William Shakespeare Hamlet

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William Shakespeare Hamlet
William Shakespeare
Hamlet
Meine heutige Einführung in einen Höhepunkt der Weltliteratur möchte ich mit einem Gedicht beginnen.
Astern
Astern - schwälende Tage,
alte Beschwörung, Bann,
die Götter halten die Waage
eine zögernde Stunde an.
Noch einmal die goldenen Herden,
der Himmel, das Licht, der Flor,
was brütet das alte Werden
unter den sterbenden Flügeln vor?
Noch einmal das Ersehnte,
den Rausch, der Rosen Du der Sommer stand und lehnte
und sah den Schwalben zu,
Noch einmal ein Vermuten,
wo längst Gewissheit wacht:
Die Schwalben streifen die Fluten
und trinken Fahrt und Nacht.
Es ist ein Gedicht von Gottfried Benn, ein Gedicht aus dem 20. Jahrhundert, und
es hat mit Shakespeares „Hamlet“ nichts zu tun. Aber es hat sehr viel zu tun mit
der Art und Weise, mit welcher wir an das Stück von Shakespeare herantreten
müssen.
In einem rationalen und logischen Sinn können wir das Gedicht nämlich nicht verstehen. Es entzieht sich der Logik, es entzieht sich dem rationalen Verstehen. Und
wer mit Rationalität und gutem Willen eine Interpretation versucht, der wird entweder scheitern, nicht über Banales hinauskommen oder eine Interpretation liefern, die gerade so gut mit gleichem Recht völlig anders sein könnte. Lesen Sie
Kafkas Erzählungen: Auch hier werden Sie mit dem Willen zum rationalen Verstehen nicht weit kommen. Aber das schliesst nicht aus, dass wir von den Gedichten
Benns und von der Prosa Kafkas aufs tiefste ergriffen sind. Benn zaubert im Gedicht „Astern“ eine Spätsommerstimmung hervor, der man sich nicht entziehen
kann und die vor allem auch gar keine rationale Deutung verlangt. Und bei Kafka
spüren wir immer und unfehlbar die Angst vor dem Numinosen, die Unbehaustheit
in unserer Welt. Das rationale Verständnis wäre hinderlich sogar. Eine Spätsommerstimmung ist eben nichts Rationales und gerade die Angst und das würgende
Gefühl bei Kafka würde sich in nichts auflösen, wenn wir es rational deuten könnten.
Es ist ein Merkmal der Literatur des 20. Jahrhunderts, dass sie sich dem rationalen
Verstehen oft entzieht, gerade dadurch aber in uns eine ungeheure Wirkung erzielt, die wir nicht zu deuten vermögen.
Warum sollte diese Wirkung, die das rationale Nicht-Verstehen in uns auslöst, nicht
schon im Theater des 16. Jahrhundert möglich sein? Shakespeare ist wohl der
grösste Dramatiker, den die Welt je gesehen hat. Warum sollte ihm dieses Mittel,
beim Zuschauer eine tiefe Wirkung zu erzielen, nicht auch zu Gebote gestanden
William Shakespeare: Hamlet
haben? Denn: Die Tragödie „Hamlet“ lässt sich rational-logisch nicht verstehen!
Mit Logik und Verstand ist dieser grössten Tragödie der Weltliteratur nicht beizukommen. Sie werden heute Abend, ich bin überzeugt, ganz tief beeindruckt nach
Hause gehen. Aber es wird Sie nicht eine Erkenntnis beeindruckt haben, sondern
Sie werden nach Hause gehen mit dem Gefühl, Zeuge gewesen zu sein eines grossartigen Stückes über das unerklärliche Menschsein, dem wir immer wieder verständnislos gegenüber stehen. Was aber macht den Hamlet so bedeutend? Er
bringt viele Rätsel unserer Kultur in eine Form, gibt ihnen einen Namen und ein
Gesicht und macht sie damit erst behandelbar. Etwa: Was sind die Folgen von
grossen Verbrechen? Was passiert, wenn man auf die Vergangenheit fixiert bleibt?
Wie erklärt man sich diese erste Darstellung des Lebensekels?
