Linienführung
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Linienführung
Leseproben Kurt Borowski LINIENFÜHRUNG Lebensweg eines pensionierten Westberliner Polizisten Erinnerungen von 1926 bis 1998 aus der Reihe: »BERLINER LEBENSBILANZEN«, GEDÄCHTNIS DER STADT BERLIN DAS Schulzeit … Im Frühjahr 1933 wurden wir Jungen plötzlich von den Mädchen getrennt. Frollein Denk kam auch nicht mehr, und wir kriegten eine ganz alte Lehrerin, die aussah wie die Schauspielerin Adele Sandrock. Die Hände mußten wir nun stets vor uns auf dem Tisch gefaltet halten, nur zum Melden durften wir sie auseinandernehmen. Eine neue Zeit hätte begonnen, tönte sie, und unser Reichskanzler wäre Adolf Hitler. Am Unterrichtsende sollten wir ein Gebet sprechen: »Danket dem Herrn, denn er ist freundlich und seine Güte währet ewiglich, Amen!« Ich wagte mich kaum, das zu Hause zu erzählen, so doof kam mir das alles vor. Am 1. Mai gab es nun auch nicht mehr diese rote Nelke, wie sie mir Papa sonst immer für einen Sechser gekauft hat. Ein Lehrer erschien sogar in einer braunen SA-Uniform zur Schule. Er hob sich damit von den anderen Lehrern hervor und wirkte immer wie ein kleiner Angeber. Papa hatte viel Zeit, da er noch immer ohne Arbeit war. Morgens versorgte er seine Tauben auf dem Taubenboden der Laube von Vater und Mutter, dann ging er oft mit mir in den Wald in die Jungfernheide, und wir sammelten Blaubeeren oder Pilze. Papa kannte alle Sorten, und gerade die Schönsten, die ich immer fand, sollten giftig sein. Er baute mir auch einen Drachen aus rotem Papier und ließ ihn mit mir steigen. Fußball spielte er jetzt nicht mehr, aber nachmittags nahm er mich mit zum Platz von Rapide Wedding, aber nicht hinein, sondern Papa sah durch die Zaunritzen zu. Auch andere Männer besaßen kein Eintrittsgeld, sie lehnten die Fahrräder an den Zaun, stellten ein Bein auf den Sattel, eines auf den Lenker und 30 guckten über den Zaun. Wenn die letzten zehn Minuten des Spiels begonnen hatten, schloß die Kasse, und alle rannten noch schnell auf den Fußballplatz, um richtig zusehen zu können. Ahnung von den Spielregeln hatte ich keine, ich freute mich nur jedesmal, wenn der Ball nach außen geschossen wurde und ich ihn auf den Platz zu den Spielern zurückschießen konnte. Fußballer wollte ich später mal werden. Mit acht Jahren könne man eintreten, sagte Papa. Erst mußte ich einmal die Schule wechseln, unsere wurde aufgelöst und wir alle auf andere Schulen verteilt. Ich kam in die 14. Volksschule, eine reine Jungenschule, in der Plantagenstraße und war der einzige Neue in der Klasse, aber wurde von den anderen gut aufgenommen. Es war ein schon modernes Gebäude, und es befand sich auf jeder Etage eine Toilette. Der Lehrer hieß Herr Stahl, und es ging nicht mehr so streng zu wie bei Adele Sandrock. Zur lateinischen lernten wir nun auch die deutsche Schrift beziehungsweise Sütterlin. Zum Schreiben durften keine Füllfederhalter benutzt werden. Auf jedem Schultisch gab es ein Tintenfaß in einem aufklappbaren Behälter. Ständig mußte man mit dem Federhalter immer neu eintauchen. Die Tinte reichte jeweils gerade mal für ein kürzeres Wort. Wenn man zu tief eintauchte, kleckste es, und wenn aus Übermut der Behälter ruckartig zugeschlagen wurde, spritzte die Tinte über den ganzen Tisch und dem Vordermann an den Rücken. Ein Schüler war drei Jahre älter als wir. Er war ein Halbzigeuner und ist vorher immer mit seiner Sippe umhergezogen. Er konnte kaum schreiben. Nach dem Krieg, Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre, traf ich ihn wieder. Er war Bandleader namens Sieber und spielte 31 im »Franziskaner« am Bahnhof Friedrichstraße. Beim Tanzen hat er mir dann immer zugenickt. Er brauchte im Krieg nicht Soldat zu werden. Ich vergaß bei einem Diktat einmal, den U-Haken über das kleine U zu machen. Schade, sonst hätte ich null Fehler gehabt. Ich setzte den Haken einfach nachträglich darüber und begab mich mit dem Diktatheft zu Herrn Stahl nach vorn: »Was ist denn hier falsch, Herr Stahl?« Er stutzte einen Moment, dann bemerkte er den Schwindel. »Aus dir wird mal ein ganz großer Betrüger«, rief er laut. Ich wurde rot und bereute im selben Augenblick meine Dummheit. Dann griff er den Rohrstock und versohlte mir den Hintern. Bis zum Schluß der Stunde mußte ich zudem in der Ecke stehen bleiben. Noch lange hatte mir Herr Stahl das übelgenommen. Sonst war er sehr beliebt, hätte ich nur nicht diese Dummheit begangen. Zum Glück beorderte man uns einen neuen Klassenlehrer, Herrn Heiduck. Er trug immer einen grauen Knickerbockeranzug und war ein echter Kumpeltyp. Wir mochten ihn alle sehr, denn er hatte geradezu einen Ausflugsfimmel. Alle paar Wochen fuhr er mit uns ins Grüne. Sogar ins Rüdersdorfer Kalkbergwerk (Heinitzsee) gingen wir. Herr Heiduck war äußerst sportbegeistert und sprach viel über die Olympiade, die gerade auf dem Reichssportfeld stattfand. Ich selbst hatte mich aber nicht mehr für Sport interessiert, nur für den Goldmedaillengewinner Jesse Owens schwärmte ich. Von Adolf Hitler und von Politik wurde nie gesprochen. Der Rektor Herr Wolf war ein gestrenger Herr mit Parteiabzeichen am Revers. Vor ihm nahmen sogar die anderen Lehrer irgendwie Haltung an. Wir hatten aber 32 kaum mit ihm zu tun. Ich habe Wolf auch nie lachen sehen. Einige