dr. jekyll und mr. hyde

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dr. jekyll und mr. hyde
M ECH ATRON IK M ERCEDE S -BENZ 280 SL & 280 SE
DR. JEKYLL
UND MR. HYDE
Die mit modernen Bauteilen verbesserten Klassiker mag man finden, wie man will.
Beim Fahren machen die von Mechatronik brillant modifizierten Autos mächtig Spaß
Robert Coucher // Ian McLaren
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er Himmel erstrahlt in diesem intensiven
Blau, einem Kobaltblau, wie es einem
nur in Afrika begegnet. Die Hitze ist brutal, sporadisch kommt vom Indischen
Ozean eine Brise, die das Überleben etwas erleichtert. Aber auch nur etwas. Der Ozean ist eine Tagestour entfernt; im Osten, hinter den Bergen, hinter
Tälern und Schluchten und noch mehr Bergen.
Die Gegend ist unschlagbar schön. Weinberge,
das Licht perfekt ... Wir sitzen auf dem Franschhoek
Pass, mit schussbereiten Kameras in Wartestellung.
Unten ziehen – von uns nicht beachtet – Autos vorbei,
die voneinander kaum zu unterscheiden sind. Wir
sind auf einem Gipfel, von unserer Klippe aus,
schwindelerregend hoch, haben wir auch einen
ernüchternden Blick auf die Touristen-Enklave
Franschhoek Village, aber auch die ganze Sicht auf
die Kap-Halbinsel bis zum weit entfernten Tafelberg.
Das Kap der guten Hoffnung, das ganze Grandiose
daran, berührt einen jedes Mal aufs Neue. Auch
wenn man da – wie ich – aufgewachsen ist.
Einige Kiefern spenden etwas Schatten, aus
dem heraus wir beobachten, wie sich der spärliche
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Verkehr die Serpentinen hinauf windet. Gelegentlich
ein schwer beladener Lieferwagen, vor allem aber
Pkw, von denen einer so aussieht wie der andere.
Dann ein anderer Sound, noch ganz unten aus dem
Tal. Grollend und tief. Das Geräusch wird leiser und
lauter, es nähert sich, lässt einen erzittern. Es ist
lebendig und aufregend.
Dann sind sie zu sehen: Zwei Sportwagen blitzen
in der Sonne auf. Wie Fische, die aus dem Wasser
springen, sind sie einen Moment lang zu sehen,
dann verschwinden sie wieder hinter Bergkuppen.
Doch der Sound bleibt – das markante Donnern
großvolumiger Achtzylinder-Motoren am Limit.
Der Fotograf schaltet seine mit Teleobjektiv
versehene Nikon auf Dauerfeuer. Die beiden eisblauen Autos sind nur noch drei Kurven entfernt.
Der Klang der Motoren wird im Widerhall der Felswände zu einer donnernden Symphonie. Als die beiden
Mercedes um die Kurve biegen, flüchten Paviane,
die uns beobachtet haben, in den nahen Fynbos.
Es bleibt einem kaum Zeit, sich klarzumachen,
dass hier zwei Veteranen aus den 1960ern mit dem
Tempo moderner Sportwagen an der Linse vorbei-
jagen. Der Sound ist ungebändigt, attackiert die
Sinne. Durch die Fußsohlen ist die Kraft der Motoren
zu spüren. Und schon sind sie weg. Lassen uns allein
mit dem Zirpen der Grillen und der vor Hitze flimmernden Luft. So ein Blick auf zwei vorbeirasende
Mercedes ist etwas ganz Besonderes. Die Sicht vom
Fahrersitz aus ist natürlich noch besser.
Mercedes-Benz gehörte nicht immer zu den radikalsten oder wagemutigsten Herstellern, doch die
Marke hat immer danach gestrebt, höchste Qualität
in puncto Technik und Verarbeitung abzuliefern.
Von den 1950ern bis in die frühen 1990er war praktisch jeder normale Mercedes ein fantastisches
Stück Technik. Dann übernahmen die Erbsenzähler
das Ruder und die Marke wurde gezwungen, die
Qualität auf dem Kosten-Altar zu opfern. Typisch
für diese Entwicklung war die in Südafrika gefertigte und besonders häufig kritisierte C-Klasse.
Inzwischen ist Mercedes-Benz zurück und die
zwei Modelle, die hier zu sehen sind, sind zwei
großartige Beispiele für die Hoch-Zeiten, zu denen
sich die Marke wieder aufschwingen möchte. Obwohl: Wenn man sie sich genauer ansieht ...