Thomas Stern Elliot hat den „Hamlet“ die „Mona Lisa der Literatur“ genannt, er sei
so unergründlich wie deren Lächeln. Es ist eigentlich gar nicht möglich, genau zu
sagen, was in diesem Stück wirklich passiert, so dass der nämlich Elliot an einem
anderen Ort gesagt hat: „Wir müssen etwas verstehen, was Shakespeare selber
nicht verstand“.
Versuchen wir trotz alledem jetzt eine Inhaltsangabe: Wir befinden uns in Helsingör am Hofe des dänischen Königs, zu einer unbestimmten Zeit. Folgende Personen treten auf: König Claudius von Dänemark, Hamlet, der Sohn des vorigen und
Neffe des jetzigen Königs. Dann Getrude, Hamlets Mutter, Witwe des vorigen Königs und Ehefrau des jetzigen. Horatio, ein Freund Hamlets, Polonius ein Höfling,
Ophelia, dessen Tochter und Laertes, dessen Sohn. Die beiden Hofleute Rosenkranz und Güldenstern und schliesslich Fortinbras, der Prinz von Norwegen.
Prinz Hamlet ist von der Luther-Universität Wittenberg nach Helsingör an den Hof
zurückgekehrt: Sein Vater ist tot, und Claudius, der neue König, ein Bruder seines
Vaters, hat schon Hamlets Mutter geheiratet. Hamlet vermutet einen Brudermord.
Dies wird ihm in der Nacht vom Geist seines Vaters bestätigt, Dieser erscheint ihm,
trägt ihm auf, den Brudermord zu rächen, dabei aber Gertrude, seine Mutter, zu
schonen. Hamlet ist entschlossen, die Rache sogleich in die Tat umzusetzen, er
meint aber, wenn er sich wahnsinnig stelle, ein „wunderliches Wesen“ annehme,
scheinbar zusammenhangslose, doppeldeutige Sätze spreche, dann könne er Claudius provozieren, zugleich aber auch seinen Ekel vor einer Welt und einem Hofe,
an dem solche Schandtaten möglich sind, verbergen. Hamlet kommt aus Wittenberg von der protestantischen Universität. Er braucht einen konkreten Beweis für
die Schuld Claudius, weil nach protestantischer Auffassung ein Geist immer auch
vom Teufel geschickt sein könnte. Als Protestant glaubt Hamlet nicht mehr an das
Fegefeuer. Tote sind endgültig tot und Gesitern gegenüber ist grösste Vorsicht
geboten.
Polonius, der Kämmerer, ein schwatzhafter und einfältiger Mensch, vermutet
dagegen, dass Hamlet verwirrt sei, weil seine Liebe zu seiner Tochter Ophelia nicht
erwidert werde. Hamlet möchte Ophelia in seiner Situation und Aufgabe nicht an
sich binden, er beleidigt sie deshalb masslos, in der Hoffnung, dass sie sich dann
von ihm trenne. Er schickt sie, angewidert von Mord, Dache und dem Lauf der
Welt, in ein Kloster oder in ein Bordell – je nach Übersetzung.
Da erscheint eine Schauspieltruppe und Hamlet bekommt die Gelegenheit, den
Beweis für die Untat des Claudius zu erbringen. Er lässt die Truppe ein Stück
aufführen, in welchem ein König auf die gleiche Weise wie Hamlets Vater ermordet
wird und der neue König dann sogleich die Königin heiratet. Claudius erkennt seine
Tat im Stück und ergreift, bevor das Spiel zu Ende ist, mit seinem Hofstaat die
Flucht. Nun hat Hamlet Gewissheit, aber er vollzieht die Rache nicht, als sich kurz
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William Shakespeare: Hamlet
darauf die ideale Gelegenheit bietet. Der König betet und ist ungeschützt. Aber
Hamlet sticht nicht zu, weil er Claudius nicht in der Phase der Reue töten will und
auch, weil er fürchtet, dass er in den Himmel käme, würde er ihn während des
Gebets erstechen. Vielleicht sucht er aber nur einen Vorwand, um nicht töten zu
müssen.
