man in Selbstmitleid! Schlaf doch auch mal bei Freunden oder lade welche zu dir ein, wenn du einsam bist. Die Zeit am Anfang ist die schwerste, danach wird�s immer besser und dann ist er wieder da. Ich hoffe, ich konnte dir ein bisschen Mut machen und dich etwas trösten. Denk dran, du bist nicht allein, vielen Frauen geht es so wie dir und ihre Männer müssen auch nach Afghanistan! Denk dran, dass alles gut wird, denk nicht negativ, das macht dich nur unnötig fertig! Ich hoffe, ich konnte dir helfen, und wenn du in Zukunft einen Rat zu dem Thema brauchst oder auch nur reden willst, schreib mir! Liebe Grüße Foto: Juan Estey/istockphoto.com Eine Betroffene erzählt: www.katholische-militaerseelsorge.de zum Thema | Ausgabe 2.2012 | Einsatzbelastung, Verantwortung und Schuld Verantwortung – was ist das? Nachdenken über einen häufig gebrauchten, nicht immer gelebten Begriff Von Manfred Suermann I ch habe die Verantwortung …!“, „Du bist verantwortungslos!“, „Ich mache dich dafür verantwortlich!“, „Du hast kein Verantwortungsbewusstsein!“ – Diese und ähnliche Sätze hat jeder schon einmal gehört. Sie zeigen, welch wichtige Rolle Verantwortung im menschlichen Leben spielt. Da werden Menschen für ihr Handeln verantwortlich gemacht – der Fußballtrainer, der Firmenchef, der Lehrer und natürlich auch der Kommandeur. Verantwortung ist ein zentraler ethischer Begriff und im beruflichen wie im privaten Leben. Jeder trägt Verantwortung an dem Ort, an den er in seinem Leben gestellt ist, unabhängig davon, welchen Rang oder welche Position er innehat. Foto: Alain Jocard/gettyimages.com fordert den Menschen permanent heraus, sowohl Obwohl der Begriff „Verantwortung“ noch nicht sonderlich lange unserem Wortschatz angehört, so ist das, was er meint, uralt. Denn immer schon hatten Menschen Verantwortung für andere und immer schon wurden sie zur Verantwortung gezogen. Dennoch ist Verantwortung erst in den letzten Jahrzehnten zu einem Schlüsselbegriff geworden, sodass man heute gar von einer Verantwortungsethik spricht. Das dürfte seinen Grund in Folgendem haben: Durch den ungeheuren Fortschritt der Wissenschaften haben wir Heutigen auf allen Gebieten Erkenntnisse, die in früheren Jahrhunderten den Menschen nicht zur Verfügung standen. Dies bezieht sich nicht nur auf die Vergangenheit und Gegenwart, sondern unser Wissen reicht in vielen Bereichen auch weit in die Zukunft. Wir können heute die zukünftigen Folgen unseres Handelns – oder auch Nichthandelns – viel besser abschätzen als früher. Um es an einem Beispiel deutlich zu machen: Wir kennen sehr genau die Ursachen der globalen Klimaveränderung, wir wissen sozusagen um die „Sünden“ der Vergangenheit; wir wissen aber auch, was sich verändern wird, wenn die Welt so weitermacht wie bisher, und was getan werden müsste, um diese Veränderung abzuwenden oder zumindest abzumildern. Und genau hier beginnt dann Verantwortung: Handeln wie auch Nichthandeln haben für die Zukunft positive oder negative Folgen, die verantwortet werden müssen. Und von wem? In diesem Fall: von allen, denn mehr oder weniger jeder auf der Welt trägt zu den Ursachen der Klimaveränderung bei, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise und in ganz unterschiedlichem Ausmaß. Deswegen sind hier alle in die Verantwortung gerufen. Denn jeder hat sich die Frage gefallen zu lassen und sie zu beantworten, welche Welt wir den nachfolgenden Generationen hinterlassen wollen. Deshalb spricht man auch z. B. von einer Schöpfungsverantwortung oder von der Verantwortung gegenüber der nachwachsenden Generation. Verantwortung ist etwas typisch Menschliches. Niemand käme auf den Gedanken, einen Löwen, der ein Tier reißt, zur Verantwortung zu ziehen. Und keiner würde einer Katze, die ihre Jungen liebevoll umsorgt, ein verantwortungsvolles Verhalten zuschreiben, obwohl der äußere Anschein Ähnlichkeit damit hat. Aber beide Tiere folgen allein ihrem Trieb und können nicht anders. Nicht so beim Menschen – in der Regel kann er anders. Gewiss, er muss essen, aber er kann wählen, ob er sich z. B. gesund ernähren will oder eben nicht. Er kann sich entscheiden, ob er auf eine Beleidigung mit Gewalt reagieren oder die Aussprache suchen will. Und er kann sich aussuchen, ob er seinem/seiner Lebenspartner/in treu bleiben oder die sich bietende Gelegenheit zum Seitensprung „nutzen“ möchte. Nimmt er das Auto oder fährt er mit öffentlichen Nahverkehrsmitteln? Möchte er eine Familie gründen oder bleibt er doch besser Single? Die Beispiele lassen sich endlos weiterführen. Immer zeigt sich: Im Gegensatz zum Tier ist der Mensch nicht festgelegt, er hat eine Wahl, er muss und kann sich entscheiden. Und er entscheidet sich auch – bewusst oder unbewusst. Wie oft müssen wir zugeben, in einer bestimmten Situation nicht nachgedacht und uns unsere Wahlmöglichkeiten nicht bewusst gemacht, sondern spontan, „aus dem Bauch heraus“, gehandelt zu haben! Manchmal mögen wir dabei richtig gehandelt haben, manchmal bereuen wir aber auch, etwas falsch gemacht zu haben. Und dann überlegen wir, suchen nach den Gründen und entdecken dabei manchmal, dass wir von etwas geleitet wurden, was uns nicht bewusst war. Was auch immer der Mensch wählt, wie auch immer er sich entscheidet, er kann – und sollte – immer auch an die Folgen denken. Aber tun wir das auch? Machen wir nicht stattdessen immer wieder die Erfahrung, von den Folgen überrascht zu werden? „Ach, hätte ich das doch geahnt“, denken wir dann nicht selten. Dabei hätten wir es – zumindest in manchen Fällen – wissen können, wenn, ja wenn wir uns z. B. nicht dem Augenblick hingegeben und uns blind gestellt hätten. Aus dem bisher Gesagten wird deutlich: Der Mensch kann wählen und sich entscheiden, und das macht seine Freiheit aus. Da aber alles Handeln des Menschen – auch sein Nichthandeln – Folgen hat, für ihn wie für andere, muss er sein Handeln begründen, es rechtfertigen, also Rechenschaft ablegen und damit verantworten. Das geschieht natürlich nicht immer. Wir handeln ja ständig, ohne dass wir uns immer rechtfertigen müssten. Besonders wenn wir etwas Richtiges oder Gutes tun, käme niemand auf die Idee, uns zur Rechenschaft zu ziehen. Erst wenn wir etwas falsch gemacht, Schaden angerichtet haben, kommt dies zum Tragen, müssen wir uns rechtfertigen, manchmal nur vor uns selber, dann aber auch vor anderen. Und es liegt dann an uns selbst, ob wir zu dem, was wir getan haben, stehen oder anfangen, Ausreden zu suchen, anderen die Schuld in die Schuhe zu schieben, uns zu entschuldigen.n 9 www.katholische-militaerseelsorge.de zum Thema | Ausgabe 2.2012 | Einsatzbelastung, Verantwortung und Schuld Schuld kann jeden treffen Über die Rolle der Schuld im menschlichen Leben Von Manfred Suermann D u bist schuld!“ Je nachdem, worum es sich handelt, kann dies ein schwerer und belastender Vorwurf sein. Wirkliche Schuld ist eine niederdrückende Last, die das Leben eines Menschen nachhaltig prägen kann. Sie ist deshalb so schwer, weil sie sich auf etwas bezieht, was in der Vergangenheit liegt und nicht rückgängig gemacht werden kann. „Du bist schuld“ kann aber auch heißen: Du bist z. B. schuld, dass wir zu spät kommen. Mit solcher Schuld lässt sich ganz gut leben, und es stellt sich die Frage, ob es überhaupt angebracht ist, in solchen Fällen von Schuld zu reden. Im Grunde handelt es sich ja um eine Bagatelle, die allerdings – je nach Situation – mitunter zu Streit und Missstimmung führen kann. Wenn es aber dazu kommt, stellt sich schon wieder die Frage: Wer ist denn nun schuld an dem Streit? Bei näherem Hinsehen zeigt sich dann meist, dass die Bagatelle vielleicht der Auslöser war, dass aber an dem Streit ganz andere Dinge schuld sind – dass der Streit z. B. auf eine tiefer liegende Beziehungsstörung hinweist. Schuld ist ein Beziehungsbegriff und tritt in erster Linie in Beziehungen auf, die Menschen miteinander eingehen. Schuld bedeutet dann, dass jemand den berechtigten Anforderungen oder Ansprüchen eines anderen, z. B. auf körperliche Unversehrtheit, auf Wahrheit oder Treue, nicht gerecht geworden ist. Sie das Richtige, das Notwendige, das Gute gewählt haben, wenn sie z. B. um des eigenen Vorteils willen gelogen und damit ihre Freiheit, verantwortlich zu handeln, missbraucht haben. Foto: mediaphotos/istockphoto.com entsteht, wenn Menschen in ihren Handlungen nicht Sind immer die anderen schuld? „Du bist schuld!