Einsatzbelastung, Verantwortung und Schuld

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Einsatzbelastung, Verantwortung und Schuld
zum
Thema
Magazin zum Lebenskundlichen Unterricht
Ausgabe 2.2012
Wenn ich die falsche
Entscheidung getroffen habe
Über das Risiko,
im Einsatz schuldig
zu werden
Alles wird gut!
Wenn man das Gefühl hat,
es geht zu Ende
Schuld kann
jeden treffen
Die Rolle der Schuld
im menschlichen
Leben
Im Einsatzland
angekommen
Einsatzbelastung,
Verantwortung
und
Schuld
„Jetzt steht er fest – mein Einsatztermin“
www.katholische-militaerseelsorge.de
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zum Thema | Ausgabe 2.2012 | Einsatzbelastung, Verantwortung und Schuld
zum
Thema
6
Themenmagazin für Soldatinnen und Soldaten
zum Lebenskundlichen Unterricht
Ausgabe 2.2012
Liebe Leserinnen,
liebe Leser!
Auslandseinsätze bringen – wem erzähle ich das? – hohe Belastungen mit
sich. In der Vorbereitungszeit sind diese wohl vor allem seelischer Art. Wer
macht sich da nicht Sorgen um seine Partnerschaft oder Ehe? Wer fragt sich
nicht, ob nach dem Einsatz wohl noch alles so sein wird wie vorher oder ob
die Kinder die lange Abwesenheit wohl ohne negative Auswirkungen
überstehen werden? Und wer fragt sich nicht zuletzt, ob er/sie wohl heil
wieder heimkehren wird?
Im Ausland schließlich kommen dann weitere psychische Belastungen hinzu,
z. B. durch die Erfahrung ständiger Bedrohung, durch das Erleben von Armut,
Leid und Not, durch die spezifischen Bedingungen des Lagerlebens oder
durch die Anspannung und auch Angst in Kampfsituationen. Manche Erlebnisse sind so extrem belastend, dass sie den Einzelnen auch überfordern
können; posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) sind dann die Folge.
Aber auch physische Belastungen, vor allem in Afghanistan, müssen bewältigt werden, so z. B. die Umstellung auf ein anderes Klima, auf die Hitze, den
Staub und anderes mehr. Als wäre das nicht alles schon genug, bringen Auslandseinsätze auch noch moralische Belastungen mit sich. Menschen – in
welcher Situation auch immer – zu töten, wirft immer moralische Fragen auf:
Darf ich das bzw. habe ich das gedurft? War es gerechtfertigt oder hätte es
auch eine Alternative gegeben? Darf ich als Vorgesetzte/r den Befehl dazu
geben und, wenn ja, unter welchen Bedingungen? Welchen Befehlen ist
Folge zu leisten – und welchen unter keinen Umständen?
Allein um diese moralischen Belastungen soll es in diesem Heft gehen. Es will
sensibilisieren und zum Nachdenken anregen, indem es den Zusammenhang
aufzeigt von militärischem Handeln, verantwortlichem Entscheiden und möglichem schuldhaftem Verhalten. Damit verbinden sich die Hoffnung und der
Wunsch, dass Sie als Soldat/Soldatin – in welcher Funktion auch immer –
stets in der Lage sein mögen, verantwortungsbewusst zu handeln und
schuldhaftes Versagen zu vermeiden.
Ihr Manfred Suermann
4
„Jetzt steht er fest – mein Einsatztermin“
Der bevorstehende Einsatz wirft seine Schatten voraus
6
Mein Partner muss in den Einsatz
Betroffene erzählen
8
Verantwortung – was ist das?
Nachdenken über einen häufig gebrauchten,
nicht immer gelebten Begriff
10
Schuld kann jeden treffen
Über die Rolle der Schuld im menschlichen Leben
8
14 Viele Fragen – schwere Entscheidungen
Verantwortung zu tragen kann ganz schön schwer sein
16
Eine Erzählung
Walter Back: Mein Kriegseinsatz als Soldat. – „Meine Schuld!“
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Im Einsatzland angekommen
Nicht einfach, mit allem Neuen zurechtzukommen
22 Verantwortung im militärischen Einsatz
„Führen nach Auftrag“ und das Problem
der richtigen Entscheidung
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Wenn ich die falsche Entscheidung getroffen habe
Über das Risiko, im Einsatz schuldig zu werden
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Alles wird gut!
Wenn man das Gefühl hat, es geht zu Ende
22
30 Unterrichtsmaterial
36 Sudoku, Vorschau, Impressum
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Fotos: Herbert Orth/TIME & LIFE Images/gettyimages.com; AFP/gettyimages.com; Alain Jocard/gettyimages.com; glendali/sxc.hu
Auslandseinsätze bringen
hohe Belastungen mit sich
Foto: Mike Zimmermann; Titelfoto: Lucie Holloway/istockphoto.com
2 Editorial
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zum Thema | Ausgabe 2.2012 | Einsatzbelastung, Verantwortung und Schuld
„Jetzt steht er
fest – mein
Einsatztermin“
Der bevorstehende Einsatz
wirft seine Schatten voraus
Von Manfred Suermann
E
igentlich war es absehbar“, dachte er bei sich, „alle Anzeichen
hatten dafür gesprochen und es war ja auch in meiner Einheit
deutlich genug angekündigt worden.“ Nur einen Termin für den
Auslandseinsatz hatte es noch nicht gegeben. Und so hatte er
das Ganze nicht recht wahrhaben wollen, den Gedanken verdrängt. Auch mit seiner langjährigen Freundin hatte er nur einmal kurz darüber gesprochen, dass da was auf sie zukommen könnte; aber
dann hatten sie das Thema einfach totgeschwiegen. Hatten sie beide Angst davor,
weil sie nicht wussten, wie sie damit umgehen sollten? Doch jetzt war die Sache
auf dem Tisch: der Einsatz des nächsten Kontingents – und er war dabei. Jetzt half
nichts mehr, kein Kopf-in-den-Sand-Stecken, kein Davonlaufen. Jetzt musste er
der Realität ins Auge sehen, und seine Freundin mit ihm. „Was kommt da auf uns
zu? Wie wollen wir das bewältigen? Wird die Beziehung halten?“ Solcherlei Fragen schossen ihm durch den Kopf. Er musste an seinen Kameraden denken, der
verheiratet war, Familie hatte. Und obwohl er bei sich dachte, dass ein Auslandseinsatz für Frau und Kinder auch nicht leicht sein dürfte, beneidete er ihn
fast ein wenig: „Bieten Ehe und Familie nicht doch eine größere Sicherheit?“,
fragte er sich.
Für die einen ist es fast schon Routine, weil
sie zum wiederholten Male in den Einsatz
gehen. Für andere aber ist es das erste
Mal. Da gilt es, sich mit vielem auseinanderzusetzen, Absprachen zu treffen, Entdenen, die einem am nächsten stehen,
vorzubereiten und sich mit seinen Ängsten
und Sorgen zu beschäftigen. Für manchen
beginnt hier bereits die Einsatzbelastung.
Foto: Cultura/Spark Photographic/gettyimages.com
scheidungen zu fällen, den Abschied von
Mit der Zeit kam er mit vielen Kameraden ins Gespräch, fast alle trieben die
gleichen Gedanken und Sorgen um. Und man kann gar nicht sagen, was überwog: die Unsicherheit, was sie wohl da im Ausland erwarten würde, das mulmige
Gefühl bei der Vorstellung, in militärische Auseinandersetzungen zu geraten, oder
doch eher die Sorge um das Persönliche, dass man nach der Rückkehr vor dem
Nichts stehen könnte, weil Beziehungen doch nicht gehalten haben, die Liebe
nicht stark genug war. Es war ihm nicht verborgen geblieben, dass alles möglich
war, schließlich kannte er einige, die bereits im Auslandseinsatz gewesen waren,
manche sogar mehrmals. Einer von ihnen, mit dem er sich ganz gut verstand und
mit dem er auch schon mal außerhalb des Dienstes etwas unternahm, sagte ihm
ganz deutlich: „Da kommt jetzt eine Verantwortung auf dich zu, da hilft kein
Weglaufen! Und ich meine jetzt nicht deine Verantwortung als Soldat im Ausland,
sondern gegenüber den Menschen, die hier sind, die dir was bedeuten, die du
liebst und nicht verlieren willst …“ Das waren klare Worte für ihn. Und je mehr
er sich mit der Zeit in Gedanken auf das Bevorstehende einließ, desto stärker
wurde sein Gefühl dafür, was Verantwortung heißen könnte. In diesem Zusammenhang fiel ihm ein, was ihm ein schon einsatzerfahrener Soldat mal erzählt
hatte: Ein junger Hauptmann habe sich für die Zeit seines Auslandseinsatzes
eine „Zweitfrau“ gemietet und mit ihr – außerhalb des Camps – in einer eheähnlichen Beziehung in einer angemieteten Wohnung gelebt; zu Hause habe
der Soldat Frau und Kinder gehabt. – Damals schon hatte er verstanden, dass
so ein Auslandseinsatz offensichtlich auch mit „Angeboten“ verbunden sein
kann, die ganz schön in Versuchung führen können – und wo man sich dann
entscheiden muss. Es lag zwar schon eine Zeit lang zurück, aber er erinnerte
sich plötzlich ganz genau daran, was in seiner Einheit die Runde machte: dass
die Frau eines Kameraden ausgezogen war, mit Sack und Pack, mit dem Kind
und allem, was ihr gehörte, weil sie erfahren hatte, dass ihr Mann im Ausland
mit einer Kameradin was angefangen hatte. „So kann’s gehen“, dachte er
damals, „aber natürlich nicht bei mir“, da war er sich sicher. Doch jetzt, wo sein
Einsatz bevorstand, fing er an zu grübeln, was er tun könne, damit ihm nicht
Gleiches widerfahren würde.
Und obwohl es ihm mehr als schwerfiel, begann er, sich sehr selbstkritisch zu
prüfen und zu fragen, wie viel ihm an seiner Freundin lag, wie tief seine Gefühle
für sie waren und wie viel Liebe er für sie empfand. Und er forderte auch seine
Freundin auf, Gleiches zu tun. Schließlich wollten sie ehrlich zueinander sein
und sich keinen Illusionen hingeben. Denn in ihm war die Überzeugung
gewachsen, dass ihre Beziehung nur dann eine Chance haben würde, wenn sie
sich jetzt klarmachten, was sie einander bedeuteten. Erst wenn sie hier Sicherheit hätten, so ahnte er, könnten sie sich daranmachen, zu überlegen, wie sie
Versuchungen widerstehen und die lange Zeit gut überbrücken könnten.
