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Lucius Annaeus Seneca
Vom glücklichen
Leben
Herausgegeben und übersetzt
von Lenelotte Möller
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Printed in Germany
ISBN: 978-3-86539-208-4
www.marixverlag.de
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
L. Annaeus Seneca und die stoische
Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . .
Senecas Leben . . . . . . . . . . . . . . .
Seneca und die Stoa . . . . . . . . . . . .
Aus Senecas Schriften . . . . . . . . . . . . .
Vom glücklichen Leben . . . . . . . . . . . .
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . .
Vom glücklichen Leben . . . . . . . . . .
Von der Kürze des Lebens . . . . . . . . . . .
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . .
Von der Kürze des Lebens . . . . . . . .
Trostschrift an Helvia . . . . . . . . . . . . .
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . .
Trostschrift an Helvia . . . . . . . . . . .
Von der freien Zeit . . . . . . . . . . . . . . .
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . .
Von der freien Zeit . . . . . . . . . . . . .
Literatur in Auswahl . . . . . . . . . . . . . .
Textausgaben und Übersetzungen . . . .
Seneca, die Kaiserzeit und die Stoa . . . .
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Leben muss man
das ganze Leben lang lernen,
und was dich vielleicht
noch mehr wundern wird:
Das ganze Leben lang
muss man lernen
zu sterben.
(De brevitate vitae 7,4)
L. Annaeus Seneca
und die stoische
Philosophie
Senecas Leben
Lucius Annaeus Seneca wurde vermutlich im Jahr
1 v. Chr. in Corduba in Hispanien geboren. Sein
Vater, zur Unterscheidung von ihm entweder der
Ältere oder wegen einer Schrift über die Redekunst auch Seneca Rhetor genannt, stammte aus
dem Ritterstand. In seinem Werk über die Rhetorik, das er seinen drei Söhnen widmete, kritisierte der Vater die Künstelei der zeitgenössischen
Redner und forderte die Rückkehr zur Reinheit
des ciceronianischen Stils. Gemeinsam mit seiner
Frau Helvia hatte Seneca der Ältere drei Söhne:
außer dem berühmten Schriftsteller noch den
Sohn Lucius Annaeus Novatus, der nach seiner
Adoption durch eine kinderlose römische Familie Gallio genannt wurde und als Prokonsul der
Provinz Achaia (51/52) die Klage der Juden gegen
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L. Annaeus Seneca und die stoische Philosophie
den Apostel Paulus abwies (Apg 18,12–17). Ihm
widmete sein Bruder Seneca der Jüngere zwei seiner Schriften: De ira (Vom Zorn), De vita beata
(Vom glücklichen Leben). Der jüngere Bruder
des Schriftstellers war Marcus Annaeus Mela, der
die Verwaltung des väterlichen Gutes in Corduba übernahm und dessen Sohn, Marcus Annaeus
Lucanus, mit seinem Bürgerkriegsepos Pharsalia
ebenfalls als Schriftsteller in der römischen Literatur hervortrat.
Seneca selbst kam schon als Kind nach Rom,
um dort die bestmögliche Erziehung zu erhalten
und bald die ersten Erfolge als Anwalt zu haben.
Seine Lehrer waren Quintus Sextius, der Pythagoreer Sotion, der Stoiker Attalus, der Philosoph
Papirius Fabianus und der Redelehrer Mamercus
Scaurus. Wie sich schon an den Lehrern zeigt, war
für Senecas Leben die philosophische Ausbildung
bedeutsamer als seine politische, was den Vater
eher verdross. Als junger Mann neigte er sehr zur
Kränklichkeit: Asthma und Bronchitis plagten ihn
so sehr, dass er erstmals an Selbstmord dachte. Daher wurde er im Alter von 30 Jahren nach Ägypten
geschickt, wo Gaius Galerius, der Schwager seiner
Mutter, römischer Statthalter war; die Tante pflegte ihn mit Hilfe des trockenen Klimas gesund. Auf
der Rückreise nach Italien im Jahr 31 erlitt Seneca
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Vom glücklichen
Leben
Einführung
Schon zu Lebzeiten Senecas wurde ihm vorgeworfen, wie sehr die von ihm vertretene Philosophie
mit ihrer bescheidenen und genügsamen Lebensweise und sein eigener Lebenswandel im Reichtum
an Neros Hof im Gegensatz zueinander stünden.
Am nachhaltigsten betonte dies Senecas Widersacher Publius Suillius Rufus. Dieser war mit
Ovids Stieftochter verheiratet und stand wohl mit
dem Dichter bis zu dessen Tod in Briefkontakt.
Jedenfalls bat ihn Ovid im Jahre 15 nach Augustus’
Tod, sich für seine Rückkehrerlaubnis einzusetzen
(Epistulae ex Ponto 4,8). Ovid starb allerdings im
Exil 17 n. Chr. Im Jahre 24 wurde Suillius überführt, in einem Prozess bestochen worden zu
sein, weshalb er von Kaiser Tiberius auf eine Insel
verbannt wurde (Tacitus Annales 4,31). Von dort
durch den neuen Kaiser Caligula zurückgerufen,
wurde er Konsul und in den 50er-Jahren Prokon31
Aus Senecas Schriften
sul in der Provinz Asia. Unter Kaiser Claudius
betätigte sich Suillius vor allem als Denunziant,
dem als Erste Iulia, Drusus’ Tochter, und Poppaea
Sabina (Tac. Ann. 13,43) aus dem Kaiserhaus zum
Opfer fielen. Dann sorgte er für die Bestrafung
der Verschwörer, die sich gegen die Entmachtung
des Senates durch Kaiser Claudius wehrten, wobei
Suillius auch vor ehemaligen Konsuln nicht Halt
machte. Auch römische Ritter ließ er anklagen.