“ Damit ist die Sache klar: Der andere ist’s, daran gibt es nicht zu deuteln! Ich bin dagegen „aus dem Schneider“. Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Mir kann man nichts in die Schuhe schieben. Und wenn es dann auch noch zum Streit kommt, bleibt es meistens dabei: „Du bist schuld!“ Diese nur allzu menschliche Haltung verhindert dann allerdings, dass ich auch einmal über mich selbst nachdenke und meinen eigenen Anteil, meine eigene Beteiligung an der Streitentwicklung erkenne, letztlich also meine Schuld sehen lerne. Damit kommen wir langsam dem auf die Spur, was vielleicht wirkliche Schuld sein könnte. Spontan denken da wohl die meisten an all das, was Menschen Schaden zufügt, also an Mord und Totschlag, Diebstahl, Betrug, Gewalt, sexuellen Missbrauch und Ähnliches. All dies beinhaltet wirkliche Schuld und braucht nicht näher erläutert zu werden. Hier soll es eher um Fälle von Schuld gehen, die schwerer zu erkennen sind. Nehmen wir dazu einmal den Fall an, dass jemand erleben muss, in einer Beziehung nicht verstanden, mit der Zeit immer mehr vernachlässigt, oft auch abgewertet, in Wahrheit gar nicht geliebt, stattdessen mit Gleichgültigkeit behandelt, ausgenutzt oder gar betrogen zu werden – hätte dieser (oder diese) nicht wirklich allen Grund zu sagen: „Du bist schuld!“? Sicher, jetzt kann man schnell einwenden: Warum haben sich die beiden überhaupt zusammengetan oder warum haben sie sich nicht längst getrennt? Und kann es denn überhaupt sein, dass Schuld so einseitig verteilt ist? So berechtigt diese Fragen sind, sie bleiben jetzt mal außen vor. Denn allein dies sollte deutlich werden: dass es Schuld gibt, von der in keinem Strafgesetzbuch die Rede ist, und dass diese Schuld viele Gesichter hat. Man spricht dann von moralischer 11 zum Thema | Ausgabe 2.2012 | Einsatzbelastung, Verantwortung und Schuld Schuld; sie ist schwieriger zu erkennen und zu identifizieren, deshalb wird über sie auch häufiger gestritten. Schuldgefühle können trügerisch sein Etwas anderes dagegen sind Schuldgefühle. Wer kennt das nicht, das schlechte Gewissen, wenn man z. B. als Kind der Mutter mal einen Euro aus dem Portemonnaie genommen oder jemandem etwas verheimlicht hat, was er eigentlich wissen sollte, aber nicht wissen darf? Schuldgefühle regen sich, wenn man etwas getan hat, das nicht in Ordnung ist – egal ob jemand davon erfährt oder nicht. Sie können belasten, quälen und nicht in Ruhe lassen. Allerdings gibt es auch den umgekehrten Fall: Man hat etwas getan, das nicht in Ordnung ist – und empfindet dabei keine Schuldgefühle. Denn man meint, gute Gründe zu haben, zieht alle Register, um sein Tun zu rechtfertigen, und sucht nicht selten die Schuld bei anderen; man will sich so entschuldigen, also von Schuld befreien. Doch Schuldgefühle sind tückisch. Wo jemand wirklich Schuld auf sich geladen hat, sind entsprechende Schuldgefühle ganz richtig. Doch Schuldgefühle können Menschen auch quälen, obwohl noch gar nicht ausgemacht ist, ob sie wirklich schuldig sind, und obwohl sie selber gar nicht richtig sagen können, worin denn ihre Schuld besteht. Ja, Menschen haben sogar Schuldgefühle, wenn sie gar keine Schuld trifft. Ein Beispiel Nicht wenige Einsatzsoldaten haben Kinder zu Hause. Diese tragen mitunter schwer an der Abwesenheit des Vaters – oder der Mutter, wenn diese Soldatin ist. Die Belastung für das Kind kann so schwer sein, dass es schulische Probleme bekommt. Und manche Soldatinnen oder Soldaten fühlen sich dafür schuldig. – Aber das nur allzu verständliche Gefühl trügt. Trifft sie denn wirklich eine Schuld? Worin sollte diese bestehen? Gewiss, Eltern haben eine hohe Verantwortung und Verpflichtung gegenüber ihren Kindern. Das Kindeswohl stellt einen hohen Wert dar, für das Eltern alles in ihrer Macht Stehende tun müssen. Und wer es vernachlässigt, handelt verantwortungslos und macht sich schuldig. Aber: Haben die Soldatin bzw. der Soldat das Wohl ihres Kindes bewusst oder fahrlässig vernachlässigt? Hatten sie die Wahl und haben sie sich freiwillig gegen das Kind entschieden? Wohl kaum! – Schuld hat hier oder, besser gesagt, Ursache hierfür ist der Auslandseinsatz der Bundeswehr. Nur das Individuum ist Träger von Schuld In unserem Kulturkreis hat sich die Überzeugung herausgebildet, dass nur das einzelne Individuum schuldig werden kann. Wenn z. B. eine Gruppe gemeinsam ein Verbrechen begangen hat, so wird vor Gericht nach der Schuld jedes Einzelnen gefragt; da gibt es dann den Haupttäter und die www.katholische-militaerseelsorge.de Mitschuldigen. Schuld ist etwas typisch Menschliches und kommt allein dem Menschen zu. Auch wenn z. B. ein Hund manchmal schuldbewusst dreinschaut und mit eingezogenem Schwanz abzieht, weil er etwas angestellt hat, kann man dennoch nicht von Schuld sprechen. Denn der Hund ist durch Erziehung konditioniert, er weiß nicht aus Einsicht, dass er etwas Falsches oder Böses getan hat; er hat nicht die Freiheit, zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu wählen. Der Mensch dagegen hat Freiheit. Er hat immer eine Wahl, auch wenn ihm dies längst nicht immer bewusst ist. Und weil er wählt, muss er mitunter das, was er gewählt hat, verantworten, besonders dann, wenn er das Falsche gewählt und dadurch sich selbst oder anderen Schaden zugefügt hat. Und dann steht er vor der Frage nach seiner Schuld. Freiheit, Verantwortung und Schuld gehören untrennbar zusammen. Bleibt nur noch eine Frage: Kann denn auch eine unbewusste Wahl, eine unbewusste Entscheidung Schuld bedeuten? Wer kennt nicht den Ausruf: „Ach, hätte ich doch damals …!“ Oder: „Wenn ich damals gewusst hätte …!“ Auch wenn man längst nicht immer die Folgen einer bestimmten (Lebens-)Entscheidung absehen kann, so kommt man dennoch im Nachhinein manchmal nicht um die Einsicht herum, damals etwas falsch gemacht zu haben. Aber auch das gehört zum Menschen: Er ist nicht bis ins Letzte Herr über sein Leben. „Es kommt oft anders, als man denkt!“ Das ist so etwas wie der Preis der Freiheit.n Foto: mediaphotos/istockphoto.com 12 www.katholische-militaerseelsorge.de zum Thema | Ausgabe 2.2012 | Einsatzbelastung, Verantwortung und Schuld Die Bundeswehr kümmert sich um die militärische Einsatzvorbereitung und sorgt dafür, dass der Soldat auf alles, Über die Verantwortung bei der Einsatzvorbereitung was ihm im Ausland als Soldat begegnet, bestens vorbereitet ist. Für die Regelung aller Angelegenheiten, die mit dem Privatleben des Soldaten zu tun haben, Von Manfred Suermann ist jeder Einzelne selbst verantwortlich. H ast du schon mal daran gedacht, dass dir was passieren könnte?“, wurde er von einem bereits einsatzerfahrenen Kameraden gefragt, „und hast du vorgesorgt?“ Ein mulmiges Gefühl ergriff ihn. Ihm fielen Bilder aus dem Fernsehen ein, Bilder von einer Trauerfeier gefallener Soldaten. Nein, daran hatte er noch nicht gedacht. „Mir passiert schon nichts“, davon war er bisher überzeugt. Nur unwillig machte er sich mit der Möglichkeit vertraut. „Was gibt es denn da zu regeln?