Schüler kamen nun auch schon in der Uniform des Deutschen Jungvolks zur Schule. Das geschah auch aus praktischen Gründen. Es gab ja noch die Prügelstrafe, und es hieß, daß Uniformierte nicht geschlagen werden dürfen, da das ehrverletzend sei. Sie bekamen denn auch bloß immer Hiebe auf die Hand, was mindestens ebenso weh getan hat. Aber Herr Heiduck schlug uns sowieso kaum. Nach Hause mußte ich immer durch die Ruheplatzstraße gehen. Hier befand sich der Bäcker, der immer so schön billigen Kuchen hatte. »Warschauer« hieß er und war aus »Zusammengefegtem«. Wir haben immer »Kotzkuchen« gesagt, und als ich einmal Kotzkuchen verlangte, schmiß mich die Verkäuferin raus. Da ich immer noch recht mickrig war, wurde ich 1935 von der Fürsorge nach Mittelschreiberhau in Schlesien verschickt. Es war das erste Mal, daß ich verreiste. Vier Wochen durfte ich in einem Heim, das von evangelischen Schwestern geleitet wurde, bleiben. Nach einer Woche bekam ich Heimweh und habe manchmal verstohlen unter der Bettdecke geweint. Trotzdem war es sehr schön, und mir wird immer die schöne Gegend mit der Schneekoppe in Erinnerung bleiben. Opa starb. Ich hatte ihn besonders gerne gehabt, er hatte mir auch immer viel gekauft und nie mit mir gemeckert wie der andere Großvater, wenn ich mal auf die Beete getrampelt bin. Zur Beerdigung durfte ich aber noch nicht mit. Oma mußte den Zeitungshandel nun alleine betreiben. Papa saß auch mal einige Stunden im Wagen, hatte aber immer etwas Angst, weil er doch Arbeitslosenstütze erhielt. 33 Endlich fand er Arbeit bei »Bergmann« in Wilhelmsruh. Der Führer hatte ja auch Arbeit für alle versprochen. Papa unkte, wir würden bloß aufrüsten für einen neuen Krieg. An den Wochenenden fuhr ich schon lange mit Mama zum Nollendorfplatz, und wir schliefen dann die Nacht von Sonnabend zu Sonntag immer bei Oma. Manchmal durfte ich auch mit in der Zeitungsbude sitzen. Das war sehr interessant, und ich habe auch immer das Wechselgeld richtig herausgegeben. Einmal hat mir sogar der Boxweltmeister Max Schmeling, der gegenüber in seinem Stammcafé Hahnen verkehrte, das 12-Uhr-Blatt abgekauft. Ich war sehr stolz und habe »Bitte, Herr Schmeling!« gesagt. Eine Zeitung hatte besonders häßliche Judenbilder. »Der Stürmer« nannte sie sich. Niemand verlangte sie, außer einem älteren gutgekleideten Juden. Es gab auch ausländische Zeitungen: Le Temps, Times und andere. Manchmal kreuzte ein Polizist mit einer Beschlagnahmeverfügung auf und nahm sie mit, weil irgend etwas dringestanden haben soll, was gegen Deutschland war. Den Polizisten war es manchmal selbst peinlich, aber sie sagten, sie könnten auch nichts dafür. Überhaupt stand jetzt auf den Parkbänken und auch am Eingang zu den Schwimm- und Freibädern: »Für Juden verboten«. Was ich komisch fand: bei Oma im Haus wohnten doch auch einige jüdische Familien, alles bessere und wohl sogar reiche Leute, denn sie hatten die großen teuren Wohnungen und nicht so eine schlechte wie Omas Kellerwohnung, die selbst im Sommer kalt war und im Winter mit den Kohleöfen erst recht nicht warm wurde. Schon wieder mußte ich die Schule wechseln, zur 183. Volksschule in der Müller-/Ecke Triftstraße, einem ganz alten Bau aus dem vorigen Jahrhundert, wo wir zu 34 viert nebeneinander auf einer Bank saßen. Die Tischplatten waren schon enorm zerkratzt. Und wenn einer mal vor an die Tafel geholt wurde, mußten alle aufstehen, damit er durchkam. Die Toiletten befanden sich auf dem Hof. Es war ein »Zwölfzylinder« ohne Türen, so daß man immer zu sehen war, wenn man draufsaß. … ********* 35 …1939 wurde nun auch die Rest-Tschechei von unseren Soldaten besetzt und in »Protektorat« umbenannt. Zusammen mit dem früheren Österreich, der Ostmark, waren wir jetzt Großdeutschland. Opa Liers stieß vor: »Jetzt fehlen nur noch der Polnische Korridor und die früheren Kolonien!« Da wir jetzt in der 8. Klasse waren, wurden wir von Rektor Virgin übernommen, denn der Rektor hatte seit alten Zeiten immer die letzte Klasse. Virgin, ein alter, etwas tattriger Mann, wurde schon seit Jahren »Musel« genannt. Er hatte das Naziabzeichen am Revers, und im Gegensatz zu Klauck, der nie über Politik ein Wort verloren hat, redete er viel über die »Bewegung«. Wir mußten ein Buch, geschrieben von Reichsleiter Philipp Bouhler, erwerben, eine haarkleine Beschreibung über Hitlers Weg an die Macht, und man merkte, daß Virgin uns das nicht nur notgedrungen beibrachte, weil es im Lehrplan stand, sondern daß er ein Fanatiker war. Ganze Absätze mußten wir aus dem Buch zitieren, und Musel war sehr ungehalten, wenn wir es nicht genauso konnten, wie es im Buche stand. Die Großeltern mußten in diesem Jahr die Laube in der Kolonie »Schillerhöhe« aufgeben, da dort Neubauten errichtet werden sollten. Bedauerlicherweise kriegten wir jetzt zu Weihnachten keinen Karnickel mehr. Zum Konfirmandenunterricht mußte ich nun auch noch einmal pro Woche gehen. Pfarrer Mundt, »olle Schnauze«, erteilte ihn. Er ging noch eindringlicher als im vormaligen schulischen Religionsunterricht auf die ganzen Wunder Jesu ein. Mich überzeugte das natürlich nicht, was da alles so erzählt wurde. Als er einmal fragte, welche Propheten wir aus dem Alten Testament kennen, fiel niemandem einer 55 ein. Ich rief lauthals: »Habakuk«. Den Namen hatte ich mir gemerkt, weil er