3/2016 - Inprekorr
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3/2016 - Inprekorr
inprekorr Deutschland/Österreich 4 Euro, Schweiz 5 CHF INTER NATIONA LE PR ESSEKOR R ESPONDENZ INTERNATIONALE SOLIDARITÄT STATT ABSCHOTTUNG Mai/Juni 3/2016 Ausgabe 3/2016 Kurdistan Irland Dossier: Imperialismus DEN KREISLAUF DURCHBRECHEN! UNTERSTÜTZUNG FÜR DEN KAMPF DES KURDISCHEN VOLKES IMPERIALISMUS UND GLOBALISIERUNG JAMES CONNOLLY – IRLANDS BEDEUTENDSTER REVOLUTIONÄR „Für uns, die Türkei, ist die Flüchtlingsfrage nicht die Frage eines Geschäfts, sondern eine Frage der Werte, der humanitären Werte und der europäischen Werte.“ Premier Davutoglu, 18.3.2016 15 Der größte Hersteller für Wasserwerfer, die Firma Katmerciler, verkündete Ende vergangener Woche einen neuen Rekordgewinn für 2015. Um mehr als 100% soll der Profit gestiegen sein.“, SZ vom 15.3.16. 19 „Das Transpazifische Handelsabkommen erlaubt es Amerika, die Regeln für das 21. Jahrhundert zu schreiben - und nicht Ländern wie China.“ (US-Präsident Barack Obama) 36 Der Osteraufstand von 1916 wird in Irland eher vermarktet und zum sterilen Nationalmythos verbrämt, statt die Lehren daraus auf die aktuellen Verhältnisse zu übertragen. „Frankreich muss auf die Jugend hören“, heuchelt Premier Valls und versucht, mit vagen Zugeständnissen an Studierende und Azubis der Jugend den Widerstand abzukaufen. Ein Dossier mit 2 Beiträgen Büro der IV. Internationale Ein Dossier mit 4 Beiträgen Von Harkin Shaun Ein Dossier mit 3 Beiträgen Dossier: Migration 4 Dossier: Frankreich DER ZORN BLEIBT WACH 39 I N H A LT Dossier: Ökologie die Internationale ÖKOLOGIE IM KORSETT DES GLOBALISIERTEN KAPITALISMUS ÖKOSOZIALISMUS AUS MARXISTISCHER SICHT ÖKOLOGIE ALS KLASSENFRAGE BEGREIFEN 44 Selbst die Bourgeoisie begreift, dass etwas getan werden muss, z. B. gegen den Klimawandel. Die Größe ihres Einsatzes ist aber wie immer eine Frage des Klassenkampfs. Was ist aus marxistischer Sicht Ökosozialismus und gibt es im Marxismus eine ökologische Utopie? Welchen Ansatz vertreten die Technikkritiker und die Verfechter der „ecological society“? Thesen für die Aufnahme einer ökosozialistisch orientierten Arbeit gegen die kapitalistischen Verheerungen der Umwelt. Zu den Ausgangsbedingungen und einer schlüssigen Aufgabenstellung. Ein Dossier mit 3 Beiträgen Von Friedrich Voßkühler Von Friedrich Voßkühler und Jakob Schäfer 58 die Internationale 63 D O S S I E R : M I G R AT I O N DEN KREISLAUF DURCHBRECHEN! Der nachfolgende Text diente auf der internationalen Leitungssitzung der IV. Internationale im Februar 2016 als einleitender Bericht zum Thema Migration. Auf seiner Grundlage wurde eine Resolution verabschiedet, die wir ebenfalls dokumentieren. Mamadou Ba Um zu verhindern, dass weiterhin Menschen auf der Flucht sterben, müssen die Grenzen fallen Während in den vergangenen Jahrzehnten ungefähr 1,2 Millionen Flüchtlinge auf dem Land- oder Seeweg nach Europa gekommen waren, haben allein im Jahr 2014 etwa 600 000 Menschen Asyl innerhalb der EU beantragt. 2015 hat sich diese Zahl nochmals verdoppelt und auch in den ersten Monaten von 2016 ist der Trend ungebrochen. Seit Inkrafttreten des Schengen-Abkommens 1985 hat Europa – angeblich wegen des Wegfalls der Binnengrenzen – ein riesiges Arsenal politischer, juristischer, polizeilicher und militärischer Überwachungs-, Kontroll- und Repressionsmechanismen gegen die Flüchtlinge aufgebaut. Immer neue strategische Instrumente werden – weit über Frontex hinaus – geschaffen, um die freie Einreise nach Europa zu behindern, die Außengrenzen abzuschotten und Jagd auf die Flüchtlinge zu machen. Beispiele dafür sind das Schengener Informationssystem (SIS), das Europäisches Polizeiamt (EUROPOL), Zentralregister der verfügbaren technischen Ausrüstung für die Kontrolle und Überwachung (CRATE) – also Flugzeuge, Hubschrauber, Marine, Satelliten und Drohnen – oder die Soforteinsatzteams für 4 Inprekorr 3/2016 Grenzsicherungszwecke (RABIT). Weiterhin das beschleunigte Verfahren zur Registrierung der Flüchtlinge und der elektronischen Erfassung der Flüchtlingsströme mittels FAST TRACK bzw. ICONET, das elektronische Reisegenehmigungssystem (ESTA), das Visa-Informationssystem (VIS), die paramilitärische Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (FRONTEX) oder als jüngste und ausgefeilteste Errungenschaft zur Flüchtlingsbekämpfung das Grenzüberwachungssystem EUROSUR. Die Abwärtsspirale des Asylrechts Mit dem Tampere-Programm von 1999 hatte Europa beschlossen, die Flüchtlingspolitik auf bis dahin nicht erreichten schärferen Standards zu vereinheitlichen. Diese zunehmende Verschärfung der Flüchtlingspolitik blickt inzwischen auf eine mindestens 30-jährige Tradition zurück, die vom ersten Schengener Abkommen über das Den Haag-Programm bis zum Stockholm-Programm reicht. Stationen dabei waren der Gipfel von Sevilla 2002 mit der Schaffung eines Netzes von nationalen Verbindungsbeamten und die Dublin-II-Verordnung von 2003 D O S S I E R : M I G R AT I O N mit der Einrichtung einer europäischen Datenbank (EURODAC) zur Erfassung der biometrischen Parameter. Infolge steigender Flüchtlingszahlen wurde in Abstimmung mit dem UNHCR auf dem Haager Abkommen von 2004 die Politik der „sicheren Herkunftsländer“ bekräftigt und das bereits genannte VIS eingeführt, wonach die Konsulate der europäischen Länder in den Herkunftsstaaten sehr viel restriktiver Visa ausgeben sollten, um so angeblich die illegale Einwanderung zu bekämpfen. Ein zweites Ergebnis von Den Haag war die Schaffung der FRONTEX mit Sitz in Warschau zum „Schutz der europäischen Außengrenzen“, deren erster Großeinsatz 2006 bei den Kanarischen Inseln stattfand. Seither haben Hunderte von offiziellen und verdeckten Einsätzen stattgefunden, bei denen auf allen Wegen Jagd auf Flüchtlinge gemacht wurde, hauptsächlich an den südlichen und östlichen Außengrenzen und gelegentlich in Zusammenarbeit mit der NATO. Betrug 2005 das Budget dafür knapp über sechs Millionen Euro, so sind es inzwischen ein paar Hundert Millionen. Unterhalten werden damit über hundert Schiffe, jeweils zwei Dutzend Flugzeuge und Hubschrauber sowie Drohnen, Satelliten und Radar- und Erkennungssysteme. Neben den vielen Einsatzkräften gibt es fast 300 Beamte. Im Jahr 2010 wurden die Kompetenzen und Aufgabenbereiche von FRONTEX erweitert, die fortan nicht nur für die Beschaffung der militärischen Ausrüstung zuständig war, sondern auch für Charterflüge zur Massenabschiebung. Durch die Entwicklung des Überwachungssystems EUROSUR und den Einsatz der o. g. Elektroniksysteme (v. a. FAST TRACK) ist FRONTEX zum mächtigsten und ausgereiftesten Militär- und Polizeiapparat geworden, der seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa erfunden wurde – mit dem Ziel, die Jagd auf Menschen zu perfektionieren, deren einziger Fehler darin besteht, Flüchtlinge zu sein. Das zur Verfügung stehende Kriegsarsenal liegt höher als in vielen Ländern. Dadurch und durch die EU-Flüchtlingspolitik an sich sind die Risiken und Probleme für alle, die nach Europa wollen, erheblich gestiegen, da mit jeder Verschärfung der Einreisebedingungen eine tödliche Odyssee wahrscheinlicher wird. Neben FRONTEX sind die Auffanglager und die dortigen Bedingungen ein weiterer Bestandteil der Beschneidung des Rechts auf Freizügigkeit und der Menschenwürde und stehen ganz in der Tradition der Kolonialära, mit der Europa weite Teile der Erde überzogen hat. Europas Grenzen sind dadurch zu wahren Friedhöfen unter offenem Himmel geworden und der Mord an Flüchtlingen zu einer unleugbaren Realität. Immigration ist inzwischen nicht mehr nur ein gewinnbringendes Geschäft, sondern eine mörderische Politik, die nicht nur in Form von Abschreckung und Erpressung denen gegenüber betrieben wird, die nach Europa wollen, sondern auch gegenüber den Herkunfts- und Durchreiseländern. Um zu verhindern, dass noch mehr Tragödien an Europas Küsten passieren, besonders im Mittelmeer und v. a. in der Ägäis, wo die bisherige Bilanz bereits bei Zehntausenden in den letzten 20 Jahren liegt und mit dem Syrienkrieg dramatisch ansteigt, brauchen wir dringend eine politische Alternative zur heutigen Flüchtlingspolitik und ihren verheerenden Folgen. Dabei werden wir vor allem auf die zahlreichen und unterschiedlichen Erfahrungen zurückgreifen müssen, die die verschiedenen Initiativen und Verbände etc. in ihrem Engagement gegen die herrschende