Kindsein in Wien – Sozialpolitische und psychologische Intentionen

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Kindsein in Wien – Sozialpolitische und psychologische Intentionen
1
Fremdunterbringung zwischen Kontrolle und Partizipation.
Ein historischer Abriss
Gudrun Wolfgruber
In den letzten Jahren machten international ehemalige Heim- und Pflegekinder auf ihre
Gewalt- und Missbrauchserfahrungen in kirchlichen und öffentlichen Heimen wie auch in
ländlichen und städtischen Pflegefamilien aufmerksam. Nicht alle – aber viel von ihnen
haben Traumatisierungen erlitten und leiden heute an den Folgen.
Wie Ihnen sicherlich bekannt ist, entstanden auch in Österreich diverse Kommissionen
und Forschungsprojekte zur Untersuchung von Gewalt sowie den Lebensbedingungen und
Alltagserfahrungen einst fremd untergebrachter Kinder.1
Aufgrund meiner Erfahrungen in diesen Forschungszusammenhängen möchte ich in
meinem Vortrag einerseits diese Thematik beleuchten andererseits einen zeitlich Sprung
nach rückwärts bis in die Gründungsjahre einer modernen Jugendwohlfahrt vollziehen –
um auch Kontinuitäten nach vor und zurück in Theorie und Praxis der
Fremdunterbringung zu beleuchten.
Wien, Juni 1926: Die fünfjährige Magda Reiser wird aufgrund der Tuberkuloseerkrankung
und Mittellosigkeit ihrer Eltern von der Jugendwohlfahrt für fünf Wochen in der Wiener
Kinderübernahmsstelle (KÜST) untergebracht. Sie ist eines jener 3.224 Kinder, die 1926
aus ihren bisherigen familiären Lebenszusammenhängen entfernt und folgend fremd – sei
es in einer Pflegefamilie oder in einem Heim – untergebracht wurden.2 Betrug die Zahl
der an die KÜST überstellten Kinder im Jahr 1913 noch 4.283, war sie 1917 bereits auf
5.005 gestiegen und erreichte 1922 mit 6.926 Kindern einen Höhepunkt 3 – Zahlen, die
nicht so einfach ignoriert werden konnten. Eine heftige Diskussion in Fachorganen der
Fürsorge sowie in der zeitgenössischen Tagespresse zum Pflege- und Ziehkinderwesen
zeigen, dass Kindesabnahmen und Fragen der Fremdunterbringung ein brisantes Thema
darstellten. Vor der Folie der Kinder- und Jugendwohlfahrt des Roten Wien werden im
Folgenden zentrale zeitgenössische Zielsetzungen in den Blick genommen, die eine
Fremdunterbringung legitimieren sollten. In Bezug auf bevölkerungspolitische Intentionen
der Wiener Jugendwohlfahrt wird der Frage nachgegangen, wessen Interessen dabei
1
Erwähnt sei an dieser Stelle die Arbeit der Kommission Wilhelminenberg unter der Leitung von Barbara Helige;
der Historikerkommission unter der Leitung von Reinhard Sieder. Vgl. „Sieder, Reinhard/ Smioski, Andrea: Der
Kindheit beraubt. Gewalt in den Erziehungsheimen der Stadt Wien, Innsbruck/ Wien/ Bozen 2012“ sowie die
von der Autorin gemeinsam mit Elisabeth Raab-Steiner am Kompetentzentrum für Soziale Arbeit der fh-campus
wien durchgeführte Studie „Wiener Pflegekinder in der Nachkriegszeit (1955-1970), Wien 2014“. Vgl. dazu:
Sieder, Reinhard, Ralser, Michaela (Hg.): „Die Kinder des Staates. Österreichische Zeitschrift für
Geschichtswissenschaften, 25.Jg., 2014, Nr. 1&2“.
2
Gemeinde Wien (Hg.): Die Kinderübernahmestelle der Gemeinde Wien. Wien 1927, S. 22
3
Zeithammel, Josef: Die städtische Kinderübernahmsstelle. In: Blätter für das Wohlfahrtswesen, 23.Jg., 1924,
Nr.241, S. 4-6; S. 4
2
vertreten wurden und mit welchen Mitteln? Zu überlegen gilt es, inwiefern in Theorie und
Praxis
der
Jugendwohlfahrt
resp.
der
Fremdunterbringung
Schutz-
und/oder
Kontrollaspekte leitend waren.
Anfangsphase der Wiener Jugendwohlfahrt: „Kinderschutz“
Der „Schutz des Kindeswohls“ stellt seit seiner Gründung vor fast 100 Jahren den
zentralen Auftrag des Wiener Jugendamtes dar. Darüber hinaus haben sich seine
inhaltliche Definition sowie die Frage seiner Sicherung und Wiederherstellung jedoch im
Laufe der Jahrzehnte ideologisch deutlich gewandelt. Die Maßnahme, Wiener Kinder in
Pflegfamilien zu überstellen, ist somit im Kontext politischer, ökonomischer und sozialer
Prozesse als auch ideologischer Konzeptionen der Wiener Jugendwohlfahrt zu verstehen.
Konzentrierte sich der gesetzliche Auftrag zwar primär auf „die Überwachung“ unehelich
geborener Kinder, sogenannter „Mündel“ der Gemeinde Wien, integrierte er aber auch die
Sorge und Unterbringung aus ihren Familien abgenommener und folgend fremd – in einer
Pflegefamilie oder einem Heim – untergebrachter Kinder.
Zwar stellten Kinderschutz und die Bekämpfung des Kinderelends sowie eine einheitliche
gesetzliche Regelung der Fremdunterbringung in Wien bereits seit der Jahrhundertwende
geforderte Anliegen diverser Wohltätigkeitsvereine dar. 4 Doch erst im Zuge des Ersten
Weltkrieges sowie der unmittelbaren Kriegsfolgen reifte das Bewusstsein, dass das
Kinder- und Jugendelend keine zufällige und vorübergehende, sondern eine sozial
bedingte
und
durch
den
Krieg
lediglich
verschärfte
Erscheinung
sei,
zu
deren
Bekämpfung Mittel und Wege einer privat organisierten Wohlfahrt nicht ausreichen
würden.5
Bis zur Ära des Roten Wien (1919-1934) lag die öffentliche Kinder- und Jugendfürsorge
überwiegend im Bereich der Armenpflege und Gesundheitsfürsorge.6 Im Zuge der
sozialdemokratischen Reformpolitik wurden folgend sozialpolitische Maßnahmen sowie
der Auf- und Ausbau eines engmaschigen öffentlichen Fürsorgenetzes, insbesondere der
Kinder- und Jugendfürsorge vollzogen.7 Zu den zentralen Aufgabenbereichen des Wiener
Jugendamtes zählten neben finanzieller und materieller Unterstützung vor allem die
Registratur und Überwachung von als ‚verwahrlost’ klassifizierten Kindern, von Pflegebzw. Ziehkindern und unehelichen geborenen Kindern, den sog. „Mündeln“ der Gemeinde
Wien. Der Idee einer pronatalistischen qualitativen Bevölkerungspolitik folgend, war es
4
Vgl. dazu: Malleier, Elisabeth: „Kinderschutz“ und „Kinderrettung“. Die Gründung von freiwilligen Vereinen
zum Schutz misshandelter Kinder im 19. und frühen 20. jahrhundert. Innsbruck/ Wien/ Bozen 2014
5
Vgl. Keller, Hans: Was muß jetzt für unsere Kinder geschehen? In: Arbeiterzeitung vom 23.3. 1919
6
Magistrat Wien (Hg.): Das öffentliche Armenwesen in Wien. Eine Skizze seiner geschichtlichen Entwicklung.
O.J. Wien; Magistrat Wien – Wohlfahrtsamt (Hg.): Das Wohlfahrtsamt der Stadt Wien und seine Einrichtungen
1921-1931. Wien 1931
7
Riemer, Hans: Wohlfahrtsamt Wien – 30 Jahre Bundesland Wien. Wien 1950, S. 14
3
erklärtes Ziel primär die hohe Säuglingssterblichkeit zu bekämpfen und sekundär Kindern
und Jugendlichen sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen bessere Voraussetzungen
für eine physische als auch psychische Entwicklung zu ermöglichen, um - wie es hieß – in
der Arbeiterschaft „optimale Aufzuchtsverhältnisse“ herzustellen.8 Darunter verstand man
überwiegend ein Alltagsleben nach dem Modell (klein-)bürgerlichen Wohnens und
Familienlebens. Lagen die Prämissen der Fürsorge einerseits darin, „die Familie als
Keimzelle aller sozialen Organisation gesund zu erhalten“, so war es erklärter Grundsatz,
„Kindern ein Anrecht auf Fürsorge“ zu gewährleisten.9 Diese Ansinnen sollten über eine
ausnahmslose „Erfassung aller von der Geburt bis zum Tode“, d.h. eine umfassende
familiale
fürsorgerische
Kontrolle
sichergestellt
werden.
Für
Fürsorgerinnen
der
Jugendwohlfahrt schien die familiale Reproduktion jedoch in der Arbeiterschaft vielfach
nicht gewährleistet: „Wer immer als Arzt, Lehrer, Kindergärtner, Fürsorger oder in
irgendeiner
anderen
Eigenschaft
mit
Menschen
aus
ungleichem
sozialen
Milieu
umzugehen hat, wird uns bestätigen können, daß sich schon zwischen Kleinkindern, die
verschiedenen
Volksschichten
entstammen,
wesentliche
psychische
Unterschiede
aufzeigen lassen (...) Die besseren oder schlechteren wirtschaftlichen Unterschiede
zwischen dem armen und dem reichen Kind werden vor allem durch das Mehr oder
Weniger an Pflege bedingt, die ihnen zuteil wird.“10 Somit sollten die Arbeits- und
Wirkungsweise des Wiener Jugendamtes überwiegend darin bestehen, die Bedingungen
des familiären Alltagslebens und insbesondere des Aufwachsens und der Erziehung der
Kinder und Jugendlichen zu überwachen, um im Fall von signifikanten Defiziten und
Abweichungen vom normativen Modell der kleinbürgerlichen Familie intervenieren zu
können. Die Ausrichtung der Jugendwohlfahrt auf eine prophylaktische Schutzfunktion,
d.h. auf ein Eingreifen der Fürsorge vor dem Eintreten von Notfällen, legitimierte vielfach
auch die Einleitung familienersetzender Maßnahmen, d.h. von Kindesabnahmen.11 Waren
Abnahme und Abgabe von Kindern aus der elterlichen Fürsorge bis 1919 nicht gesetzlich
geregelt, so wurden Vollzug und rechtliche Praxis durch die Errichtung des sog.