“, fragte er sich. Und während er darüber nachdachte, wurde ihm klar, dass er darüber mit anderen sprechen sollte, mit seiner Partnerin, mit seinen Eltern, vielleicht auch mit seinen Geschwistern. Und ihm fiel das Wort eines Kameraden wieder ein: „Da kommt jetzt eine Verantwortung auf dich zu …“ Viele Fragen – schwere Entscheidungen Foto: sorcerer11/fotolia.com Verantwortung zu tragen kann ganz schön schwer sein Er hörte sich in seinem Kameradenkreis um. Einer, der verheiratet war und Familie hatte, schilderte ihm, was er alles erledigt hatte. „Ich habe Vollmachten erteilt, nicht nur fürs Konto, sondern auch dafür, dass meine Frau in meinem Namen handeln kann – für den Fall, dass ich mal eine Zeit lang nicht handlungsfähig sein sollte. Und ich habe ihr nicht nur alle meine Passwörter gegeben, sondern ihr auch gezeigt, wo alle wichtigen Unterlagen zu finden sind, z. B. über meine Versicherungen, Kredite usw. Natürlich setzt das Vertrauen voraus“, betonte er und fügte hinzu: „Such dir also jemanden, dem du uneingeschränkt vertrauen kannst!“ Ihm schwirrte der Kopf. „An was alles zu denken ist!“, sagte er sich. Auch wenn es ihm einsichtig war, dass dies alles zu erledigen sei, tauchte für ihn eine noch viel schwierigere Frage auf: Wem konnte er so uneingeschränkt vertrauen – seiner Partnerin, seinen Eltern, seinem besten Freund? Was wäre, wenn er seiner Partnerin dieses Vertrauen schenkte, ihre Beziehung aber die Einsatzzeit – aus welchen Gründen auch immer – nicht überstünde? Nicht auszudenken, welches Risiko des Missbrauchs seines Vertrauens er da einginge. Mit seinen Eltern hatte er nicht gerade das beste Verhältnis, konnte er ihnen dennoch vertrauen? Immerhin waren es ja die Eltern. Wie aber sollte er das seiner Partnerin erklären? Oder doch besser seinem Freund alles übergeben? Das aber würde seiner Partnerin ja noch deutlicher zeigen, dass er ihr nicht vertraute. Wie auch immer er es drehte und wendete, es wurde nicht einfacher. „Hast du schon dein Testament gemacht?“, fragte ihn dann zum Überfluss auch noch ein Kamerad, der mit ihm in den Einsatz musste. „Auch das noch“, entfuhr es ihm. Seit noch nicht einmal zwei Jahren wohnte er jetzt mit seiner Partnerin zusammen. Sie hatten sich vieles gemeinsam angeschafft. Wie sollte er jetzt entscheiden, was wem zu vermachen ist? Er spürte, es würden ernste Gespräche auf seine Partnerin und ihn zukommen, und er hatte schon ein wenig Angst davor. Wie würde sie mit all dem umgehen? Klar, sie wusste von Anfang an, dass er Soldat war, auch, dass er versetzt werden könnte, und auch, dass irgendwann ein Auslandseinsatz wahrscheinlich war. Aber denkt man, wenn man verliebt ist, an all das und daran, was das wirklich bedeutet? Doch als er nach und nach all die anstehenden Themen ansprach, war er positiv überrascht, wie ernsthaft und verantwortungsbewusst sie auf alles einging, ja sogar selbst noch manches ansprach, was er vergessen oder woran er selber gar nicht gedacht hatte. Er spürte, wie viel ihr an ihrer Partnerschaft lag, und so reifte in ihm der Entschluss, es zu wagen und ihr all seine persönlichen Dinge anzuvertrauen. Und eines Tages traf ihn fast der Schlag: Als er nach Hause kam, war sie schon da und legte ihm mehrere DIN-A4-Bögen vor. Darauf stand: Patientenverfügung. Erst wusste er gar nicht, was das bedeutete, aber er erinnerte sich, das Wort schon mal von Kameraden gehört zu haben. „Da führt kein Weg dran vorbei“, meinte sie liebevoll, „darüber müssen wir uns auch verständigen, auch wenn ich mit dir hoffe, dass wir das nie brauchen werden.“ Auch wenn er am liebsten manchmal den Kopf in den Sand gesteckt hätte oder fortgelaufen wäre, die konstruktive Art, mit der seine Partnerin die Themen anging, gab ihm Sicherheit, förderte sein Vertrauen und stärkte ihre Beziehung.n 15 www.katholische-militaerseelsorge.de zum Thema | Ausgabe 2.2012 | Einsatzbelastung, Verantwortung und Schuld 17 E rst am 3. März 1945, also kurz vor Kriegsende, wurde ich an der Ostfront als Oberjäger und Bataillonsfunktruppführer der Fallschirmtruppe eingesetzt. Wir ruhten nach dem langen Nachtmarsch im Straßengraben etwas aus, um im Morgengrauen zum Angriff auf eine russische Stellung anzutreten. Der „Iwan“, wie wir die Russen nannten, hatte vor Kurzem eine Waldhöhe eingenommen, die wir jetzt wieder zurückerobern sollten. Eine Vierlingsflak (4,7-cm-Flugabwehrkanone) gab uns Schützenhilfe, während wir den Hang hinunter und dann wieder hinauf in den Wald stürmten. Als Funktruppführer hatte ich das Funkgerät mit etwa 20 kg Gewicht auf dem Rücken und konnte kaum Schritt halten. Vor dem Wald wuchsen dichte Büsche. Da wir nur etwa 20 Mann waren, rannten wir in einer aufgelösten Front durch diese Büsche in den Wald hinein. Wir sahen die Russen auf der anderen Seite den Hang hinunterrennen, zurück in ihre alte Stellung. Wir waren froh, dass uns ihre zuvor gebuddelten Schützenlöcher jetzt Schutz gaben vor dem Geschützhagel. Und der kam! Der Leutnant gab mir einen Befehl, den ich aber mitten im Wald nicht senden konnte, die Bäume schirmten alles ab. Ich musste zurück an den Waldrand und sprang aus meinem Loch, rannte an den Waldrand, um hier in ein anderes Loch zu springen, zögerte aber einen Augenblick, weil darin ein Toter lag. Das war genau der Augenblick zu lang. Ein Granatsplitter schmiss mich auf den Boden. Die rechte Schulter hat’s erwischt! Ich nahm das Gewehr von meinem Kameraden, der jetzt das Funkgerät zu tragen hatte, und rannte zurück durch die Büsche. In der Hand am schlaffen Arm hielt ich meine Pistole. Es war jetzt schon etwas dunkler geworden. Vor dem Wald brannte ein Heuhaufen und beleuchtete alles. Als ich so dachte, da könnte noch ein Russe im Gebüsch sein, stand der schon wirklich vor mir – mit erhobenen Händen! Ich drückte ab und der Soldat fiel in sich zusammen. Ich habe zu schnell reagiert! Habe ich ihn verwundet oder getötet? Ich weiß es nicht. Wie alt war er? Hatte er Frau und Kind? Ich weiß nichts von ihm. Nach einem kurzen Marsch kam ich in einem leeren Haus an und konnte auf einem Sofa schlafen. Es war die dunkelste und schrecklichste Nacht meines Lebens. Es war nicht der brennende Schmerz der Schulter, der mich nicht schlafen ließ. Es war der Schmerz des Bildes des Soldaten, der immer wieder aufstand, um gleich wieder in sich zusammenzufallen, und der auch später in vielen Nächten „auftauchte“! Und ich konnte doch nichts rückgängig machen. – Das war mein Krieg. Dieser verfluchte Krieg! In den Jahren danach hatte ich dieses außerordentliche Erlebnis „verdrängt“. Ich versuchte, nicht mehr dran zu denken. Doch auch über 60 Jahre danach „stand“ der Soldat immer wieder da und forderte mich auf zu bekennen, meine Schuld „herauszuarbeiten“. So reifte der Entschluss zu dieser Figur … Walter Back, geb. 1924: Mein Kriegseinsatz als Soldat. – „Meine Schuld!