so ulkig war und in Karl Mays Buch »Sklavenkarawane« vorkommt. Mundt freute sich, weil wenigstens einer in der Bibel Bescheid wußte. Sonntags vormittags sollten wir dann auch noch an einem Kindergottesdienst in einer Seitenkapelle der Nazarethkirche teilnehmen. Zeitlich schaffte ich das kaum, weil wir ja zum Wochenende immer bei Oma in der Nollendorfstraße waren. Zum Gottesdienst kamen noch Mädchen aus der Parallelgruppe. Manche hatten schon ganz schöne »Piezen«. Sie sonderten sich von uns Jungen ab, setzten sich hinten hin und kicherten bloß albern. Vorn auf dem Pult in der Kapelle lag eine große Bibel aufgeschlagen. Bevor Mundt reinkam, stellte Günther Krause sich vorne auf und markierte den Prediger. Er las hierzu aus der Bibel vor. »Ich hatte gar nicht gewußt, was da für Schweinereien drinstehen, im 3. Buch Mose, Kapitel 20«, verriet mir Krause später. Krause las laut: »Wenn eine Frau sich zu einem Vieh tut, so soll man die Frau steinigen und das Vieh erwürgen!« Wir Jungen lachten und riefen zu den Mädchen: »Seht ihr, ihr werdet alle gesteinigt.« Die begriffen nichts. Bei Mundt hatten wir unter anderem auch gewisse »drei Artikel« lernen müssen. Krause predigte also weiter: »Jetzt will ich euch noch die drei Artikel sagen: »Fotze, Arsch und Piepel, sind die drei Artikel; Titte, Blubber, Ei, sind die anderen drei!« Die Mädchen wurden rot, taten aber, als ob sie nichts gehört hätten. Ich hatte dann eine Freundin, Erika Altmann aus der Nollendorfstraße. Sie hatte einen Bubikopf und manchmal vom Hof aus durch Omas Küchenfenster reingeguckt . Sie war etwa anderthalb Jahre jünger als ich und wartete sonnabends schon immer, daß ich endlich kam. Ihr Vater 56 besaß ein Motorrad mit Beiwagen, welches meist vor dem Haus stand. Wir spielten gerne darauf herum. Ich saß vorne auf dem Sattel und Erika hinten oder im Beiwagen. Beim Herumklettern konnte ich ab und zu ihre Schlüpfer sehen. Als sie bemerkte, wie ich so guckte, wurde sie ganz verlegen und sah sich von nun an immer vor. SIE hatte noch keine Piezen. Wir unterhielten uns aber nie über so etwas. Ich hatte sie lediglich einmal aus Neugier gefragt, ob sie schon die »Rote Woche« habe, sie wußte aber gar nicht, was damit gemeint war. Ich wollte nur sehen, wie sie reagierte, wußte ja selber nicht, was es damit auf sich hatte. Manchmal liefen wir bis zum Kleistpark. Da tauschten viele auf den Bänken Zigarettenbilder. In jeder Zigarettenpackung lag nämlich ein Bild, und in den teueren Sorten ab vier Pfennig das Stück waren Schecks beigefügt, die mit einer Nummer versehen waren. Wenn man die laufenden Nummern von 1 bis 50 zusammen hatte, konnte man die Schecks einsenden und erhielt Bilderserien. Das deutsche Heer im Manöver zum Beispiel. Ich hatte mal Schecks eingesandt, mir aber eine Serie mit Bildern von Filmschauspielern schicken lassen. Das erste Bild oben zeigte den amerikanischen Schauspieler Robert Taylor, den ich unerhört gutaussehend fand. Apropos Zigaretten – mit Harry habe ich mir gelegentlich schon welche gekauft. Ganz billige, SchwarzWeiß oder Caid, das Stück zweieinhalb Pfennig. Heimlich haben wir dann geraucht, aber Harrys Mutter hat es mit ihrer feinen Nase gewittert. Frau Wolter ist auch sehr für Hitler gewesen. Neuerdings hatte sie sogar eine Hakenkreuzfahne gekauft. Wenn allgemeine Beflaggung angeordnet war, was oft genug vorkam, hängte sie diese heraus, aber nicht wie die meisten an einem Stock, son57 dern sie zwickte sie mit Reißzwecken an den Blumenkasten an, damit es den übrigen Hausbewohnern nicht zu sehr auffiel. Als ich einmal bemerkte: »Na, jetzt haben sie auch so einen Lappen rausgehängt«, wurde sie wütend und fauchte: »So etwas möchte ich nie wieder von dir hören!« Harrys Bruder wurde zur Wehrmacht eingezogen. Er war kleiner HJ-Führer. Harry war aber genauso wie ich nicht in der HJ beziehungsweise im Jungvolk. Uns hatte auch nie jemand aufgefordert, da einzutreten. Man konnte aber dann keinem Sportverein beitreten und ebensowenig die höhere Schule besuchen, was in unseren Kreisen ohnehin nicht üblich war (in den Kanuclub »Jörsfelde« am Tegeler See wäre ich aber sehr gerne eingetreten). In Omas Haus wohnte ein Junge, Wolfgang Zafke mit Namen, der die Mittelschule besuchte und eine grüne Schülermütze mit zwei Sternen trug. Der bildete sich wunder was ein und kam sich als was Besseres vor, bloß weil ich dagegen in die Volksschule ging. Ich wünschte ihm nichts Schlechtes, 1946 soll er jedoch an Tbc gestorben sein. Dem Vernehmen nach wichsten sie in unserer Klasse jetzt fast alle, was das Zeug hielt. Na ja. Harry jedenfalls, hatte eine Phimose, ein Vorhautproblem. Pinkeln konnte er zwar, aber in der Klasse war gleich von Operation die Rede, wenn er später mal vögeln wolle. Mit dem Kinderchor traten wir hier und da bei Veranstaltungen auf. Zum Beispiel beim Hausfrauennachmittag in den Marmorsälen am Zoo. Wir waren stolz, daß die Leute so klatschten, und kamen uns wer weiß wie vor. Die Auftritte besserten unser Taschengeld auf. Etwas Geld verdienten wir uns auch, 58 wenn wir dem Obsthändler Schröder in der Luxemburger Straße unter die Arme griffen. Harry kannte Schröder, weil er im Nebenhaus wohnte. Er muß wohlhabend gewesen sein, denn er hatte vorne sämtliche Zähne aus Gold. Aber er nutzte uns richtig aus. Abends halfen wir, den