”Ziehkindergesetzes” vom 4.2. 1919, welches 1921 in Kraft trat, vereinheitlicht.12
8
Tandler, Julius: Ehe und Bevölkerungspolitik. Wien/ Leipzig 1924, S. 15
Gemeinde Wien (Hg.): Die Kinderübernahmsstelle der Gemeinde Wien, Wien 1926, S. 26
10
Hetzer, Hildegard: Soziale Umwelt und Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit, Erfurt 1930, S. 3
11
Lichtenberg, Elisabeth: Ein Tag aus dem Leben einer Fürsorgerin. Radiovortrag. In: Österreichische Blätter
für Krankenheilkunde und soziale Berufe, 8. Jg., 1932, Nr. 3, S. 33-39; Staffa-Kuch, Wilma: Die Frau in der
sozialen Berufsarbeit. In: Frauenbewegung, Frauenbildung und Frauenarbeit in Österreich, Wien 1930; S. 301312; S. 304
12
Zampis, Ernst: Der Schutz der Ziehkinder und unehelichen Kinder. In: Zeitschrift für Kinderschutz, 11.Jg.,
1919, Nr. 7, S. 153-159; S. 153
9
4
Erfassen und Erheben: Zu wessen Schutz?
Stadtrat Julius Tandler betonte, „daß die Aufzucht innerhalb der Familie fast ausnahmslos
günstiger (…) als außerhalb derselben“ sei.13 Trotz der Tatsache, dass
gerade in den
Nachkriegsjahren viele Familien von Arbeits- und Obdachlosigkeit bedroht waren, sollte
jedoch die Gemeinde Wien, wo immer auch die Lebensumstände von Kindern und
Jugendlichen von einem kleinbürgerlichen Familienmodell allzu weit entfernt schienen,
quasi-elterliche Funktionen übernehmen, d.h. eine Fremdunterbringung initiiert werden. 14
Einem solchen Maßnahmenvollzug ging jedoch eine Reihe von Kontakten mit dem Wiener
Jugendamt, insbesondere zwischen Fürsorgerinnen und Müttern voraus. Im Haubesuch,
bei dem primär auf Ordnung und Hygiene der Wohnung und Kleidung geachtet wurde,
wurde primär die mütterliche Reproduktionsleistung ins Visier genommen. 15 Vielfach
gestalteten sich die Hausbesuche als Kontrollbesuche, da „nur der befürsorgt werden
solle, welcher der Fürsorge bedarf.“16 Die Aufgaben der „Nachschau“, des „Erfassens“
und „Erhebens“.17 oblagen den Jugendamtsfürsorgerinnen. Denn die „Verantwortlichkeit
des Fürsorgers“ (sic!) bringe es mit sich, „daß er die Voraussetzungen der Fürsorge in
jedem Einzelfall gewissenhaft erheben muß.”18 Auch die Sozialdemokratin Therese
Schlesinger plädierte für eine Verschärfung der Kontrolle familiärer Verhältnisse, denn,
ob „die Eltern imstande wären, ihre Kinder zu nähren, zu pflegen und zu erziehen und ob
sie ihren Pflichten auch wirklich nachkämen“, darüber gäbe es keinerlei Kontrolle.19 Ihr
zufolge wären „die Proletariermütter in der Regel selbst bei ganz übermäßiger
Anspannung ihrer Kräfte nicht imstande sind ihren Kindern auch nur eine halbwegs
ausreichende Sorgfalt angedeihen zu lassen”.20 Daher habe aufgrund ihrer Kenntnisse die
Fürsorgerin der Mutter zur Seite zu stehen, sei es bei der Pflege und Erziehung der
Kinder oder in der „praktischen Unterweisung am Herd“. 21 Das Ziel des Hausbesuches
diente somit der „Erziehung der Mütter zum Mutterberuf“. Seitens der Fürsorge wurden
soziale Not und Krankheit häufig zu mangelnder ‚Mutterliebe’ uminterpretiert und folgend
zur Begründung für eine Kindesabnahme.22 Werden im sozialdemokratischen Diskurs um
Ehe, Familie und Fürsorge vor allem Mütter für das ‚Scheitern’ familialer Reproduktion
verantwortlich gemacht, so glänzen Väter durch Abwesenheit, finden bestenfalls als die
Familie ‚Fliehende’ oder säumige Unterhaltszahler Erwähnung. Tandler zufolge, werde der
Mann „hauptsächlich infolge sozialer und wirtschaftlicher Momente zum Gegenstand der
13
Tandler, Julius: Ehe und Bevölkerungspolitik, Wien/Leipzig 1924, S. 15
Wolfgruber, Gudrun: Zwischen Hilfestellung und sozialer Kontrolle. Jugendfürsorge im Roten Wien, dargestellt
am Bespiel der Kindesabnahme, Wien 1997, S. 41f.
15
Wolfgruber 1997, S. 63f
16
Tandler, Julius: Wohltätigkeit oder Fürsorge, Wien 1925, S. 4
17
Arlt, Ilse: Die Grundalgen der Fürsorge, Wien 1921, S. 21
18
Tandler 1925, S. 4
19
Schlesinger, Therese: Wie will und soll das Proletariat seine Kinder erziehen, Wien 1928, S. 7
20
Schlesinger 1928, S. 3
21
Heidenreich, Camilla: Die Fürsorgerin. In: Zeitschrift für Kinderschutz, 20.Jg., 1928, Nr. 50, S. 46-47; S. 47
22
Hetzer 1930, S. 105; Wolfgruber 1997, S. 141f.
14
5
Fürsorge“, welche „bei ihm vor allem das Individuum ins Auge“ fasse. Hingegen sei die
Frau durch ihre „physiologischen Besonderheiten“ sowie „ihre Rolle bei der Fortpflanzung
der Menschheit und der Aufzucht der jungen Generation“ nicht um ihrer selbst willen,
Objekt der Fürsorge, sondern „vor allem im Hinblick auf die nächste Generation, deren
Trägerin sie darstellt.”23 Zugleich wurde über die Unterweisung der Mütter und
Pflegemütter durch die Fürsorgerinnen eine Konkurrenz um die bessere Erfüllung
‚mütterlicher Aufgaben’ und familialer Reproduktion initiiert. Im Kontext des eugenischen
Fürsorgediskurses des Roten Wien wurde die professionelle, „objektive“ und kollektive
Mütterlichkeit der „Volksmutter“24 als „Abgesandte der Gesellschaft“25 zum Pendant der
biologischen, individuellen, subjektiven Mutterschaft, die jedoch vielfach versage: „Als
Gegenstück gewissermaßen sehen wir die Fürsorgerin. Ihre Vorzüge liegen darin, daß sie
über Kenntnisse verfügt, die
die Mutter regelmäßig nicht besitzt. Die mütterliche
Fürsorge ist ja eine Fürsorge ohne Erfahrung, ohne theoretische Vorbereitung. Die Mutter
muß durch ihren Instinkt ersetzen, was die Berufsfürsorgerin durch Schulung gewonnen
hat. Dieser Instinkt kann aber manchmal versagen und die Mutter kann Fehler begehen,
die schwere Schäden für das Kind nach sich ziehen.“26 Die Tatsache, dass eine
Fürsorgerin allerdings auch zu einer Initiatorin einer Kindesabnahme werden konnte, war
jedoch für das Entstehen einer positiven Beziehung zwischen Fürsorge und Klientel nicht
unbedingt förderlich.27
Gefahr: „Verwahrlosung“
Ein Großteil der im Hausbesuch erhobenen Mängel wurde unter dem Synonym der
‚Verwahrlosung’ – subsumiert und so zur Legitimation fürsorgerischen Eingreifens. Als
Kampfbegriff der Kinder- und Jugendfürsorge inkludierte der zeitgenössische Terminus
‚Verwahrlosung’ neben gesundheitlicher und ‚sittlicher’ Gefährdung aufgrund sog.
„Erziehungs- oder Pflegefehler“, etwa auch die Neigung zu Kriminalität und eine nicht
näher
definierte
„Schwererziehbarkeit“.28
In
weiterer
Folge
wurde
der
Begriff
dahingehend erweitert, alle nicht mit beiden Elternteilen aufwachsenden Kinder als
‚verwahrlost’ zu kategorisieren und zu Fürsorgefällen zu designieren. Uneheliche Kinder
oder
Kinder,
die
alleine
mit
ihren
Müttern
aufwuchsen,
als
potentiell
„verwahrlosungsgefährdet“ einzustufen, verweist auf die Orientierung fürsorgerischer
23
Tandler, Julius: Die Frau in der Fürsorge. In: Zeitschrift für Kinderschutz, 18.Jg., 1926, Nr. 3, S. 44-45; S. 44
Vgl. Zeller, Susanne: Volksmütter. Frauen im Wohlfahrtswesen der 1920er Jahre, Düsseldorf 1987
25
Tandler 1925, S. 4
26
Bartsch, Rudolf, Die Mutter als Fürsorgerin. Vortrag gehalten am 27.09.1931 im Rahmen der ersten Wiener
Mütterschule. In: Zeitschrift für Kinderschutz, 23.Jg., 1931, Heft 3, 46-47
27
Vgl. Pirhofer, Gottfried/ Sieder, Reinhard: Zur Konstitution der Arbeiterfamilie im Roten Wien. Familienpolitik,
Kulturreform, Alttag und Ästhetik. In: Mitterauer, Michael/ Sieder, Reinhard (Hg.): Historische
Familienforschung, Frankfurt/Main 1982; S. 333; Wolfgruber, Gudrun: Von der Fürsorge zur Sozialarbeit.
Wiener Jugendwohlfahrt im 20. Jahrhundert., Wien 2013 (= Schriftenreihe zur Geschichte der Sozialarbeit und
Sozialarbeitsforschung, Bd. 5, hg. V. Karl Fallend und Klaus Posch)
28
Zeithammel, Josef: Rückblick über die Tätigkeit der Kinderübernahmsstelle im Jahre 1925. In: Blätter für das
Wohlfahrtswesen, 27. Jg., 1926, Nr. 253, S. 8-11; S. 9
24
6
Leitbilder an einem patriarchalen Konzept der bürgerlichen Vater-Mutter-Kind-Familie.
Andere
Lebensmodelle
und
Formen
des
Zusammenlebens
wurden
als
nicht
gleichberechtigt abgelehnt und als das Kind gefährdend, restriktiv geahndet. 29 Unter dem
Begriff der „Verwahrlosung” wurde somit eine große Spanne von Ursachen und
Konstellationen zusammengefasst, die so unterschiedlich sie auch sein mochten, eines
gemeinsam hatten: Sie passten nicht in ein Bild bürgerlichen Familienglücks.30
Die Wiener KÜST: Drehscheibe der Jugendwohlfahrt
Untergebracht wurden abgenommene Kinder – wie Magda Reiser – in der Wiener
Kinderübernahmsstelle (KÜST), gefeiertes „Juwel der Jugendfürsorge“ des Roten Wien.
Bis zur Errichtung der KÜST der Gemeinde Wien 1925 diente das Gebäude des
ehemaligen
Marienklosters
im
5.