Doch während er das Glück hatte, mit seiner Freundin in ein wirklich gutes
Gespräch zu kommen, stellte er fest, dass sich bei manchen Kameraden –
selbst bei jenen, die schon länger verheiratet waren – nicht unerhebliche
Probleme auftaten. „Offenbar“, so dachte er bei sich, „hat hier die
Gewohnheit die Beziehung alltäglich werden lassen und so manche Probleme zugedeckt.“ Aber er hoffte, dass alle zu dem zurückfinden würden,
was sie einmal verbunden hatte. n
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Mein Partner muss in den Einsatz
Und eine ebenfalls Betroffene antwortet:
Hallo,
mein Freund, mit dem ich seit fünf Jahren zusammenlebe,
ist Zeitsoldat bei der Bundeswehr.
Ich hatte damit schon immer ein Problem, weil er schon oft für längere Zeit
auf Lehrgänge musste und wir auch drei Jahre lang eine Wochenendbeziehung
hatten. Die längste Zeit, die er weg war, waren vier Wochen am Stück.
Ich will ganz ehrlich sein: Ich HASSE die Bundeswehr und alles, was damit zu
tun hat. Sie macht mir mein Leben zur Hölle.
Er weiß das auch und hört auch damit auf, weil es ihm selbst keinen Spaß
mehr macht und er auch sieht, wie ich leide.
Jetzt soll er bald für mindestens vier Monate in den Auslandseinsatz gehen,
und ich habe das Gefühl, dass ich das nicht überlebe. Für mich kommt das
einem Weltuntergang gleich.
Ich muss dazusagen, dass ich an einer Panikstörung leide und es mir grundsätzlich psychisch schon nicht so gut geht, was ich aber in letzter Zeit wieder
relativ gut im Griff hatte. Ich fühle mich dann zu Hause einfach so einsam,
dass ich durchdrehen könnte. Klar gehe ich arbeiten und mache auch sonst
alles, was ein normaler Mensch tut, aber das Problem ist einfach, dass, wenn
ich abends nach Hause komme, niemand da ist! Und das nicht nur vier Wochen, sondern eine Ewigkeit.
Das so lange durchzuhalten, schaffe ich einfach nicht. Ich bin schon jetzt
total fertig und heule nur noch.
Mein Freund sagt zwar, dass er mich versteht, aber ich glaube nicht,
dass er sich wirklich vorstellen kann, wie das ist, da er ja noch
nie alleine war. Ich habe auch schon über Trennung nachgedacht,
da ich diese ewige Ungewissheit und dieses Alleinsein einfach
nicht mehr ertrage.
Habt ihr einen Rat für mich?
Aber bitte sagt mir nicht, dass ich das ja vorher gewusst habe.
Das ist nämlich nicht so. Ich hätte mir nie gedacht, dass es SO schlimm
wird, sonst hätte ich mir das zweimal überlegt. Außerdem war damals
die ganze Situation mit Afghanistan usw. noch nicht so wie jetzt.
Hannah
Hallo Hannah,
ich weiß genau, wie es dir geht. Ich bin auch mit einem mittlerweile Exbundeswehrsoldaten zusammen. Als ich ihn vor vier Jahren kennengelernt habe und er mir gesagt hat,
dass er bei der Bundeswehr ist, hatte ich auch nicht gewusst, was noch alles auf mich
zukommen würde. Ich wusste zwar, dass wir uns hauptsächlich am Wochenende sehen
würden und manchmal auch zwei, drei Wochen gar nicht, aber den Afghanistan-Einsatz
hab ich auch nicht vorausgesehen. Eines Tages hat er mich in den Arm genommen, angefangen zu weinen und mir gesagt, dass er so glücklich mit mir ist, ihn aber die Bundeswehr in ein paar Monaten nach Afghanistan schicke, für damals auch vier Monate!
Ich wusste nicht, wie ich das überstehen sollte, hatte mir damals auch viele Gedanken
gemacht, wie es weitergehen soll, ob ich glücklicher wäre, wenn ich mich von ihm trennen
würde. Darauf fand ich aber nur eine Antwort (die auch für dich gilt!): Eine Trennung
wäre keine Lösung. Das Problem war ja nicht, dass die Liebe nicht mehr da war, sondern
dass eine schwierige Zeit auf uns zukommen sollte. Und mal ganz ehrlich: Was ist eine
Beziehung schon wert, wenn man diese wegen einer „schwierigen Situation“ aufgeben will?
Ich weiß, wie du dich fühlst, es ist der Schmerz, die Einsamkeit, die man verdrängen und
am liebsten loswerden möchte, und man weiß nicht, wie! Aber glaub mir, diese
„Trennung“ macht eure Liebe stärker, ich weiß, dass es schwer ist, es war mit eine der
schwierigsten Zeiten in meinem Leben, aber das geht vorbei! Und auch die vier Monate
gehen rum, du wirst sehen. Ich konnte es erst auch nicht glauben, aber es kommt der
Tag, da fängst du an, die Wochen zu zählen! Und bald ist dein Schatz wieder da!
Wir haben uns damals Briefe geschrieben (das war ne Freude, darauf zu warten,
dass der nächste Brief kommt!) und er hat angerufen, wenn er konnte. Aber das
Wichtigste ist, dass du in dieser Zeit Freunde hast, die dir zur Seite stehen, für dich da
sind und dich ablenken! Ich bin damals jedes Wochenende weggegangen, musste
einfach raus, zu Hause verfällt man in Selbstmitleid! Schlaf doch auch mal bei
Freunden oder lade welche zu dir ein, wenn du einsam bist. Die Zeit am Anfang ist die
schwerste, danach wird�s immer besser und dann ist er wieder da. Ich hoffe, ich konnte
dir ein bisschen Mut machen und dich etwas trösten. Denk dran, du bist nicht allein,
vielen Frauen geht es so wie dir und ihre Männer müssen auch nach Afghanistan!
Denk dran, dass alles gut wird, denk nicht negativ, das macht dich nur unnötig fertig!
Ich hoffe, ich konnte dir helfen,
und wenn du in Zukunft einen Rat zu dem Thema brauchst
oder auch nur reden willst, schreib mir!
Liebe Grüße
Foto: Juan Estey/istockphoto.com
Eine Betroffene erzählt:
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Verantwortung
– was ist das?
Nachdenken über einen häufig
gebrauchten, nicht immer gelebten Begriff
Von Manfred Suermann
I
ch habe die Verantwortung …!“, „Du bist
verantwortungslos!“, „Ich mache dich dafür
verantwortlich!“, „Du hast kein Verantwortungsbewusstsein!“ – Diese und ähnliche
Sätze hat jeder schon einmal gehört. Sie zeigen, welch wichtige Rolle Verantwortung im
menschlichen Leben spielt. Da werden Menschen
für ihr Handeln verantwortlich gemacht – der Fußballtrainer, der Firmenchef, der Lehrer und natürlich auch der Kommandeur.
Verantwortung ist ein zentraler ethischer Begriff und
im beruflichen wie im privaten Leben. Jeder trägt
Verantwortung an dem Ort, an den er in seinem
Leben gestellt ist, unabhängig davon, welchen Rang
oder welche Position er innehat.
Foto: Alain Jocard/gettyimages.com
fordert den Menschen permanent heraus, sowohl
Obwohl der Begriff „Verantwortung“ noch nicht
sonderlich lange unserem Wortschatz angehört, so
ist das, was er meint, uralt. Denn immer schon hatten
Menschen Verantwortung für andere und immer
schon wurden sie zur Verantwortung gezogen. Dennoch ist Verantwortung erst in den letzten Jahrzehnten zu einem Schlüsselbegriff geworden, sodass
man heute gar von einer Verantwortungsethik
spricht. Das dürfte seinen Grund in Folgendem
haben: Durch den ungeheuren Fortschritt der Wissenschaften haben wir Heutigen auf allen Gebieten
Erkenntnisse, die in früheren Jahrhunderten den
Menschen nicht zur Verfügung standen. Dies bezieht
sich nicht nur auf die Vergangenheit und Gegenwart,
sondern unser Wissen reicht in vielen Bereichen auch
weit in die Zukunft. Wir können heute die zukünftigen Folgen unseres Handelns – oder auch Nichthandelns – viel besser abschätzen als früher. Um es
an einem Beispiel deutlich zu machen: Wir kennen
sehr genau die Ursachen der globalen Klimaveränderung, wir wissen sozusagen um die „Sünden“ der
Vergangenheit; wir wissen aber auch, was sich verändern wird, wenn die Welt so weitermacht wie bisher, und was getan werden müsste, um diese
Veränderung abzuwenden oder zumindest abzumildern. Und genau hier beginnt dann Verantwortung:
Handeln wie auch Nichthandeln haben für die
Zukunft positive oder negative Folgen, die verantwortet werden müssen. Und von wem? In diesem
Fall: von allen, denn mehr oder weniger jeder auf der
Welt trägt zu den Ursachen der Klimaveränderung
bei, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise und
in ganz unterschiedlichem Ausmaß. Deswegen sind
hier alle in die Verantwortung gerufen. Denn jeder
hat sich die Frage gefallen zu lassen und sie zu
beantworten, welche Welt wir den nachfolgenden
Generationen hinterlassen wollen. Deshalb spricht
man auch z. B. von einer Schöpfungsverantwortung
oder von der Verantwortung gegenüber der nachwachsenden Generation.
Verantwortung ist etwas typisch Menschliches. Niemand käme auf den Gedanken, einen Löwen, der ein
Tier reißt, zur Verantwortung zu ziehen. Und keiner
würde einer Katze, die ihre Jungen liebevoll umsorgt, ein
verantwortungsvolles Verhalten zuschreiben, obwohl
der äußere Anschein Ähnlichkeit damit hat. Aber beide
Tiere folgen allein ihrem Trieb und können nicht anders.
Nicht so beim Menschen – in der Regel kann er
anders. Gewiss, er muss essen, aber er kann wählen,
ob er sich z. B. gesund ernähren will oder eben nicht.
Er kann sich entscheiden, ob er auf eine Beleidigung
mit Gewalt reagieren oder die Aussprache suchen
will. Und er kann sich aussuchen, ob er seinem/seiner
Lebenspartner/in treu bleiben oder die sich bietende
Gelegenheit zum Seitensprung „nutzen“ möchte.
Nimmt er das Auto oder fährt er mit öffentlichen
Nahverkehrsmitteln? Möchte er eine Familie gründen
oder bleibt er doch besser Single? Die Beispiele lassen sich endlos weiterführen. Immer zeigt sich: Im
Gegensatz zum Tier ist der Mensch nicht festgelegt,
er hat eine Wahl, er muss und kann sich entscheiden.
Und er entscheidet sich auch – bewusst oder unbewusst. Wie oft müssen wir zugeben, in einer
bestimmten Situation nicht nachgedacht und uns
unsere Wahlmöglichkeiten nicht bewusst gemacht,
sondern spontan, „aus dem Bauch heraus“, gehandelt zu haben! Manchmal mögen wir dabei richtig
gehandelt haben, manchmal bereuen wir aber auch,
etwas falsch gemacht zu haben. Und dann überlegen
wir, suchen nach den Gründen und entdecken dabei
manchmal, dass wir von etwas geleitet wurden, was
uns nicht bewusst war.