Obstwagen von der Luxemburger Straße zur Garage in der Schulstraße zu schieben. Schröder war ein Geizhals, nicht mal Anstoßobst überließ er uns. Ich hatte inzwischen schon so viel gespart, daß ich mir eine richtige Aktentasche kaufen konnte und nicht mehr die Schulmappe nehmen mußte. Ich hatte sie zwar schon lange nicht mehr auf dem Rücken getragen, da Mama beim Schuster aus den Riemen einen Tragegriff hat annähen lassen, aber es sah doch immer noch kindlich aus. Die Aktentasche kostete 7,50 Mark, was ein schönes Loch in meine Kasse gerissen hat. In der Schule hatte mir jemand das dicke Realienbuch geklaut. Ich mußte notgedrungen wieder Geld berappen und für vier Mark ein neues kaufen. Das alte hatte an der Seite einen großen Tintenfleck. Bei Günter Reichenbach, der ein Stänkerer war, aber ziemlich stark, weswegen sich keiner traute, sich mit ihm anzulegen, erblickte ich eines Tages mein altes Buch und meldete es Virgin. Der verdrosch Reichenbach unheimlich, und er mußte mir mein Buch zurückgeben. Das neue nahm der Buchhändler Gott sei Dank wieder zurück. Er gab mir aber bloß einen Gutschein über vier Mark, und immer, wenn ich ein Schreibheft kaufte, zog er den Heftpreis ab. Es dauerte lange, bis die vier Mark verbraucht waren. Alle munkelten, daß es nun bald Krieg geben würde. Die Polen sollten die Auslansdeutschen so schikanieren. Im Radio spielten sie laufend den »Marsch der Deutschen in 59 Polen«. Er sollte die allgemeine Stimmung gegen die Polen aufheizen. Es ist fast so gewesen wie damals mit dem Sudetenland. Am 1. September war es soweit. Wir marschierten in Polen ein. Mama ahnte, jetzt komme es wieder so wie im Weltkrieg. Bald würde es nichts mehr zu kaufen geben. Schnell machte sie mit mir noch einen Sprung rüber in den Seifenladen von Frau Stürz, und wir kauften fünfzehn Stück Toilettenseife. Das schien ihr im Moment das Wichtigste zu sein, denn sie hatte immer von der Lehmseife im Ersten Weltkrieg gesprochen. Irgendwie lag eine Spannung in der Luft. Nach drei Tagen erklärten uns England und Frankreich den Krieg. Unsere Wehrmacht marschierte in Polen so schnell vor, daß unser Turnlehrer Herr Krüger vermutete, daß wir den Krieg schon gewonnen haben werden, bevor wir groß genug wären, um Soldaten werden zu können. Beinah hatte ich das schade gefunden, denn ich hatte ja soviel von den Heldentaten unserer Soldaten gehört und stellte es mir gar nicht gefährlich vor. Er erzählte uns von Flandern, wo er im Weltkrieg gekämpft hatte. Statt Turnen machten wir nun Geländespiele und übten Marschieren. Das Marschieren fand ich fast besser als immer dieses blöde Geräteturnen am Barren und am Reck. Krüger ging hinter unserer Marschkolonne her und gab eine Parole durch: »Parole Prien« nach dem U-BootKommandanten Prien, der in einer englischen Bucht feindliche Kriegsschiffe versenkt hatte. Bis die Parole vorn in der ersten Reihe angekommen war, hatte sich der Text so verändert, weil jeder ihn seinem Vordermann ganz schnell wie undeutlich zugeflüstert hat, so daß ein »Paul frißt einen Priem« herauskam. Herr Krüger war verärgert 60 und zischte, er würde uns den Marsch schon blasen. Lebensmittel waren jetzt nicht mehr einfach so zu kaufen. Es lief nun alles über die Lebenmittelkarten. Mir als Kind standen noch Extrarationen zu. So gab es für mich täglich einen Viertelliter Vollmilch. Ansonsten nur Magermilch. Wenn ich zum Kuhstall in die Lindower Straße trabte, mußte ich zwei Milchkannen mitnehmen. Die Vollmilch sah dick, gelblich und sahnig aus. Die Magermilch wässerig und bläulich, sie wurde auch »Blauer Heinrich« genannt. Im Kuhstall standen zirka zehn Kühe, und der Liter Milch kostete vierundzwanzig Pfennige. Beim Einkauf von Wurst schnitten die Verkäuferinnen jetzt hauchdünne Scheiben und wogen sie ganz knapp ab. Mama meinte: »Die wiegen am liebsten noch ihre Finger mit!« Das hatte sie nie vergessen. Als es etwa zehn Jahre später wieder alles zu kaufen gab und die Verkäuferinnen fragten: »Darf es etwas mehr sein?«, bestand Mama darauf, nur genau die verlangte Menge zu bekommen. Die Fenster mußten abends verdunkelt werden, so daß kein bißchen Licht herausschien. Unser Luftschutzwart war der Blockwalter Herr Schultz aus dem Vorderhaus. Es war ein Wichtigtuer, und keiner nahm ihn im Grunde für voll. Schon bei den Probealarmen, also bei denen noch gar keine Gefahr bestand, hatte er einen Stahlhelm auf und eine Gasmaske umhängen. Aber keiner wagte, ihn deshalb zu verspotten. Blockwart Schultz kontrollierte täglich, und wenn irgendwo ein Schimmer zu sehen war, rief er auf dem Hof laut: »Licht aus!« Da keiner wußte, wer gemeint war, öffnete jeder das Fenster, um zu sehen, ob es ihn betrifft. Natürlich vergaßen die Leute, vorher das Licht auszuknipsen, und von überall leuchtete es dann auf den Hof. Schultz tobte wie ein Verrückter. 61 Das ganze Gerümpel in den Hauskellern mußte rausgeräumt werden, weil ein Luftschutzkeller eingerichtet wurde. Wir wußten gar nicht, wo wir mit unseren Preßkohlen hinsollten, die wir gerade noch zum Sommerpreis eingekellert hatten. Die Blumenfrau Frl. Stegemann genehmigte uns dann, sie bei ihr im Blumenkeller unter dem Hausflur zu lagern. Eimerweise mußte ich die Kohlen mit Papa rumtragen. Papa nahm immer gleich zwei Eimer, ich nur einen. Das einseitige Tragen war aber sehr anstrengend. 