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Der 280 SL ist anscheinend ein 1969er-Modell,
sieht aber aus wie neu. Nagelneu. Der 280 SE 3.5
scheint ein ähnlicher Jahrgang zu sein, aber auch
der sieht so aus, als sei er gerade vom Band gelaufen.
Beide kauern tief auf mit modernen 205/65-Reifen
bestückten Barock-Leichtmetallfelgen.
Vorgestellt wurde der W113 – die Pagode – 1963
als 1295 Kilo schwerer 230 SL mit einem wunderbaren 2306-ccm-Reihensechszylinder. Wofür er
stand, war zunächst nicht ganz klar, denn er ersetzte
zugleich den 190 SL und den 300 SL. Um beim Spagat
zwischen beinhartem Sportwagen und untermotorisiertem Tussie-Auto die Männer nicht aus dem Blick
zu verlieren, nahm Eugen Böhringer mit einem
leicht aufgebohrten 230 SL 1963 an der extrem
harten Rallye Spa–Sofia–Liège teil – und sicherte
sich vom Fleck weg den Sieg. Vergleichbar mit dem
E-Type war die Pagode bei Männern und Frauen
schnell beliebt, in Übersee ganz besonders. Trotz
Böhringers Einsatz vielleicht kein Sportwagen, aber
ein sportlicher Tourer, mit dem jeder auch auf dem
Hollywood Boulevard punktet. Der erste richtige SL.
Der 230 SL wuchs zum 250 SL, schließlich 1967
mit 2778 ccm und Benzineinspritzung zum 280 SL.
Der hatte noch mehr Dampf, aber auch ein weicheres
Fahrwerk; mit 1360 Kilo war er nicht mehr ganz so
Qualität,
solide, durch
und durch. Die
Spaltmaße sind
auf den Millimeter genau
super leicht. Die 24.000-DM-Pagode schaffte 200 km/h
und beschleunigte in neun Sekunden auf 100.
Original-Pagoden sind heute sehr begehrt, weil
sie so gut gebaut waren, praktisch sind, auch weil
man leicht Ersatzteile bekommt – und weil es so
viel Spaß macht, sie zu fahren. Der Cabrio-Look
hilft ebenfalls. Interessanterweise liegt der Wert
des viersitzigen W111-Cabriolets über dem des SL,
weil von dem Flachkühler nur 1232 Stück gebaut
wurden – vom 280 SL dagegen 23.800.
Die zweitürigen Versionen des W111 wurden
1961 als 220 SEb Coupé und Cabriolet vorgestellt.
Schon da mit 30.000 DM auf dem Preisschild, etwa
dem Dreifachen der Limousine mit Grundausstattung.
Die begehrenswerteste Version war die letzte, sie ging
1969 für über 40.000 Mark an den Start. Das 280 SE
3.5 Cabriolet wog satte 1570 Kilo, war aber mit dem
wunderbaren 3499-ccm-V8 ausgestattet, der laut
Werksangabe 205 km/h erreichen und in neun Sekunden auf 100 km/h beschleunigen sollte.
MECHATRONIK 280 SE CABRIOLET 3.5
MOTOR 4966 ccm, Alu-V8, drei Ventile pro Zylinder, Benzin einspritzung
MOTORLEISTUNG 306 PS bei 5600 U/min DREHMOMENT 430 bei 2700 U/min
KRAFTÜBERTRAGUNG NAG 5-Gang-Automatik LENKUNG servo-unterstützte
Kugelumlauflenkung FAHRWERK vorne Einzelradaufhängung mit TrapezDreieckquerlenker, Lu federung und Gummizusatzfedern, Teleskopdämpfer,
Torsionsstabilisator; hinten Eingelenk-Pendelachse mit Schubstreben,
Lu federung, Gummizusatzfedern, Teleskopdämpfer, Torsionsstabilisator
BREMSEN Scheiben rundum, ABS LEERGEWICHT ca. 1570 kg
HÖCHSTGESCHWINDIGKEIT 0–100 km/h in 7 Sek., 233 km/h
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Beide stehen für das, was deutsche Ingenieurskunst ausmacht. Qualität, solide, durch und durch.
Beim Lack könnte man denken, es handle sich hier
um eine Doppelglanz-Lackierung und der Chrom
scheint doppelt so dick wie bei jedem anderen Auto.
Die Spaltmaße sind auf den Millimeter genau, die
schweren Türen schließen mit einem extrem befriedigenden, satten Geräusch. Auf die Finger aufpassen:
Falsch platziert, werden sie sauber abgetrennt!