Als Ankläger eines Ritters namens Samius ließ er
sich allerdings mit 400 000 Sesterzen dazu bewegen, die Anklageschrift so zu verfassen, dass keine
Verurteilung stattfinden würde. Die Bestechung
kam ans Tageslicht und Samius beging Selbstmord.
Von Kaiser Claudius in Schutz genommen, entging Suillius einer Bestrafung und musste nur die
Bestechungssumme zurückzahlen.
Nach Neros Amtsantritt beleidigte Suillius
dessen Erzieher Seneca auf schwerste Weise: Sein
Exil unter Claudius sei rechtmäßig gewesen, da er
das Kaiserhaus durch Ehebruch – Suillius spricht
sogar im Plural – entehrt habe. (Tac. Ann. 13,42)
Nach diesen und anderen Anwürfen suchte man
in Neros Umgebung nach einem Grund, Suillius
anzuklagen und mundtot zu machen. Da der Vorwurf der Ausbeutung der Provinz Asia die Erreichung dieses Ziels nicht versprach, wurden ihm die
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Vom glücklichen Leben
Übersetzung
(1) Leben, mein lieber Bruder Gallio, wollen alle
glücklich, doch wenn es darum geht zu durchschauen, was es ist, das ein glückliches Leben bewirkt, tappen sie im Dunkeln; es ist so schwierig,
ein glückliches Leben zu erlangen, dass sich jeder
umso mehr davon entfernt, je mehr er ihm nachjagt,
wenn er einmal gestrauchelt ist. Sobald der Weg
in die Gegenrichtung führt, wird die Schnelligkeit
zum Grund eines immer größeren Abstandes. Man
muss sich daher zuerst klarmachen, was es ist, das
man erstrebt; dann muss man sich umsehen, wie
wir am schnellsten dorthin eilen können, indem
wir auf dem Weg – wenn er denn der richtige ist
– begreifen, wie viel man jeden Tag schaffen kann,
und wie viel näher wir an dem sind, zu dem uns
unsere natürliche Begierde treibt. 2 Solange wir
freilich allenthalben umherschweifen, ohne einem
Leiter zu folgen, sondern dem Getöse der Menge
und dem wirren Geschrei der durcheinander Rufenden, wird unser kurzes Leben zwischen Irrtümern zerrieben, auch wenn wir Tag und Nacht um
die gute Gesinnung bemüht sind. Es muss daher
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Aus Senecas Schriften
erstens entschieden werden, wohin wir streben,
zweitens, wodurch, und zwar nicht ohne jemand
Erfahrenen, der das erforscht hat, worin wir vorankommen wollen, da ja hier nicht dieselben
Bedingungen wie in sonstigen Reisen vorliegen:
Bei jenen verhindern ein entdeckter Grenzstein
oder Einwohner, die man fragt, dass man in die
Irre geht, hier aber täuscht selbst die ausgetretenste
und belebteste Straße am meisten. 3 Nichts muss
man also dringender sicherstellen als eben gerade
nicht nach der Gewohnheit des Viehs der Herde
der Voranschreitenden nachzutraben, wobei man
nämlich nicht dahin fortmarschiert, wohin man
eigentlich gehen soll, sondern dahin, wohin die
Allgemeinheit nun einmal geht. Und keine Tatsache verwickelt uns in größere Übel als die, dass
wir auf die öffentliche Meinung hin orientiert sind,
indem wir das für das Beste halten, was mit der
größten Zustimmung aufgenommen wird. Und
weil wir viele Vorbilder haben, leben wir nicht
nach der Vernunft, sondern auf die Ähnlichkeit
zu ihnen hin. Daher die so große Menge von Menschen, in der die einen über die anderen stürzen. 4
Was sich in einer großen Menschenmasse ereignet,
wenn das Volk sich selbst bedrückt (niemand fällt,
ohne einen anderen mit sich hinabzuziehen, die
Ersten sind der Untergang der Nachfolgenden),
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Vom glücklichen Leben
kannst du in jedem Leben geschehen sehen: Niemand irrt für sich allein, sondern er ist Grund und
Urheber fremden Irrtums. Es schadet nämlich,
sich den Voranschreitenden an die Füße zu heften.
Und während jeder Einzelne lieber glauben will
statt zu entscheiden, wird niemals über das Leben
entschieden, sondern immer geglaubt, und der
von Hand zu Hand weitergegebene Irrtum quält
uns und richtet uns zugrunde. Durch fremde Vorbilder scheitern wir. Wir werden geheilt werden,
wenn wir uns nur von der Masse trennen. 5 Nun
aber steht gegen die Vernunft als Verteidiger seines
eigenen Übels das Volk. In Volksversammlungen,
in denen Prätoren gewählt worden sind, wundern
sich dieselben Menschen, die sie gewählt haben,
über ihre eigene Entscheidung, wenn die wechselhafte Gunst sich geändert hat: Dasselbe, was wir
gutheißen, verwerfen wir. Es ist das Ende jeder
Urteilskraft, wenn das Urteil sich nach der Mehrheit richtet.
(2) Wenn über das glückliche Leben gehandelt
wird, darfst du mir nicht wie bei den Volksabstimmungen antworten: »Diese Seite scheint
mir die Mehrheit zu sein.« Dann ist sie nämlich
schlechter. Mit den menschlichen Angelegenheiten wird nicht so gut umgegangen, dass die
besseren Dinge jeweils den meisten gefallen. Die
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