Hamlet wendet sich nun seiner Mutter zu und klagt sie unbarmherzig und hart an,
den Mord gebilligt zu haben und ihn mitzuverantworten. Polonius lauscht hinter
einem Vorhang und macht sich durch ein Geräusch bemerkbar. Hamlet vermutet
den König und sticht gandenlos zu und tötet Polonius. Der Geist erscheint Hamlet
zum zweiten Mal und erinnert ihn daran, die Mutter zu schonen und den Mord
endlich zu rächen.
Der König erkennt, dass der Mord an Polonius ihm gegeolten hat. Um Hamlet zu
beseitigen, schickt er ihn nach England. Güldenstern und Rosenkranz, zwei
Hofleute und Schulkame-raden Hamlets, sollen ihn begleiten. Diesen beiden gibt
er einen Mordbrief mit; der Empfänger, wohl der König von England, soll Hamlet
bei der Ankunft ermorden. Hamlet entdeckt aber den Brief und ändert ihn
gnadenlos ab. Nun werden bei der Ankunft Güldenstern und Rosenkranz ermordet.
Hamlet kehrt nach Dänemark zurück und wird Zeuge der Beerdigung von Ophelia:
sie ist seelisch und geistig verwirrt im Fluss ertrunken. Die Trauergemeinde
erscheint, darunter auch der König und die Königin und Ophelias Bruder Laertes.
Dieser ist entschlossen, den Tod seines Vaters Polonius an Hamlet zu rächen.
Claudius schlägt vor, dass Hamlet und Laertes sich duellieren sollen. Natürlich hofft
der König, dass Laertes Hamlet tötet. Um sicher zu gehen, gibt er ihm einen Degen
mit vergifteter Spitze. Für den Fall eines Sieges von Hamlet bereitet er für ihn noch
einen vergifteten Siegestrunk vor. Laertes verwundet Hamlet mit dem vergifteten
Degen, aber in der Hitze des Gefechtes vertauschen sich die Waffen und Hamlet
tötet Laertes. Dieser gibt sterbend den Mordplan des Königs preis. Da trinkt die
Königin versehentlich aus dem Giftbecher und strirbt. Hamlet zwingt darauf den
König, den Rest des Giftes zu trinken und stirbt selbst an der der vergifteten
Wunde. Da erscheint der Norweger Fortinbras, er wird das Erbe Dänemarks
antreten. Er lässt Hamlet mit königlichen Ehren bestatten, „denn er hätte, wäre er
hinaufgelangt, unfehlbar sich höchst königlich bewährt. „Der Rest ist Schweigen“,
das sind die letzten Worte Hamlets.
Vergegenwärtigen wir uns diese seltsame Handlung noch einmal an ihren Hauptpunkten:
Erstens: Der Geist von Hamlets Vater enthüllt, was geschehen ist und verpflichtet
seinen Sohn zur Rache. Er verpflichtet ihn aber auch, die Mutter zu schonen.
Zweitens: Hamlet will zuerst feststellen, ob der Geist überhaupt die Wahrheit gesprochen hat. Dazu stellt er sich wahnsinnig und arrangiert ein Theaterstück, das
den Mord am König darstellt.
Drittens: Hamlet will darauf – bevor er die Rachepflicht erfüllt – feststellen, welchen Anteil seine Mutter an den Verbrechen hat. Der Geist aber verbietet ihm dies.
Viertens: Der König erkennt, dass sein Verbrechen entdeckt worden ist und dass
er sich vor Hamlet schützen muss. Er sendet ihn nach England, aber sein Anschlag
misslingt. Darum trifft er sofort andere Vorkehrungen, Hamlet zu beseitigen.
Fünftens: Der Mordplan läuft ab. Der König begeht aber den Fehler, auch noch
vergifteten Wein einzusetzen. Dadurch stirbt die Königin und der wahre Verbrecher
wird entlarvt und getötet.
Damit ist die Weltordnung scheinbar wieder hergestellt, die Rache ist vollzogen,
auch wenn mehr aus Zufall und unter dem Druck der Ereignisse, denn als Willenstat Hamlets.