1948 haben wir uns einen Bergungsschein (damit man nicht für einen Plünderer gehalten wurde) vom Bezirksamt besorgt und mit einer Spitzhacke vergeblich versucht, zu den Kohlen vorzudringen. Es durfte auch nicht mehr jeder mit seinem Auto herumfahren. Benzin war knapp, weil es die Wehrmacht benötigte. Nur noch wirklich wichtige Fahrten waren erlaubt, und wer die Erlaubnis bekam, erhielt einen roten Winkel auf dem Nummernschild. Über die Auto- sowie über die Fahrradlampen mußten Kapuzen gezogen werden, so daß nur noch ein schmaler Schein aus dem Schlitz in der Mitte durchkam. Die Straßenlaternen wurden auch nicht mehr angeschaltet, und bis man sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, tapste man herum und rannte sich an. Wenn für das Winterhilfswerk gesammelt wurde und man mindestens zwanzig Pfennig spendete, hat man ein Abzeichen bekommen, welches flimmerte, wenn man es vorher unter ein Licht gehalten hat. Lange leuchtete so ein Abzeichen aber nicht. ******* 62 Einberufung … Nach knapp drei Monaten war der Arbeitsdienst beendet, und ich konnte wieder nach Berlin zurück. Zu Borsig brauchte ich aber erst gar nicht mehr zurück, denn der Einberufungsbefehl zur Wehrmacht kam bald. Nach Linz an der Donau in der Ostmark, also dem früheren Österreich, mußte ich fahren. Die Einheit nannte sich Schwere Flakersatzabteilung 38. Vom Anhalter Bahnhof fuhr ich los. Papa reichte mir zum Abschied noch sein Taschenmesser. Die Einkleidung erfolgte praktisch: jeder kriegte eine Uniform an den Kopf geworfen, und wir sollten sie untereinander austauschen, bis alle eine passende hatten. Für meine zu weite Jacke fand ich keinen Tauschpartner, so daß ich hinten auf dem Rücken lauter Falten hatte, was mich sehr ärgerte. An den Kammerbullen wandte ich mich nicht, da das Stammpersonal nur herumschnauzte. Überhaupt triezte man uns ganz schön. Ohne Mantel, nur mit Jacke und Hose mußten wir exerzieren. Trotz der dünnen Strickhandschuhe hatte man eiskalte Hände. Wenn nicht gleich alles klappte, rief der Unteroffizier: »Bis an den Horizont, marsch, marsch!« Dann wieder antreten, und wenn einer gesprochen hatte, wurden wir erneut gescheucht. Die Unteroffiziere aller Armeen der Welt sind eben Idioten. Es war sinnlos, der eigene Wille sollte gebrochen werden. Nach einer Woche fragte ich den Spieß nach Ausgang. Na, da habe ich vielleicht ins Fettnäpfchen getreten! Er schrie mich an, erst müsse ich mal ordentlich laufen lernen. Kurze Zeit später durften wir dann aber jovialermaßen 104 zugweise nach Leonding bei Linz zum Grab von Adolf Hitlers Eltern pilgern. Als einziger lehnte ich dankend ab und sagte dem Zugführer, daß der Herr Hauptfeldwebel gemeint hätte, ich müsse erst mal laufen lernen. Argwöhnisch sah er mich an, und auch die anderen gukkten merkwürdig. Sie hatten mich wohl richtig eingeschätzt. Der Zugführer versicherte mir dann auch: »Na, das Laufen werde ich Ihnen schon noch beibringen!« Ich konnte dann dableiben, wurde aber zukünftig als Außenseiter angesehen. Ansonsten hatte es weiter keine Folgen. Während des Kompanieunterrichts, den ein blutjunger Leutnant abhielt, schaute ich kurz zum Fenster, an das die Schneeflocken rieselten. Er brüllte wie ein Irrer. Ich mußte vorkommen und fünfundzwanzig Kniebeugen machen. Dabei hatte ich jedesmal laut zu rufen: »Mit mir hat Hermann Göring einen Fang gemacht!« Aber keiner lachte. Nach zwei Wochen wurde ich mit einigen Kameraden nach Krems Mautern an der Donau in die schöne Wachau abkommandiert. Flakscheinwerferersatzabteilung schimpfte sich der Verein. Wir haben aber nichts mit der Flak zu tun gehabt. Wegen des Totalen Krieges hatte man die Musikkorps der Luftwaffe aufgelöst und war der Meinung, daß Musiker ein gutes Gehör hätten, so daß sie zu Funkern ausgebildet werden könnten. Die Musiker waren fast alle Unteroffiziere und Feldwebel. Anfang März wurden wir nach Lyon im südlichen Frankreich zur Luftnachrichtenschule 4 abkommandiert. Nach Südfrankreich wollte ich schon immer mal hin, am liebsten an die Riviera. Da ich das Funkzeugnis, welches ich im Wehrertüchtigungslager 105 erhalten hatte, im Soldbuch habe eintragen lassen, wurde ich zweckmäßigerweise dazugesteckt. Ich war der Jüngste unter den ganzen Chargierten. Als Kaserne diente das ehemalige Lycée national du Park in Lyon. Der Lehrgang galt als ULK, also Unteroffizierslehrgang, den ich als junger Rekrut eigentlich noch gar nicht hätte besuchen dürfen, und fast alle anderen waren ja schon Unteroffiziere. Aber so ist das nun mal mit der Bürokratie. Von allen konnte ich schon als einziger Morsen, dank des WE-Lagers, und hatte gleich eine gute Nummer. Abends und zum Wochenende bekamen wir Ausgang, außer wenn man zur Wache eingeteilt worden war. Ein bißchen hochnäsig behandelten mich die anderen schon, weil mein Dienstgrad »Kanonier« war. Sie selbst als ehemalige Berufsmusiker waren aber auch nicht gerade zackige Soldaten. … ********* 106 MITGEFANGEN – MITGEHANGEN Aus der Wasserleitung hatte ich vorher noch trinken können. Ich lag auf dem kahlen Fußboden und fand keinen Schlaf. Die Gedanken gingen mir durch den Kopf, wenigstens hatte ich den Krieg überstanden und bald würde ich ja wieder in Berlin sein. Als Einzelkind ein kleines Muttersöhnchen, dachte ich, was die Eltern jetzt so machen würden. Sicherlich würden sie auch an mich denken. Seit vier Wochen hatte ich nicht mehr schreiben können und seit Holland auch keine Post mehr bekommen. Bald mußte ich dringend pinkeln. Ich klopfte erst zaghaft, dann stärker an die Tür. Schließlich rief ich auch noch. Der einzige Erfolg bestand darin, daß der olle Oberst, den man, wie ich nun merkte, nebenan eingesperrt hatte, fordernd rief: »Ich bitte mir Ruhe aus!