“ Foto: katkaak/sxc.hu Eine Erzählung Eine weitere Arbeit kam mir beim Schnitzen in den Sinn: „Die Vergebung“. Wie könnte ich „Vergebung“ darstellen? Ich zeichnete den gleichen Soldaten als Toten, der mir zur Vergebung beide Hände entgegenstreckt. Auch diese Figur werde ich bald fertig geschnitzt haben.n aus: Manfred Häußler/Albrecht Rieder, Schuldig sein – frei werden von Schuld. Materialien ab Jahrgangsstufe 7 [= Deutscher Katecheten-Verein e.V. (Hg.), Materialbrief RU – Sekundarstufe, 1-09, Praxisbeilage der Katechetischen Blätter 2-09]. München: Kösel 2009, S. 12-13 zum Thema | Ausgabe 2.2012 | Einsatzbelastung, Verantwortung und Schuld www.katholische-militaerseelsorge.de www.katholische-militaerseelsorge.de Im Einsatzland angekommen zum Thema | Ausgabe 2.2012 | Einsatzbelastung, Verantwortung und Schuld Einsatzsoldaten stehen vor großen Herausforderungen. Mit dem in der Vorbereitung Gelerntem, aber auch mit manchen privaten Sorgen „im Gepäck“ müssen sie sich in kürzester Zeit auf ganz neue Nicht einfach, mit allem Neuen zurechtzukommen Lebensumstände einlassen und sich auf militärische Einsätze einstellen. Von Manfred Suermann D ie Wochen der Einsatzvorbereitung lagen hinter ihm. Sie waren anstrengend. Mit was hatte er sich nicht alles auseinandersetzen müssen! Afghanistan, eine fremde Kultur, und dann der Islam. Mit Religion hatte er es ja bisher nicht so. Und dann die ganze militärische Vorbereitung. Seine Partnerin hatte er in dieser Zeit auch kaum gesehen, was allein schon schwer genug war. Der Kontakt zu seinen Freunden war mehr oder weniger ganz eingeschlafen, das setzte ihm zu. Ihm fehlte etwas. Aber jetzt war er seit ein paar Tagen angekommen. Die Welt zu Hause musste er jetzt hinter sich lassen, seine ganze Konzentration war jetzt hier erforderlich. Schnell stellte er fest, dass Handy und Internet bestens funktionierten, und so war er beruhigt, dass er problemlos Kontakt nach Hause halten konnte. Foto: Mie Ahmt/istockphoto.com 18 Vieles hatte man ihm erzählt über das fremde Land, die karge Landschaft, das ungewohnte Klima, die Armut der Bevölkerung, das Leben im Lager, mit den Kameraden Tag und Nacht auf engstem Raum zusammen, die ständige Gefahr. Aber das alles nun am eigenen Leib zu erleben und mit eigenen Augen zu sehen, war doch noch mal was anderes. Die Wirklichkeit sieht dann eben doch anders aus, als sich dies vorab in der sicheren heimischen Umgebung erahnen lässt. Fremd waren die Eindrücke, die den Weg in die Unterkünfte säumten: zerschossene Gebäude, Kriegsschrott, in öden Landschaften einfach stehen gelassen, in Lumpen gekleidete Kinder, die verloren am Straßenrand spielten. Und eines musste er schnell begreifen: Jeder beladene Esel, jedes am Straßenrand geparkte Fahrzeug, jeder abgestellte Kanister kann die Deponie für einen Sprengsatz sein. Die Bedrohung ist immer da, jede Minute, rund um die Uhr, jeden Tag. Es gilt, seinen eigenen Weg zu finden, die Konfrontation mit Entbehrung, Verwüstung, Gewalt, Verletzung und auch Tod zu bewältigen. Gleich bei seinem Eintreffen bekam er mit, dass erst zwei Tage zuvor eine Patrouille aus deutschen und afghanischen Soldaten angegriffen und in einen Schusswechsel verwickelt worden war. Ein afghanischer Soldat wurde dabei verletzt. Was aber für besonderen Gesprächsstoff sorgte, war die Tatsache, dass die afghanischen Soldaten flohen, während die deutschen Soldaten unter Einsatz ihres Lebens dem afghanischen Soldaten das Leben retteten. So bekam er gleich einen Vorgeschmack darauf, was auf ihn zukommen könnte; schließlich war er Zugführer. Wie würden wohl seine ihm unterstellten Soldaten mit solch einer Situation umgehen? Er spürte, wie die stete Gefahrenlage ihn langsam unter Stress setzte, und er lernte, mit der Angst als ständigem Begleiter zu leben. Seine tägliche Ausrüstung wies ihn darauf hin: Splitterschutzweste, Gefechtshelm, eine Waffe stets griff- und schussbereit. Er ahnte, dass es notwendig, ja überlebensnotwendig sei, eine Portion Angst zu haben, sonst könnte ihm Leichtsinn schnell zum Verhängnis werden. Dazwischen immer wieder Telefonate mit seiner Partnerin zu Hause. Nach und nach wurde ihm schmerzlich bewusst, dass sie alles, was sie unternahm, ohne ihn tat. Das verunsicherte ihn, machte ihm Angst. Spielte er in ihrem Leben überhaupt 19 zum Thema | Ausgabe 2.2012 | Einsatzbelastung, Verantwortung und Schuld www.katholische-militaerseelsorge.de Foto: GYI NSEA/istockphoto.com Freund oder Feind? Angreifer mischen sich gern unter die Zivilbevölkerung. noch eine Rolle? Andererseits, sie hatte beruflichen Stress und wollte seinen Rat. Das beruhigte ihn wiederum. „So ganz unwichtig bin ich also doch nicht für sie“, dachte er bei sich. Irgendwann bekam sein Zug den Auftrag „Minesweep“. Ein EOD-Trupp („Explosive Ordnance Disposal“ = Kampfmittelräumdienst) klärte zwei Kilometer vor Pol-e Khomri auf. Der Zug hatte den Auftrag, die Kräfte zu sichern. Plötzlich knallte es, die EOD-Kräfte gerieten unter Beschuss. Der MGSchütze, Hauptgefreiter Schulze, identifizierte durch seine Zieloptik drei Angreifer, die er sofort bekämpfte. Die Feuerstöße lagen gut im Ziel; er sah, wie zwei zusammenbrachen, einer sprang gerade noch in Deckung. – „Zum Glück“, sagte er sich nachher, „wurde keiner meiner Männer verletzt.“ Doch am Tag darauf bemerkte er, dass der MGSchütze ungewohnt und auffällig schweigsam in sich versunken war. Nach einigem Zögern sprach er ihn an und erfuhr, dass dieser sich mit Schuldgefühlen herumquälte. Für den Abend, nach Dienstschluss, verabredete er sich mit ihm zum Gespräch. Es wurde ein langes Gespräch. Von einem Kameraden erfuhr er, dass sich dessen Frau von ihm getrennt hatte und mit den Kindern aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen war. Ohn- mächtig hatte dieser es nur zur Kenntnis nehmen können. Bestürzt nahm er wahr, dass sich bei dem Kameraden in seine Trauer und Verzweiflung auch Wut über den Auslandseinsatz mischte. „Und wenn mir Gleiches widerfährt?“, schoss es ihm durch den Kopf. Es war ihm nicht wohl, als er wie verabredet am nächsten Tag das Handy in die Hand nahm. Aber schon nach den ersten Sätzen war er beruhigt. Er und seine Männer hatten reichlich zu tun. Langeweile? Fehlanzeige. Sie hatten sich, soweit es eben ging, gut eingelebt und an fast alles gewöhnt. Schließlich waren ja inzwischen auch etliche Wochen ins Land gegangen. Mehr als die Hälfte der Zeit war vorbei. Das Ende kam in Sichtweite. Eines Morgens erreichte sie ein neuer Auftrag: wieder mal Patrouillenfahrt zur Polizeistation im Distrikt. Kurz vor der Stadt kam der Trupp an den ersten Gehöften vorbei. Plötzlich knallte es. MG-Feuer! Unverzüglich befahl er: „Durchstoßen!“ Der Dingo beschleunigte, das Feuer wurde sofort erwidert. „Gut gemacht, Männer! Noch mal Glück gehabt“, sagte er, als sie wenig später ihr Ziel erreicht hatten und abgesessen waren. – Doch ein paar Stunden später erreichte sie die Nachricht, dass bei diesem Gefecht zwei Kinder getötet worden waren. Der Schock saß tief. Wie konnte das geschehen? Hatte die keiner gesehen? Oder war es etwa einem seiner Männer egal gewesen? Das konnte er sich nicht vorstellen. Kinder sind ja nun wirklich nicht schuld an diesem Krieg! Hatte er etwas falsch gemacht? Er wusste, dass sich die Angreifer gerne unter die Zivilbevölkerung mischen, weil sie wussten, dass sie da nicht angegriffen würden; aber war das hier auch der Fall gewesen? Jetzt war er es, der sich mit heftigen Schuldgefühlen herumschlug. „Ich hatte doch gar keine Zeit, die Lage zu sondieren“, versuchte er sich zu rechtfertigen. Aber das beruhigte ihn nicht. Und jeden Augenblick konnte er zwecks Berichterstattung zum Kommandeur gerufen werden. Er spürte, dass er jetzt ein Problem hatte, zumindest ein moralisches, vielleicht aber auch ein juristisches. Die Tage vergingen. Viel Zeit zum Nachdenken blieb nicht. Nur nachts lag er jetzt häufiger wach in seinem Bett und kam dann aus dem Grübeln kaum mehr heraus. Sein Kontingent rüstete sich zum Rückflug. Endlich! Seine Gedanken wanderten jetzt öfter wieder nach Hause. War dort alles beim Alten geblieben? Konnte alles so weitergehen wie bisher? War seine Partnerin noch „die Alte“? War er selber noch „der Alte“? Er war sich unsicher. Er hatte während des Einsatzes neue Freunde gewonnen, was bedeuteten ihm nun noch die alten? Als er schließlich in die Maschine stieg, mischte sich in seine Vorfreude auch ziemlich viel Skepsis.n Foto: Terry Moore/Stocktrek Images/gettyimages.com 20 www.katholische-militaerseelsorge.de Verantwortung im militärischen Einsatz zum Thema | Ausgabe 2.2012 | Einsatzbelastung, Verantwortung und Schuld „Führen nach Auftrag“ und das Problem der richtigen Entscheidung Auslandseinsätze bringen – besonders bei Kampfeinsätzen – nicht nur eine Gefährdung für Leib und Leben mit Von Manfred Suermann sich. Soldaten werden immer wieder V auch mit Extremsituationen konfron- erantwortung hat immer einen Bezug zu einer Lebenssituation bzw. zu einem oder mehreren Menschen. „Verantwortung ist immer konkret“, schrieb der Philosoph Karl Jaspers, „sie hat einen Namen, eine Adresse und eine Hausnummer.