Wiener
Gemeindebezirk
der
vorübergehenden
Unterbringung abgenommener oder abgegebener Kinder. Vizebürgermeister Max Winter
schrieb 1919 über diese Anstalt: „(…) das muss man an der Spitze jeder Darstellung über
das Kinderasyl stellen, dass Wien keine größere Schande hat als dieses Haus. (…) ein
Massendurchzugsheim. Sechshundert, achthundert [Kinder] hat es oft beherbergt – um
200/300 Kinder mehr als das Haus vertrug und Säuglinge nahm das Haus auch auf. Die
wenigsten haben es lebend verlassen. Eine Mördergrube (…).“31 Angesichts dessen
entstand 1923 der Plan zur Erbauung einer neuen Anstalt.
„Wer Kindern Paläste baut, reißt Kerkermauern nieder“ – so lautet die Inschrift über dem
Eingang der neu errichteten Kinderübernahmsstelle im 9. Wiener Gemeindebezirk. 32 Sie
verweist
auf
ein
zentrales
Versprechen,
mit
dem
die
sozialdemokratische
Stadtverwaltung angetreten ist, eine neue Ära der Jugendwohlfahrt einzuleiten. Darüber
hinaus lässt die Inschrift aber auch die entscheidende Funktion erahnen, die der KÜST als
zentrale
Schaltstelle
der
Jugendfürsorge
im
Roten
Wien
zukommen
sollte.
Als
Durchzugsheim diente sie der Unterbringung all jener Kinder, die vorübergehend oder
dauerhaft, entweder in Form einer Zwangsmaßnahme oder freiwillig, wie z.B. in
Krankheitsfällen der Erziehungsberechtigten, aus ihren Familien entfernt wurden.
Während eines drei- bis sechswöchigen Aufenthalts sollte über die weitere Unterbringung
der unterstellten Kinder entschieden werden. Um die nachfolgende Befürsorgung eines
Kindes „nach besten wissenschaftlichen Kriterien“ zu bestimmen, wurden die Kinder nach
einer ausführlichen ärztlichen Untersuchung und Messung einer ständigen Beobachtung
29
Vgl. Bernold, Monika et al. Familie: Arbeitsplatz oder Ort des Glücks? Historische schnitte ins Private, Wien
1990, S. 9
30
Eine Ausnahme bildeten Fälle von Kindesmisshandlungen. Die Fürsorgerin trat nicht primär als Prüferin
häuslicher Verhältnisse auf, sondern als Schützerin des Kindes. Konnte ein Misshandlungsfall bewiesen werden,
wurde das Kind ausnahmslos aus der Familie entfernt und den Eltern durch Gerichtsbeschluss zumeist die
Erziehungsgewalt abgesprochen. Zeithammel 1926 S. 9
31
Winter, Max: Das Kinderasyl der Stadt Wien. In: Wiener Arbeiterzeitung vom 19.01. 1919
32
1090 Wien, Lustkandlgasse 50; 1985 wurde die KÜST in „Julius-Tandler-Familienzentrum“ umbenannt. Im
Zuge der Heimreform 2000 der MAG 11 (Amt für Jugend und Familie in Wien) wurde sie 1998 in ihrer
ursprünglichen Funktion aufgelöst.
7
und Kontrolle ausgesetzt. Das Organisationsprinzip der „Quarantäne“, die Trennung des
Hauses in eine „unreine Seite“ für den Parteienverkehr und eine „reine Seite“, in der die
„Herberge“ untergebracht war, diente der Schaffung eines „natürlichen“, „reinen“
Raumes, „fernab von den Gefahren der Großstadt“ (Kinderübernahmsstelle 1926: 84).
Säuglinge und Kleinkinder bis zu vier Jahren wurden in einem sog. „Boxensystem“ (kleine
gläserne
Räume)
untergebracht.
Diese
Organisationsstruktur
erlaubte
den
Fürsorgerinnen, Ärztinnen und Betreuerinnen einen ständigen Blick auf die unterstellten
Kinder. Die Möglichkeit „zu sehen und gleichzeitig zu erkennen“ 33 kam auch den
Forschungszielen
der
behavioristischen,
auf
Verhaltensbobachtung
ausgerichteten
„Wiener Schule“ der Kinderpsychologie entgegen. Kinder bis zu vierzehn Jahren konnten
rund um die Uhr einer systematischen Beobachtung unterzogen werden. In ihnen fanden
die Kinderpsychologinnen Charlotte Bühler und ihre Assistentinnen Hildegard Hetzer und
Lotte Schenk-Danzinger ein umfangreiches „Kindermaterial“ für ihre Studien „Kindheit
und Armut“ (1929) und die sog. „Kleinkindertests“ (1932). Lag das Interesse der
„teilnahmslosen Beobachtung“ in der Erforschung des kindlichen Verhaltens in sog.
„natürlichen Situationen“, so hatten die Beobachtungen in absoluter Anonymität und
Isolation stattzufinden. Die Tatsache, dass – wie in Heimen für Kinder und Jugendliche zu
jener Zeit üblich – der Schulunterricht in einer eigenen Heimschule absolviert wurde,
verdeutlicht ebenfalls die soziale Isolierung und den Charakter der KÜST als „totale
Institution“.34 Kontakte mit Eltern und Familienangehörigen waren ebenfalls untersagt.
Die Verbannung des Sozialen, die Ausklammerung des familialen und sozialen Milieus aus
den Forschungen der Kinderpsychologie beweist, worin die Interessen von Wissenschaft
und
Fürsorge
lagen:
nicht
die
individuelle
Entwicklung
des
Kindes
in
seinem
gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Umfeld, sondern die Entwicklung des Kindes
„an sich“. Über die enge Zusammenarbeit mit dem Psychologischen Institut der
Universität Wien wurde das Kind somit zum Objekt wissenschaftlicher Forschung, woraus
die Wiener Kinder- und Jugendfürsorge – ein ihre Professionalisierung vorantreibender
Nebeneffekt – ihre wissenschaftliche Legitimierung und Orientierung gewann. Bühler und
Hetzer konstruierten aufgrund ihrer Erhebungen an der KÜST somit Testverfahren, die im
Rahmen der Fürsorge in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung waren: Dienten die
Entwicklungstests und Kleinkindertests dem Zweck „Über- und Unterdurchschnittlichkeit
des
kindlichen
Entwicklungsstandes,
„Normalität“
und
„Abnormalität“
seiner
Persönlichkeitsstruktur“ zu ermitteln, waren sie als „diagnostische Verfahren“ in der
öffentlichen Fürsorge bestens geeignet die Zweckmäßigkeit der dort gepflegten Art der
Menschenverwaltung zu erhöhen.35 Zudem bildeten sie die Entscheidungsgrundlage über
33
Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Frankfurt/Main 1977, S. 158
Goffman, Erving: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen.
Frankfurt/Main 1973; Benetka, Gerhard: Psychologie in Wien. Sozial- und Theoriegeschichte des Wiener
psychologischen Instituts 1922-1938, Wien 1995
35
Vor allem im Rahmen der NS-Jugendfürsorge wurden die „Kleinkindertests“ besonders häufig angewandt.
Vgl. Benetka, Gerhard/ Berger, Ernst: Mechanismen der Traumatisierung durch Institutionen der
34
8
die weitere Befürsorgung von Kindern in Fällen der Fremdunterbringung, d.h. eine
Unterbringung in Pflegefamilien oder eine Einschließung in Heimen. 36
Die KÜST als Magna Mater
Mit dem Bau der KÜST, diesem „Palast“ der Jugendfürsorge hat sich die Gemeinde Wien
zugleich auch ein zentrales Denkmal gesetzt. Über die KÜST als zentraler Ort der
Fremdunterbringung wird die Gemeinde Wien selbst zum Symbol der Mütterlichkeit
erhoben. Über Einrichtungen wie die KÜST sollte in der konstatierten „sozialen
Gefahrenquelle
Stadt”37
entgegengewirkt werden.
insbesondere
38
der
„Verwahrlosung”
der
Großstadtjugend
Somit wurde die Gemeinde Wien zur „Magna Mater“
schlechthin stilisiert, zu einer Mutter, die im Unterschied zu den Müttern der befürsorgten
Kinder, imstande sei, entsprechende familiale Standards von Ordnung, Sauberkeit und
Hygiene zu gewährleisten39: „Wenn aber diese Kinder ordentlich gekleidet und gut
genährt, innerlich aufgerichtet von dannen ziehen, dann weiß man erst, welche
aufopfernde Arbeit geleistet, und welches Glück hier gespendet wurde. Im Leben
mancher Proletarierkinder ist die Küst der Gipfelpunkt der Pracht, die Höhe des Glücks.
In selbstverständlicher Pflichterfüllung hat Wiens Gemeindeverwaltung dieses große Werk
geschaffen.“40
Die
Einführung
der
Funktion
der
sog.
„Heimmutter“,
die
neben
organisatorischen Belangen des Heimes, das „Mütterliche“ und „Wärmende“ (Degen
2004: 1) suggerieren sollte, verweist ebenfalls auf ein ideologisches Konzept der
„Ersatzfamilie“ bzw. „Ersatzmutterschaft“. Dass die Darstellung eines KÜST-Aufenthalts
als „Höhe des Glücks“ weniger realen Erfahrungen, denn einer ideologische Konstruktion
entspricht, darauf verweisen Erzählungen von Pflegemüttern, die ihre Pflegekinder
mittels Androhung der Rückstellung an die KÜST erfolgreich zu disziplinieren suchten:
Eine Pflegemutter berichtete über ein angeblich „hinterlistiges” Kind: „Wenn ich ihm g´
gsagt hab´: `Du kommst zurück in d´Lustkandlgassen´, das war seine größte Straf´.” 41
Den Erinnerungen der in jenen Jahren in der KÜST tätigen Fürsorgerin Katharina Degen
zufolge, sei vor allem die Aufnahme in die KÜST für die eingewiesenen Kinder ein Schock
gewesen: „Am meisten hat sie geschockt, dass sie als erstes ins Bad gesteckt wurden.
Das war damals notwendig, aber ein Bad war für ein diese Kinder etwas vollkommen
Fremdes. Die haben ihr Leben noch keine Badwanne gesehen und sich mit Händen und
Füßen gewehrt. Ich habe sie immer von unten weinen hören, wenn sie im Bad waren.“ 42
Sozialverwaltung. In: Brainin, Elisabeth (Hg.): Kindsein in stürmischen Zeiten. Reales Trauma und psychische
Bewältigung. Wien 2003, S. 14-28; Benetka 1995, S. 138, Tandler 1924, S. 16
36
Vgl. Wolfgruber 2013
37
Magistrat der Stadt Wien (Hg.): Das öffentliche Armenwesen in Wien. Eine Skizze seiner geschichtlichen
Entwicklung, Wien o.J, S. 45f.
