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Lucius Annaeus Seneca Vom glücklichen Leben Herausgegeben und übersetzt von Lenelotte Möller Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Es ist nicht gestattet, Abbildungen und Texte dieses Buches zu scannen, in PCs oder auf CDs zu speichern oder mit Computern zu verändern oder einzeln oder zusammen mit anderen Bildvorlagen zu manipulieren, es sei denn mit schriftlicher Genehmigung des Verlages. Alle Rechte vorbehalten Copyright © by Marix Verlag GmbH, Wiesbaden 2009 Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH, Wiesbaden Bildnachweis: akg-images GmbH, Berlin Lektorat: Dietmar Urmes, Bottrop Satz und Bearbeitung: Medienservice Feiß, Burgwitz Der Text wurde in der Stempel Garamond gesetzt Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN: 978-3-86539-208-4 www.marixverlag.de Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . L. Annaeus Seneca und die stoische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . Senecas Leben . . . . . . . . . . . . . . . Seneca und die Stoa . . . . . . . . . . . . Aus Senecas Schriften . . . . . . . . . . . . . Vom glücklichen Leben . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom glücklichen Leben . . . . . . . . . . Von der Kürze des Lebens . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Kürze des Lebens . . . . . . . . Trostschrift an Helvia . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . Trostschrift an Helvia . . . . . . . . . . . Von der freien Zeit . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der freien Zeit . . . . . . . . . . . . . Literatur in Auswahl . . . . . . . . . . . . . . Textausgaben und Übersetzungen . . . . Seneca, die Kaiserzeit und die Stoa . . . . 5 7 9 9 17 29 31 31 35 91 91 93 145 145 151 203 203 205 221 221 222 Leben muss man das ganze Leben lang lernen, und was dich vielleicht noch mehr wundern wird: Das ganze Leben lang muss man lernen zu sterben. (De brevitate vitae 7,4) L. Annaeus Seneca und die stoische Philosophie Senecas Leben Lucius Annaeus Seneca wurde vermutlich im Jahr 1 v. Chr. in Corduba in Hispanien geboren. Sein Vater, zur Unterscheidung von ihm entweder der Ältere oder wegen einer Schrift über die Redekunst auch Seneca Rhetor genannt, stammte aus dem Ritterstand. In seinem Werk über die Rhetorik, das er seinen drei Söhnen widmete, kritisierte der Vater die Künstelei der zeitgenössischen Redner und forderte die Rückkehr zur Reinheit des ciceronianischen Stils. Gemeinsam mit seiner Frau Helvia hatte Seneca der Ältere drei Söhne: außer dem berühmten Schriftsteller noch den Sohn Lucius Annaeus Novatus, der nach seiner Adoption durch eine kinderlose römische Familie Gallio genannt wurde und als Prokonsul der Provinz Achaia (51/52) die Klage der Juden gegen 9 L. Annaeus Seneca und die stoische Philosophie den Apostel Paulus abwies (Apg 18,12–17). Ihm widmete sein Bruder Seneca der Jüngere zwei seiner Schriften: De ira (Vom Zorn), De vita beata (Vom glücklichen Leben). Der jüngere Bruder des Schriftstellers war Marcus Annaeus Mela, der die Verwaltung des väterlichen Gutes in Corduba übernahm und dessen Sohn, Marcus Annaeus Lucanus, mit seinem Bürgerkriegsepos Pharsalia ebenfalls als Schriftsteller in der römischen Literatur hervortrat. Seneca selbst kam schon als Kind nach Rom, um dort die bestmögliche Erziehung zu erhalten und bald die ersten Erfolge als Anwalt zu haben. Seine Lehrer waren Quintus Sextius, der Pythagoreer Sotion, der Stoiker Attalus, der Philosoph Papirius Fabianus und der Redelehrer Mamercus Scaurus. Wie sich schon an den Lehrern zeigt, war für Senecas Leben die philosophische Ausbildung bedeutsamer als seine politische, was den Vater eher verdross. Als junger Mann neigte er sehr zur Kränklichkeit: Asthma und Bronchitis plagten ihn so sehr, dass er erstmals an Selbstmord dachte. Daher wurde er im Alter von 30 Jahren nach Ägypten geschickt, wo Gaius Galerius, der Schwager seiner Mutter, römischer Statthalter war; die Tante pflegte ihn mit Hilfe des trockenen Klimas gesund. Auf der Rückreise nach Italien im Jahr 31 erlitt Seneca 10 Vom glücklichen Leben Einführung Schon zu Lebzeiten Senecas wurde ihm vorgeworfen, wie sehr die von ihm vertretene Philosophie mit ihrer bescheidenen und genügsamen Lebensweise und sein eigener Lebenswandel im Reichtum an Neros Hof im Gegensatz zueinander stünden. Am nachhaltigsten betonte dies Senecas Widersacher Publius Suillius Rufus. Dieser war mit Ovids Stieftochter verheiratet und stand wohl mit dem Dichter bis zu dessen Tod in Briefkontakt. Jedenfalls bat ihn Ovid im Jahre 15 nach Augustus’ Tod, sich für seine Rückkehrerlaubnis einzusetzen (Epistulae ex Ponto 4,8). Ovid starb allerdings im Exil 17 n. Chr. Im Jahre 24 wurde Suillius überführt, in einem Prozess bestochen worden zu sein, weshalb er von Kaiser Tiberius auf eine Insel verbannt wurde (Tacitus Annales 4,31). Von dort durch den neuen Kaiser Caligula zurückgerufen, wurde er Konsul und in den 50er-Jahren