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William Shakespeare: Hamlet
Was soll man, meine Damen und Herren, zu einer solchen Handlung sagen? Was
soll das Ganze und vor allem, warum ist eine solch doch eher abstruse Handlung
Grundlage der wohl bedeutendsten Tragödie der Weltliteratur.
Hamlet ist bestimmt zuerst ein Kriminalstück: Es wird ein schreckliches Verbrechen
begangen, dann vertuscht und ein Geist bringt es ans Licht und fordert, dass das
Unrecht gesühnt wird.
Hamlet ist ein politisches Stück: Der legitime Herrscher Dänemarks ist heimtückisch ermordet worden, ein Verbrecher hat die Macht an sich gerissen. Der Zustand ist ein fortwährendes Verbrechen wider die Grundlagen des Gemeinwesens.
Ein Königsmord ist zur Zeit Shakespeares nicht nur ein Mord an einem Menschen,
sondern eine Schändung Gottes, weil in der mittelalterlich-universellen Ordnung
der König von Gott eingesetzt wird. Noch schlimmer ist es, den Bruder als König
zu ermorden. Brudermord ist eine Ursünde, wer den Bruder mordet, wird – wie
Kain – aus der Gemeinschaft mit den Menschen und mit Gott ausgestossen, er
kann der Gnade nicht mehr teilhaftig werden. Hamlet hat als politisches Stück eine
gewisse Historizität. Maria Stuart, die grosse Gegenspielerin der Königin Elisabeth,
soll ihren Mann, den Lord Darley ermordet haben, um kurz darauf den Lord
Bothwell zu heiraten.
Hamlet ist aber auch ein Mutter – Sohn Drama: Hamlets Mutter hat kurz nach der
Ermordung ihres Gatten dessen Bruder geheiratet. Im elisabethanischen England
galt das als Blutschande. Hamlet quälen Phantasien, was seine Mutter mit Claudius
im Bett treibe. Er sieht seine Mutter durch die Blutschande zum Tier abgesunken,
ihre Blutschande ist ein Anschlag auf die menschliche und göttliche Sittenordnung
schlechthin.
Hamlets ist ein Rachestück. Rachestücke waren zu Shakespeares Zeit beliebt. Aber
die alte Konzeption, in der Rache zur Wiederherstellung der Ehre geduldet war, ist
fragwürdig geworden. Für den protestantischen und damit aufgeklärteren Hamlet
ist die Selbstjustiz nicht mehr erlaubt. Rache ist Sache Gottes oder allenfalls des
Staates!
Das alles sind Ansatzpunkte, den Hamlet zu verstehen. Keiner führt aber zum Ziel,
die Tragödie verstandesmässig ganz zu erfassen. Alle erhellen Aspekte, alle eröffnen Einsichten, aber die wesentlichen Fragen bleiben offen. Das Stück ist und
bleibt so tiefgründig dunkel, dass es kaum möglich sein wird, es jemals wirklich zu
ergründen. Und dies vor allem aus einem Grund: Warum handelt Hamlet nicht?
Warum zögert er immer, den Auftrag seines Vaters auszuführen? Was hemmt ihn?
Dass er ein ewiger Zauderer ist, kann man nicht sagen. Polonius ersticht er hinter
dem Vorhang ohne einen Moment des Nachdenkens. Letztlich kreisen alle Versuche, Hamlet zu verstehen immer um diese Frage: Warum handelt er nicht?
Ich möchte Ihnen zwei Aspekte der Tragödie, zwei Einsichten und Ansätze zu vermitteln versuchen, die ich vorhin nicht erwähnt habe: Hamlet ist ein Seelendrama
und Hamlet ist ein Drama einer Zeitenwende. Beide Ansätze hängen eng zusammen, der Aspekt der Zeitenwende wird an der Figur des Hamlet aufgezeigt.