38
Tandler 1925, S. 13
39
Wolfgruber 1997, S. 156f.
40
Kinderübernahmsstelle 1927, S. 26
41
Danziger, Lotte: Pflegemutter und Pflegekind, Wien 1930, S. 105
42
Transkript Interview Degen, Wien 2004, S. 5
9
Die Entfernung von ihrer gewohnten sozialen Umgebung habe die Kinder sehr belastet,
weshalb sie auch häufig mit Krankheiten reagiert hätten: „Durch den Schock und die
Änderung der Umgebung haben die Kinder eigentlich sehr leicht Angina und so kleine
Krankheiten gekriegt. Der Schmutz hat ihnen nicht geschadet und die Verwahrlosung,
aber die Entfernung von zu Hause und die ungewohnte Reinlichkeit. (…) Die waren zum
Teil auf der Straße aufgewachsen.“43 Die Praxis der Fremdunterbringung reflektierend,
meinte sie in der Rückschau: „Der Dreck und schlechte Schulerfolge sind vielleicht nicht
so schädlich für ein Kind, wie herausgerissen zu werden, in eine ganz andere Umgebung
und ohne Familie zu sein. Ich kann mich noch gut erinnern, dass einmal ein Kind zu mir
gesagt hat, und ich muss ganz allein im Bett jetzt schlafen. Die waren gewöhnt, alle
miteinander in einem Bett zu liegen – Wärme. Aber vielleicht war das, was wir für die
Kinder gut gemeint haben, gar nicht so gut.“44
Sollte
eine
Entfernung
von
Kindern
aus
Familien
sozial
benachteiligter
Bevölkerungsgruppen als schützende Maßnahme fungieren, so dürfte dies von den
untergebrachten Kindern selbst allerdings mehrheitlich als traurige Erfahrung erlebt
worden sein. An ihre Zeit in der KÜST erinnert sich Magda Reiser noch sehr deutlich:
Insgesamt drei Mal wurde sie als Kind an die KÜST überstellt: nach ihrem ersten
Aufenthalt 1926, erneut im Sommer 1928, nach dem Tod der ebenfalls an Tuberkulose
erkrankten Schwester, sowie im Jänner 1929, nach dem Tod der Mutter. Erzählt sie zu
Beginn des Gespräches begeistert von der Ära des Roten Wien, so zeugen ihre
Erinnerungen
im
Verlauf
ihrer
biografischen
Erzählung
von
den
traumatischen
Erfahrungen in der KÜST, einem „furchtbaren Glaspalast“ von militärischer, weniger
körperlicher, denn psychisch brutaler Umgangsweise der Erzieherinnen (Schwestern) und
vor allem von großer Isoliertheit und Einsamkeit. Sie selbst meint rückblickend, deutlich
von diesen Erfahrungen geprägt worden zu sein.45 Auch der nachträglichen Einschätzung
von Frau Degen zufolge, sei die Unterbringung für Kinder nicht adäquat gewesen. 46
Nach der KÜST: Heim oder Pflegefamilie?
Von den im Jahre 1926 der KÜST überstellten 3.324 Kindern wurden 2.242 in Heime
überwiesen, während 579 Kinder der Privatpflege, also einer Pflegefamilie und 403 Kinder
wieder der elterlichen Pflege überantwortet wurden. Die restlichen Kinder wurden in
andere Heimatgemeinden zurückgeschickt oder in Spitäler eingewiesen.47 Angesichts
dieser Zahlen ist ersichtlich, dass für einen Großteil der entlassenen Kinder entweder kein
Pflegeplatz zu Verfügung stand oder eine Rückstellung in das Herkunftsmilieu keine
geeignete „Aufzucht” garantieren konnte. Frau Degen erinnert sich: „Wenn da Mal ein
43
44
45
46
47
Degen 2004, S. 6
Degen 2004, S. 15
Transkript Interview Reiser, Wien 2004
Degen 2004, S. 2f.
Kinderübernahmestelle 1927, S. 26.
10
Kind drinnen war, dann wars drinnen. Nach Hause sind sie ja verhältnismäßig nicht sehr
oft gekommen, weil die Verhältnisse, aus denen sie kamen, so desolat waren, dass man
sie dann eben nicht nach Hause hat geben können.“48 Häufig wurde ein Kind auch
aufgrund der durchgeführten
Verhaltensbeobachtung als nicht zur Familienpflege
geeignet erklärt: „Kinder mit argen Störungen, besonders im Bereich der sozialen und
geistigen Entwicklung, die diese Mängel auch nicht durch die Liebenswürdigkeit ihres
Wesens wettmachen können“ sollten deshalb „in ihrem eigenen Interesse und mehr noch
im Interesse der Pflegemütter nicht in Familienpflege abgegeben” werden.49 Vor allem
Kinder ab sieben Jahren waren in der Regel nicht mehr zur Abgabe in Privatpflege
vorgesehen, „da die pädagogischen Fähigkeiten der Pflegemutter (...) den Anforderungen
dieser Altersstufe nicht mehr entsprechen.“ 50 Ältere Kinder wurden daher im Allgemeinen
der Anstaltserziehung zugeführt.
Zur Überprüfung, Registratur und Kontrolle künftiger Pflegeplätze wurden eigene
Ziehkinderaufsichtstellen
errichtet,
an
denen
angestellte
Fürsorgerinnen
und
ehrenamtliche Helferinnen die Überwachung der Pflegestellen durchzuführen hatten.
Denn es genüge nicht „daß die Pflegeeltern unbescholten sind, sondern es müssen auch
die notwendigen hygienischen Voraussetzungen vorliegen, sowie die Sicherheit, daß das
Pflegekind nicht bloß wegen wirtschaftlicher Zubuße an die Pflegeeltern genommen
wird.“51 Auch Frau Degen erinnert sich an die schwierige Aufgabe, werbende Pflegeeltern
im Sinne des Kindeswohls richtig zu beurteilen: „Denn es hat noch nie jemand, der
begutachtet wird, gesagt, wissen sie, ich brauche das Geld. (…) Das ist sehr schwierig, zu
beurteilen, ob Menschen wirklich menschliche Wärme und Kinderliebe haben.“52 Der
Untersuchung Hetzers zufolge habe der essentielle Unterschied zwischen Herkunfts- und
Pflegefamilie vor allem zwischen „geordneten Familienverhältnissen”, „gesicherten
Existenzen”
und
jenen
Verhältnissen
bestanden,
die
durch
„Arbeitslosigkeit,
Wohnungsnot, Krankheit und Trunksucht, durch Armut und Mangel aller Art labil oder
völlig zerrüttet sind”.53 Die Existenz „geordneter bürgerlicher Verhältnisse” sollte somit zu
einem Garant für Kinderschutz werden und einen „sozialen Aufstieg” des Pflegekindes
ermöglichen. Die Fürsorgerin Käthe Komoly begründete den Vorzug einer „genau
kontrollierten Familienpflege“ gegenüber der Anstaltspflege folgendermaßen: „Auch für
das spätere Leben ist die Privatpflege besser, das Kind wächst heran, erlebt Freud und
Leid mit der Familie, sieht, was die Führung des Haushaltes für Mühe und Sorgen macht,
wie sich am Waschtag die Pflegemutter plagen muß usw., es wird auf das Leben
vorbereitet.”54 Im Unterschied zu männlichen Kinder, wirke sich besonders für Mädchen
48
Degen 2004, S. 3
Danziger 1930, S. 10
50
Danziger 1930, S. 14
51
Meldung von geeigneten Pflegestellen. In: Blätter für das Wohlfahrtswesen 25.Jg., 1926, Nr. 257, S. 104
52
Degen 2004, S. 2, 5
53
Danziger 1930, S. 19
54
Komoly, Käthe: Der Aufgabenkreis der Fürsorgerin in der Wiener Kinderübernahmsstelle. In Zeitschrift für
Kinderschutz, 22. Jg., 1930, Nr. 7, S. 105-106; S. 106
49
11
eine Anstaltserziehung ungünstig aus, da sie auf ihre spätere Rolle als Hausfrau und
Mutter nicht ausreichend vorbereitet würden.55 Eine Unterbringung in Privatpflege würde
jedoch eine Unterweisung des Mädchens in spezifisch weibliche Reproduktionsarbeit
garantieren: „Bei Mädchen wirkt sich das besonders aus, sie müssen in der Anstalt bloß
früh das Bett machen, ansonsten haben sie sich um nichts zu kümmern.”56 Aus diesen
Ausführungen
wird
ersichtlich,
dass
die
ausgewählten
und
einer
permanenten
Überwachung unterstellten Pflegefamilien nicht zuletzt auch dazu dienen sollten, den
Pflegekindern bürgerliche Familienstandards von Ordnung, Sauberkeit und Familienleben
zu vermitteln, um eines Tages selbst jenen Normen entsprechen zu können, deren
Erfüllung sie in ihrer Herkunftsfamilie entbehrten. Die Pflegefamilie wurde somit zu einer
pädagogischen
Verlängerung
fürsorgerischer
Intentionen
einer
Installierung
des
bürgerlichen Familien- und Geschlechterrollenmodells. Dass eine Unterbringung in
Privatpflege oder einem Heim Kindern nicht notwendigerweise Schutz und Sicherheit
garantieren
konnte,
weist
auf
den
ideologischen,
visionären
Charakter
des
Familialisierungsprogrammes bzw. des Ersatzfamilialisierungsprogrammes der Fürsorge
der sozialdemokratischen Ära hin. Interessen der fremd untergebrachten Kinder sowie
ihre psychischen Bedürfnisse stellten in diesem Kontext keine zu berücksichtigende
Kategorie dar.
Fremdunterbringung in autoritären Regimen (1934-1934/ 1938-1945)
In den Folgejahren 1934 bis 1938 änderte sich die Praxis der Fremdunterbringung – aus
der Perspektive von in jenen Jahren tätigen Fürsorgerinnen nur geringfügig – ideologisch
jedoch durchaus.
Auf der Basis konstanter bevölkerungspolitischer/ eugenischer Intentionen, ergänzt durch
patriotische sowie religiöse Ideale einer konservativ-christlichen Soziallehre konzentrierte
sich die Aufgabe der Jugendwohlfahrt vor allem auf eine Stabilisierung der „katholischen
Familie.“ Im Kampf gegen eine zunehmend beklagte „Ehezerrüttung“ sowie „ungeordnete
Lebensgemeinschaften“57 lag der pädagogisierende Auftrag der Fürsorgerinnen nicht nur
in der Erziehung der Mütter, sondern in einer „Erziehung zur gesunden Familie“ sowie in
der „sittlich-religiösen Erziehung ihrer Kinder.“ Gleichzeitig förderte die verstärkt
ökonomische Krise den sozialen Abstieg vieler Familien und Kinder – Ausgangspunkt für
den Maßnahmenvollzug von Kindesabnahmen und folgende Fremdunterbringungen.