« – »Immer noch unverschämt diese verfluchten Hunde«, dachte ich und blaffte: »Halt die Schnauze, du Arschloch!« Das muß man sich mal vorstellen, so ein Oberst war vorher ein ganz hohes Tier, und jetzt konnte ich ihm so etwas hinschmettern. Herrlich, daß wir den Krieg verloren haben und uns dieses Pack nichts mehr zu sagen hatte! Dann öffnete ich das Fenster und bemerkte unten einen Wachtposten. Ich machte mich bemerkbar und versuchte ihm klarzumachen, daß ich ganz dringend auf die Toilette müßte. Er verstand nicht, oder wollte nicht verstehen, und quäkte in seinem amerikanischen Slang etwas zu mir hoch. Mein Druck wurde immer stärker und stärker, und ich schnauzte ihn an: »Mensch, ick muß pissen, du Idiot!« Da hörte ich das Klicken eines Gewehrverschlusses, zog den Kopf ein und schloß das Fenster. Ich pinkelte dann in zwei der kleinen geleerten Konservendosen und dachte mit Schrecken, 151 was ich wohl machen sollte, wenn ich wieder Durchfall bekäme, es fing vor Angst bereits im Bauch zu grummeln an. Ich hielt aber bis zum Morgen durch. Dann hat man mich nach unten geholt. Ich glaube, ich habe die ganze Nacht kein Auge zugemacht, und ohne Kopfunterlage konnte ich auch nicht richtig liegen. Ich hatte zwar mein Jackett zusammengerollt und als Kopfkissen benutzt, aber mir wurde kalt, und ich habe es wieder angezogen. Der Oberst würdigte mich keines Blickes. Wir wurden getrennt weggebracht. Auf einen kleinen Dodge mit Ladefläche mußte ich klettern und wurde von zwei Wachposten bewacht. Es ging über eine Pontonbrücke. Links und rechts hingen Sperrballons an Seilen, wohl um deutsche Tieffliegerangriffe zu verhindern. Man lud mich vor einem Acker ab. Mit Stacheldrahtrollen hatte man zirka zweitausend deutsche Gefangene, fast alle in Uniformen, eingesperrt. Es gab je zwei Büchsen mit weißen Bohnen. Das Schlimmste war die Versorgung mit Trinkwasser. Waschzuber mit brackigem Chlorwasser waren aufgestellt. Wir wurden unter lautem Geschrei zuzüglich Geprügel mit Holzknüppeln daran vorbeigetrieben und konnten im Laufen mit einer leeren Konservendose einen Schluck schöpfen. Blitzschnell trank ich aus, wollte an der nächsten Tonne noch mal nachfassen, da spürte ich schon einen Schlag im Kreuz. Ich war über die Maßen enttäuscht. Von den Amerikanern hatte ich das nicht erwartet. Erst die mir heilige Uhr geraubt und jetzt noch Prügelstrafe. Ich wußte natürlich, daß wir Deutsche die Gefangenen, besonders die Russen und Polen, sehr schlecht behandelt hatten. Man kannte ja aus der Wochenschau die furchtbaren Bilder mit den 152 Hundertausenden gefangener Russen. Auf der anderen Seite hatte ich in Berlin gesehen, daß die Offiziere der Franzosen sogar ihre Degen behalten durften. Auch wäre es uns niemals eingefallen, einem Gefangenen die Uhr zu rauben. Von Amerika hatte ich, schon durch das Lesen der Wildwestschmöker, Huckleberry Finn und so, immer sehr viel gehalten. Am 20. April, Hitlers Geburtstag, fuhren Panzer auf. Sie richteten ihre Kanonenrohre auf uns und hätten sich, da sie sich gegenüberstanden, theoretisch selbst beschossen. Es sollte sicher nur der Einschüchterung dienen, tat es aber nicht. Man dachte wohl, daß wir einen Aufstand machen würden. Wir hatten andere Sorgen, wo es was zu trinken gab und wo man seine Notdurft erledigen konnte. Einige Tage später verlud man uns auf große Sattelschlepper. Die Fahrer waren Neger. Sie flachsten und machten Späße, gaben uns sogar Kekse, wenn auch nicht jeder was abkriegte. Es waren gutmütige Kerle, wenn sie bloß nicht so schnell gefahren wären. In den Kurven dachten wir, daß wir über Bord fallen würden. Wir landeten in dem riesigen Gefangenenlager Rheinberg auf den feuchten Rheinwiesen. Schätzungweise hunderttausend Gefangene waren hier. Durch Ziehen von Zwischenzäunen wurden einzelne Cages (Käfige) eingerichtet, also zur Unterbringung der Kriegsgefangenen gemäß ihren Rangordnungen. Die Unterteilung gestaltete sich demnach wie folgt. Generalstabsoffiziere mit roten Streifen – sie bekamen natürlich Zelte und Feldbetten und hatten auch noch ihr ganzes Gepäck bei sich – dann die normalen Offiziere, weiter ungefähr zweitausend weibliche gefangene Luftwaffen- beziehungsweise Stabshelferinnen der Wehrmacht, sowie die Unteroffiziere und Mannschaften. 