Was auch immer der Mensch wählt, wie auch immer
er sich entscheidet, er kann – und sollte – immer auch
an die Folgen denken. Aber tun wir das auch? Machen
wir nicht stattdessen immer wieder die Erfahrung, von
den Folgen überrascht zu werden? „Ach, hätte ich das
doch geahnt“, denken wir dann nicht selten. Dabei
hätten wir es – zumindest in manchen Fällen – wissen
können, wenn, ja wenn wir uns z. B. nicht dem Augenblick hingegeben und uns blind gestellt hätten.
Aus dem bisher Gesagten wird deutlich: Der Mensch
kann wählen und sich entscheiden, und das macht
seine Freiheit aus. Da aber alles Handeln des Menschen – auch sein Nichthandeln – Folgen hat, für ihn
wie für andere, muss er sein Handeln begründen, es
rechtfertigen, also Rechenschaft ablegen und damit
verantworten. Das geschieht natürlich nicht immer.
Wir handeln ja ständig, ohne dass wir uns immer
rechtfertigen müssten. Besonders wenn wir etwas
Richtiges oder Gutes tun, käme niemand auf die
Idee, uns zur Rechenschaft zu ziehen. Erst wenn wir
etwas falsch gemacht, Schaden angerichtet haben,
kommt dies zum Tragen, müssen wir uns rechtfertigen, manchmal nur vor uns selber, dann aber auch
vor anderen. Und es liegt dann an uns selbst, ob wir
zu dem, was wir getan haben, stehen oder anfangen,
Ausreden zu suchen, anderen die Schuld in die
Schuhe zu schieben, uns zu entschuldigen.n
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Schuld
kann jeden
treffen
Über die Rolle der Schuld
im menschlichen Leben
Von Manfred Suermann
D
u bist schuld!“ Je nachdem,
worum es sich handelt, kann dies
ein schwerer und belastender Vorwurf sein. Wirkliche Schuld ist
eine niederdrückende Last, die
das Leben eines Menschen nachhaltig prägen kann. Sie ist deshalb so schwer, weil sie
sich auf etwas bezieht, was in der Vergangenheit
liegt und nicht rückgängig gemacht werden kann.
„Du bist schuld“ kann aber auch heißen: Du bist
z. B. schuld, dass wir zu spät kommen. Mit solcher Schuld lässt sich ganz gut leben, und es
stellt sich die Frage, ob es überhaupt angebracht
ist, in solchen Fällen von Schuld zu reden. Im
Grunde handelt es sich ja um eine Bagatelle, die
allerdings – je nach Situation – mitunter zu Streit
und Missstimmung führen kann. Wenn es aber
dazu kommt, stellt sich schon wieder die Frage:
Wer ist denn nun schuld an dem Streit? Bei
näherem Hinsehen zeigt sich dann meist, dass
die Bagatelle vielleicht der Auslöser war, dass
aber an dem Streit ganz andere Dinge schuld
sind – dass der Streit z. B. auf eine tiefer liegende Beziehungsstörung hinweist.
Schuld ist ein Beziehungsbegriff und tritt in erster
Linie in Beziehungen auf, die Menschen miteinander
eingehen. Schuld bedeutet dann, dass jemand den
berechtigten Anforderungen oder Ansprüchen eines
anderen, z. B. auf körperliche Unversehrtheit, auf
Wahrheit oder Treue, nicht gerecht geworden ist. Sie
das Richtige, das Notwendige, das Gute gewählt
haben, wenn sie z. B. um des eigenen Vorteils willen
gelogen und damit ihre Freiheit, verantwortlich zu
handeln, missbraucht haben.
Foto: mediaphotos/istockphoto.com
entsteht, wenn Menschen in ihren Handlungen nicht
Sind immer die anderen schuld?
„Du bist schuld!“ Damit ist die Sache klar: Der
andere ist’s, daran gibt es nicht zu deuteln! Ich bin
dagegen „aus dem Schneider“. Ich habe mir
nichts vorzuwerfen. Mir kann man nichts in die
Schuhe schieben. Und wenn es dann auch noch
zum Streit kommt, bleibt es meistens dabei: „Du
bist schuld!“ Diese nur allzu menschliche Haltung
verhindert dann allerdings, dass ich auch einmal
über mich selbst nachdenke und meinen eigenen
Anteil, meine eigene Beteiligung an der Streitentwicklung erkenne, letztlich also meine Schuld
sehen lerne.
Damit kommen wir langsam dem auf die Spur, was
vielleicht wirkliche Schuld sein könnte. Spontan
denken da wohl die meisten an all das, was Menschen Schaden zufügt, also an Mord und Totschlag, Diebstahl, Betrug, Gewalt, sexuellen
Missbrauch und Ähnliches. All dies beinhaltet
wirkliche Schuld und braucht nicht näher erläutert
zu werden. Hier soll es eher um Fälle von Schuld
gehen, die schwerer zu erkennen sind. Nehmen
wir dazu einmal den Fall an, dass jemand erleben
muss, in einer Beziehung nicht verstanden, mit der
Zeit immer mehr vernachlässigt, oft auch abgewertet, in Wahrheit gar nicht geliebt, stattdessen
mit Gleichgültigkeit behandelt, ausgenutzt oder
gar betrogen zu werden – hätte dieser (oder
diese) nicht wirklich allen Grund zu sagen: „Du
bist schuld!“? Sicher, jetzt kann man schnell einwenden: Warum haben sich die beiden überhaupt
zusammengetan oder warum haben sie sich nicht
längst getrennt? Und kann es denn überhaupt
sein, dass Schuld so einseitig verteilt ist? So
berechtigt diese Fragen sind, sie bleiben jetzt mal
außen vor. Denn allein dies sollte deutlich werden:
dass es Schuld gibt, von der in keinem Strafgesetzbuch die Rede ist, und dass diese Schuld viele
Gesichter hat. Man spricht dann von moralischer
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Schuld; sie ist schwieriger zu erkennen und zu
identifizieren, deshalb wird über sie auch häufiger
gestritten.
Schuldgefühle können trügerisch sein
Etwas anderes dagegen sind Schuldgefühle. Wer
kennt das nicht, das schlechte Gewissen, wenn man
z. B. als Kind der Mutter mal einen Euro aus dem
Portemonnaie genommen oder jemandem etwas
verheimlicht hat, was er eigentlich wissen sollte,
aber nicht wissen darf? Schuldgefühle regen sich,
wenn man etwas getan hat, das nicht in Ordnung
ist – egal ob jemand davon erfährt oder nicht. Sie
können belasten, quälen und nicht in Ruhe lassen.
Allerdings gibt es auch den umgekehrten Fall: Man
hat etwas getan, das nicht in Ordnung ist – und
empfindet dabei keine Schuldgefühle. Denn man
meint, gute Gründe zu haben, zieht alle Register,
um sein Tun zu rechtfertigen, und sucht nicht selten
die Schuld bei anderen; man will sich so entschuldigen, also von Schuld befreien.
Doch Schuldgefühle sind tückisch. Wo jemand
wirklich Schuld auf sich geladen hat, sind entsprechende Schuldgefühle ganz richtig. Doch
Schuldgefühle können Menschen auch quälen,
obwohl noch gar nicht ausgemacht ist, ob sie
wirklich schuldig sind, und obwohl sie selber gar
nicht richtig sagen können, worin denn ihre
Schuld besteht. Ja, Menschen haben sogar Schuldgefühle, wenn sie gar keine Schuld trifft.
Ein Beispiel
Nicht wenige Einsatzsoldaten haben Kinder zu
Hause. Diese tragen mitunter schwer an der
Abwesenheit des Vaters – oder der Mutter, wenn
diese Soldatin ist. Die Belastung für das Kind kann
so schwer sein, dass es schulische Probleme
bekommt. Und manche Soldatinnen oder Soldaten
fühlen sich dafür schuldig. – Aber das nur allzu
verständliche Gefühl trügt. Trifft sie denn wirklich
eine Schuld? Worin sollte diese bestehen?
Gewiss, Eltern haben eine hohe Verantwortung
und Verpflichtung gegenüber ihren Kindern. Das
Kindeswohl stellt einen hohen Wert dar, für das
Eltern alles in ihrer Macht Stehende tun müssen.
Und wer es vernachlässigt, handelt verantwortungslos und macht sich schuldig. Aber: Haben die
Soldatin bzw. der Soldat das Wohl ihres Kindes
bewusst oder fahrlässig vernachlässigt? Hatten sie
die Wahl und haben sie sich freiwillig gegen das
Kind entschieden? Wohl kaum! – Schuld hat hier
oder, besser gesagt, Ursache hierfür ist der Auslandseinsatz der Bundeswehr.
Nur das Individuum ist Träger von Schuld
In unserem Kulturkreis hat sich die Überzeugung
herausgebildet, dass nur das einzelne Individuum
schuldig werden kann. Wenn z. B. eine Gruppe
gemeinsam ein Verbrechen begangen hat, so wird
vor Gericht nach der Schuld jedes Einzelnen
gefragt; da gibt es dann den Haupttäter und die
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Mitschuldigen. Schuld ist etwas typisch Menschliches und kommt allein dem Menschen zu. Auch
wenn z. B. ein Hund manchmal schuldbewusst
dreinschaut und mit eingezogenem Schwanz
abzieht, weil er etwas angestellt hat, kann man
dennoch nicht von Schuld sprechen. Denn der Hund
ist durch Erziehung konditioniert, er weiß nicht aus
Einsicht, dass er etwas Falsches oder Böses getan
hat; er hat nicht die Freiheit, zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu wählen. Der Mensch dagegen hat Freiheit. Er hat immer eine Wahl, auch
wenn ihm dies längst nicht immer bewusst ist. Und
weil er wählt, muss er mitunter das, was er gewählt
hat, verantworten, besonders dann, wenn er das
Falsche gewählt und dadurch sich selbst oder anderen Schaden zugefügt hat. Und dann steht er vor
der Frage nach seiner Schuld.
Freiheit, Verantwortung und Schuld gehören
untrennbar zusammen. Bleibt nur noch eine Frage:
Kann denn auch eine unbewusste Wahl, eine unbewusste Entscheidung Schuld bedeuten? Wer kennt
nicht den Ausruf: „Ach, hätte ich doch damals …!“
Oder: „Wenn ich damals gewusst hätte …!“ Auch
wenn man längst nicht immer die Folgen einer
bestimmten (Lebens-)Entscheidung absehen kann,
so kommt man dennoch im Nachhinein manchmal
nicht um die Einsicht herum, damals etwas falsch
gemacht zu haben. Aber auch das gehört zum Menschen: Er ist nicht bis ins Letzte Herr über sein
Leben. „Es kommt oft anders, als man denkt!“
Das ist so etwas wie der Preis der Freiheit.n
Foto: mediaphotos/istockphoto.com
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Die Bundeswehr kümmert sich um die
militärische Einsatzvorbereitung und
sorgt dafür, dass der Soldat auf alles,
Über die Verantwortung
bei der Einsatzvorbereitung
was ihm im Ausland als Soldat begegnet,
bestens vorbereitet ist. Für die Regelung
aller Angelegenheiten, die mit dem
Privatleben des Soldaten zu tun haben,
Von Manfred Suermann
ist jeder Einzelne selbst verantwortlich.