“ Verantwortung ist somit kein abstrakter Begriff. Sie hat vielmehr ein Gesicht. tiert, die von ihnen eine verantwortungsvolle Entscheidung* verlangen. Dem ursprünglichen Wortsinn nach verweist Verantwortung auf die Situation vor Gericht: Der Angeklagte wird hier zur Verantwortung gezogen, er muss Rechenschaft ablegen über sein Handeln, eine Straftat wie Diebstahl z. B., die er an einem anderen begangen hat. Und er ist angeklagt, weil das Gesetz Diebstahl verbietet und ahndet und weil gegen die moralische Norm „Du sollst nicht stehlen!“ verstoßen wurde. Foto: AFP/gettyimages.com Verantwortung ist also eine Beziehungsgröße. Zu fragen ist deshalb: Wer (= Täter) ist für was (= Tat) gegenüber wem (= Opfer oder Geschädigter) oder für wen (= z. B. Untergebener) vor welcher Instanz (= Gericht, Gewissen) im Blick auf welches Normensystem (= Gesetz, Moral) verantwortlich? Verantwortung hat also viele verschiedene Beziehungsebenen. Vor Gericht muss sich jemand für eine Tat bzw. für ein Handeln in der Vergangenheit verantworten. Da ist aber das Kind schon in den Brunnen gefallen – die Tat ist nicht mehr rückgängig zu machen. Das ist die eine Seite der Verantwortung. Die andere ist: Jemand soll sich in dieser oder jener Lebenssituation seiner Verantwortung stellen, verantwortlich handeln. Das betrifft die Gegenwart oder Zukunft. Und dies richtet sich vor allem an den Einsatzsoldaten. *siehe die Beispiele im Unterrichtsmaterial Das klingt alles sehr abstrakt, soll aber im Folgenden konkretisiert werden. Bereits in der langen Zeit einer Einsatzvorbereitung gilt es, Verantwortung zu erkennen und sie wahrzunehmen: Wer erledigt während meiner Abwesenheit meine Angelegenheiten? Braucht jemand meine Kontovollmacht? Was sollte ich mit den mir Nahestehenden regeln? Wer öffnet meine Post? Wem kann ich den Aufbewahrungsort meiner persönlichen Dokumente anvertrauen? Wer all dies ungeregelt lässt, kommt zwar nicht vor Gericht, um sich dort zu verantworten, aber verantwortliches Handeln schaut trotzdem anders aus. Im Einsatzland selber hat der Einzelne zunächst einmal eine Verantwortung für sich selber, indem er gut für sich zu sorgen lernt: Was hilft mir zu entspannen, das Gesehene und Erlebte zu verarbeiten? Welche Erwartungen habe ich an mich, mit der neuen Situation und den auf mich zukommenden Belastungen fertig zu werden, und erwarte ich von mir nicht zu viel? Tun mir Rückzugsorte gut, um auch mal allein zu sein, z. B. in der Kapelle der Militärseelsorge? Bringe ich den Mut auf, mich jemandem anzuvertrauen, wenn mir etwas über den Kopf wächst? Zur Verantwortung gehört aber auch, ein Auge für seine Kameraden zu haben, um zu erkennen, wenn jemand in Schwierigkeiten ist. Wohl jeder kennt den Spruch: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“ Oder man kann es auch positiv ausdrücken: „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden möchtest!“ Möchte man nicht, wenn es einem selber „dreckig“ geht, dass jemand für einen da ist? Wenn sich alle nach dieser „goldenen Regel“ richten würden, wäre vieles leichter. Besonders relevant wird Verantwortung bei Kampfhandlungen. Da muss mitunter in Sekundenschnelle entschieden werden, und das ist oft eine Entscheidung über Leben und Tod, nicht nur über das eigene Leben oder das Leben der untergebenen Soldaten, sondern auch der Angreifer oder gar unschuldiger Zivilisten. Ob Mannschaftsdienstgrad oder Zugführer, ob Kommandeur oder Hubschrauberpilot – jeder hat an seinem Platz eine je eigene Verantwortung, von der er sich nicht freimachen kann. Verantwortliches Handeln in militärischen Konfliktsituationen setzt Reflexionsvermögen voraus und orientiert sich an ethischen Standards. Zu diesen zählt z. B. die Pflicht, das Leben der untergebenen Soldaten nicht leichtsinnig aufs Spiel zu setzen, n die Pflicht, die Zivilbevölkerung in höchstmöglichem Maße zu schonen und keine „Unschuldigen“ zu töten, ●n die Pflicht, Gefangene nach den Maßstäben der Genfer Konvention zu behandeln und somit vor allem nicht zu töten, n die Pflicht, jeglichem Machtmissbrauch sowohl gegenüber Untergebenen wie auch gegenüber der Zivilbevölkerung oder gefangenen Kämpfern zu widerstehen. Diese Normen haben unmittelbare Auswirkungen auf bestimmte militärische Möglichkeiten. So würden z. B. Streubomben gegen sie verstoßen und sind somit verboten. n Konflikt- und Kampfsituationen, ob im Kosovo, Afghanistan oder anderswo, sind nicht immer gleich und fordern so immer wieder neu zu richtigem Entscheiden und verantwortlichem Handeln auf. Es bleibt dann nicht aus, dass manchmal auch falsch entschieden wird, sodass z. B. doch Unschuldige ums Leben kommen. Und dann steht die Frage nach der Schuld unmittelbar im Raum.n 23 zum Thema | Ausgabe 2.2012 | Einsatzbelastung, Verantwortung und Schuld www.katholische-militaerseelsorge.de www.katholische-militaerseelsorge.de zum Thema | Ausgabe 2.2012 | Einsatzbelastung, Verantwortung und Schuld Wenn ich die falsche Entscheidung getroffen habe Über das Risiko, im Einsatz schuldig zu werden Manchmal muss man – auch, aber nicht nur Von Manfred Suermann in Kampfeinsätzen – binnen Sekunden weitreichende Entscheidungenfällen. Wie schnell kann es da passieren – vielleicht aus Angst um das eigene Leben –, genau das Falsche zu tun? W ie schnell ein/e Soldat/in in Schuld – moralisch und manchmal sogar juristisch – geraten kann, soll an einem Beispiel verdeutlicht werden. Dem Zugang zum Lager Warehouse in Kabul nähert sich ein junger Afghane, der eine Handgranate hält. Der Posten auf dem danebenstehenden Wachturm bringt seine Waffe in Anschlag … Die Sachlage ist klar: Neben seinem Auftrag sieht der Wachsoldat sich auch einer ganz persönlichen Gefährdung gegenüber. Diese Gefährdung tritt in der Person eines Kindes auf ihn zu. Der Soldat stellt sich nun möglicherweise vor, dass Kinder – wie in anderen Fällen Frauen oder alte Leute – vorgeschickt werden, weil die Angreifer erwarten, dass dann nicht geschossen werde: Sie setzen also Menschen als Mittel zum Zweck ein, weil menschliches Leben bei ihnen weniger Wert hat, als es unseren Überzeugungen entspricht. Also bleibt der Soldat auf alles gefasst. Kinder schenken Vertrauen – und haben Anspruch auf Schutz. Foto: Marcel J. Mettelsiefen/gettyimages.com 24 … Der Posten gibt keinen Schuss ab. Es wird bald deutlich, dass die Handgranate gegen Lebensmittel eingetauscht werden soll. Der Posten verweigert dies, schließlich legt der Junge die Handgranate neben dem Lagerzugang ab und verschwindet. Die Handgranate wird später vom EOD-Trupp („Explosive Ordnance Disposal“ = Kampfmittelräumdienst) gesprengt. Noch mal Glück gehabt, möchte man sagen. Denn wie hätte sich die Situation wohl entwickelt, wenn der Soldat nicht die wirklichen Absichten des Jungen erkannt hätte oder – noch schlimmer – wenn der Junge die Handgra- nate ins Lager oder auf den Wachsoldaten geworfen hätte? Hätte der Wachsoldat geschossen, zuerst den Warnschuss, aber dann …? Schuld wächst dann, wenn ich jemandem etwas schulde oder etwas schuldig bleibe, etwas, was ihm zusteht, worauf