Die Tragödie beginnt als ein politisches Stück. Die Wachen am Königshof spüren,
dass politische Veränderungen im Gange sind. „Something is rotten in the state of
denmark“. Da erscheint der Geist, der von den Wachen nur als Vorbote kriegerischer Ereignisse gedeutet wird. Nicht so Hamlet. In diesem Moment wandelt sich
das Drama in sein Wesentliches: es wird zum Seelendrama. Es wird zum Drama
der Innenwelt Hamlets. Wir blicken in die Seele eines Menschen, dem – wie Goethe
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William Shakespeare: Hamlet
gesagt hat – „eine grosse Tat auf die Seele gelegt wird, die der Tat nicht gewachsen ist.“ Goethe gibt in seinem Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ eine wunderbare Deutung von Shakespeares Hamlet.
Wenn wir bereit sind, anzuerkennen, dass Shakespeare im Hamlet nicht eine
äussere Handlung zeigt, sondern die chaotische Innenwelt eines Menschen sichtbar zu machen, dann sind wir der Figur sehr nahe. Sigmund Freud hat zu Beginn
des 20. Jahrhunderts gezeigt, dass der Mensch nicht einfach Herr ist in seinem
Hause, dass er auch von Trieben, Irrationalität und von Sprunghaftigkeit geleitet
wird. Shakespeare nimmt in dieser Tragödie gleichsam Freud vorweg, und dies
mehr als dreihundert Jahre! Sehen wir die äusseren Ereignisse der Handlung mit
den inneren Augen Hamlets, so werden wir zwar die äussere Handlung deswegen
nicht besser verstehen, aber wir werden das Nicht-Verstehen nicht mehr als Mangel empfinden, sondern wir werden uns mit Hamlet identifizieren können, dem
Menschen, dessen Seele der geforderten Tat nicht gewachsen ist. Wir verstehen
also nicht das Stück, aber wir verstehen ihn!
Wenn wir die Tragödie so sehen, dann eröffnen sich zwei verschiedene Welten:
Die Welt des Hofes mit ihren Intrigen und andererseits die Innenwelt Hamlets. Und
diese Innenwelt eröffnet uns Shakespeare auf eine Art und Weise, wie wohl noch
niemals seelisches Geschehen auf der Bühne sichtbar gemacht worden ist: Nämlich
durch die Monologe Hamlets. In seinen Monologen ereignet sich das innere Geschehen und wird auf der Bühne gleichsam sichtbar. Der Monolog ist eigentlich
eine künstliche Form, die es allein auf dem Theater gibt. Niemand spricht, wenn
er denn Selbstgespräche führt, in dieser ausführlichen und wohlgesetzten Weise
zu sich selbst. Hamlets Monologe sind Zäsuren im Handlungsablauf. Die äussere
Handlung kommt zum Stillstand und wir werden gezwungen, die äussere Handlungsebene zu verlassen wird und uns in die Innenwelt zu begeben. Dass dies
gelingt, ist vor allem der Künstlichkeit des Monologs zu verdanken. Er ist ein Theaterelement, das uns an der Identifikation mit der Handlung hindert und dadurch
die Reflexion ermöglicht. Also eine Art episches Element.
Hamlets Monologe sind nun aber keineswegs klar und deutlich vorgetragene Einsichten, Pläne und Kommentare. Im Gegenteil. Die Monologe zeigen, wie die Gefühle, die in Hamlets Innenwelt toben, Gedanken gebären und wie diese Gedanken
wieder neue Gefühle hervorbringen. Wir Zuschauer sind Beobachter der inneren
Prozesse, die sich zwischen Hirn und Herz entfalten, wir sind Beobachter eines
Chaos zwischen nachvollziehbaren Ideen und irrationalen, diffusen Gefühlsausbrüchen, die einander in Rede und Gegenrede eines Menschen mit sich selbst entfalten. Hamlet ist in den Monologen nicht er selbst, er ist ein Werdender, ein vor
unseren Augen entstehender; was er sagt, ist nicht „wahr“ sondern Eindruck des
Moments, Reflex auf soeben Geschehenes. Shakespeare schickt uns – mit Hamlet
zusammen - in die „terra incognita“ der Innenwelt. Dies zweihundert Jahre vor der
Romantik und eben dreihundert Jahre vor Sigmund Freud.