H
ast du schon mal daran gedacht,
dass dir was passieren könnte?“,
wurde er von einem bereits einsatzerfahrenen Kameraden gefragt, „und hast du vorgesorgt?“
Ein mulmiges Gefühl ergriff ihn.
Ihm fielen Bilder aus dem Fernsehen ein, Bilder
von einer Trauerfeier gefallener Soldaten. Nein,
daran hatte er noch nicht gedacht. „Mir passiert
schon nichts“, davon war er bisher überzeugt. Nur
unwillig machte er sich mit der Möglichkeit vertraut. „Was gibt es denn da zu regeln?“, fragte er
sich. Und während er darüber nachdachte, wurde
ihm klar, dass er darüber mit anderen sprechen
sollte, mit seiner Partnerin, mit seinen Eltern, vielleicht auch mit seinen Geschwistern. Und ihm fiel
das Wort eines Kameraden wieder ein: „Da kommt
jetzt eine Verantwortung auf dich zu …“
Viele Fragen – schwere
Entscheidungen
Foto: sorcerer11/fotolia.com
Verantwortung zu tragen kann ganz schön schwer sein
Er hörte sich in seinem Kameradenkreis um. Einer,
der verheiratet war und Familie hatte, schilderte ihm,
was er alles erledigt hatte. „Ich habe Vollmachten
erteilt, nicht nur fürs Konto, sondern auch dafür, dass
meine Frau in meinem Namen handeln kann – für
den Fall, dass ich mal eine Zeit lang nicht handlungsfähig sein sollte. Und ich habe ihr nicht nur alle
meine Passwörter gegeben, sondern ihr auch gezeigt,
wo alle wichtigen Unterlagen zu finden sind, z. B.
über meine Versicherungen, Kredite usw. Natürlich
setzt das Vertrauen voraus“, betonte er und fügte
hinzu: „Such dir also jemanden, dem du uneingeschränkt vertrauen kannst!“ Ihm schwirrte der Kopf.
„An was alles zu denken ist!“, sagte er sich. Auch
wenn es ihm einsichtig war, dass dies alles zu erledigen sei, tauchte für ihn eine noch viel schwierigere
Frage auf: Wem konnte er so uneingeschränkt vertrauen – seiner Partnerin, seinen Eltern, seinem
besten Freund? Was wäre, wenn er seiner Partnerin
dieses Vertrauen schenkte, ihre Beziehung aber die
Einsatzzeit – aus welchen Gründen auch immer –
nicht überstünde? Nicht auszudenken, welches Risiko des Missbrauchs seines Vertrauens er da einginge.
Mit seinen Eltern hatte er nicht gerade das beste
Verhältnis, konnte er ihnen dennoch vertrauen?
Immerhin waren es ja die Eltern. Wie aber sollte er
das seiner Partnerin erklären? Oder doch besser seinem Freund alles übergeben? Das aber würde seiner
Partnerin ja noch deutlicher zeigen, dass er ihr nicht
vertraute. Wie auch immer er es drehte und wendete,
es wurde nicht einfacher.
„Hast du schon dein Testament gemacht?“, fragte
ihn dann zum Überfluss auch noch ein Kamerad,
der mit ihm in den Einsatz musste. „Auch das
noch“, entfuhr es ihm. Seit noch nicht einmal zwei
Jahren wohnte er jetzt mit seiner Partnerin zusammen. Sie hatten sich vieles gemeinsam angeschafft. Wie sollte er jetzt entscheiden, was wem
zu vermachen ist? Er spürte, es würden ernste
Gespräche auf seine Partnerin und ihn zukommen,
und er hatte schon ein wenig Angst davor. Wie
würde sie mit all dem umgehen? Klar, sie wusste
von Anfang an, dass er Soldat war, auch, dass er
versetzt werden könnte, und auch, dass irgendwann ein Auslandseinsatz wahrscheinlich war. Aber
denkt man, wenn man verliebt ist, an all das und
daran, was das wirklich bedeutet? Doch als er nach
und nach all die anstehenden Themen ansprach,
war er positiv überrascht, wie ernsthaft und verantwortungsbewusst sie auf alles einging, ja sogar
selbst noch manches ansprach, was er vergessen
oder woran er selber gar nicht gedacht hatte. Er
spürte, wie viel ihr an ihrer Partnerschaft lag,
und so reifte in ihm der Entschluss, es zu wagen
und ihr all seine persönlichen Dinge anzuvertrauen.
Und eines Tages traf ihn fast der Schlag: Als er nach
Hause kam, war sie schon da und legte ihm mehrere
DIN-A4-Bögen vor. Darauf stand: Patientenverfügung. Erst wusste er gar nicht, was das bedeutete,
aber er erinnerte sich, das Wort schon mal von
Kameraden gehört zu haben. „Da führt kein Weg
dran vorbei“, meinte sie liebevoll, „darüber müssen
wir uns auch verständigen, auch wenn ich mit dir
hoffe, dass wir das nie brauchen werden.“ Auch
wenn er am liebsten manchmal den Kopf in den
Sand gesteckt hätte oder fortgelaufen wäre, die konstruktive Art, mit der seine Partnerin die Themen
anging, gab ihm Sicherheit, förderte sein Vertrauen und stärkte ihre Beziehung.n
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E
rst am 3. März 1945, also kurz vor Kriegsende, wurde ich an der Ostfront
als Oberjäger und Bataillonsfunktruppführer der Fallschirmtruppe eingesetzt. Wir ruhten nach dem langen Nachtmarsch im Straßengraben
etwas aus, um im Morgengrauen zum Angriff auf eine russische Stellung
anzutreten. Der „Iwan“, wie wir die Russen nannten, hatte vor Kurzem
eine Waldhöhe eingenommen, die wir jetzt wieder zurückerobern sollten.
Eine Vierlingsflak (4,7-cm-Flugabwehrkanone) gab uns Schützenhilfe, während wir
den Hang hinunter und dann wieder hinauf in den Wald stürmten. Als Funktruppführer
hatte ich das Funkgerät mit etwa 20 kg Gewicht auf dem Rücken und konnte kaum
Schritt halten. Vor dem Wald wuchsen dichte Büsche. Da wir nur etwa 20 Mann waren,
rannten wir in einer aufgelösten Front durch diese Büsche in den Wald hinein. Wir sahen
die Russen auf der anderen Seite den Hang hinunterrennen, zurück in ihre alte Stellung.
Wir waren froh, dass uns ihre zuvor gebuddelten Schützenlöcher jetzt Schutz gaben vor
dem Geschützhagel. Und der kam! Der Leutnant gab mir einen Befehl, den ich aber
mitten im Wald nicht senden konnte, die Bäume schirmten alles ab. Ich musste zurück
an den Waldrand und sprang aus meinem Loch, rannte an den Waldrand, um hier in ein
anderes Loch zu springen, zögerte aber einen Augenblick, weil darin ein Toter lag. Das
war genau der Augenblick zu lang.
Ein Granatsplitter schmiss mich auf den Boden. Die rechte Schulter hat’s
erwischt! Ich nahm das Gewehr von meinem Kameraden, der jetzt das
Funkgerät zu tragen hatte, und rannte zurück durch die Büsche. In der
Hand am schlaffen Arm hielt ich meine Pistole. Es war jetzt schon etwas
dunkler geworden. Vor dem Wald brannte ein Heuhaufen und beleuchtete alles. Als ich so dachte, da könnte noch ein Russe im
Gebüsch sein, stand der schon wirklich vor mir – mit erhobenen
Händen! Ich drückte ab und der Soldat fiel in sich zusammen. Ich
habe zu schnell reagiert! Habe ich ihn verwundet oder getötet?
Ich weiß es nicht. Wie alt war er? Hatte er Frau und Kind? Ich
weiß nichts von ihm. Nach einem kurzen Marsch kam ich in
einem leeren Haus an und konnte auf einem Sofa schlafen. Es
war die dunkelste und schrecklichste Nacht meines Lebens. Es
war nicht der brennende Schmerz der Schulter, der mich
nicht schlafen ließ. Es war der Schmerz des Bildes des Soldaten, der immer wieder aufstand, um gleich wieder in sich
zusammenzufallen, und der auch später in vielen Nächten
„auftauchte“! Und ich konnte doch nichts rückgängig
machen. – Das war mein Krieg. Dieser verfluchte Krieg!
In den Jahren danach hatte ich dieses außerordentliche Erlebnis
„verdrängt“. Ich versuchte, nicht mehr dran zu denken. Doch auch
über 60 Jahre danach „stand“ der Soldat immer wieder
da und forderte mich auf zu bekennen, meine Schuld
„herauszuarbeiten“.
So reifte der Entschluss zu dieser Figur …
Walter Back, geb. 1924:
Mein Kriegseinsatz als Soldat.
– „Meine Schuld!“
Foto: katkaak/sxc.hu
Eine Erzählung
Eine weitere Arbeit kam mir beim Schnitzen in den
Sinn: „Die Vergebung“. Wie könnte ich „Vergebung“
darstellen? Ich zeichnete den gleichen Soldaten als
Toten, der mir zur Vergebung beide Hände entgegenstreckt. Auch diese Figur werde ich bald fertig geschnitzt
haben.n
aus: Manfred Häußler/Albrecht Rieder, Schuldig sein – frei werden
von Schuld. Materialien ab Jahrgangsstufe 7 [= Deutscher Katecheten-Verein e.V. (Hg.), Materialbrief RU – Sekundarstufe, 1-09,
Praxisbeilage der Katechetischen Blätter 2-09]. München: Kösel
2009, S. 12-13
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Im Einsatzland
angekommen
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Einsatzsoldaten stehen vor großen Herausforderungen. Mit dem in der Vorbereitung Gelerntem, aber
auch mit manchen privaten Sorgen „im Gepäck“
müssen sie sich in kürzester Zeit auf ganz neue
Nicht einfach, mit allem Neuen zurechtzukommen
Lebensumstände einlassen und sich auf militärische
Einsätze einstellen.
Von Manfred Suermann
D
ie Wochen der Einsatzvorbereitung
lagen hinter ihm. Sie waren
anstrengend. Mit was hatte er sich
nicht alles auseinandersetzen müssen! Afghanistan, eine fremde Kultur, und dann der Islam. Mit
Religion hatte er es ja bisher nicht so. Und dann die
ganze militärische Vorbereitung. Seine Partnerin
hatte er in dieser Zeit auch kaum gesehen, was
allein schon schwer genug war. Der Kontakt zu seinen Freunden war mehr oder weniger ganz eingeschlafen, das setzte ihm zu. Ihm fehlte etwas.
Aber jetzt war er seit ein paar Tagen angekommen.
Die Welt zu Hause musste er jetzt hinter sich lassen,
seine ganze Konzentration war jetzt hier erforderlich.