Abgenommene Kinder wurden im Zuge einer Überführung öffentlicher Heime an private
katholische
Träger
vermehrt
in
konfessionellen
Heimen
untergebracht.
Bei
der
Unterbringung von Kindern in Familienpflege wurde dem Religionsbekenntnis der
Pflegeeltern vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt. In der Arbeiterzeitung, aufgrund des
55
56
57
Danziger 1930, S. 51
Komoly 1930, S. 106
70 Jahre Wiener Jugendamt, hg. V. der Gemeinde Wien, Wien, 1987, S. 31
12
Verbots der SDAPÖ in Brünn erschienen,
war dazu Folgendes zu lesen: „Der
Bürgermeister Schmitz hat verfügt, dass konfessionslosen Pflegeeltern die ihnen von der
Gemeinde Wien übergebenen Pflegekinder weggenommen werden. Nur wenn die
Pflegeeltern zur katholischen Kirche zurückkehren, können ihnen die Kinder gnadenweise
überlassen bleiben. Wieviele menschliche Beziehungen dadurch dieses Dekret zerstört
werden, wie viele Kindertränen bei der Trennung fließen werden, macht den Pfaffen und
Pfaffenknechten nichts aus: dem Seelenfang der Kirche sind alle anderen Erwägungen
untergeordnet.“
Auf die Folgejahre der nationalsozialistischen Diktatur ( 1938-1945) kann in dem
heutigen
Rahmen
nur
kurz
Bezug
genommen
werden.
Die
Beschneidung
und
Aberkennung von Menschenrechten Erwachsener wie Kinder auf der Basis einer
rassistischen und antisemitischen Ideologie, die Millionen von Menschen das Leben
kostete, ist Ihnen sicherlich bekannt.
Im Zuge einer ideologischen
Verlagerung
vom
Individuum auf das Primat des
Volkskörpers charakterisierte nun nicht der Dienst am Hilfsbedürftigen, sondern am Staat
die Wohlfahrtspolitik. An die Stelle der „Erziehung“ trat der „Ausschluss - mitunter mit
tödlichen Folgen für fremd und in Heimen untergebrachte Kinder. Die Überstellung auf
den Wiener „Spiegelgrund“ sowie Deportationen nach Hartheim sind Ihnen sicherlich
bekannt.58
Nachkriegszeit und 1950er- 60er Jahre
Fragen der Fremdunterbringung stellten in der Nachkriegszeit bis in die 1970er Jahre
eine Weiterführung von Fürsorgetraditionen aus der Ersten Republik dar, die primär von
gesundheitsfürsorgerischen und eugenischen Zielsetzungen geprägt war. Kontinuitäten
zu rassistischen Diskursen der Zeit des Nationalsozialismus bestimmten die Ausrichtung
der Jugendwohlfahrt bis in die 1960er Jahre.59 Zu diesem Zeitpunkt hatte zwar auf Grund
einer wirtschaftlichen Konsolidierung eine theoretische Schwerpunktverlagerung der
Jugendwohlfahrt von der Sorge um das schutzbedürftige Kind, dessen Sicherung vor
wirtschaftlicher Not, Krankheit und Verwahrlosung zu einer Stützung von Familien in
schwierigen Lebenslagen, diskursiv-theoretisch eingesetzt. In der Praxis nachhaltigen
Niederschlag
fanden
erziehungsberatende,
von
diversen
psychologischen
Schulen
geleitete, Ansätze erst im Zuge eines gesellschaftspolitischen Wandels zu Beginn der
58
Berger, Ernst, Verfolgte Kindheit. Kinder und Jugendliche als Opfer der NS-Sozialverwaltung.
Wien/Köln/Weimar 2007; vgl. Wolfgruber 2013, S. 50-77
59
Vgl. Jürgen Blandow, Pflegekinder und ihre Familien. Geschichte, Situation und Perspektiven des
Pflegekinderwesens, Weinheim/München 2004; Josef M. Niederberger, Kinder in Heimen und Pflegefamilien.
Fremdplazierung in Geschichte und Gesellschaft, Bielefeld 1997; Maria A. Wolf et al. (Hg.), Child Care.
Kulturen, Konzepte und Politiken der Fremdbetreuung von Kindern aus geschlechterkritischer Perspektive,
Weinheim/Basel 2013.
13
1970er Jahre.60 Während im Zuge einer allgemeinen Institutionenkritik Reformansätze
der Fremdunterbringung in Heimen im Anschluss an die Wiener Heimenquete „Aktuelle
Fragen der Heimerziehung“ 1971 sowie den Einsatz der Wiener Heimkommission61
einsetzten,
blieb
hingegen
eine
kritische
Durchleuchtung
des
Systems
der
Fremdunterbringung in Pflegefamilien zu diesem Zeitpunkt mehrheitlich aus. Erwähnt
seien jedoch praktische Bemühungen einzelner Wiener Fürsorgerinnen zur Installierung
von Pflegeelterngruppen, die Wiener Pflegeeltern Möglichkeit zu Erfahrungsaustausch und
Unterstützung
in
Erziehungsfragen
bot.621959
wurde
Großpflegefamilien eine Elternrunde durch das
zur
Betreuung
etwa
von
Institut für Erziehungshilfe (Child
Guidance Clinic), welches eng mit dem Wiener Jugendamt zusammen arbeitete,
angeboten.63
Die
an
dieser
Institution
tätige
psychoanalytisch
orientierte
Sozialalarbeiterin, Rosa Dworschak, suchte in Fortbildungen von Sozialarbeiterinnen auch
erste Ansätze methodischer Arbeit - des Case Work sowie der Gruppenarbeit - mit
Pflegeeltern und Pflegekindern zu vermitteln.64
Im Zuge der seitens der Gemeinde Wien 1978 im Wiener Rathaus veranstalteten Enquete
„Aufgaben
und
Unterbringung
Zielsetzungen in
zu
einem
der Betreuung
vorerst
nur
in
von
Wien
Pflegekindern“ 65 wurde
diskutierten
Bereich
die
der
Fremdunterbringung. In der Folge wurde die Suche nach geeigneten Pflegestellen sowie
Beratungsangebote für Pflegeeltern intensiviert. Umfassende Reformen im Bereich des
Pflegekinderwesens setzten erst in den 1980er Jahren ein, sei es in Form verpflichtender
Pflegeelternschulungen
sowie
einer
differenzierteren
Auswahl
von
PflegeelternwerberInnen etc. Bis dahin wurde die Pflegefamilie dem Bereich des
„Privaten“ zugeordnet - ein Paradox, stand doch die Pflegefamilie ebenso unter
Beobachtung und Kontrolle der Fürsorgebehörden wie die Herkunftsfamilie „fremd
untergebrachter“
Kinder
und
Jugendlicher.
Übereinstimmende
Überzeugung
der
Fürsorgebehörden (Jugendamt) war es weiterhin, dass eine Familienpflege für die
60
In einer Absage an Erziehungsmethoden der „Schwarzen Pädagogik“ fanden sowohl tiefenpsychologischpsychoanalytische Konzepte als auch verhaltensmodifizierende Modelle in der Sozialpädagogik als auch in der
psychologisch-therapeutischen Arbeit mit Kindern Eingang. Im Rahmen der Sozialarbeit sollten die
psychoanalytisch orientierte Methode des Case Work als auch Methoden sozialer Gruppenarbeit den autoritären
Charakter der Jugendwohlfahrt abschwächen. Vgl. Gudrun Wolfgruber, Von der Fürsorge zur Sozialarbeit.
Wiener Jugendwohlfahrt im 20. Jahrhundert, Wien 2013, 170ff; Gabriele Ziering, 90 Jahre Jugendamt
Ottakring. Von der Berufsvormundschaft zur Jugendwohlfahrt der MAG ELF, hg. vom Amt für Jugend und
Familie der Stadt Wien, Wien 2002; Katharina Rutschky (Hg.), Schwarze Pädagogik: Quellen zur
Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung. München 2001 (1977)
61
Vgl. dazu: Irmtraud Leirer/Fischer Rosemarie/Halletz Claudia: Verwaltete Kinder. Eine soziologische Analyse
von Kinder- und Jugendlichenheimen im Bereich der Stadt Wien, hg. vom Institut für Stadtforschung,
Wien 1976
62
Die Interviewpartnerin und ehemalige Sozialarbeiterin war eine der Mitbegründerinnen dieser anfangs
informell
durchgeführten Elternrunden. Vgl. Interview Oehl
63
Jahrbuch der Stadt Wien 1959, hg. von der Gemeinde Wien 1960, S. 83
64
Dworschak, Rosa: Das Schicksal des Pflegekindes. In: Sozialarbeit in Österreich. Nr. 15, 6. Jg. 1971, S. 2845
65
Vgl. Prohaska, Walter: Pflegefamilien im Blickpunkt der Sozialarbeit. Ergebnisse der Enquete des
Jugendamtes
der Stadt Wien, Wien: Institut für Stadtforschung Bd. 60, Wien/ München 1978.
14
Entwicklung eines Kindes eine bessere Unterbringung darstellte als jene in einem Heim.
Insbesondere Säuglinge und Kleinkinder sollten einer Familienpflege zugeführt werden.
Der Unterbringung in einer Pflegefamilie oder in einem Heim ging wie bereits ab den
1920er Jahren ein vorübergehender Aufenthalt eines Kindes im Wiener Zentralkinderheim
(ZKH)66 oder im Durchzugsheim der Wiener Kinderübernahmsstelle (KÜST) 67 voraus.
Amtsoffiziell dienten diese Aufenthalte der Entscheidungsfindung über die weitere
Unterbringung
aus
ihren
Herkunftsfamilien
abgenommener
Kinder.
Medizinische
Untersuchungen und psychologische Beobachtungen und Tests boten die Grundlage für
die folgende „Fremdunterbringung“, d.h. welches Kind, unter Voraussetzung der
Zustimmung seiner Eltern, etwa zur Adoption vermittelt,68 in einer Pflegefamilie, in einem
Heim untergebracht werden sollte oder wieder zu seinen Eltern zurückkehren „durfte“.
Aus den Kinderakten der Kinderübernahmsstelle ist ersichtlich, dass die Entscheidung
über
die
art
der
diskriminierenden
weiteren
Unterbringung
Klassifizierung
darstellte:
allerdings
Wurde
auch
„im
das
Ergebnis
allgemeinen
einer
(…)
die
Unterbringung in geeigneten Pflegfamilien bevorzugt“, sollten „körperlich oder seelisch
schwer geschädigte Kinder (…) vorwiegend in geeigneten Heimen untergebracht“
werden.69
Entscheidungsträger
Kinderübernahmsstelle
und
des
war
neben
den
Zentralkinderheims
Verbindungsfürsorgerinnen
insbesondere
der
Leiter
der
der
Kinderübernahmsstelle.
Nicht zuletzt waren aber strukturelle als auch ökonomische Erwägungen seitens des
Wiener Jugendamtes für die Wahl der weiteren Unterbringungsform ausschlaggebend.