er einen berechtigten Anspruch hat. Wachsoldaten schulden ihren Kameraden, die im Lager oder einer Kaserne leben, dass sie geschützt werden; zugleich haben Wachsoldaten für die Sicherheit des militärischen Bereiches einschließlich des Materials zu sorgen. Das schulden sie ihrem Dienstherrn. Der Wachsoldat in unserem Fall schuldet aber dem jungen Afghanen, dass er ihm sein Leben lässt, einfach weil er Mensch ist und einen berechtigten Anspruch auf sein Leben hat. Das gilt aber nicht absolut, wie folgendes Beispiel zeigt: Die zur Bewachung eines Lagers in Afghanistan eingesetzten Sicherungssoldaten haben den Auftrag, Eindringversuche in das Lager in Übereinstimmung mit den „rules of engagement“ notfalls unter Anwendung von Waffengewalt abzuwehren. In der Nacht versuchen zwei Afghanen, nahe dem Betriebsstoffdepot in das Lager einzudringen. Nach Abgabe von Warnschüssen zieht sich ein Afghane zurück. Der zweite Afghane setzt seinen Eindringversuch fort. Weitere Schüsse werden abgegeben, dabei wird der Afghane tödlich getroffen. In der Folge gibt es keine weiteren Eindringversuche in das Lager. Dem Wachsoldaten ist keine Schuld zuzuweisen. Das gilt es, objektiv festzuhalten. Er hat im Bewusstsein seiner hohen Verantwortung richtig gehandelt, ihm ist kein Vorwurf zu machen. Dennoch ist ein Mensch ums Leben gekommen, was trotz aller Objektivität Schuldgefühle hervorrufen kann. n 25 www.katholische-militaerseelsorge.de zum Thema | Ausgabe 2.2012 | Einsatzbelastung, Verantwortung und Schuld Es sind die kleinen Dinge, an die man sich klammert, wenn man das Gefühl hat, dass es zu Ende geht. Von Mike Zimmermann Alles wird gut! Foto: Mike Zimmermann F euer, Feuer, Feuer, Stellungen halten schnell gehen. So hatte ich es gelernt. Ist es doch und Feind vernichten. Alles wird gut.“ das, was von mir verlangt wird. Ist es doch das, Immer wieder gebe ich diesen Befehl. was in der Aufgabenbeschreibung eines KompaSage ihn persönlich oder gebe ihn per niechefs steht: seine Kompanie im Gefecht zu fühFunk weiter, damit alle Soldaten und ren. Wir befanden uns mittlerweile seit mehr als Führer wissen, dass ihr Kompaniechef zwei Stunden im Feuerkampf und es sollte mindesnoch da ist. Alle können mich nicht sehen, da wir tens noch einmal doppelt so lange gehen. Im auf einer Länge von über 500 Metern in einen Hinterhalt der Taliban geraten sind. „Ein Plan ist nur so lange gut, bis Aber die, die mich sehen können, schauen mich immer wieder an. Es sind diese Blicke, der erste Schuss fällt“ die einem sagen: „Wir vertrauen dir, wir folgen dir, aber bitte hol uns hier raus.“ Diese Blicke, „Wir vertrauen dir, wir folgen dir, diese Angst, diese Hoffnung und die- Nachhinein titelte die Bildzeitung, dass es das ser Mut meiner Männer und Frauen schwerste Feuergefecht seit Monaten war. Kaufen aber bitte hol uns hier raus“ zeigen mir, dass ich bei klarem Ver- kann man sich davon nichts. Lag es doch an mir, stand sein muss, um die richtigen dies eigentlich zu verhindern. Hatte ich doch wie Entscheidungen zu treffen. Nur, was immer alles versucht, vorauszuplanen, jede Kleiist richtig? Was ist gut oder schlecht? nigkeit einzuberechnen, jede Individualität zu Sollen wir weiter verteidigen? Sollen wir angreifen berücksichtigen, hatte meine Spezialisten befragt, oder sollen wir, sobald die Lage es wieder hergibt, ob das so funktionieren könnte, ob sie Ideen hätten oder Anmerkungen, meine Männer eingewieso schnell wie möglich ausweichen? sen und wieder gefragt, ob das so ginge. Heute Gedanken, Nachdenken, Funken, Mut machen, weiß ich: Man könnte Wochen damit verbringen Hoffnung geben und immer wieder Nachdenken und es würde doch alles anders kommen. – dies beschäftigt mich pausenlos. Ich gebe an diesem Tag, so wie während meines ganzen Ein- Wie heißt es doch so schön: „Ein Plan ist nur so satzes, nicht einen Schuss mit meinem Gewehr ab, lange gut, bis der erste Schuss fällt“, aber ich aber ich führe, koordiniere, plane, organisiere, wollte das Bestmögliche für meine Männer tun. melde und funke von links nach rechts und von Ich bin kein Heißsporn, kein Rambotyp, welcher oben nach unten. Alles muss gleichzeitig und nach Ruhm, Ehre und Orden strebt. Ich bin Famili- 27 www.katholische-militaerseelsorge.de www.katholische-militaerseelsorge.de Unter dem Schutz des Heiligen Christophorus wissen gläubige Sodatinnen und Soldaten sich durch alle Untiefen ihres Einsatzes getragen. Wer motiviert eigentlich den Motivator? Ich liege mittlerweile hinter meinen vorderen Fahrzeugreifen, um etwas Deckung zu bekommen. Ins Fahrzeug hinein komme ich schon seit Stunden nicht, da dieses ununterbrochen beschossen wird. Also lasse ich mir die beiden Funkgeräte durch die Fahrertür nach unten reichen und da ist plötzlich diese Meldung: „Delta 1, Munition bei 80 Prozent und ein Verwundeter.“ „Scheiße“, sage ich zu meinem Funker, welcher seit Beginn des Feuergefechtes nicht von meiner Seite gewichen ist und pausenlos das Feuer des Feindes erwidert. Ich frage nach, wer der Verwundete sei, welche Verletzung er habe und wie wir ihn bergen könnten. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie der Doc bereits alles vorbereitet. Ich frage beim Zugführer nach, aber auch dieser weiß noch nicht so genau, was passiert ist. Chaos macht sich langsam in meinem Kopf breit, und dann kommt dieser erlösende Funkspruch: „Delta 1, Munition bei 80 Prozent, keine Verwundeten, ich wiederhole, keine Verwundeten.“ Ich schaue zum Himmel und sage: „Danke.“ Seit diesem Tag meldeten alle nur noch den Verbrauch der Munition und dabei sollte es auch bleiben. Ich habe alle Soldaten mit nach Hause gebracht. Wir hatten keine Verwundeten oder Gefallenen. Nur leider ist nicht jeder so zurückgekehrt, wie er nach Afghanistan gegangen ist. Wir haben alle etwas von uns da gelassen und einige kämpfen heute noch damit. Wir sind alt geworden. Ich bin mit 21-jährigen Jungs in den Krieg gegangen und mit 21-jährigen Männern nach Hause gekommen. Viele sind zu schnell gealtert. Die Kompanie befindet sich immer noch im Hinterhalt und der Feind greift mittlerweile von allen Seiten an. Dabei ist dieser zeitweise – unerkennbar, weil gut gedeckt – schon bis auf drei Meter an uns herangekommen und schießt mit allem, was er hat. Erst versucht er es mit uns!“ Gewehrschüssen und Panzerfäusten und am Ende schlägt 15 Meter hinter uns noch eine BM-1-Rakete ein. Pausenlos werden wir beschossen und endlos scheint die Munition des Feindes zu sein. Endlos sind auch meine Gedanken an diesem Tag und noch lange danach, stellenweise auch heute noch. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich doch in fünf Tagen Geburtstag habe und dass ich Angst habe zu sterben. Aber es ist nur ein kurzer Augenblick. Ich habe keine Zeit, jetzt über so etwas nachzudenken. Was sollte es auch nützen. Ich schaue wieder in den Himmel, sage nur noch „Hilf uns!