Wir sind Zeuge, wie das Individuum Hamlet entsteht, wie aus der Figur ein Mensch
wird in all seinem Widerspruch, in all seiner Angst und in all seinem Leiden, aber
auch in all seiner Tatkraft und Entschlossenheit. Die Monologe sind die Schlüsselstellen: In einem Monolog gebiert er den Gedanken, sich wahnsinnig zu stellen und
damit den Wahnsinn und die Verstellung des Hofes herauszufordern, um zu wissen, ob der Geist die Wahrheit gesagt hat. Er begibt sich in der Verstellung auf die
gleiche Ebene wie der Hof und hält diesem gleichsam einen Spiegel vor. Ungemein
gesteigert wird diese Spiegelpose durch das Theaterstück, mit dem Hamlet den
König entlarven will. Hamlet bereitet mit der eben angekommenen Schauspieltruppe – „Verstellern“ aus Profession – das Stück vor, mit dem der König entlarvt werden soll. Zur Probe spricht ein Schauspieler einen Monolog, der sich an
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William Shakespeare: Hamlet
Vergils Aeneis anlehnt. Die darin enthaltene Handlung bildet genau Hamlets Situation ab. Pyrrhus soll den König von Troja rächen, tut aber im entscheidenden
Moment nichts, wie eben auch Hamlet nichts tut. Der Schauspieler ist aber in der
Lage, die Situation derart echt empfunden darzustellen, dass Hamlet inne wird,
dass ihm hier ein Spiegel vorgehalten wird, so wie er der Hofgesellschaft einen
Spiegel vorhalten will. Noch mehr aber wird er irritiert von der Tatsache, dass der
Schauspieler alle Gefühle echt darzustellen weiss, obwohl er ja als Mensch von der
Sache nicht betroffen ist. Die Szene scheint eine unbedeutende Nebenhandlung zu
sein, ist aber zentral. Hamlet fragt sich, wie ein Mensch, Gefühl echt spielen kann,
nur spielen kann, ohne es zu empfinden? Was würde ein solcher Mensch machen,
wenn er so tief hin und her gerissen wäre wie Hamlet? Er würde alles zerstören
und verbrennen! Und was tut er, Hamlet? Er tut nichts! Gar nichts! Hamlet wird
sich in dieser Szene selber fremd, er erkennt, dass man nichts Sicheres über einen
selbst sagen kann, dass das „wer bin ich?“ eine Frage ist, die niemand beantwortet
kann, am wenigsten wir selbst. Hamlet stellt die Frage nach dem „Ich“ und der
„Identität“ und wird inne, dass er sie nicht beantworten kann. Hamlet wird so zum
Menschen, der auf dem Wege ist, Bewusstsein seiner selbst zu erlangen! Hamlet
ist der erste moderne Mensch auf der Bühne und in der Literatur. Identität und Ich
in ihrer problematischen Form sind aber Themen der Literatur des 20. Jahrhunderts. Shakespeares Hamlet wurde aber 1601 uraufgeführt! Sie sehen die ungeheure welthistorische Bedeutung dieses Dramas!
„Wer bin ich und wenn ja wieviele?“ diesen Satz – ein Buchtitel unserer Tage könnte Hamlet gesagt haben. Wir wissen, dass das Ich und die Identität Chimären
sind, allenfalls Hilfskonstruktionen in einer Welt, in der alles relativ geworden ist.
Wir sind Hamlet – Studieren wir ihn, so erblicken wir uns selbst“
Es erhebt sich nun, meine Damen und Herren, die entscheidende Frage, warum
Shakespeare am Ende des 16. Jahrhunderts den modernen Menschen mehr als
dreihundert Jahre vor seinem Erscheinen voraussieht. Ist der Grund einfach das
Genie Shakespeares? Ist er einfach nicht mit den Massstäben des normalen
Menschseins zu messen, wie Mozart oder Bach? Oder gibt es einen anderen Grund?
Ich habe vorhin gesagt, dass Hamlet auch ein Drama einer Zeitenwende sei und
dass der Weg nach Innen damit einen engen Zusammenhang habe. Dieser Frage
möchte ich mich nun noch zuwenden.