66
In seiner Gründungsgeschichte ist das Zentralkinderheim der Stadt Wien (ZKH) nachfolgende Institution des
Niederösterreichischen Landes- Zentralkinderheimes, welches die Funktion des ehemaligen Findelhauses
übernahm und im Zuge des Trennungsgesetzes der Bundesländer Wien und Niederösterreich der Gemeinde
Wien zugeordnet wurde. 1986 wurde das Zentralkinderheim in Charlotte Bühler-Heim der Stadt Wien
umbenannt. Im Rahmen der Reform Heim 2000 , der Schließung der Großheime der Gemeinde Wien erfolgte
1998 die Schließung des Heimes. Diente das ZKH zwar primär der Unterbringung von seitens der
Jugendwohlfahrt als „gefährdet“ eingestufter Säuglinge und Kleinkinder, so fungierte es auch als Mutter-KindHeim, in dem mittellose Mütter gemeinsam mit ihren Säuglingen aufgenommen wurden. Dem Heim
angeschlossen waren ein eigener Kindergarten sowie eine Ausbildungsstätte für Kindergärtnerinnen. Vgl.
Bründl, Margarete: Zentralkinderheim der Stadt Wien. Die Geschichte eines Wiener Kinderheimes. Internes
Manuskript der MA 11, Wien 1999. (Kopie im Besitz der Autorinnen); Pawlowsky, Verena: Mutter ledig, Vater
Staat. Das Gebär- und Findelhaus in Wien 1784-1910, Wien/Innsbruck 2001.
67
Die Wiener Kinderübernahmsstelle (KÜST) wurde 1925 erbaut und galt in der Ära des „Roten Wien“ als
international angesehene Modelleinrichtung der Wiener Jugendwohlfahrt. 1985 wurde die KÜST in JuliusTandler-Familienzentrum umbenannt. Im Zuge der Heimreform 2000 der MAG ELF (Amt für Jugend und
Familie) wurde sie in ihrer ursprünglichen Funktion als Durchzugsheim aufgelöst. Anschließend dienten die
Räumlichkeiten verwaltungstechnischen Zwecken sowie der Unterbringung der Pflege- und Adoptionsstelle der
MAG ELF. Vgl. Die Kinderübernahmsstelle der Gemeinde Wien, hg. v. der Gemeinde Wien, Wien 1927;
Wolfgruber, Gudrun: Zwischen Hilfestellung und sozialer Kontrolle. Jugendwohlfahrt im Roten Wien, dargestellt
am beispiel der Kindesabnahme, Wien 1997, S. 138ff.
68
1951 wurde innerhalb des Wiener Jugendamtes eine eigene Adoptionsstelle gegründet. Vgl. dazu der Artikel
in
der Wiener Arbeiterzeitung mit dem Titel „Wo man sich die Kinder aussucht“, in: Wiener Arbeiterzeitung vom
28.01.1951, S. 7
69
Jahrbuch der Stadt Wien 1961, hg. von der Gemeinde Wien 1962, S. 71. Frau Hpfner und ihr Bruder, von
ihren Eltern zur Adoption freigegeben, wurden aufgrund der psychologischen und medizinischen Gutachten des
ZKH sowie des psychologischen Dienstes der Stadt Wien jahrelang als „derzeit nicht zu Adoption geeignet“
eingestuft und daher auch nicht vermittelt. Ebenso erging es auch Frau Grün. Vgl. die Kinderakte Grün und
Hopfner..
15
Auf Grund eines konstatierten Mangels an Wiener Pflegeplätzen, den man vergeblich mit
Erhöhungen des Pflegegeldes zu lösen suchte70, sowie der Tatsache, dass eine
Unterbringung
in
Familienpflege
wesentlich
kostengünstiger
war
als
eine
Heimunterbringung, wurden Wiener Kinder ab Mitte der 1950er Jahre und 1970er Jahre
bevorzugt in ländlichen Pflegestellen, insbesondere in Großpflegefamilien am Land in
Randgebieten Österreichs, wie etwa der Südsteiermark als auch des Südburgenlandes
untergebracht.
Die zu Beginn der 1970er Jahre im Bezirk Radkersburg tätige Sozialarbeiterin Frau
Kovacz vermutet, dass “es (…) ein Vorwand für das Finanzielle“ sei, „ zu sagen, eine
Pflegefamilie ist besser als ein Heim“. Die ehemalige im Jugendamt tätige Frau Oehl
erklärt
diese
Entwicklung
aus
einer
kriegsbedingten
Notwendigkeit,
die
folgend
„Tradition“ geworden sei:
„Die Wiener Pflegefamilien waren wie alle anderen Wiener auch von dem Krieg betroffen.
Jetzt haben (sie sie auf’s Land verfrachtet) ohne Auswahl, sondern wer weg hat müssen
und wer Kinder bekommen hat, das ist einfach so gegangen ohne Kriterien. Und diese
Transporte da hinunter haben Amtsgehilfinnen geführt, also keine Fachleute. Die haben
die Kinder nur gesund hinbringen müssen. Und unten sind die Leute gestanden so: „Jö,
das ist ein Mäderl, das hätte ich gerne!“ (…)Und diese Unterbringung am Land aus der
Notsituation der Kriegszeit und dann der Nachkriegszeit (…)wurde fortgesetzt, weil das
dann Tradition war.“71
Die Bewilligung der seitens der ländlichen Fürsorgestellen vorgeschlagener Pflegestellen
erfolgte durch die Verbindungsfürsorgerinnen der KÜST. Die Bewilligung der Wiener
Pflegestellen durch die Sprengelfürsorgerinnen der Wiener Bezirksjugendämter, denen
auch die anschließende Kontrolle der in Pflegefamilien und Heimen untergebrachten
Kinder oblag.72 Die verpflichtende Kontrolle der Pflegestellen/Pflegekinder am Land zählte
zu den Aufgaben der Fürsorgerinnen der zuständigen Fürsorgeämter der Bundesländer.
Ergänzend dazu lag es in der Verantwortung der Verbindungsfürsorgerinnen der KÜST
am Land untergebrachte Pflegekinder einmal jährlich zu besuchen. 73 Für jedes Pflegekind
wurde den Pflegeeltern monatliches Pflegegeld zugewiesen. 74
Darüber hinaus hatten Pflegeeltern Anspruch auf zusätzliche finanzielle Leistungen, etwa
für Kleidung und Schulbedarfsartikel, Unterstützung in Krankheitsfällen, für Arztbesuche
70
„Bemühungen, mehr Pflegekinder in Wiener Familien unterzubringen waren nur wenig erfolgreich, trotz
Erhöhung des Pflegegeldes. (…) Die beste Anstalt kann niemals eine Familie ersetzen.“, in: Jahrbuch der Stadt
Wien, hg. von der Gemeinde Wien 1961, S. 72
71
Interview Oehl, S. 1, Z 9ff.
72
Vgl. Dienstanweisung für die Fürsorgerinnen der städtischen Bezirksjugendämter (Sprengelfüsorgerinnen) der
MA 11, Wien 1950, S. 1
74
Eine Zusammenstellung bezüglich des damals durchschnittlichen Monatseinkommens findet sich im Anhang.
16
etc.75 Die Pflegeeltern verpflichteten sich ihrerseits beim Jugendamt, das von ihnen
„übernommene Pflegekind“ gut und liebevoll zu erziehen. Bei „nicht sachgemäßer Pflege
und Erziehung“ müsste die „Bewilligung zum Halten des Pflegekindes widerrufen
werden.“76
Erfahrungen fremd untergebrachter Kinder
Überwiegend betten die Interviewpartner/innen ihre Erzählungen über ihren Alltag in ihre
Berichte über ihre Diskriminierung als Kinder letzter Klasse in der städtischen oder
dörflichen bzw. kleinstädtischen Gesellschaft ein. Waren Pflegekinder in Wien aufgrund
der Uniformierung ihrer Kleidung (Ausstattung durch die Küst) ebenso wie Heimkinder als
Heim – oder Pflegekinder identifizierbar, wurden aufgrund ihrer ärmlichen und mitunter
schäbigen und ungepflegten Kleidung Pflegekinder am Land von anderen Kindern im Dorf
sowie in der Kleinstadt verspottet und stigmatisiert. Die Mehrheit der ehemaligen am
Land untergebrachten interviewten Pflegekinder war zudem rassistischen Vorurteilen und
Bewertungen seitens der Landbevölkerung ausgesetzt. Soziale Isolierung, öffentliche
Stigmatisierung, ungleiche Teilhabe an Bildung und Berufsbildung als diskriminierende
Praktiken begleiteten das Leben vieler fremd untergebrachter Kinder.
Ehemalige Heim- und Pflegekinder bezeugen heute die Destruktivität vieler Pflegefamilien
in den 1950er bis 1970er Jahren. Die psychosozialen Entwicklungsmöglichkeiten von
Heim- und Pflegekindern wurden nachhaltig zerstört. In unterschiedlicher Weise haben
sie bis heute mit Traumatisierungen zu kämpfen. Sie erlitten und erleiden schwere
Nachteile im Berufs- und Privatleben, mitunter und auch noch im Ruhestand.
Fasst man die Erfahrungen in Pflegefamilien untergebrachter zusammen, so wird von
ehemaligen Pflegekindern - unabhängig Ihrer Unterbringung am Land wie in der Stadt von einer maßgeblichen Dominanz sozialer, psychischer, physischer als auch vielfach
sexueller Gewalt.
Der Entzug von Fotos, die die Pflegekinder an ihre Herkunftsfamilie erinnerten, zu der sie
auch sonst meist keinen Kontakt haben durften, oder die Zerstörung von
Übergangsobjekten wie von zu Hause mitgebrachten Teddybären stellten raffinierte,
mitunter sadistische Formen psychischer Gewalt dar, einer Erfahrung die Frau Konrad
während des Erzählens schwer zu belasten scheint:
„Ich hatte einen Teddy, den habe ich über alles geliebt. Irgendwann war der Teddy nicht
mehr ansehnlich und die Stofftiere waren ja früher mit so Stroh gefüllt und da ist auch
75
Materielle Leistungen und finanzielle Ausgaben sind in den seitens des Jugendamtes geführten Regressakten
genau dokumentiert. Anzumerken ist, dass die Bemessung des Pflegegeldes zur Sicherstellung der physischen
Bedürfnisse der Pflegekinder vorgesehen war. Eine finanzielle Bereicherung der Pflegeeltern war durch diese
Zahlungen nicht grundsätzlich gegeben, sondern erst durch eine missbräuchliche Verwendung der seitens des
Wiener Jugendamtes zu Verfügung gestellten finanziellen Mittel.
76
Dieser Passus findet sich in jedem für ein Pflegekind angelegten „Pflegebuch“, das über Rechte und Pflichten
der Pflegeeltern Auskunft gibt und war seitens der Pflegeeltern zu unterzeichnen.