Schnell stellte er fest, dass Handy und Internet
bestens funktionierten, und so war er beruhigt, dass
er problemlos Kontakt nach Hause halten konnte.
Foto: Mie Ahmt/istockphoto.com
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Vieles hatte man ihm erzählt über das fremde Land,
die karge Landschaft, das ungewohnte Klima, die
Armut der Bevölkerung, das Leben im Lager, mit
den Kameraden Tag und Nacht auf engstem Raum
zusammen, die ständige Gefahr. Aber das alles nun
am eigenen Leib zu erleben und mit eigenen Augen
zu sehen, war doch noch mal was anderes. Die
Wirklichkeit sieht dann eben doch anders aus, als
sich dies vorab in der sicheren heimischen Umgebung erahnen lässt. Fremd waren die Eindrücke, die
den Weg in die Unterkünfte säumten: zerschossene
Gebäude, Kriegsschrott, in öden Landschaften einfach stehen gelassen, in Lumpen gekleidete Kinder,
die verloren am Straßenrand spielten. Und eines
musste er schnell begreifen: Jeder beladene Esel,
jedes am Straßenrand geparkte Fahrzeug, jeder
abgestellte Kanister kann die Deponie für einen
Sprengsatz sein. Die Bedrohung ist immer da, jede
Minute, rund um die Uhr, jeden Tag. Es gilt, seinen
eigenen Weg zu finden, die Konfrontation mit Entbehrung, Verwüstung, Gewalt, Verletzung und auch
Tod zu bewältigen.
Gleich bei seinem Eintreffen bekam er mit, dass erst
zwei Tage zuvor eine Patrouille aus deutschen und
afghanischen Soldaten angegriffen und in einen
Schusswechsel verwickelt worden war. Ein afghanischer Soldat wurde dabei verletzt. Was aber für
besonderen Gesprächsstoff sorgte, war die Tatsache,
dass die afghanischen Soldaten flohen, während die
deutschen Soldaten unter Einsatz ihres Lebens dem
afghanischen Soldaten das Leben retteten. So bekam
er gleich einen Vorgeschmack darauf, was auf ihn
zukommen könnte; schließlich war er Zugführer. Wie
würden wohl seine ihm unterstellten Soldaten mit
solch einer Situation umgehen?
Er spürte, wie die stete Gefahrenlage ihn langsam
unter Stress setzte, und er lernte, mit der Angst als
ständigem Begleiter zu leben. Seine tägliche Ausrüstung wies ihn darauf hin: Splitterschutzweste,
Gefechtshelm, eine Waffe stets griff- und schussbereit. Er ahnte, dass es notwendig, ja überlebensnotwendig sei, eine Portion Angst zu haben, sonst
könnte ihm Leichtsinn schnell zum Verhängnis werden. Dazwischen immer wieder Telefonate mit seiner Partnerin zu Hause. Nach und nach wurde ihm
schmerzlich bewusst, dass sie alles, was sie unternahm, ohne ihn tat. Das verunsicherte ihn, machte
ihm Angst. Spielte er in ihrem Leben überhaupt
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Foto: GYI NSEA/istockphoto.com
Freund oder Feind?
Angreifer mischen sich gern
unter die Zivilbevölkerung.
noch eine Rolle? Andererseits, sie hatte beruflichen
Stress und wollte seinen Rat. Das beruhigte ihn
wiederum. „So ganz unwichtig bin ich also doch
nicht für sie“, dachte er bei sich.
Irgendwann bekam sein Zug den Auftrag „Minesweep“. Ein EOD-Trupp („Explosive Ordnance Disposal“ = Kampfmittelräumdienst) klärte zwei
Kilometer vor Pol-e Khomri auf. Der Zug hatte den
Auftrag, die Kräfte zu sichern. Plötzlich knallte es,
die EOD-Kräfte gerieten unter Beschuss. Der MGSchütze, Hauptgefreiter Schulze, identifizierte durch
seine Zieloptik drei Angreifer, die er sofort
bekämpfte. Die Feuerstöße lagen gut im Ziel; er sah,
wie zwei zusammenbrachen, einer sprang gerade
noch in Deckung. – „Zum Glück“, sagte er sich
nachher, „wurde keiner meiner Männer verletzt.“
Doch am Tag darauf bemerkte er, dass der MGSchütze ungewohnt und auffällig schweigsam in
sich versunken war. Nach einigem Zögern sprach er
ihn an und erfuhr, dass dieser sich mit Schuldgefühlen herumquälte. Für den Abend, nach Dienstschluss, verabredete er sich mit ihm zum Gespräch.
Es wurde ein langes Gespräch.
Von einem Kameraden erfuhr er, dass sich dessen
Frau von ihm getrennt hatte und mit den Kindern aus
der gemeinsamen Wohnung ausgezogen war. Ohn-
mächtig hatte dieser es nur zur Kenntnis nehmen
können. Bestürzt nahm er wahr, dass sich bei dem
Kameraden in seine Trauer und Verzweiflung auch
Wut über den Auslandseinsatz mischte. „Und wenn
mir Gleiches widerfährt?“, schoss es ihm durch den
Kopf. Es war ihm nicht wohl, als er wie verabredet am
nächsten Tag das Handy in die Hand nahm. Aber
schon nach den ersten Sätzen war er beruhigt.
Er und seine Männer hatten reichlich zu tun. Langeweile? Fehlanzeige. Sie hatten sich, soweit es eben
ging, gut eingelebt und an fast alles gewöhnt.
Schließlich waren ja inzwischen auch etliche
Wochen ins Land gegangen. Mehr als die Hälfte der
Zeit war vorbei. Das Ende kam in Sichtweite.
Eines Morgens erreichte sie ein neuer Auftrag: wieder
mal Patrouillenfahrt zur Polizeistation im Distrikt.
Kurz vor der Stadt kam der Trupp an den ersten
Gehöften vorbei. Plötzlich knallte es. MG-Feuer!
Unverzüglich befahl er: „Durchstoßen!“ Der Dingo
beschleunigte, das Feuer wurde sofort erwidert. „Gut
gemacht, Männer! Noch mal Glück gehabt“, sagte
er, als sie wenig später ihr Ziel erreicht hatten und
abgesessen waren. – Doch ein paar Stunden später
erreichte sie die Nachricht, dass bei diesem Gefecht
zwei Kinder getötet worden waren. Der Schock saß
tief. Wie konnte das geschehen? Hatte die keiner
gesehen? Oder war es etwa einem seiner Männer
egal gewesen? Das konnte er sich nicht vorstellen.
Kinder sind ja nun wirklich nicht schuld an diesem
Krieg! Hatte er etwas falsch gemacht? Er wusste,
dass sich die Angreifer gerne unter die Zivilbevölkerung mischen, weil sie wussten, dass sie da nicht
angegriffen würden; aber war das hier auch der Fall
gewesen? Jetzt war er es, der sich mit heftigen
Schuldgefühlen herumschlug. „Ich hatte doch gar
keine Zeit, die Lage zu sondieren“, versuchte er sich
zu rechtfertigen. Aber das beruhigte ihn nicht. Und
jeden Augenblick konnte er zwecks Berichterstattung zum Kommandeur gerufen werden. Er spürte,
dass er jetzt ein Problem hatte, zumindest ein
moralisches, vielleicht aber auch ein juristisches.
Die Tage vergingen. Viel Zeit zum Nachdenken blieb
nicht. Nur nachts lag er jetzt häufiger wach in seinem Bett und kam dann aus dem Grübeln kaum
mehr heraus. Sein Kontingent rüstete sich zum
Rückflug. Endlich! Seine Gedanken wanderten jetzt
öfter wieder nach Hause. War dort alles beim Alten
geblieben? Konnte alles so weitergehen wie bisher? War seine Partnerin noch „die Alte“? War er
selber noch „der Alte“? Er war sich unsicher. Er
hatte während des Einsatzes neue Freunde gewonnen, was bedeuteten ihm nun noch die alten? Als
er schließlich in die Maschine stieg, mischte sich in
seine Vorfreude auch ziemlich viel Skepsis.n
Foto: Terry Moore/Stocktrek Images/gettyimages.com
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Verantwortung
im militärischen
Einsatz
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„Führen nach Auftrag“ und das Problem der
richtigen Entscheidung
Auslandseinsätze bringen – besonders
bei Kampfeinsätzen – nicht nur eine
Gefährdung für Leib und Leben mit
Von Manfred Suermann
sich. Soldaten werden immer wieder
V
auch mit Extremsituationen konfron-
erantwortung hat immer einen
Bezug zu einer Lebenssituation
bzw. zu einem oder mehreren
Menschen. „Verantwortung ist
immer konkret“, schrieb der Philosoph Karl Jaspers, „sie hat einen
Namen, eine Adresse und eine Hausnummer.“
Verantwortung ist somit kein abstrakter Begriff.
Sie hat vielmehr ein Gesicht.
tiert, die von ihnen eine verantwortungsvolle Entscheidung* verlangen.
Dem ursprünglichen Wortsinn nach verweist Verantwortung auf die Situation vor Gericht: Der
Angeklagte wird hier zur Verantwortung gezogen,
er muss Rechenschaft ablegen über sein Handeln,
eine Straftat wie Diebstahl z. B., die er an einem
anderen begangen hat. Und er ist angeklagt, weil
das Gesetz Diebstahl verbietet und ahndet und
weil gegen die moralische Norm „Du sollst nicht
stehlen!“ verstoßen wurde.
Foto: AFP/gettyimages.com
Verantwortung ist also eine Beziehungsgröße. Zu
fragen ist deshalb: Wer (= Täter) ist für was (= Tat)
gegenüber wem (= Opfer oder Geschädigter) oder
für wen (= z. B. Untergebener) vor welcher Instanz
(= Gericht, Gewissen) im Blick auf welches Normensystem (= Gesetz, Moral) verantwortlich? Verantwortung hat also viele verschiedene
Beziehungsebenen.
Vor Gericht muss sich jemand für eine Tat bzw. für
ein Handeln in der Vergangenheit verantworten.
Da ist aber das Kind schon in den Brunnen gefallen – die Tat ist nicht mehr rückgängig zu machen.
Das ist die eine Seite der Verantwortung. Die
andere ist: Jemand soll sich in dieser oder jener
Lebenssituation seiner Verantwortung stellen, verantwortlich handeln. Das betrifft die Gegenwart
oder Zukunft. Und dies richtet sich vor allem an
den Einsatzsoldaten.
*siehe die Beispiele im Unterrichtsmaterial
Das klingt alles sehr abstrakt, soll aber im Folgenden konkretisiert werden. Bereits in der langen
Zeit einer Einsatzvorbereitung gilt es, Verantwortung zu erkennen und sie wahrzunehmen: Wer erledigt während meiner Abwesenheit meine
Angelegenheiten? Braucht jemand meine Kontovollmacht? Was sollte ich mit den mir Nahestehenden regeln? Wer öffnet meine Post? Wem kann ich
den Aufbewahrungsort meiner persönlichen Dokumente anvertrauen? Wer all dies ungeregelt lässt,
kommt zwar nicht vor Gericht, um sich dort zu verantworten, aber verantwortliches Handeln schaut
trotzdem anders aus.