Die Lederausstattung ist eindeutig neu. Zweifelsfrei gilt dasselbe für die Teppiche und das Holz.
Beide Autos haben ein Becker-Radio, das nach Sixties
aussieht, tatsächlich aber ein Navi mit allem Pipapo
enthält. Als Nächstes bemerkt man die modernere
Führung des Automatik-Wählhebels – und schließlich am Heck eine Plakette: ein »M« mit stilisierten
Flügeltüren über dem Wort »Mechatronik«.
Die Autos sind bildhübsch, aber sie sind nicht,
was sie zu sein scheinen. Sie sehen fast zu hundert
Prozent original aus, nur die Reifen und die geduckte
Haltung deuten etwas anderes an. Öffnet man die
Motorhauben, dann wird klar – und vermutlich für
immer unvergesslich – wofür »Mechatronik« steht. In
beiden Autos befindet sich ein moderner V8-Motor.
Von Mercedes-Benz. Bei der Pagode ist es ein
4,3-Liter, wie er ab der Jahrhundertwende in der
E-Klasse eingesetzt wurde, beim größeren Cabrio
ist es die 5-Liter-Version derselben Motorenfamilie
M 113.
Ganz bestimmt wunderbare Motoren. Bis 2010
wurden sie in etlichen Modellen von Mercedes und
AMG eingesetzt – E-Klasse, S-Klasse, Roadster, Geländewagen, alles. Sie sehen nicht nur nagelneu aus,
sie sind es auch: Leistung wie bei einem Neuwagen
der Oberklasse, abgeriegelt bei 230 km/h, Kat, Zylinderlaufbuchsen aus Silitec, Doppelzündung (mit
zeitversetzter Ansteuerung der Kerzen).
Das also ist das Besondere an einem Mechatronik-Mercedes: abgesehen von den breiten Reifen
optisch so original und in Top-Zustand, dass man
auch bei einem Concours punkten könnte, nur der
Antrieb ist fabrikneu und alles ist rückbaubar
in den Originalzustand. Die Firma, gegründet 1997
und seit 2001 in Pleidelsheim bei Stuttgart angesiedelt, bietet vollen Restaurierungs-Service für
jeden Mercedes an.
Die hier abgebildeten Modelle sind MercedesBenz-Klassiker, die entsprechend heutigen Anforderungen überarbeitet wurden. Bei Mechatronik werden die Autos bis zur letzten Schraube zerlegt und
dann gemäß Kundenwünschen komplett neu aufgebaut. Wünsche umfassen moderne B-Motoren, Ge-
triebe, Bremsen und aufgewertete Fahrwerke, aber
auch Komfort-Ansprüche wie beheizte Sitze, Klimaanlagen, Sound-Systeme usw.
Wer ein Fahrzeug im perfekten Originalzustand bevorzugt, dem baut die Firma Mechatronik
einen hundertprozentigen Concours-Sieger.
Doch manche – wie die Besitzer dieser beiden
Autos – wollen etwas anderes. Beide Besitzer verfügen über eine beneidenswerte Sammlung klassischer Autos, doch beide lieben es auch, einfach
nur zu fahren. Sie wollten einen Klassiker, der den
Härten des täglichen Einsatzes im Straßenverkehr
gewachsen ist – und das bekamen sie. Warum nehmen sie dafür nicht einfach einen neuen Mercedes?
Weil ein Klassiker besser aussieht – Punkt.
Die Polster der Pagode sind gut gefedert – eben
nicht »wie neu«, sondern wirklich nagelneu. Der SL
springt leise an, die Automatik rastet ein, er setzt
sich bereitwillig in Bewegung, in den Gassen des
Dorfes er weist er sich als extrem reaktionswillig.