153 Die beiden letztgenannten Gruppen mußten auf dem nassen Boden liegen. Jeder grub sich ein Erdloch und unterhöhlte es seitlich, um sich, so gut es ging, zu schützen. Die Nächte waren sehr kalt, und zu allem Unglück setzte noch ein tagelanger Dauerregen ein. Die meisten hatten wenigstens noch ihre Mäntel oder sogar Zeltbahnen in ihrem Besitz, welche sie zusammengeknüpft zu viert nutzen konnten. Ich armes Schwein hatte nur die Jacke und die dünne Hose an. Zu essen gab es fast nichts, wenige Kekse. Viele mußten sich eine Büchse mit »Meat and vegetable Stew«, ein undefinierbares Zeugs, teilen. Eine Handvoll rohe weiße Bohnen gab es. Ich steckte sie rings in den Sandwall meines Loches. Nach einigen Wochen keimten sie, und es sah aus wie ein kleiner Garten. Merkwürdig, sein kleines Loch sah man schon fast als Zuhause an. Wegen des zeitweiligen Dauerregens war es aber nicht möglich, sich ständig im Erdloch aufzuhalten, da alles matschig war und die Erdmassen nachrutschten. Wir haben dann die ganze Nacht bei völliger Dunkelheit gestanden, uns zu etwa zwanzig Mann untergehakt und einen Kreis gebildet, damit niemand vor Schwäche umfallen konnte. Leise haben wir dann gesungen oder gesummt, wobei wohl jeder noch an seine Lieben zu Hause dachte. Es war das erste und einzige Mal im Leben, daß ich fast aufgegeben hatte. Am 9. Mai fuhr ein Lautsprecherwagen auf, und der Sprecher verkündete auf deutsch, daß Deutschland bedingungslos kapituliert hat. Die Reaktion der Gefangenen war nicht übermäßig. Mir lief vor Freude und Ergriffenheit eine Träne über die Wange. Hingegen resümierte ein Feldwebel: »Es war eine große Zeit.« ********* 154 Es gab viele Tanzlokale in Berlin, die meisten im Ostsektor. Ich ging in die »Rheinterassen«, in den »Franziskaner« und in die »Ikra« unter dem Friedrichstadtpalast. Auch mal in die »Badewanne« in der Nürnberger Straße. Die Mädchen waren in der Überzahl, da der Krieg so viele Männer gefordert hatte, viele waren ja auch noch in Gefangenschaft. Mein erstes »Opfer« war eine zierliche, noch jungfräuliche Achtzehnjährige aus Neu-Lichtenberg. Es geschah im Tegeler Forst. Es war Frühjahr, und die Bäume und Sträucher hatten noch keine Blätter. Wir mußten in eine Kieferschonung gehen. Anneliese hatte ein enges schwarzes Kostüm an, und der Rock ließ sich nicht so einfach hochschieben. Es war eine Plackerei. Anschließend sind wir in das Tanzlokal »Feengrotte« am Havelufer tanzen gegangen. Ich weiß noch, als Anneliese von der Toilette zurückkam, wie sie da sagte: »Jetzt ist die ganze Wäsche eingesaut, aber ich bin froh, daß ich es hinter mir habe.« Andere folgten. Aus allen möglichen Bezirken kamen sie, aber nie hatte ich eine Freundin vom Wedding. In den wenigen Fällen, in denen ich die Eltern kennenlernte, hatte ich den Eindruck, daß mich die Mütter mochten, hingegen haben sich die Väter reserviert bis unwirsch verhalten. Sie werden sich vorgestellt haben, was dieser Kerl mit ihrem wohlbehüteten Töchterlein so alles angestellt haben wird. Im Nachhinein muß ich sagen: recht hatten sie, denn wenn ich eine Tochter hätte, würde ich auch nicht wollen, daß sie so einen Windhund, wie ich es damals war, anbringen würde. In einem Fall ging eine Freundschaft aber gewissermaßen durch Politik zu Ende. So hatte ich ein Mädchen im US-Sektor, dessen Vater ehemaliger Angehöriger der Nazipartei war. Hauptberuflich 203 ist dieser auch bei einer Parteidienststelle beschäftigt gewesen. Jetzt hing er immer noch seinen alten Ansichten nach. Das konnte mit mir natürlich nicht gutgehen. So leidlich ging es bald mit dem Tanzen. Ich habe nur nie offen tanzen können, also kein Rock’n Roll oder ähnliches. Bei Damenwahl spielten die Kapellen immer Tango. Ich ahnte es schon, wenn die Saxophonspieler zur Geige griffen. Dann verkrümelte ich mich rechtzeitig auf die Toilette, da immer die unattraktivsten Mädchen, die sonst keine Tänzer abbekamen, die Damenwahl nutzten. Wenn ich mit so einem nicht sonderlich hübschen Mädchen getanzt hatte, bekam ich immer das Gefühl, daß die Zuschauer heimlich grinsten. Dem wollte ich entgehen. Überdies sollte man sich dann ja auch noch als Kavalier revanchieren. Fest wollte ich mich sowieso noch nicht binden. Die ganz große Liebe war auch nie dabei. Ich hätte mit keiner mein zukünftiges Leben verbringen mögen. Mit der Währungsreform, erst in den Westsektoren und dann auch im Ostsektor, kam die Blockade mit den Stromsperren. Die meisten Leute in den Westsektoren wurden in der Folge arbeitslos. Die Russen ließen nichts mehr auf dem Landwege durch. Wegen fehlender Kohle konnten die Kraftwerke nur noch stundenweise Strom liefem, und die meisten Betriebe schlossen in den Westsektoren. Selbst die Straßenbahnen fuhren nur bis 19 Uhr. Dagegen fuhr die S-Bahn ständig weiter, da sie dem Osten unterstand und Strom aus dem Ostsektor erhielt. Ehe die Luftbrücke von den Westmächten organisiert war, wurden die Lebensmittel knapp. Auch als die Luftbrücke in Gang kam, gab es nur Kartoffelpulver, Eipulver, und die Kohlen waren keine Preßkohlen, sondern nur Gruß. In besonders schlechter Erinnerung ist mir hierbei das 204 Kartoffelpulver »Pom« geblieben. Man konnte nur einen klebrigen Brei damit fertigen. Wenn heute viel von den sogenannten Care-Paketen die Rede ist, so kann ich nur sagen, daß wir niemals so ein Ding bekommen haben, und ich kenne auch niemanden, der eins erhalten hat. Wahrscheinlich wurden sie an Günstlinge verschoben. Es wurde aber den Westberlinern angeboten, sich mit ihren Lebensmittelkarten im Ostsektor eintragen zu lassen. Das haben nur höchstens zehn Prozent getan, hauptsächlich Kommunisten. Wenn es alle gemacht hätten, wären sie dem Osten ausgeliefert gewesen, und man hätte sie erpressen können. So war es verpönt. Die Rationen im Ostsektor waren aber auch nicht doll. Sechzig Westmark hatte jeder bekommen. Zahlungsmittel auch im Westen war die Ostmark, zumindest für die Miete und die