Im Einsatzland selber hat der Einzelne zunächst
einmal eine Verantwortung für sich selber, indem
er gut für sich zu sorgen lernt: Was hilft mir zu
entspannen, das Gesehene und Erlebte zu verarbeiten? Welche Erwartungen habe ich an mich,
mit der neuen Situation und den auf mich zukommenden Belastungen fertig zu werden, und erwarte ich von mir nicht zu viel? Tun mir Rückzugsorte
gut, um auch mal allein zu sein, z. B. in der Kapelle der Militärseelsorge? Bringe ich den Mut auf,
mich jemandem anzuvertrauen, wenn mir etwas
über den Kopf wächst?
Zur Verantwortung gehört aber auch, ein Auge für
seine Kameraden zu haben, um zu erkennen,
wenn jemand in Schwierigkeiten ist. Wohl jeder
kennt den Spruch: „Was du nicht willst, das man
dir tu, das füg auch keinem andern zu!“ Oder man
kann es auch positiv ausdrücken: „Behandle
andere so, wie du von ihnen behandelt werden
möchtest!“ Möchte man nicht, wenn es einem
selber „dreckig“ geht, dass jemand für einen da
ist? Wenn sich alle nach dieser „goldenen Regel“
richten würden, wäre vieles leichter.
Besonders relevant wird Verantwortung bei
Kampfhandlungen. Da muss mitunter in Sekundenschnelle entschieden werden, und das ist oft
eine Entscheidung über Leben und Tod, nicht nur
über das eigene Leben oder das Leben der untergebenen Soldaten, sondern auch der Angreifer
oder gar unschuldiger Zivilisten. Ob Mannschaftsdienstgrad oder Zugführer, ob Kommandeur oder
Hubschrauberpilot – jeder hat an seinem Platz
eine je eigene Verantwortung, von der er sich
nicht freimachen kann. Verantwortliches Handeln
in militärischen Konfliktsituationen setzt Reflexionsvermögen voraus und orientiert sich an ethischen Standards. Zu diesen zählt z. B.
die Pflicht, das Leben der untergebenen Soldaten nicht leichtsinnig aufs Spiel zu setzen,
n die Pflicht, die Zivilbevölkerung in höchstmöglichem Maße zu schonen und keine „Unschuldigen“ zu töten,
●n die Pflicht, Gefangene nach den Maßstäben der
Genfer Konvention zu behandeln und somit vor
allem nicht zu töten,
n die Pflicht, jeglichem Machtmissbrauch sowohl
gegenüber Untergebenen wie auch gegenüber der
Zivilbevölkerung oder gefangenen Kämpfern zu
widerstehen.
Diese Normen haben unmittelbare Auswirkungen
auf bestimmte militärische Möglichkeiten. So würden z. B. Streubomben gegen sie verstoßen und
sind somit verboten.
n
Konflikt- und Kampfsituationen, ob im Kosovo,
Afghanistan oder anderswo, sind nicht immer
gleich und fordern so immer wieder neu zu richtigem Entscheiden und verantwortlichem Handeln
auf. Es bleibt dann nicht aus, dass manchmal auch
falsch entschieden wird, sodass z. B. doch
Unschuldige ums Leben kommen. Und dann steht
die Frage nach der Schuld unmittelbar im Raum.n
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Wenn ich die
falsche Entscheidung
getroffen habe
Über das Risiko, im Einsatz schuldig zu werden
Manchmal muss man – auch, aber nicht nur
Von Manfred Suermann
in Kampfeinsätzen – binnen Sekunden weitreichende Entscheidungenfällen. Wie schnell
kann es da passieren – vielleicht aus Angst um
das eigene Leben –, genau das Falsche zu tun?
W
ie schnell ein/e Soldat/in in Schuld – moralisch und
manchmal sogar juristisch – geraten kann, soll an
einem Beispiel verdeutlicht werden.
Dem Zugang zum Lager Warehouse in Kabul
nähert sich ein junger Afghane, der eine
Handgranate hält. Der Posten auf dem danebenstehenden Wachturm bringt seine Waffe in Anschlag …
Die Sachlage ist klar: Neben seinem Auftrag sieht der Wachsoldat sich auch
einer ganz persönlichen Gefährdung gegenüber. Diese Gefährdung tritt in der
Person eines Kindes auf ihn zu. Der Soldat stellt sich nun möglicherweise vor,
dass Kinder – wie in anderen Fällen Frauen oder alte Leute – vorgeschickt
werden, weil die Angreifer erwarten, dass dann nicht geschossen werde: Sie
setzen also Menschen als Mittel zum Zweck ein, weil menschliches Leben bei
ihnen weniger Wert hat, als es unseren Überzeugungen entspricht. Also
bleibt der Soldat auf alles gefasst.
Kinder schenken Vertrauen – und
haben Anspruch auf Schutz.
Foto: Marcel J. Mettelsiefen/gettyimages.com
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… Der Posten gibt keinen Schuss ab. Es wird bald deutlich, dass
die Handgranate gegen Lebensmittel eingetauscht werden soll.
Der Posten verweigert dies, schließlich legt der Junge die Handgranate neben dem Lagerzugang ab und verschwindet. Die Handgranate wird später vom EOD-Trupp („Explosive Ordnance
Disposal“ = Kampfmittelräumdienst) gesprengt.
Noch mal Glück gehabt, möchte man sagen. Denn wie hätte sich die Situation wohl entwickelt, wenn der Soldat nicht die wirklichen Absichten des
Jungen erkannt hätte oder – noch schlimmer – wenn der Junge die Handgra-
nate ins Lager oder auf den Wachsoldaten geworfen hätte? Hätte der Wachsoldat geschossen, zuerst den Warnschuss, aber dann …? Schuld wächst
dann, wenn ich jemandem etwas schulde oder etwas schuldig bleibe, etwas,
was ihm zusteht, worauf er einen berechtigten Anspruch hat. Wachsoldaten
schulden ihren Kameraden, die im Lager oder einer Kaserne leben, dass sie
geschützt werden; zugleich haben Wachsoldaten für die Sicherheit des militärischen Bereiches einschließlich des Materials zu sorgen. Das schulden sie
ihrem Dienstherrn. Der Wachsoldat in unserem Fall schuldet aber dem jungen
Afghanen, dass er ihm sein Leben lässt, einfach weil er Mensch ist und einen
berechtigten Anspruch auf sein Leben hat. Das gilt aber nicht absolut, wie
folgendes Beispiel zeigt:
Die zur Bewachung eines Lagers in Afghanistan eingesetzten
Sicherungssoldaten haben den Auftrag, Eindringversuche in das
Lager in Übereinstimmung mit den „rules of engagement“ notfalls
unter Anwendung von Waffengewalt abzuwehren. In der Nacht
versuchen zwei Afghanen, nahe dem Betriebsstoffdepot in das
Lager einzudringen. Nach Abgabe von Warnschüssen zieht sich
ein Afghane zurück. Der zweite Afghane setzt seinen Eindringversuch fort. Weitere Schüsse werden abgegeben, dabei wird der
Afghane tödlich getroffen. In der Folge gibt es keine weiteren
Eindringversuche in das Lager.
Dem Wachsoldaten ist keine Schuld zuzuweisen. Das gilt es, objektiv festzuhalten. Er hat im Bewusstsein seiner hohen Verantwortung richtig gehandelt, ihm
ist kein Vorwurf zu machen. Dennoch ist ein Mensch ums Leben gekommen,
was trotz aller Objektivität Schuldgefühle hervorrufen kann. n
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Es sind die kleinen Dinge, an die man sich
klammert, wenn man das Gefühl hat,
dass es zu Ende geht.
Von Mike Zimmermann
Alles wird
gut!
Foto: Mike Zimmermann
F
euer, Feuer, Feuer, Stellungen halten schnell gehen. So hatte ich es gelernt. Ist es doch
und Feind vernichten. Alles wird gut.“ das, was von mir verlangt wird. Ist es doch das,
Immer wieder gebe ich diesen Befehl. was in der Aufgabenbeschreibung eines KompaSage ihn persönlich oder gebe ihn per niechefs steht: seine Kompanie im Gefecht zu fühFunk weiter, damit alle Soldaten und ren. Wir befanden uns mittlerweile seit mehr als
Führer wissen, dass ihr Kompaniechef zwei Stunden im Feuerkampf und es sollte mindesnoch da ist. Alle können mich nicht sehen, da wir tens noch einmal doppelt so lange gehen. Im
auf einer Länge von über 500 Metern in
einen Hinterhalt der Taliban geraten sind.
„Ein Plan ist nur so lange gut, bis
Aber die, die mich sehen können, schauen
mich immer wieder an. Es sind diese Blicke,
der erste Schuss fällt“
die einem sagen: „Wir vertrauen dir, wir folgen dir, aber bitte
hol uns hier raus.“ Diese Blicke,
„Wir vertrauen dir, wir folgen dir, diese Angst, diese Hoffnung und die- Nachhinein titelte die Bildzeitung, dass es das
ser Mut meiner Männer und Frauen schwerste Feuergefecht seit Monaten war. Kaufen
aber bitte hol uns hier raus“
zeigen mir, dass ich bei klarem Ver- kann man sich davon nichts. Lag es doch an mir,
stand sein muss, um die richtigen dies eigentlich zu verhindern. Hatte ich doch wie
Entscheidungen zu treffen. Nur, was immer alles versucht, vorauszuplanen, jede Kleiist richtig? Was ist gut oder schlecht? nigkeit einzuberechnen, jede Individualität zu
Sollen wir weiter verteidigen? Sollen wir angreifen berücksichtigen, hatte meine Spezialisten befragt,
oder sollen wir, sobald die Lage es wieder hergibt, ob das so funktionieren könnte, ob sie Ideen hätten oder Anmerkungen, meine Männer eingewieso schnell wie möglich ausweichen?
sen und wieder gefragt, ob das so ginge. Heute
Gedanken, Nachdenken, Funken, Mut machen, weiß ich: Man könnte Wochen damit verbringen
Hoffnung geben und immer wieder Nachdenken und es würde doch alles anders kommen.
– dies beschäftigt mich pausenlos. Ich gebe an
diesem Tag, so wie während meines ganzen Ein- Wie heißt es doch so schön: „Ein Plan ist nur so
satzes, nicht einen Schuss mit meinem Gewehr ab, lange gut, bis der erste Schuss fällt“, aber ich
aber ich führe, koordiniere, plane, organisiere, wollte das Bestmögliche für meine Männer tun.
melde und funke von links nach rechts und von Ich bin kein Heißsporn, kein Rambotyp, welcher
oben nach unten. Alles muss gleichzeitig und nach Ruhm, Ehre und Orden strebt. Ich bin Famili-
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Unter dem Schutz des Heiligen
Christophorus wissen gläubige
Sodatinnen und Soldaten
sich durch alle Untiefen ihres
Einsatzes getragen.