“ und mache weiter, im Vertrauen darauf, dass alles gut werden wird. zweier gezielter 500-Pfund-Bomben, welche wir zwischen uns und dem Feind zum Einsatz gebracht haben, ausweichen. Ein liegen gebliebenes Fahrzeug haben wir ebenfalls durch solch eine Bombe zerstören müssen. Kurze Zeit danach stehen wir schon wieder im Feuerkampf. Der Feind hatte einen Folgehinterhalt angelegt und irgendwie scheint es, als gehe dieser Tag nicht zu Ende. Er sollte uns weit mehr als 16 Stunden mit Feuerkämpfen, Hinterhalten und Suchen nach IED (Improvised Explosive Device = unkonventionelle Spreg- und Brandvorrichtung) beschäftigen, aber auch danach ist für die meisten dieser Tag noch nicht beendet. Einige durchleben oder denken immer noch an diese Stunden. Viele feiern ihren 1200 Meter ostwärts von uns, am anderen Flussufer. Aus dieser Stellung konnte uns der Feind auch komplett einsehen und jede Bewegung an die anderen Gruppen melden. Mit dem Mörser wollte ich auf die feindliche Stellung schießen, um mich vom Feind lösen zu können. Plötzlich meldet der Beobachtungsoffizier, welcher sich auf der anderen Seite des Flusses auf einem Hügel befindet, dass sich Frauen und Kinder in der Nähe der Kämpfer aufhielten. Ich frage ihn, ob er genau einsehen könne, ob sie sich aktiv beteiligten oder vom Feind benutzt würden, damit wir nicht auf ihn schössen. Beides war uns seit Längerem bekannt und der Feind kannte unsere Einsatzgrundsätze. Doch er kann es nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen und so entschließe ich mich, erst einmal nicht zu feuern. Ich blicke in die Gesichter meiner Männer, welche mich fragend ansehen ... „Warum nicht, Herr Hauptmann, sollen lieber wir sterben?“ Ich versuche ihnen zu versichern, dass ich alles tun werde, was in meiner Macht stünde, uns alle Es war nicht das erste Feuergefecht, in dem wir lebend hier rauszubekommen, dass aber auch standen. Meine Kompanie hatte sich schon in den andere dieses Recht hätten. Das Recht zu leben. Auch wenn ich unterschiedlichsstellenweise selbst ten Regionen und nicht mehr daran Situationen „Warum nicht, Herr Hauptmann, geglaubt habe, bewährt. Es war sollen lieber wir sterben?“ aber sie verstehen auch nicht das es, auch wenn es längste oder hefihnen anfangs tigste Feuergefecht in unserem Zeitraum.Es waren dieser Wille schwerfällt. Sollte ich also Frauen und Kinder schütdes Feindes und diese ausweglose Situation, die zen und meine Männer opfern oder sollte ich Frauen dieses Gefecht für mich an diesem Tag so einzig- und Kinder opfern, um meine Männer zu schützen? artig machten. Wir konnten nach einiger Zeit die Hätte ich an diesem Tage gewusst, dass ich fast Hauptkampfstellung des Feindes ausmachen und genau auf den Tag einen Monat später in meinem ich ließ den Mörser grob in diese Richtung die Fahrzeug angesprengt werden würde, und zwar verBodenplatte festschießen, sodass ich schnellst- mutlich von genau denselben Männern, die uns an möglich reagieren konnte. Kurze Zeit darauf sah diesem Tag beschossen, dann hätte ich wahrscheinich auch schon die Leucht- und Rauchsignale am lich nicht gezögert. Aber wir sind, was wir sind, und Himmel und ich wusste, dass der Mörser nun treffen unsere Entscheidungen, ohne zu wissen, was bereit sein musste. Die Stellung lag circa 900 bis die Zukunft bringen wird. Später können wir mithilfe Fotos: Mike Zimmermann; Herbert Orth/TIME & LIFE Images/gettyimages.com envater und habe Verantwortung und diese ist stellenweise so groß, dass keiner es sich vorstellen kann, was dies heißt. Verantwortung ist unteilbar. Ich will sie gar nicht teilen. Nur macht Verantwortung auch einsam und die Luft wird stellenweise sehr dünn. Wer motiviert eigentlich den Motivator? Wohin kann er gehen? Woher „Hilf bekommt er seine Kraft? zum Thema | Ausgabe 2.2012 | Einsatzbelastung, Verantwortung und Schuld zweiten Geburtstag an diesem Tag oder haben sich das Datum auf den Körper tätowiert, um daran erinnert zu werden, dass das Leben kostbar ist und man keine Sekunde verschenken sollte, da es schneller zu Ende sein kann, als man denkt. Kurze Zeit später hielt der Pfarrer einen Feldgottesdienst extra für uns ab und fast alle Soldaten, welche an diesem Feuergefecht beteiligt gewesen waren, nahmen daran teil und nahmen sich am Ende eine Christophorusplakette mit. Einer meiner Soldaten sagte an diesem Abend: „Es sind die kleinen Dinge, an die man sich klammert, wenn man das Gefühl hat, dass es zu Ende geht“, und steckte sich gleich zwei Plaketten ein. Eine in die linke und eine in die rechte Hosentasche; er sollte sie bis Einsatzende immer dabeihaben. Genau deshalb bin ich stolz auf meine Männer. Auch wenn sie kurzzeitig Groll hegten und sich am liebsten das eine oder andere Mal rächen wollten, kamen sie nach einer langen ruhigen Nacht und vielen Gesprächen am Tage darauf immer wieder zu derselben Erkenntnis, dass man Gleiches nicht mit Gleichem vergelten soll und dass man nach vorne blicken muss. Auch ich habe meine Plakette noch und gerade heute erscheint sie mir wichtiger denn je. Erinnert sie mich doch an diesen Tag und daran, dass das Leben endlich ist. „Alles wird gut“, sagte ich immer zu meinen Männern und Frauen, bevor wir aus dem Lager fuhren, und am Ende sollte tatsächlich alles gut werden.n 29 zum Thema | Ausgabe 2.2012 | Einsatzbelastung, Verantwortung und Schuld | Unterrichtsmaterial www.katholische-militaerseelsorge.de Materialteil zum Lebenskundlichen Unterricht zum Thema, Ausgabe 2.2012 Einsatzbelastung, Verantwortung und Schuld 31 Gewissenskonflikt und goldene Regel Kerstin (21) ist schwanger. Ihr Freund, der Bundeswehrsoldat ist und vor einem Auslandseinsatz steht, reagiert entsetzt, als sie es ihm sagt. Er versucht, ihr die Schuld zuzuschieben und sich aus der Affäre zu ziehen. Eine Freundin spricht aus, was viele andere denken: „Das lässt du doch wegmachen. Ist doch heute kein Problem mehr.“ Kerstin denkt an ihre berufliche Situation und fragt sich, ob und wie sie ihre Ausbildung abschließen kann. Sie denkt an ihren Freund, der nicht Vater sein will. Sie denkt an ihre Eltern, die zwar verständnisvoll sind, aber voraussichtlich durch das Kind zeitlich und finanziell sehr beansprucht werden. Sie denkt an ihre Freundinnen und Bekannten, die viel mehr Freiheit haben werden als sie selbst. Und immer wieder denkt sie an das Kind. Dann sagt sie: „Nein, ich kann das nicht tun, was so viele erwarten. Ich hätte nie mehr ein reines Gewissen. Ich behalte mein Kind.“ Die sogenannte goldene Regel besagt: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“ Pflichtenkollision (Pflicht gegen Pflicht): Risikoabwägung Die deutsche Besatzung eines in Afghanistan eingesetzten Hubschraubers erhält den Auftrag, zwei schwer verletzte deutsche Soldaten in der Nähe von Kunduz auszufliegen. Kurz nach der Landung gelingt es noch, den ersten Verletzten an Bord der Maschine zu nehmen, aber die Bergung des zweiten deutschen Soldaten gerät in Schwierigkeiten und verzögert sich. In der Zwischenzeit wird die Maschine von einer aggressiven und teilweise bewaffneten Menschenmenge massiv bedroht; der Hubschrauber wird zunächst mit Steinen beworfen und zusehends beschädigt. Vor dem Hintergrund dieser Situation ist es unausweichlich, dass der Luftfahrzeugführer eine Entscheidung trifft: Entweder Oder positiv ausgedrückt: „Behandle andere so, wie du selber behandelt werden möchtest!“ Was könnte diese Regel für jede einzelne Person in diesem Beispiel bedeuten? er gibt sofort den Befehl zum Starten, um so der Gefahr zu entgehen, dass der Hubschrauber flugunfähig wird. Dies bedeutet, dass der zweite deutsche Soldat zurückgelassen werden müsste. Oder soll unter Inkaufnahme des Risikos für die Flugsicherheit und die Sicherheit der Besatzung noch gewartet werden? Es besteht die nicht unbegründete Gefahr, dass dabei letztlich alle Insassen ums Leben kommen könnten. Der Luftfahrzeugführer muss eine Entscheidung treffen. Was hat er zu bedenken? Wie leicht oder wie schwer wird ihm die Entscheidung fallen? für die junge Frau: für den Bundeswehrsoldaten: für die Freundin: Notieren Sie einige Aspekte, die der Flugfahrzeugführer bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen haben wird: für die Eltern der jungen Frau: für eine weitere wichtige Bezugsperson, auch wenn sie in diesem Beispiel nicht genannt ist: Unterrichtsmaterial 2.2012 30 zum Thema | Ausgabe 2.2012 | Einsatzbelastung, Verantwortung und Schuld | Unterrichtsmaterial www.katholische-militaerseelsorge.de 33 Wer ist schuld? Tom ist 26. Er steht vor Gericht, weil er ein Mädchen schlimm verprügelt hat. Tom ist nicht zum ersten Mal hier. Er hat schon als Jugendlicher Autos geknackt und gestohlen. Im Viertel ist er bekannt für seine Straftaten. Tom ist bei seiner Mutter aufgewachsen. Seinen Vater kennt er nicht. Seine Mutter trinkt viel zu viel Alkohol. Sie ist oft aggressiv und schreit herum. Sie konnte nicht gut für Tom sorgen. Bei der Gerichtsverhandlung sagt Toms Verteidiger deshalb: „Tom soll nicht allzu hart bestraft werden. Denn er hatte ein schlechtes Elternhaus.