Sigmund Freud – er wurde schon mehrfach erwähnt und hat übrigens auch eine
Hamlet-Deutung geliefert, in welcher er Hamlet und dessen Konflikt als Ausdruck
des Ödipuskomplexes deuten – Sigmund Freud also hat geschrieben, dass es in
der Geschichte der Menschheit drei grosse Erschütterungen des menschlichen
Selbstverständnisses gegeben habe. Drei Mal sei die Frage nach der Identität des
Menschen im tiefsten angegriffen und zerstört worden. Zum ersten Mal, als Kopernikus bewiesen hat, dass die Erde nicht das Zentrum des Universums ist, sondern
dass in der Mitte unseres Systems die Sonne sich befindet. Und dass die Erde nur
ein Planet ist vielen anderen.
Zum zweiten Mal sei des Menschen Selbstverständnis erschüttert worden durch
Charles Darwin, der gezeigt hat, dass der Mensch kein grundsätzlich anderes Lebewesen ist als das Tier, sondern sich durch Evolution aus den gleichen Wurzeln
entwickelt hat.
Die dritte Erschütterung – so Freud – habe er selbst verursacht, indem er gezeigt
habe, dass der Mensch nicht einmal im eigenen Hause Herr sei, sondern von Trieben, Irrationalität und dem Unbewussten geleitet werde.
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William Shakespeare: Hamlet
Freud würde heute bestimmt eine vierte Erschütterung dazu nehmen: Einstein hat
bewiesen, dass Zeit, Raum und Kausalität relativ sind, dass die bisher unerschütterlich geglaubten Kategorien eben auch nicht fest sind.
Obwohl ja diese Erschütterungen in unserem Alltag eigentlich keine Rolle spielen,
wir bewegen uns ja nicht mit Lichtgeschwindigkeit, sodass die Einstein’schen Rechnungen zur Anwendung kämen, so dürfen wir die Wirkung keineswegs unterschätzen. Man müsste auch meinen, dass es der Zeit Shakespeares, dem elisabethanischen Zeitalter, doch eigentlich hätte unwichtig sein können, ob die Erde im Mittelpunkt des Universums steht. Im täglichen Leben ändert sich da ja gar nichts.
Aber dem ist nicht so. Die kopernikanischen Entdeckungen müssen das Zeitalter
Shakespeares gewaltig erschüttert haben. Einmal ganz abgesehen davon, wie sehr
seine Entdeckungen auch die katholische Kirche in den Grundfesten in Frage gestellt hat.
Welche Geisteshaltung hat das Zeitalter Elisabeths I. bestimmt? Es war die wohlgeordnete Vorstellung einer universalen, unverrückbaren Ordnung und Hierarchie,
die eben universal war, also die Stabilität der Welt, des Kosmos und auch der
Gesellschaft garantierte. Gott – so die Weltanschauung der Zeit – hat ein Universum geschaffen, in der Mitte steht die Erde, ihretwegen wurde das Universum und
ihretwegen wurde auch der Mensch geschaffen. Im ganzen Kosmos herrscht eine
vernünftige und gottgewollte Hierarchie, eine klare Ordnungskette, die allem, was
existiert, einen Platz zuweist und es fest einbindet. Zuunterst in dieser Kette steht
die tote Materie, auch sie aber hierarchisch geordnet. Gold steht höher als Silber.
Dann steigt die Bedeutung in der Hierarchie über das Pflanzenreich und das Tierreich bis hinauf zur Krone der Schöpfung und Gottes Ebenbild, dem Menschen, der
körperhaft mit der Materie verbunden ist, aber durch seine Vernunft auch mit der
himmlischen Sphären teilhaftig ist, weil er Gott erkennen kann. Er kann auch die
Schönheit der Schöpfung erfassen. Die ordnungskette geht aber über den Menschen hinaus, er ist das oberste Materiewesen, aber das unterste Geistwesen. Er
ist damit der Schnittpunkt im Universum, der Mikrokosmos, in dem sich der Makrokosmos spiegelt.