Wer motiviert eigentlich
den Motivator?
Ich liege mittlerweile hinter
meinen vorderen Fahrzeugreifen, um etwas
Deckung zu bekommen. Ins Fahrzeug hinein
komme ich schon seit Stunden nicht, da dieses
ununterbrochen beschossen wird. Also lasse ich
mir die beiden Funkgeräte durch die Fahrertür
nach unten reichen und da ist plötzlich diese Meldung: „Delta 1, Munition bei 80 Prozent und ein
Verwundeter.“ „Scheiße“, sage ich zu meinem
Funker, welcher seit Beginn des Feuergefechtes
nicht von meiner Seite gewichen ist und pausenlos
das Feuer des Feindes erwidert. Ich frage nach,
wer der Verwundete sei, welche Verletzung er
habe und wie wir ihn bergen könnten. Aus dem
Augenwinkel sehe ich, wie der Doc bereits alles
vorbereitet. Ich frage beim Zugführer nach, aber
auch dieser weiß noch nicht so genau, was passiert ist. Chaos macht sich langsam in meinem
Kopf breit, und dann kommt dieser erlösende
Funkspruch: „Delta 1, Munition bei 80 Prozent,
keine Verwundeten, ich wiederhole, keine Verwundeten.“ Ich schaue zum Himmel und sage:
„Danke.“
Seit diesem Tag meldeten alle nur noch den Verbrauch der Munition und dabei sollte es auch bleiben. Ich habe alle Soldaten mit nach Hause
gebracht. Wir hatten keine Verwundeten oder
Gefallenen. Nur leider ist nicht jeder so zurückgekehrt, wie er nach Afghanistan gegangen ist. Wir
haben alle etwas von uns da gelassen und einige
kämpfen heute noch damit. Wir sind alt geworden. Ich bin mit 21-jährigen Jungs in den Krieg
gegangen und mit 21-jährigen Männern nach
Hause gekommen. Viele sind zu schnell gealtert.
Die Kompanie befindet sich immer noch im Hinterhalt und der Feind greift mittlerweile von allen
Seiten an. Dabei ist dieser zeitweise – unerkennbar, weil gut gedeckt – schon bis auf drei Meter
an uns herangekommen und
schießt mit allem, was er hat.
Erst versucht er es mit
uns!“
Gewehrschüssen und Panzerfäusten und am Ende schlägt
15 Meter hinter uns noch eine
BM-1-Rakete ein. Pausenlos werden wir beschossen und endlos scheint die Munition des Feindes
zu sein. Endlos sind auch meine Gedanken an diesem Tag und noch lange danach, stellenweise
auch heute noch. Ich ertappe mich bei dem
Gedanken, dass ich doch in fünf Tagen Geburtstag
habe und dass ich Angst habe zu sterben. Aber es
ist nur ein kurzer Augenblick. Ich habe keine Zeit,
jetzt über so etwas nachzudenken. Was sollte es
auch nützen. Ich schaue wieder in den Himmel,
sage nur noch „Hilf uns!“ und mache weiter, im
Vertrauen darauf, dass alles gut werden wird.
zweier gezielter 500-Pfund-Bomben, welche wir
zwischen uns und dem Feind zum Einsatz gebracht
haben, ausweichen. Ein liegen gebliebenes Fahrzeug haben wir ebenfalls durch solch eine Bombe
zerstören müssen. Kurze Zeit danach stehen wir
schon wieder im Feuerkampf. Der Feind hatte
einen Folgehinterhalt angelegt und irgendwie
scheint es, als gehe dieser Tag nicht zu Ende. Er
sollte uns weit mehr als 16 Stunden mit Feuerkämpfen, Hinterhalten und Suchen nach IED
(Improvised Explosive Device = unkonventionelle
Spreg- und Brandvorrichtung) beschäftigen, aber
auch danach ist für die meisten dieser Tag noch
nicht beendet. Einige durchleben oder denken
immer noch an diese Stunden. Viele feiern ihren
1200 Meter ostwärts von uns, am anderen Flussufer.
Aus dieser Stellung konnte uns der Feind auch
komplett einsehen und jede Bewegung an die
anderen Gruppen melden. Mit dem Mörser wollte
ich auf die feindliche Stellung schießen, um mich
vom Feind lösen zu können.
Plötzlich meldet der Beobachtungsoffizier, welcher
sich auf der anderen Seite des Flusses auf einem
Hügel befindet, dass sich Frauen und Kinder in der
Nähe der Kämpfer aufhielten. Ich frage ihn, ob er
genau einsehen könne, ob sie sich aktiv beteiligten oder vom Feind benutzt würden, damit wir
nicht auf ihn schössen. Beides war uns seit Längerem bekannt und der Feind kannte unsere Einsatzgrundsätze. Doch er kann es nicht mit
hundertprozentiger Sicherheit sagen und so entschließe ich mich, erst einmal nicht zu feuern.
Ich blicke in die Gesichter meiner Männer, welche
mich fragend ansehen ... „Warum nicht, Herr
Hauptmann, sollen lieber wir sterben?“ Ich versuche ihnen zu versichern, dass ich alles tun
werde, was in meiner Macht stünde, uns alle
Es war nicht das erste Feuergefecht, in dem wir lebend hier rauszubekommen, dass aber auch
standen. Meine Kompanie hatte sich schon in den andere dieses Recht hätten. Das Recht zu leben.
Auch wenn ich
unterschiedlichsstellenweise selbst
ten Regionen und
nicht mehr daran
Situationen
„Warum nicht, Herr Hauptmann,
geglaubt habe,
bewährt. Es war
sollen lieber wir sterben?“
aber sie verstehen
auch nicht das
es, auch wenn es
längste oder hefihnen anfangs
tigste Feuergefecht in unserem Zeitraum.Es waren dieser Wille schwerfällt. Sollte ich also Frauen und Kinder schütdes Feindes und diese ausweglose Situation, die zen und meine Männer opfern oder sollte ich Frauen
dieses Gefecht für mich an diesem Tag so einzig- und Kinder opfern, um meine Männer zu schützen?
artig machten. Wir konnten nach einiger Zeit die Hätte ich an diesem Tage gewusst, dass ich fast
Hauptkampfstellung des Feindes ausmachen und genau auf den Tag einen Monat später in meinem
ich ließ den Mörser grob in diese Richtung die Fahrzeug angesprengt werden würde, und zwar verBodenplatte festschießen, sodass ich schnellst- mutlich von genau denselben Männern, die uns an
möglich reagieren konnte. Kurze Zeit darauf sah diesem Tag beschossen, dann hätte ich wahrscheinich auch schon die Leucht- und Rauchsignale am lich nicht gezögert. Aber wir sind, was wir sind, und
Himmel und ich wusste, dass der Mörser nun treffen unsere Entscheidungen, ohne zu wissen, was
bereit sein musste. Die Stellung lag circa 900 bis die Zukunft bringen wird. Später können wir mithilfe
Fotos: Mike Zimmermann; Herbert Orth/TIME & LIFE Images/gettyimages.com
envater und habe Verantwortung und diese ist
stellenweise so groß, dass keiner es sich vorstellen
kann, was dies heißt. Verantwortung ist unteilbar.
Ich will sie gar nicht teilen. Nur macht Verantwortung auch einsam und die Luft wird stellenweise
sehr dünn. Wer motiviert
eigentlich den Motivator?
Wohin kann er gehen? Woher
„Hilf
bekommt er seine Kraft?
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zweiten Geburtstag an diesem Tag oder haben
sich das Datum auf den Körper tätowiert, um
daran erinnert zu werden, dass das Leben kostbar
ist und man keine Sekunde verschenken sollte, da
es schneller zu Ende sein kann, als man denkt.
Kurze Zeit später hielt der Pfarrer einen Feldgottesdienst extra für uns ab und fast alle Soldaten,
welche an diesem Feuergefecht beteiligt gewesen
waren, nahmen daran teil und nahmen sich am
Ende eine Christophorusplakette mit. Einer meiner
Soldaten sagte an diesem Abend: „Es sind die
kleinen Dinge, an die man sich klammert, wenn
man das Gefühl hat, dass es zu Ende geht“, und
steckte sich gleich zwei Plaketten ein. Eine in die
linke und eine in die rechte Hosentasche; er sollte
sie bis Einsatzende immer dabeihaben. Genau
deshalb bin ich stolz auf meine Männer. Auch
wenn sie kurzzeitig Groll hegten und sich am liebsten das eine oder andere Mal rächen wollten,
kamen sie nach einer langen ruhigen Nacht und
vielen Gesprächen am Tage darauf immer wieder zu
derselben Erkenntnis, dass man Gleiches nicht mit
Gleichem vergelten soll und dass man nach vorne
blicken muss. Auch ich habe meine Plakette noch
und gerade heute erscheint sie mir wichtiger denn
je. Erinnert sie mich doch an diesen Tag und daran,
dass das Leben endlich ist. „Alles wird gut“, sagte
ich immer zu meinen Männern und Frauen, bevor
wir aus dem Lager fuhren, und am Ende sollte
tatsächlich alles gut werden.n
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zum Thema | Ausgabe 2.2012 | Einsatzbelastung, Verantwortung und Schuld | Unterrichtsmaterial
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Materialteil zum
Lebenskundlichen Unterricht
zum Thema, Ausgabe 2.2012
Einsatzbelastung,
Verantwortung und Schuld
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Gewissenskonflikt und goldene Regel
Kerstin (21) ist schwanger. Ihr Freund, der Bundeswehrsoldat
ist und vor einem Auslandseinsatz steht, reagiert entsetzt, als
sie es ihm sagt. Er versucht, ihr die Schuld zuzuschieben und
sich aus der Affäre zu ziehen. Eine Freundin spricht aus, was
viele andere denken: „Das lässt du doch wegmachen. Ist doch
heute kein Problem mehr.“ Kerstin denkt an ihre berufliche
Situation und fragt sich, ob und wie sie ihre Ausbildung
abschließen kann. Sie denkt an ihren Freund, der nicht Vater
sein will. Sie denkt an ihre Eltern, die zwar verständnisvoll
sind, aber voraussichtlich durch das Kind zeitlich und finanziell sehr beansprucht werden. Sie denkt an ihre Freundinnen
und Bekannten, die viel mehr Freiheit haben werden als sie
selbst. Und immer wieder denkt sie an das Kind. Dann sagt
sie: „Nein, ich kann das nicht tun, was so viele erwarten. Ich
hätte nie mehr ein reines Gewissen. Ich behalte mein Kind.“
Die sogenannte goldene Regel besagt:
„Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“
Pflichtenkollision (Pflicht gegen Pflicht): Risikoabwägung
Die deutsche Besatzung eines in Afghanistan eingesetzten
Hubschraubers erhält den Auftrag, zwei schwer verletzte
deutsche Soldaten in der Nähe von Kunduz auszufliegen.