“ Damit meint er: Tom ist nicht zufällig so, wie er ist. Seine Eltern haben ihn vernachlässigt. Deshalb konnte er sich nicht gut entwickeln. Der Staatsanwalt ist anderer Meinung. Er sagt: „Tom hatte zwar eine schwere Kindheit. Aber jetzt ist er kein Kind mehr. Irgendwann ist jeder selbst für sein Handeln verantwortlich. Seine Mutter hat zwar nicht gut für ihn gesorgt. Aber sie ist nicht schuld daran, dass Tom das Mädchen verprügelt hat.“ Auf Unbeteiligte geschossen …? Während eines Gefechts haben sich Angreifer hinter einer Lehmwand (Hauswand) verschanzt. Die angegriffenen Soldaten richten die Kanone eines „Marder“ auf die Wand, schießen und zerstören diese. Später fragen sie sich: Was aber ist, wenn sich hinter der Häuserwand vielleicht auch Unbeteiligte aufgehalten haben? In der Tat: Was ist, wenn sich später herausstellen sollte, dass sich tatsächlich auch Unbeteiligte dort aufgehalten haben? Wie ist das Verhalten der Soldaten zu bewerten? aus: Julia Knop, Die großen Fragen der Menschen. Ethik für Kinder, Freiburg: Herder 2009, S. 17 f. Was denken Sie: Ist Tom schuldig? Ist er für sein Handeln verantwortlich? Hätte er das Mädchen auch in Ruhe lassen können? Ein Militärseelsorger berichtet Beispiele aus dem militärischen Alltag im Auslandseinsatz „Ich habe einen Angreifer getötet.“ Nach einem Gefecht bittet ein Soldat den Militärseelsorger um ein Gespräch und erzählt, dass er heute auf einen Angreifer geschossen und ihn auch getroffen habe; er vermute, dass dieser tot sei. Jetzt plage ihn aber kein schlechtes Gewissen, wie er es eigentlich erwartet hätte. Und er fragt den Seelsorger: „Stimmt da etwas nicht mit mir?“ Was mag der Soldat mit seiner Frage meinen? Einer der ersten Auslandseinsätze führte die Bundeswehr nach Kambodscha. Sie baute dort im Auftrag der UNO ein Feldhospital auf, das allein für verletzte UN-Soldaten zuständig sein sollte, und stellte das Sanitätspersonal. Ein Militärseelsorger begleitete die Truppe. Auf der Intensivstation dieses UN-Feldhospitals mussten mitunter Entscheidungen über Leben und Tod getroffen werden. Einheimische Patienten, die dort aus humanitären Gründen behandelt wurden, aber eigentlich gar nicht hätten aufgenommen werden dürfen, mussten im Einzelfall von Intensivmaßnahmen getrennt werden, wenn ein verletzter oder verwundeter UN-Soldat ein- geliefert wurde, der den Intensivplatz zum eigenen Überleben benötigte. Die Entscheidung darüber, welcher Einheimische die geringste Lebenserwartung hatte und deshalb den Intensivplatz räumen sollte, wurde von einem Ärztekollegium getroffen – auf Bitten der Ärzte unter Beteiligung des vor Ort anwesenden Militärgeistlichen. Diese endgültigen Entscheidungen zu treffen war nicht nur für die betroffenen Ärzte eine hohe Belastung, die Mitverantwortung stellte auch für den Militärseelsorger eine schwere Bürde dar. Und die Frage nach der Schuld bewegt ihn bis heute. Unterrichtsmaterial 2.2012 32 zum Thema | Ausgabe 2.2012 | Einsatzbelastung, Verantwortung und Schuld | Unterrichtsmaterial www.katholische-militaerseelsorge.de Kameradenhilfe „Hätte ich ihn erschießen sollen?“ Ein Soldat der Bundeswehr war in Afghanistan mit afghanischen Kameraden auf Patrouille unterwegs. Unerwartet und unvorhersehbar sahen sie sich plötzlich einem Angriff gegenüber. Einer der afghanischen Soldaten wurde schwer verwundet, daraufhin flüchteten die übrigen. Der deutsche Soldat aber blieb und rettete unter Einsatz seines Lebens dem afghanischen Kameraden das Leben. An einem Checkpoint an der Grenze zwischen dem Kosovo und Mazedonien haben ein deutscher und ein mazedonischer Soldat Dienst. Eines Tages geschah es, dass ein privater Pkw vom Kosovo aus auf die Grenze zufuhr. Die Vermutung lag nahe, dass es Kosovaren waren, die nach Mazedonien fliehen wollten. Und während die beiden Soldaten das Auto auf sich zufahren sahen, erhob plötzlich der mazedonische Soldat seine Maschinenpistole und schoss auf das Auto. Nach einer Schrecksekunde, weil darauf nicht vorbereitet, schlug der deutsche Soldat den Mazedonier nieder, lief zum Auto und sah, dass sich darin eine Familie mit zwei kleineren Kindern befand. Eines der beiden Kinder lebte noch, während die anderen Insassen tot waren. Schnell holte er ärztliche Hilfe, aber das Kind erlag dann doch später seinen Verletzungen. Der mazedonische Soldat wurde zunächst festgenommen. Doch der zuständige Oberst musste dem deutschen Soldaten klarmachen, dass man den mazedonischen Soldaten nicht gefangen halten dürfe. Ihn vor ein Gericht zu bringen, sei Aufgabe der mazedonischen Armee. Ihr übergab man den Gefangenen, doch sie ließ ihn sofort frei. Kosovo-Albaner waren in den Augen von Mazedoniern „Untermenschen“, sie umzubringen wurde nicht als Verbrechen angesehen. – Für den deutschen Soldaten ist dieses Erlebnis bis heute ein Trauma und er fragt sich, ob er nicht seine Pistole hätte ziehen und seinen mazedonischen Kameraden erschießen sollen. Hätte man dem deutschen Soldaten einen Vorwurf machen können, wenn er mit den afghanischen Soldaten geflohen wäre? Wenn Sie meinen, ja: Unter welchen Voraussetzungen hätte man ihm eventuell keinen Vorwurf machen können? Wenn Kinder sterben … In einem Schulgebäude in einem afghanischen Dorf befinden sich Kinder. ISAF-Soldaten versuchen, den Kindern die Angst vor ihnen zu nehmen und Kontakt aufzubauen. Die Kinder trauen sich heraus, nehmen die Süßigkeiten an, die die Soldaten ihnen anbieten. Von Weitem beobachtet eine andere Einheit das Geschehen rund um das Schulgebäude. Es nähern sich Menschen mit weißen Fahnen, vorgeblich friedliche Zivilisten. In Wahrheit handelt es sich jedoch um Terroristen, im Schulgebäude haben sie ihre Waffen versteckt. Der Oberst trifft die Entscheidung schnell, das Gebäude zu beschießen. Alle Kinder sterben. Kann man dem deutschen Soldaten einen Vorwurf machen und, wenn ja, mit welcher Begründung? Eine Verantwortungsethik fordert, auch nach den absehbaren zukünftigen Folgen eines Tuns oder Unterlassens zu fragen und diese im Urteil mitzuberücksichtigen. Wie ist im Hinblick darauf die Entscheidung des Obersts zu bewerten? Wie sind folgende zwei Szenarien zu beurteilen? 1. Der deutsche Soldat erschießt den mazedonischen Soldaten, bevor dieser auf das Fahrzeug schießen kann. 2. Der deutsche Soldat schafft es nicht, so schnell seine Pistole zu ziehen, und erschießt den mazedonischen Soldaten, während dieser auf das Fahrzeug schießt. 35 Unterrichtsmaterial 1.2012 34 SUDOKU So geht's: Füllen Sie die leeren Felder des Sudokus mit Zahlen. Dabei müssen in jeder Zeile, in jeder Spalte und in jedem der quadratischen Neuner-Blocks aus 3 x 3 Kästchen alle Zahlen von 1 bis 9 stehen. Keine Zahl darf also in einer Zeile, einer Spalte oder einem Block doppelt vorkommen. Viel Spaß beim Lösen! Impressum zum Thema – Themenmagazin für Soldatinnen und Soldaten zum Lebenskundlichen Unterricht Herausgeber Katholisches Militärbischofsamt Am Weidendamm 2 D-10117 Berlin Fon: (030) 20617-0 Fax: (030) 20617-199 Internet: www.katholischemilitaerseelsorge.de E-Mail: [email protected] Verlag J.P. 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