Auch die menschliche Gesellschaft ist eingebunden in diesen Ordo. Der König steht
am höchsten, der Bettler am tiefsten Punkt. Jedem ist sein Platz zugewiesen, das
garantiert die Stabilität der Gesellschaft und das Glück auf Erden.
Sie spüren, meine Damen und Herren, dass dieses Weltbild die Grundlage ist von
Shakespeares Hamlet. Aber sie sehen auch, dass dieses Weltbild in dieser Tragödie
aufgelöst wird. In dieses Weltbild brechen nun Lehre und Entdeckungen des Kopernikus ein. Wenn die Erde nicht mehr der Mittelpunkt ist, wenn das Universum
nicht mehr der Erde wegen geschaffen und die Erde nicht mehr wegen des Menschen, dann gibt keine Stabilität mehr, keine Harmonie und keine Ordnung.
Die Zeit ist aus den Fugen; Schmach und Gram,
Dass ich zur Welt, sie einzurichten, kam.
Die neue Zeit, die Hamlet beschwört, ist eine ganz grundlegend neue Zeit. Das
kopernikanische Weltbild war nicht einfach ein Weltbild mehr, woran man glauben
konnte oder auch nicht. Kopernikus beweist, dass diese Weltharmonie, dieser umfassende Ordo gar nicht wahr sein kann. Weltbild ist nicht mehr eine Glaubensfrage, sondern eine Frage der Naturwissenschaft. Hamlet kommt zu Beginn des
Stücks aus Wittenberg, der Lutherstadt, also ist er Protestant. Luther, der zwar
das kopernikanische Weltbild noch ablehnt, fordert vom gläubigen Menschen eine
Gewissensprüfung. „Sola fide“ – nur durch den Glauben wird der Mensch der Gnade
teilhaftig. Also ist er immer aufgerufen, seinen Glauben zu prüfen, er steht immer
in der Verantwortung. Der Mensch wird zum Individuum. Luther leistet damit den
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William Shakespeare: Hamlet
ersten Schritt zu einem Menschen, der Bewusstsein seiner selbst hat. Die Geborgenheit im Weltbild ist nicht mehr gegeben, sie muss errungen werden. In seinem
Monolog im dritten Akt spricht
Meine Damen und Herren* Ich komme zum Schluss dieser anspruchsvollen Gedankengänge und wage eine Art Zusammenfassung.
Shakespeares Hamlet lässt sich nicht einfach rational verstehen und deuten. Bei
jeder Interpretation bleibt vieles ungeklärt und unverständlich. Trotzdem sind wir
seit mehr als dreihundert Jahren von dieser Tragödie fasziniert. Das rationale Verstehen ist keineswegs der einzige Zugang zur Literatur*
Den Hamlet kann man als Kriminalstück lesen, als politisches Drama, als MutterSohn-Drama und damit als Ausdruck des Ödipus-Komplexes.
Wir haben hier versucht, den Hamlet als Drama der Innenwelt des Protagonisten
zu deuten. Shakespeare macht die Innenwelt eines Menschen in all ihrem Chaos
und ihrer Triebhaftigkeit auf der Bühne ein erstes Mal sichtbar.
Zum Schluss ein Wort zu den Übersetzungen Shakespeares. Berühmt und immer
noch eine Art Standard ist die Übersetzung der beiden Romantiker Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck. Die meisten Buchausgaben enthalten diese Übersetzungen
oder basieren auf ihnen.
Übersetzungen gab es schon vorher: Wieland und Herder haben Prosaübersetzungen geliefert. Die Übersetzungen von Schlegel und Tieck und einigen Mitarbeitern
waren die ersten Versübersetzungen. Man kann die Bedeutung dieser Übersetzung
nicht hoch genug einschätzen. Sie hat Shakespeare gleichsam auch zu einem Autor
der deutschen Literatur gemacht, und sie hat grossen Einfluss genommen auf die
Entwicklung der deutschen Nationalsprache. In der Regel spielt man heute noch
diese Übersetzung. Heute Abend jedoch kommt eine andere, neue Übersetzung
zur Aufführung. Sind wir gespannt.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend!
30. Oktober 2015
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