Prokon31 Aus Senecas Schriften sul in der Provinz Asia. Unter Kaiser Claudius betätigte sich Suillius vor allem als Denunziant, dem als Erste Iulia, Drusus’ Tochter, und Poppaea Sabina (Tac. Ann. 13,43) aus dem Kaiserhaus zum Opfer fielen. Dann sorgte er für die Bestrafung der Verschwörer, die sich gegen die Entmachtung des Senates durch Kaiser Claudius wehrten, wobei Suillius auch vor ehemaligen Konsuln nicht Halt machte. Auch römische Ritter ließ er anklagen. Als Ankläger eines Ritters namens Samius ließ er sich allerdings mit 400 000 Sesterzen dazu bewegen, die Anklageschrift so zu verfassen, dass keine Verurteilung stattfinden würde. Die Bestechung kam ans Tageslicht und Samius beging Selbstmord. Von Kaiser Claudius in Schutz genommen, entging Suillius einer Bestrafung und musste nur die Bestechungssumme zurückzahlen. Nach Neros Amtsantritt beleidigte Suillius dessen Erzieher Seneca auf schwerste Weise: Sein Exil unter Claudius sei rechtmäßig gewesen, da er das Kaiserhaus durch Ehebruch – Suillius spricht sogar im Plural – entehrt habe. (Tac. Ann. 13,42) Nach diesen und anderen Anwürfen suchte man in Neros Umgebung nach einem Grund, Suillius anzuklagen und mundtot zu machen. Da der Vorwurf der Ausbeutung der Provinz Asia die Erreichung dieses Ziels nicht versprach, wurden ihm die 32 Vom glücklichen Leben Übersetzung (1) Leben, mein lieber Bruder Gallio, wollen alle glücklich, doch wenn es darum geht zu durchschauen, was es ist, das ein glückliches Leben bewirkt, tappen sie im Dunkeln; es ist so schwierig, ein glückliches Leben zu erlangen, dass sich jeder umso mehr davon entfernt, je mehr er ihm nachjagt, wenn er einmal gestrauchelt ist. Sobald der Weg in die Gegenrichtung führt, wird die Schnelligkeit zum Grund eines immer größeren Abstandes. Man muss sich daher zuerst klarmachen, was es ist, das man erstrebt; dann muss man sich umsehen, wie wir am schnellsten dorthin eilen können, indem wir auf dem Weg – wenn er denn der richtige ist – begreifen, wie viel man jeden Tag schaffen kann, und wie viel näher wir an dem sind, zu dem uns unsere natürliche Begierde treibt. 2 Solange wir freilich allenthalben umherschweifen, ohne einem Leiter zu folgen, sondern dem Getöse der Menge und dem wirren Geschrei der durcheinander Rufenden, wird unser kurzes Leben zwischen Irrtümern zerrieben, auch wenn wir Tag und Nacht um die gute Gesinnung bemüht sind. Es muss daher 35 Aus Senecas Schriften erstens entschieden werden, wohin wir streben, zweitens, wodurch, und zwar nicht ohne jemand Erfahrenen, der das erforscht hat, worin wir vorankommen wollen, da ja hier nicht dieselben Bedingungen wie in sonstigen Reisen vorliegen: Bei jenen verhindern ein entdeckter Grenzstein oder Einwohner, die man fragt, dass man in die Irre geht, hier aber täuscht selbst die ausgetretenste und belebteste Straße am meisten. 3 Nichts muss man also dringender sicherstellen als eben gerade nicht nach der Gewohnheit des Viehs der Herde der Voranschreitenden nachzutraben, wobei man nämlich nicht dahin fortmarschiert, wohin man eigentlich gehen soll, sondern dahin, wohin die Allgemeinheit nun einmal geht. Und keine Tatsache verwickelt uns in größere Übel als die, dass wir auf die öffentliche Meinung hin orientiert sind, indem wir das für das Beste halten, was mit der größten Zustimmung aufgenommen wird. Und weil wir viele Vorbilder haben, leben wir nicht nach der Vernunft, sondern auf die Ähnlichkeit zu ihnen hin. Daher die so große Menge von Menschen, in der die einen über die anderen stürzen. 4 Was sich in einer großen Menschenmasse ereignet, wenn das Volk sich selbst bedrückt (niemand fällt, ohne einen anderen mit sich hinabzuziehen, die Ersten sind der Untergang der Nachfolgenden), 36 Vom glücklichen Leben kannst du in jedem Leben geschehen sehen: Niemand irrt für sich allein, sondern er ist Grund und Urheber fremden Irrtums. Es schadet nämlich, sich den Voranschreitenden an die Füße zu heften. Und während jeder Einzelne lieber glauben will statt zu entscheiden, wird niemals über das Leben entschieden, sondern immer geglaubt, und der von Hand zu Hand weitergegebene Irrtum quält uns und richtet uns zugrunde. Durch fremde Vorbilder scheitern wir. Wir werden geheilt werden, wenn wir uns nur von der Masse trennen. 5 Nun aber steht gegen die Vernunft als Verteidiger seines eigenen Übels das Volk. In Volksversammlungen, in denen Prätoren gewählt worden sind, wundern sich dieselben Menschen, die sie gewählt haben, über ihre eigene Entscheidung, wenn die wechselhafte Gunst sich geändert hat: Dasselbe, was wir gutheißen, verwerfen wir. Es ist das Ende jeder Urteilskraft, wenn das Urteil sich nach der Mehrheit richtet. (2) Wenn über das glückliche Leben gehandelt wird, darfst du mir nicht wie bei den Volksabstimmungen antworten: »Diese Seite scheint mir die Mehrheit zu sein.« Dann ist sie nämlich schlechter. Mit den menschlichen Angelegenheiten wird nicht so gut umgegangen, dass die besseren Dinge jeweils den meisten gefallen. Die 37