Kurz nach der Landung gelingt es noch, den ersten Verletzten
an Bord der Maschine zu nehmen, aber die Bergung des
zweiten deutschen Soldaten gerät in Schwierigkeiten und
verzögert sich. In der Zwischenzeit wird die Maschine von
einer aggressiven und teilweise bewaffneten Menschenmenge
massiv bedroht; der Hubschrauber wird zunächst mit Steinen
beworfen und zusehends beschädigt.
Vor dem Hintergrund dieser Situation ist es unausweichlich,
dass der Luftfahrzeugführer eine Entscheidung trifft: Entweder
Oder positiv ausgedrückt:
„Behandle andere so, wie du selber behandelt werden möchtest!“
Was könnte diese Regel für jede einzelne Person in diesem Beispiel bedeuten?
er gibt sofort den Befehl zum Starten, um so der Gefahr zu
entgehen, dass der Hubschrauber flugunfähig wird. Dies
bedeutet, dass der zweite deutsche Soldat zurückgelassen
werden müsste.
Oder soll unter Inkaufnahme des Risikos für die Flugsicherheit und die Sicherheit der Besatzung noch gewartet werden? Es besteht die nicht unbegründete Gefahr, dass dabei
letztlich alle Insassen ums Leben kommen könnten. Der Luftfahrzeugführer muss eine Entscheidung treffen. Was hat er
zu bedenken? Wie leicht oder wie schwer wird ihm die Entscheidung fallen?
für die junge Frau:
für den Bundeswehrsoldaten:
für die Freundin:
Notieren Sie einige Aspekte, die der Flugfahrzeugführer bei seiner
Entscheidung zu berücksichtigen haben wird:
für die Eltern der jungen Frau:
für eine weitere wichtige Bezugsperson, auch wenn sie in diesem Beispiel nicht genannt ist:
Unterrichtsmaterial 2.2012
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Wer ist schuld?
Tom ist 26. Er steht vor Gericht, weil er ein Mädchen schlimm verprügelt hat. Tom
ist nicht zum ersten Mal hier. Er hat schon als Jugendlicher Autos geknackt und
gestohlen. Im Viertel ist er bekannt für seine Straftaten.
Tom ist bei seiner Mutter aufgewachsen. Seinen Vater kennt er nicht. Seine Mutter
trinkt viel zu viel Alkohol. Sie ist oft aggressiv und schreit herum. Sie konnte nicht
gut für Tom sorgen. Bei der Gerichtsverhandlung sagt Toms Verteidiger deshalb:
„Tom soll nicht allzu hart bestraft werden. Denn er hatte ein schlechtes Elternhaus.“ Damit meint er: Tom ist nicht zufällig so, wie er ist. Seine Eltern haben ihn
vernachlässigt. Deshalb konnte er sich nicht gut entwickeln.
Der Staatsanwalt ist anderer Meinung. Er sagt: „Tom hatte zwar eine schwere
Kindheit. Aber jetzt ist er kein Kind mehr. Irgendwann ist jeder selbst für sein Handeln verantwortlich. Seine Mutter hat zwar nicht gut für ihn gesorgt. Aber sie ist
nicht schuld daran, dass Tom das Mädchen verprügelt hat.“
Auf Unbeteiligte geschossen …?
Während eines Gefechts haben sich Angreifer hinter einer Lehmwand (Hauswand) verschanzt. Die angegriffenen Soldaten richten
die Kanone eines „Marder“ auf die Wand, schießen und zerstören
diese. Später fragen sie sich: Was aber ist, wenn sich hinter der Häuserwand vielleicht auch Unbeteiligte aufgehalten haben?
In der Tat: Was ist, wenn sich später herausstellen sollte,
dass sich tatsächlich auch Unbeteiligte dort aufgehalten haben?
Wie ist das Verhalten der Soldaten zu bewerten?
aus: Julia Knop, Die großen Fragen der Menschen.
Ethik für Kinder, Freiburg: Herder 2009, S. 17 f.
Was denken Sie: Ist Tom schuldig? Ist er für sein Handeln verantwortlich?
Hätte er das Mädchen auch in Ruhe lassen können?
Ein Militärseelsorger berichtet
Beispiele aus dem militärischen Alltag im Auslandseinsatz
„Ich habe einen Angreifer getötet.“
Nach einem Gefecht bittet ein Soldat den Militärseelsorger um ein
Gespräch und erzählt, dass er heute auf einen Angreifer geschossen und ihn auch getroffen habe; er vermute, dass dieser tot sei.
Jetzt plage ihn aber kein schlechtes Gewissen, wie er es eigentlich
erwartet hätte. Und er fragt den Seelsorger: „Stimmt da etwas
nicht mit mir?“
Was mag der Soldat mit seiner Frage meinen?
Einer der ersten Auslandseinsätze führte die
Bundeswehr nach Kambodscha. Sie baute dort
im Auftrag der UNO ein Feldhospital auf, das
allein für verletzte UN-Soldaten zuständig sein
sollte, und stellte das Sanitätspersonal. Ein Militärseelsorger begleitete die Truppe. Auf der
Intensivstation dieses UN-Feldhospitals mussten
mitunter Entscheidungen über Leben und Tod
getroffen werden. Einheimische Patienten, die
dort aus humanitären Gründen behandelt wurden, aber eigentlich gar nicht hätten aufgenommen werden dürfen, mussten im Einzelfall von
Intensivmaßnahmen getrennt werden, wenn ein
verletzter oder verwundeter UN-Soldat ein-
geliefert wurde, der den Intensivplatz zum
eigenen Überleben benötigte. Die Entscheidung darüber, welcher Einheimische die
geringste Lebenserwartung hatte und deshalb
den Intensivplatz räumen sollte, wurde von
einem Ärztekollegium getroffen – auf Bitten
der Ärzte unter Beteiligung des vor Ort anwesenden Militärgeistlichen. Diese endgültigen
Entscheidungen zu treffen war nicht nur für
die betroffenen Ärzte eine hohe Belastung, die
Mitverantwortung stellte auch für den Militärseelsorger eine schwere Bürde dar. Und die
Frage nach der Schuld bewegt ihn bis heute.
Unterrichtsmaterial 2.2012
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Kameradenhilfe
„Hätte ich ihn erschießen sollen?“
Ein Soldat der Bundeswehr war in Afghanistan mit afghanischen
Kameraden auf Patrouille unterwegs. Unerwartet und unvorhersehbar sahen sie sich plötzlich einem Angriff gegenüber. Einer der
afghanischen Soldaten wurde schwer verwundet, daraufhin flüchteten die übrigen. Der deutsche Soldat aber blieb und rettete unter
Einsatz seines Lebens dem afghanischen Kameraden das Leben.
An einem Checkpoint an der Grenze zwischen dem Kosovo und
Mazedonien haben ein deutscher und ein mazedonischer Soldat
Dienst. Eines Tages geschah es, dass ein privater Pkw vom Kosovo
aus auf die Grenze zufuhr. Die Vermutung lag nahe, dass es Kosovaren waren, die nach Mazedonien fliehen wollten. Und während
die beiden Soldaten das Auto auf sich zufahren sahen, erhob plötzlich der mazedonische Soldat seine Maschinenpistole und schoss auf
das Auto. Nach einer Schrecksekunde, weil darauf nicht vorbereitet,
schlug der deutsche Soldat den Mazedonier nieder, lief zum Auto
und sah, dass sich darin eine Familie mit zwei kleineren Kindern
befand. Eines der beiden Kinder lebte noch, während die anderen
Insassen tot waren. Schnell holte er ärztliche Hilfe, aber das Kind
erlag dann doch später seinen Verletzungen. Der mazedonische Soldat wurde zunächst festgenommen. Doch der zuständige Oberst
musste dem deutschen Soldaten klarmachen, dass man den mazedonischen Soldaten nicht gefangen halten dürfe. Ihn vor ein Gericht
zu bringen, sei Aufgabe der mazedonischen Armee. Ihr übergab
man den Gefangenen, doch sie ließ ihn sofort frei. Kosovo-Albaner
waren in den Augen von Mazedoniern „Untermenschen“, sie umzubringen wurde nicht als Verbrechen angesehen. – Für den deutschen Soldaten ist dieses Erlebnis bis heute ein Trauma und er fragt
sich, ob er nicht seine Pistole hätte ziehen und seinen mazedonischen Kameraden erschießen sollen.
Hätte man dem deutschen Soldaten einen Vorwurf machen können,
wenn er mit den afghanischen Soldaten geflohen wäre?
Wenn Sie meinen, ja: Unter welchen Voraussetzungen hätte man
ihm eventuell keinen Vorwurf machen können?
Wenn Kinder sterben …
In einem Schulgebäude in einem afghanischen Dorf befinden sich
Kinder. ISAF-Soldaten versuchen, den Kindern die Angst vor ihnen
zu nehmen und Kontakt aufzubauen. Die Kinder trauen sich heraus,
nehmen die Süßigkeiten an, die die Soldaten ihnen anbieten. Von
Weitem beobachtet eine andere Einheit das Geschehen rund um
das Schulgebäude. Es nähern sich Menschen mit weißen Fahnen,
vorgeblich friedliche Zivilisten. In Wahrheit handelt es sich jedoch
um Terroristen, im Schulgebäude haben sie ihre Waffen versteckt.
Der Oberst trifft die Entscheidung schnell, das Gebäude zu beschießen.
Alle Kinder sterben.
Kann man dem deutschen Soldaten einen Vorwurf machen und,
wenn ja, mit welcher Begründung?
Eine Verantwortungsethik fordert, auch nach den absehbaren zukünftigen
Folgen eines Tuns oder Unterlassens zu fragen und diese im Urteil
mitzuberücksichtigen. Wie ist im Hinblick darauf die
Entscheidung des Obersts zu bewerten?
Wie sind folgende zwei Szenarien zu beurteilen?
1.
Der deutsche Soldat erschießt den mazedonischen Soldaten, bevor dieser auf das Fahrzeug schießen kann.
2.
Der deutsche Soldat schafft es nicht, so schnell seine Pistole zu ziehen, und erschießt den mazedonischen Soldaten, während dieser auf das Fahrzeug schießt.
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Unterrichtsmaterial 1.2012
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SUDOKU
So geht's: Füllen Sie die leeren Felder des Sudokus mit Zahlen.
Dabei müssen in jeder Zeile, in jeder Spalte und in jedem der
quadratischen Neuner-Blocks aus 3 x 3 Kästchen alle Zahlen von
1 bis 9 stehen. Keine Zahl darf also in einer Zeile, einer Spalte
oder einem Block doppelt vorkommen.
Viel Spaß beim Lösen!
Impressum
zum Thema – Themenmagazin für
Soldatinnen und Soldaten zum
Lebenskundlichen Unterricht
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Die nächste Ausgabe
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„Ich habe getötet!“ Schlusslektorat
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Autoren/Textzusammenstellung
Manfred Suermann,
Mike Zimmermann

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