17
schon die Naht aufgegangen, wo das Stroh rausgeschaut hat. Meine Mutter hat mir
immer damit gedroht: den Teddy werfe ich weg. Und ich habe immer gesagt: „Nein, den
Teddy bitte nicht wegwerfen! Das ist mein Lieblingsteddy! Ich nähe ihn zusammen und
mache ihn wieder ganz!“ Und eines Tages gingen wir in die Waschküche, haben den Ofen
wieder eingeheizt und sie hat dann meinen Teddy vor meinen Augen in den Ofen
geworfen. Ja, den Teddy werde ich nicht vergessen.“ 77
Herr Riedl resümiert die Qualität der psychischen, sozialen und materiellen Versorgung
in einer bäuerlichen „Großpflegefamilie“ in der Südsteiermark so lapidar wie bitter: „Also
wie gesagt, die Viecher sind dort besser behandelt worden.“ 78
Sichtbare Verletzungen und Wunden wurden als Zeugnis erlittener Gewalt durch
Wegsperren und Schulbesuchsverbot vertuscht, eine Praxis, die auch aus vielen
Erziehungsheimen berichtet wird. Als beschämend gestaltete sich für viele Pflegekinder
die ihnen auferlegte Notwendigkeit, in der Öffentlichkeit die Ursachen ihrer Verletzungen
zu vertuschen und als Ergebnis eines Selbstverschuldens darzustellen.79 In den
Kinderakten des Wiener Jugendamtes finden sich jedoch merkwürdiger Weise keinerlei
Aufzeichnungen über die von Pflegekindern erlittene Gewalt, auch dann nicht, wenn es
die ehemaligen Pflegekinder glaubhaft bezeugen. Das den männlichen wie den weiblichen
Pflegekindern auferlegte Verbot, über die in Pflegefamilien erlittene Gewalt zu sprechen,
erweist sich somit als eine wirksame Methode, das Ausmaß erlittener Gewalt 80 zu
verbergen.
Beziehungen und Bindungen in der Fremdunterbringung
Bis auf wenige Ausnahmen vermissten alle interviewten Pflegekinder einen positiven
emotionalen, liebe- und respektvollen Umgang in der Pflegefamilie. Selbst in jenen
Familien, in denen physische Gewalt nicht als vorrangiges Erziehungsmittel eingesetzt
wurde, zeugen die Erzählungen von Kälte und Distanz. „Nein, das hat es nicht gegeben,
77
Interview Konrad, S. 11, Z 6 ff.
Interview Riedl, S. 5, Z8.
79
Interview Grubmair, S. 9, Z 48 f.
80
Rosa Logar, Gewalt an Frauen in Familien, in: Elfriede Fröschl/Christine Gruber, Hg., Gender-Aspekte in der
Sozialen Arbeit, Wien 2001, 175-200. ‚Phallokratisch’ meint hier, dass Männern, und wie an einem Fall gezeigt,
auch deren Söhnen) das Recht zugestanden wurde, ihre Lust auf sexuelle Gewalt an Pflegekindern zu
realisieren – dies auch mit Duldung oder gar Zustimmung von Müttern resp. Pflegemüttern. Die allein auf
sexuell-körperliche Gewalt gegründete Herrschaft von Männern über Mädchen und Frauen ist nicht patriarchal,
sondern phallokratisch. Im Unterschied dazu basiert patriarchale Herrschaft auf umfassenden, vor allem auch
sozial und wirtschaftlich begründeten Rechten und Verpflichtungen des Mannes als Hausvater gegenüber allen
Angehörigen der von ihm dominierten bäuerlichen Hauswirtschaft resp. Familie. Beide theoretischen Konzepte
haben allerdings einen blinden Fleck: die von Frauen oder älteren Mädchen gegenüber jüngeren und körperlich
schwächeren Mädchen geübte körperliche, oft auch sexualisierte oder sexuelle Gewalt, die in dieser
Untersuchung mehrfach angetroffen wurde.
78
18
also Liebe// (…) Hiebe statt Liebe. Ich könnte mich nie erinnern, dass uns die Mutter
einmal in den Arm genommen oder getröstet hätte.“ 81
Doch trifft dies nicht auf alle Pflegefamilien zu. Als Säuglinge oder im Kleinstkinderalter
auf einem privaten Pflegeplatz untergebrachte Kinder, die an ihre Eltern keine Erinnerung
hatten und in der Pflegefamilie gut integriert waren, zeigen sich eher bereit, die
Pflegefamilie als ‚richtige’ Familie anzuerkennen. Eine Rückstellung zu den Eltern oder die
Überstellung in eine andere Pflegfamilie82 bedeutete dann oft nicht nur einen
Milieuwechsel, sondern auch, wie etwa für Frau Grün eine schmerzliche Trennung von
den Pflegeeltern und Pflegegeschwistern. 83
Die Mehrheit der Pflegekinder hatte keinen oder nur sehr sporadischen Kontakt zu ihren
leiblichen Eltern oder Verwandten. Vielfach war ihnen über die Existenz oder den Verbleib
leiblicher Geschwister, die ebenfalls häufig in Pflegefamilien oder in Heimen
untergebracht waren, nichts bekannt. Die wenigsten Pflegeltern bemühten sich, Kontakt
zu den leiblichen Eltern der Kinder aufzunehmen, vielfach wurde ein solcher Kontakt auch
vom Jugendamt unterbunden. Der ehemaligen Sozialarbeiterin Oehl zufolge sei der
Aufbau einer positiven Beziehung zu den leiblichen Eltern insbesondere durch die
Konkurrenz zwischen Mutter und Pflegemutter erschwert worden. 84 Kümmerten sich
leibliche Eltern nicht um ihre Kinder in Pflegefamilien, wurde dies wie auch die
vorhergegangene Kindesabnahme seitens der Kinder als massive Kränkung erlebt, als
eine Verstoßung, insbesondere durch die Mütter. Unabhängig von positiven oder
negativen Erfahrungen in der Pflegefamilie wird in den Interviews vielfach eine
lebenslange Sehnsucht nach der ‚richtigen Mutter’ artikuliert.85
Für die Mehrheit der Interviewpartner/innen erwies sich eine spätere Kontaktnahme mit
den leiblichen Eltern als enttäuschend und führte zu keiner positiven Beziehung. Aus der
Unkenntnis der leiblichen Eltern resultierten Wunschvorstellungen und Fantasien, die bei
ersten Begegnungen zu herben Enttäuschungen führten, wie etwa bei Frau Grün:
„Da hast du Vorstellungen, wie deine richtigen Eltern sind und sein werden. Und dann
hast Du einen Schock […] Sie war so dick, er war Alkoholiker […] Ich wollte sie auch
kennenlernen und hatte meine Vorstellungen, wie sie sein werden. Als Kind hast du deine
Träume. Reiche Eltern und dann geht es mir viel besser. Ja, und dann bin ich hin und
dann habe ich einen Schock fürs Leben bekommen.“ 86
81
Interview Riedl und Grubmair, S. 9, Z 32; S. 9, Z 36 ff.
Evident ist, dass seitens des Jugendamtes keine Vorbereitungen getroffen wurden, Kinder in diesen
Übergangssituationen zu unterstützen. Fehlende Transparenz über Entscheidungen der Erwachsenen sowie
fehlende Kenntnis der eigenen Biografie wirken besonders verunsichernd; vgl. Interview Grün, S. 13, Z 39.
83
Interview Grün, S. 1, Z 45 f.; S. 2, Z 2 f.
84
Interview Oehl, S. 7, Z 26 ff.
85
Interview Ott, S. 15, Z 33 ff.
86
Interview Grün, S. 10, Z 5 ff., S. 10, Z 11; S. 10, Z 21 ff.
82
19
Manche der in „Großpflegefamilien“ untergebrachten Kinder konnten die fehlende
Zuwendung der Pflegeeltern durch gute Beziehungen mit den Pflegegeschwistern und
Geschwistern ausgleichen.87
Nach der Absolvierung der Pflichtschule war das gesetzlich geregelte Pflegeverhältnis mit
den Pflegeeltern beendet. Die meisten Pflegekinder verzichteten darauf, mit der
Pflegefamilie in Kontakt zu bleiben. Bindungen zu Pflegeeltern konnten jedoch auch auf
im Kind erzeugten Schuldgefühlen und auf seiner lebenslangen Verpflichtung zu
Dankbarkeit beruhen.88 Angesichts fehlender Alternativen und ohne gute Beziehung zu
leiblichen Eltern stellten manche Pflegeeltern für Pflegekinder dennoch die einzige
„eigene Familie“ dar.89 Man habe sich – so Frau Konrad „arrangiert, […] wenn man
niemanden anderen hat.“90
Fehlende Kommunikation: Wechsel und Übergänge der Fremdunterbringung
Stellte die „Fremdunterbringung“ von Wiener Kindern immer einen massiven Eingriff in
die Lebensgeschichte der betroffenen Kinder dar, bedeutete die Überstellung in eine
„Großpflegstelle“ auf dem Land hingegen den völligen Zusammenbruch der Lebenswelt
der Wiener Kinder: Neben der anfänglichen Fremdheit der (klein)bäuerlichen Lebens- und
Arbeitsweise führten sprachliche (dialektale) Differenzen zu zahlreichen
Missverständnissen und Anpassungsschwierigkeiten.
Wie aus den kurzen biografischen Verläufen der Fremdunterbringung ehemaliger
Pflegekinder
ersichtlich
wird,
haben
alle
InterviewpartnerInnen
mehrmalige
Pflegestellenwechsel, sei es in eine Pflegefamilie, sei es in ein Heim, erlebt. Das
Abklärungsverfahren über den weiteren Verbleib der Kinder basierte auf medizinischen
sowie psychologischen Gutachten, die jedoch dem zeitgenössischen wissenschaftlichen
Standard entsprechend, weniger die psychische Befindlichkeit der Kinder in den Blick
nahmen als deren Ausmaß eines normiertem Entwicklungsstandes und beobachtbaren
Verhaltens.
Die Kinder wurden ohne Vorbereitung und Informationen oft auch ohne Vorankündigung
aus der gewohnten familiären Umgebung herausgenommen und in ein neues soziales
Umfeld gebracht - eine zeitgemäß oft übliche Vorgangsweise.
87
Interview Grün, S. 5, Z 14 ff; vgl. Elisabeth Brousek/Anke Hoyer, Gleichheitsethos, Eifersucht und einander
bestätigende ZeugInnen. Erfahrungen von Pflegekindern mit ihren Geschwistern. Unveröffentlichter Bericht der
MA 11, Abteilung Forschung und Entwicklung, Wien 2011.
88
Interview Konrad, S. 4, Z 38 ff.
89
Interview Fuhrmann, S. 8, Z 8.
90
Interview Konrad, S. 12, Z 26 f.