Lebensmittel, die es auf Karten gab. Schon Monate vor der Währungsreform kreisten Gerüchte, daß es bald neues Geld geben würde. Ich hatte kalkuliert, daß sich das sicherlich nur auf das Papiergeld beziehen würde. Seit langem hatte ich sämtliches Hartgeld, das ich beim Wechseln herausbekam, zurückgelegt. Ständig habe ich am Fahrkartenschalter der S-Bahn Fahrkarten zu zwanzig Pfennigen gekauft, nur um Hartgeld herauszubekommen, wobei die Kartenverkäufer murrten, weil Kleingeld knapp war. Meine Rechnung ging auf, und ich startete gleich mit einer größeren Summe des neuen Geldes. Es galt aber auch noch, rechtzeitig das sogenannte Alliierten-Geld loszuwerden. Es waren Scheine, die die Amerikaner schon 1944 in den USA vorsorglich hatten drucken lassen. Bei Schwarzmarktgeschäften, wenn sie Zigaretten verkauften, nahmen US-Soldaten nur dieses Geld. Es war wie in der 205 Ukraine, wo die deutschen Besatzer ja auch eigenes Geld, den sogenannten Karbowanez, ausgegeben hatten. In der Schulstraße und in der Prinz-Eugen-Straße in Wedding gab es schon seit langem einen Schwarzmarkt. Ich hatte mir dort sogar schon mal für fünfunddreißig Mark ein Brot gekauft und es während einer Kinovorstellung restlos aufgegessen. Nun bummelte ich mit dem neuen Geld umher. Ein Mann bot zwei Ostmark für eine Westmark. Ich tauschte das ganze Geld um. Dann bekam ich Bedenken und bot den umstehenden Hausfrauen einen Kurs von eineinhalb an. Sie rissen sich drum. So hatte ich ganz auf die Schnelle neunzig Mark und suchte meinen ersten Tauschpartner. Er gab wieder zwei zu eins. So ging es mehrere Male hin und her. Zum Schluß hatte ich einige hundert Mark, ein kleines Vermögen. Bald wurden auch offizielle Wechselstuben eingerichtet. Hier betrug der Kurs eins zu vier oder gar eins zu sechs. Es war aber nicht ein Kurs, der sich nach Angebot und Nachfrage richtete, sondern ein künstlicher Kurs, um den Osten zu schaden. Die Wechselstuben tauschten nur einen Betrag bis zu fünf Westmark um, und man mußte dazu noch lange anstehen. Schieber, die mit wer weiß was handelten, benötigten größere Beträge Westmark. Sie boten einen etwas niedrigeren Kurs als die Wechselstuben. Ich tauschte bei ihnen und gab dann in Kleinbeträgen noch etwas weniger. Bald hatte ich Stammkundinnen, die nur bei mir tauschten. So habe ich dann unplanmäßig ein ganzes Jahr als illegaler Geldwechsler in der Schulstraße und gelegentlich auch am Bahnhof Zoo »gearbeitet«. Niemandem habe ich dabei geschadet, eigentlich nur genützt. Das Wechseln sah ich auch nicht als so verwerflich an wie das Verschieben von Lebensmitteln. 206 Einmal sprach mich ein Mann in der Schulstraße an: »Kennst du mich denn nicht mehr?« – »Nein!« – »Na ich bin Heiduck, dein alter Lehrer!« Tatsache, er war es und er erzählte mir, daß er schon immer Sozialdemokrat war. Also, daß der mich wiedererkannt hat! Ein anderes Mal wurde ich von Polizei in Zivil festgenommen und zur Inspektion in der Pankstraße gebracht. Während ich so mit dem Polizisten ging, hörte ich hinter mir ein leises Hüsteln. Es war mein Vater. Wir hatten meist zu zweit gearbeitet. Einer hatte Kunden gesucht, der andere das Geld gehabt. Er kam uns nun dicht nach, und ich konnte ihm unauffällig das ganze dicke Geldbündel geben. Wie mich die Polizisten in der Pankstraße durchsuchten und nichts fanden, guckten sie ganz schön dumm und mußten mich wieder laufen lassen. Als dann die Westmark zum alleinigen Zahlungsmittel in West-Berlin erklärt wurde, war es mit der Tauscherei vorbei. Arbeit gab es zu dieser Zeit immer noch nicht. Vom Arbeitsamt erhielt ich sechzehn Mark die Woche. Vorher hatte ich manchmal hundert am Tag verdient. Es bestand bald die Möglichkeit, Notstandsarbeit im Straßenbau zu verrichten. sechsunddreißig Mark die Woche bekam man dafür und durfte diese Tätigkeit nur sechs Monate lang ausüben. Als Notstandsarbeiter war man nur mit Hilfsarbeiten beschäftigt. Ich wurde auch bei einer Steinsetzfirma eingestellt. Ich hatte aber schon des öfteren den Steinsetzern zugesehen und traute mir ihre Arbeit zu. So kniete ich mich eines Tages neben einem gelernten Steinsetzer hin und fing auch an zu pflastern. Der Polier brubbelte erst etwas, sagte dann aber nichts mehr, da mir das Pflastern gut gelang. Ich veräppelte die gelernten Setzer, daß sie drei Jahre Lehrzeit dafür gebraucht hät207 ten. Ein anderes Mal arbeitete ich dann noch an einer Teersprühmaschine. Eines Tages traf ich einen alten Klassenkameraden in Polizeiuniform. Er sagte, daß er zweihundert Mark monatlich erhalten würde, und ich solle mich doch auch einfach melden. Ich überlegte lange, dann ging ich mehr oder weniger zur anderen Seite über, zu denen, die mich gejagt hatten, obwohl sie ohne Käufe auf dem Schwarzmarkt auch nicht hätten überleben können. Im Zuge der Bewerbung mußte ich eine Sportprüfung ablegen, ein Diktat sowie Rechenaufgaben bestehen und mich ärztlich untersuchen lassen. Die Einsatzkommandos wurden erst im Laufe desselben Jahres aufgestellt, und es herrschte Mangel an geeigneten Leuten. Damit sei aber nicht gesagt, daß man jedermann genommen hätte. Zum Glück war meine Wechselei nicht bekannt. Am 12. Dezember 1950 konnte ich beim Einsatzkommando Tiergarten in Moabit anfangen. Die Leute aus dem Haus haben ganz schön geguckt, als ich in Uniform auftauchte. 208