Ich habe schon eine Reihe SL gefahren und der
originale Reihensechszylinder ist so kernig, drehmomentstark und reaktionsfreudig, wie es ein Qualitätsmotor aus den 1960ern nur sein kann. Doch bei
den ersten ernsthaften Tritten aufs Gaspedal des
M-SL bringt mich die Drehfreudigkeit der Maschine
MECHATRONIK MERCEDES-BENZ 280 SL
MOTOR 4266 ccm; Alu-V8, drei Ventile pro Zylinder, Benzineinspritzung
LEISTUNG 279 PS bei 5750 U/min DREHMOMENT 400 Nm bei 3000 U/min
KRAFTÜBERTRAGUNG NAG 5-Gang-Automatik
LENKUNG servo-unterstützte Kugelumlauflenkung FAHRWERK vorne TrapezDreieckquerlenker, Schraubenfedern, Kurvenstabilisator, Teleskopdämpfer;
hinten Einzelradaufhängung mit Eingelenk-Pendelachse, Längsschubstreben,
Schraubenfedern, Gummizusatzfedern und Ausgleichsfeder
BREMSEN Scheiben rundum, ABS LEERGEWICHT ca. 1360 kg
HÖCHSTGESCHWINDIGKEIT 0–100 km/h in 6 Sek., 233 km/h
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schier aus der Fassung. Sie dreht so schnell hoch,
dass man denken könnte, die Kupplung rutscht
durch. Aber nein, es ist nur die Reaktionsfreude des
V8, die einen überrascht.
Für die Fahrt die steile Passstraße hinauf ist
jeder Gang recht – dank reichlich Drehmoment bei
jeder Drehzahl. Die Fahreigenschaften bleiben geschmeidig, und das clever überarbeitete Fahrwerk
mit seinen Eibach-Federn und KW-Dämpfern ist der
Aufgabe mehr als gewachsen. Das moderne Bremssystem mit ABS erlaubt es, auf den Geraden voll
aufs Gas zu steigen und dann den Anker zu werfen
und das Auto sich auf die kurvenäußeren Räder
lehnen zu lassen. Dann kann man auch schon wieder
Gas geben, weil die Automatik in Sekundenbruchteilen den richtigen Gang wählt.
Es dauert einige Kilometer, bis sich das Hirn
darauf kalibriert hat, dass hier die Geschwindigkeit
eines modernen Sportwagens von einem gefühlt
übermotorisierten 1960er-Klassiker produziert wird.
Doch die Fahrzeugdynamik ist der Leistung mehr
als gewachsen und schon bald ist es der persönliche
Mut, der hier auf dem Prüfstand steht.
Die Türen
schließen mit
einem extrem
befriedigenden,
satten Geräusch
artiges Handling und eine derartige Reaktionsfreudigkeit an den Tag legt, ist kaum nachvollziehbar.
Man kann cruisen – oder mit einem beherzten Tritt
aufs Gaspedal 300 Pferdchen die Sporen geben und
den restlichen Verkehr hinter sich lassen ... bergauf!
Was für exquisite Mercedes, was für eine Art,
das tägliche Fahren aufzupeppen, was für ein Spaß!
Nach einem aufregenden Nachmittag voller
Fahrspaß sitzen und genießen wir im HugenottenViertel bei einem Glas Sauvignon Blanc den Anblick
der langsam abkühlenden Mercedes-Benz-Klassiker.
Beide Autos sind perfekte Aushängeschilder ihrer
Marke, restauriert auf dem höchstmöglichen StanNun ist das größere Cabrio dran und nach dem dard – und von einem der führenden Mercedesscharfen SL fühlt es sich etwas klobig an. Doch es Benz-Spezialisten überarbeitet.
Beides sind automobile Kunstwerke, doch bevor
hat einen V8 mit noch ’ner Schippe mehr Drehmoment, kombiniert mit einer kürzeren Übersetzung. wir in andere Sphären abheben, erinnere ich mich
lieber an die rohe Gewalt und den Spaß, den sie mir
Entsprechend aggressiver erstürmt es den Berg.
Wenn überhaupt, ist die Servolenkung noch bei der Hatz den Berg hinauf bereitet haben – und
präziser als die des SL. Vielleicht weil ich viel breche in lautes Lachen aus.
Diese Autos sind wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde,
schneller fahre als in der leichteren Pagode. Das
Cabrio ist schwerer, aber es geht mit dem Gewicht halbe-halbe. Die bleibende Erinnerung an sie ist die
sehr souverän um. Dass ein Fullsize-Cabrio ein der- dieser fabelhaft monströsen Leistungsfähigkeit.
A Qualifying Round Of The 2014 Hero Cup, In Association With
Photo: Francesco Rastrelli
Woodcote Park
Preston - Leeds
Edinburgh
Woodcote Park
Thousand Mile Trial
12th - 19th July 2014
An Exciting Event Exclusively for Pre-War Cars
In commemoration of the first motorsport event to take place in Great Britain, HERO will re-run the event for pre-war cars
and follow the original trial route, where possible, and complete the thousand miles in 7 days.
Enquiries: Tel.: +44 (0)1656 740 275 . [email protected] . www.heroevents.eu
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