20
Frau Grün wurde 1975 im Zuge der Erkrankung ihrer Pflegemutter in eine andere
Pflegefamilie überstellt. Die geplante neue Unterbringung wurde ihr vorerst nur als
vorübergehender Besuch angekündigt:
„Das ist einfach so entschieden worden. Wir haben damit gerechnet, in zwei oder drei
Wochen sind wir wieder zu Hause. Uns wurde gesagt, wir machen in Jennersdorf Urlaub,
bis es der Mami wieder besser geht, sie muss ins Krankenhaus und wenn sie wieder
heimkommt, dürfen wir auch wieder heim. Und dann sind die Wochen vergangen (…)
dann wussten wir es. Die haben sich arrangiert.“91
Fehlende Transparenz über Entscheidungen der Erwachsenen sowie fehlende Kenntnis
der eigenen Biografie wirkten als besonders verunsichernd.
Angesichts fehlender Information und Erklärungen seitens der Erwachsenen sieht sich
das Mädchen gezwungen, auf negative Schuldzuweisungen sich selbst gegenüber als
Erklärungsmodell für die erfahrene Ablehnung zurückzugreifen:
„Das war damals so und sie konnte nicht anders. Nur als Kind eben denkst du ganz
anders. Da habe ich mir selbst die Schuld gegeben: Warum? Was habe ich falsch
gemacht? Ich habe ja nichts angestellt? Was habe ich gemacht, dass sie mich nicht mehr
haben will?“92
Für Frau Schnabl, die nach dem Tod ihrer Pflegeeltern kurzfristig in einer weiteren
Pflegefamilie untergebracht war, stellte vor allem die fehlende Vorbereitung auf eine
Heimüberstellung eine massive Bedrohung dar. Einerseits auf Grund von Verunsicherung
und andererseits aus Angst vor dem in der Öffentlichkeit schlechten Ruf behafteten
Heimkindern.
Frau Achatz, die seit ihrem dritten Lebensjahr in einer Pflegefamilie im Bezirk
Radkersburg untergebracht war, und auf Grund fehlender Kontakte zu ihren leiblichen
Eltern
keine
Erinnerungen
an
diese
besitzt,
wurde
von
der
Fürsorge
ohne
vorangegangene Information nach Wien zu ihrer Mutter zurückgebracht. Im Nichtwissen
um ihre tatsächliche Herkunft, d.h. ihres fehlenden Wissens um die eigene Biografie,
gestalte sich der Erstkontakt mit ihrer leiblichen Mutter als eine schockierende Erfahrung.
An eine vorangegangene Vorbereitung auf die Rückstellung zu ihrer Mutter kann sie sich
nicht erinnern.
„Dann zum Schluss ist eine gekommen, die hat uns geholt. Wer das war, weiß ich nicht.
(…),die hat uns dann halt abgeliefert. haben. Ich weiß nicht, wo wir da hinkommen. Und
91
92
Interview Grün., S. 9, Z 34ff
Interview Grün, S. S. 13, Z 49ff
21
da hat uns eine Frau, eine stärkere, in Empfang genommen und (…) hat gesagt, sie ist
unsere Mutter. Ich meine, es war ein Schock. (…) einem achtjährigen Kind dann plötzlich
zu sagen, das ist deine Mutter, die andere, wer war die andere dann?“ 93
Die Herausnahme aus der Pflegefamilie erfolgte für Frau Ott ebenso unvorbereitet und
überraschend wie für die Pflegeeltern:
„Na, eigentlich, eigentlich überhaupt nicht, also ich kann mich da nicht erinnern, dass mir
was erklärt worden ist, da sind nur auf einmal ein paar Leute aufgetaucht und ich bin von
der Schule stanta pede nach Hause und die haben mit ihr gesprochen, mit meiner
Pflegemutter und die hat mir ein paar Sachen eingepackt und die hab ich mitgenommen.
(…) Also Sie waren da völlig unvorbereitet und überrascht. (…) Das ist ganz abrupt
gegangen (…), da bist du dann überstellt worden und Grüß Gott, (…) da hat es überhaupt
keine Betreuung gegeben.“94
Weder seitens der Fürsorge, der leiblichen Eltern, noch der Pflegeeltern wurden
Vorbereitungen getroffen, Kinder in diesen Übergangssituationen zu unterstützen..
Vielmehr erweist sich die fürsorgerische Praxis der Überstellungen als eine von fehlender
Kommunikation, unterlassener Information, als auch letztlich fehlender Bereitschaft, nach
den Befindlichkeiten der Kinder zu fragen.
Kontrollinstanzen des Kinderschutzes
Während in Wien wohnende Pflegefamilien durch die Verbindungsfürsorgerinnen der
KÜST besucht und kontrolliert wurden, lag in den übrigen Bundesländern die
Durchführung der ein- bis zweimal im Jahr durchzuführenden Hausbesuche bei den
Fürsorgerinnen der Bezirksjugendämter. Sie hatten ihre Beobachtungen Fall in
„Pflegeberichten“ an die Wiener KÜST zu übermitteln. Ergänzend dazu besuchte die
Verbindungsfürsorgerinnen der KÜST jede Pflegefamilie einmal jährlich. Wie Protokolle
und Aufzeichnungen der Fürsorgerinnen und auch Erzählungen ehemaliger Pflegekinder
zeigen, galt die Aufmerksamkeit dieser Fürsorgerinnen vornehmlich der Sauberkeit und
Hygiene im Haus. Ein Gespräch wurde nur mit der Pflegemutter, nicht mit dem Kind
geführt. Auf Kontakte zwischen Pflegevätern und den Fürsorgebehörden finden sich
weder in den Kinderakten noch in den Erzählungen Hinweise. Frau Konrad erinnert sich:
„Ja, die Fürsorgerin ist schon regelmäßig gekommen. […] Die hat sich hauptsächlich mit
der Mutter unterhalten und gesagt, sie braucht nicht so regelmäßig kommen, weil hier ist
93
94
Interview Achatz, S. 5, Z 19ff
Interview Ott, S. 5, Z 7ff; S. 15, Z 7f
22
eh immer alles in Ordnung, blitzsauber alles und mehr braucht sie nicht zu wissen. Mit
mir selbst hat sie nie gesprochen, da könnte ich mich sicher erinnern.“95
Der Einblick in die realen Familienverhältnisse wurde den Fürsorgerinnen allerdings ganz
gezielt erschwert. Allen interviewten ehemaligen Pflegekindern sind die umfassenden
Bemühungen und Vorbereitungen auf den Hausbesuch durch die Fürsorgerin in
Erinnerung, insbesondere der Hausputz, die Körperpflege und die Versorgung der Kinder
mit sauberer Wäsche. In einigen bäuerlichen Großpflegefamilien wurde die Fürsorgerin
mit einem Festtagsessen und mit geschenkten Naturalien ‚gütig gestimmt“. Dass es an
diesem Tag auch für Pflegekinder Fleisch zu essen gab, kündigte ihnen den
bevorstehenden Besuch der Fürsorgerin an: „[…] haben wir müssen abstechen, Eier
sammeln, Geselchtes, wenn die Fürsorgerin kommt. Das haben wir gewusst.“ 96 Die
Kinder wurden mit Strafandrohungen zum Schweigen gezwungen. 97 Damit blieben die
emotionale Befindlichkeit der Pflegekinder sowie ihre Gewalterfahrungen den
Fürsorgerinnen weitgehend verborgen. Die ehemalige Fürsorgerin Frau Oehl kommentiert
die Sprachlosigkeit der Pflegekinder: „Und diese Kinder reden nicht, wenn sie die
Konsequenzen fürchten.98
Auch die ehemalige Sozialarbeiterin Frau Kovacz bezweifelt die Möglichkeit, Einblick in die
häuslichen Verhältnisse zu nehmen, zumal die Fürsorgerinnen für die Kinder „Teil des
Systems“ gewesen seien.99 Zu fragen ist, ob dies allein aber auch die auffallende
Differenz zwischen den Erzählungen ehemaliger Pflegekinder und den Pflegeberichten der
Fürsorgerinnen erklären kann? Auffällig ist die bestehende Diskrepanz der erzählten
Vermutungen (Ahnungen) ehemaliger Fürsorgerinnen, man habe ihnen etwas
vorgegaukelt, und ihren Niederschriften in den Kinderakten, die von einem „liebvollen
Verhältnis“ berichten und davon, dass sich das „Kind gut eingelebt“ habe und „wohl
fühle. Die soziale Herkunft und die vorangegangene Lebensgeschichte, sowie frühe
bereits erlittene sequentielle, auf einander folgende oder wiederholte Traumatisierungen
der Kinder blieben in den Einträgen der Kinderakten unberücksichtigt.
Ab den späten 1970er Jahre scheint sich erstmals ein diesbezüglicher Wandel zu
vollziehen: In Kinderakten ist ein intensiverer Kontakt zwischen den Fürsorgebehörden
und den Pflegefamilien verzeichnet, der von einem zunehmendem Interesse an der
schulischen und beruflichen Förderung der Kinder sowie auch an ihrem physischen und
psychischen Befinden zeugt.
95
96
97
98
99
Interview
Interview
Interview
Interview
Interview
Konrad, S. 13, Z 16 ff.
Weinzinger, S. 5, Z 45.
Konrad, S. 13, Z 19.
Oehl, S. 11, Z 1 f.
Kovacz, S. 3, Z 32 ff.
23
Facit
Ausgehend von den Heimreformen der 1970er Jahre, der Schließung von Großheimen im
Zuge der Reform Heim 2000, der Errichtung kleinerer Wohneinheiten
(Wohngemeinschaften), die eine Konstanz sozialer Beziehungen ermöglicht,
sorgfältigerer Prüfungen und Entscheidungsgrundlagen, begleitender
Unterstützungsangebote für Kinder, Eltern und Pflegeeltern lässt sich für die letzten
zwanzig Jahre ein entscheidender Wandel fürsorgerischer Theorie und Praxis der
Fremdunterbringung konstatieren. Im Zuge einer Revision langer Trends und Traditionen
sowie einer Verabschiedung von Modellen, die jahrzehntelang ihre Gültigkeit hatten,
wurde ein zentraler Paradigmenwechsel der Wiener Kinder- und Jugendwohlfahrt
vollzogen. Trotz einer Reduktion bevormundender und disziplinierender Maßnahmen und
einer Zunahme partizipierender Praktiken und Angebote, ist jedoch die Ambivalenz in
Fragen der Wahrung des Kinderschutzes als ein entscheidender Konflikt zwischen Hilfe
und Kontrolle konstant geblieben. Entscheidend ist – und dabei sind politische, öffentliche
Entscheidungsträger ebenso gemahnt wie in der Praxis stehende ExpertInnen der
Jugendwohlfahrt – dass die Stimmen von Kindern und Jugendlichen ausreichend gehört
werden.
© Gudrun Wolfgruber, Juni 2015