und für eine andere Flüchtlingspolitik gemacht haben. Angesichts der Entpolitisierung der sozialen Bewegungen und dem programmatischen Verfall der traditionellen politischen und gewerkschaftlichen Organisationen in dieser Frage muss das Thema grundlegend und offensiv angegangen werden. Es muss eine Bewegung geschaffen werden, die nicht nur die gängigen Paradigmen der Flüchtlingspolitik angreift, sondern mit dem ganzen herrschenden Politikmodell bricht, das der EU-Flüchtlingspolitik zugrunde liegt. Wenn man diese mörderische Politik beenden will, muss man zwangsläufig den Kapitalismus beenden. Wenn man die Flüchtlinge retten und ihr Recht auf Asyl bewahren will, muss man gegen das Europa in seiner bestehenden Form kämpfen, gegen Ausgrenzung, Kriminalisierung und Rassismus, Sexismus und Machismus, gegen das Geschäft mit der Not der Flüchtlinge, gegen Auffanglager außerhalb der Grenzen, gegen die Schließung und militärische Sicherung der Grenzen und für die Auflösung der FRONTEX. Flüchtlingspolitik in Europa steht leider in der schlechten imperialistischen Tradition eines kapitalistischen Systems, das aus der Freizügigkeit eine Ware und ein geopolitisches Geschacher macht. Die Grenzen müssen weltweit fallen! Nach dem Ende der Sklaverei und des Holocaust sowie der klassischen Kolonialära und der nationalen Befreiungskämpfe in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schien es zunächst, dass das Recht der Menschheit auf freies Inprekorr 3/2016 5 D O S S I E R : M I G R AT I O N Kommen und Gehen als unanfechtbare Errungenschaft der Zivilisation in Reichweite läge. Und lange wurden wir glauben gemacht, dass die einfache und bequeme Bewerkstelligung von Reisen unumkehrbare Zeichen des Fortschritts und der Zivilisation seien, weil es nämlich Kontakte und Annäherung massiv erleichtert und dadurch – in der Theorie zumindest – die symbolischen und realen Grenzen zwischen den Menschen fallen könnten. Überall auf einfache und bequeme Weise von einem Ort zum anderen reisen zu können, ohne irgendwelchen Zwängen ausgesetzt zu sein, ist ein wesentlicher Bestandteil der Bewegungsfreiheit. Und weil es als „modern“ und „fortschrittlich“ galt, sind quasi einhellig zahlreiche soziale, juristische und politische Vereinbarungen über die Reisefreiheit erzielt worden. Aus all diesen Abkommen – seien sie aus einem eingestandenen geschichtlichen Trauma wie dem Holocaust oder aus verdrängten Traumata wie Sklaverei und Kolonialismus heraus entstanden – lässt sich erkennen: Das Recht ist ein politisches Instrument und Ergebnis des Kräfteverhältnisses und zu schützender und verteidigender Interessen. Auch das internationale Recht, das eigentlich auf dem Prinzip universeller Gleichheit beruhen sollte, kommt durch diese realen Verhältnisse zustande, in denen der bürgerliche Staat definiert, wer zur jeweiligen politischen Gemeinschaft, also zum Staat, gehört und welche Freiheiten damit verbunden sind. Des Weiteren sind die politischen und juristischen Normen, die weltweit gelten sollen, ein Teil des zu lösenden Problems, denn hinter diesen steckt eine eurozentristische, imperialistische und kapitalistische Sichtweise; diese Normen sind viel zu abstrakt und deklamatorisch und widerspiegeln das zivilisatorische Sendungsbewusstsein Europas, ausgerechnet also des Kontinents, der im Namen seiner „moralischen Überlegenheit“ versklavt und kolonialisiert hat. Jahrhunderte sind vergangen, seitdem Millionen von Menschen zwangsumgesiedelt wurden – nicht als Menschen, sondern als Waren – und nach Jahren, wo sich Millionen von Menschen auf fast der gesamten Erde wegen des dort herrschenden Kolonialimperialismus innerhalb ihres Landes nur in den vom Kolonialherrn erlaubten Grenzen bewegen konnten. Zwischenzeitlich haben die „Nationen“ infolge des Zweiten Weltkriegs ein Abkommen gefunden, wonach es eines politischen Kompromisses bedürfe, in dem u. a. die Freizügigkeit unter Berufung auf die „Allgemeine Erklärung der Menschrechte“ im Gefolge der Französischen Revolution geregelt ist. Jetzt aber findet 6 Inprekorr 3/2016 ein politisches Umschwenken statt, wo Freizügigkeit wieder zur Ware wird. Tatsächlich war dieser universelle Anspruch eine Missgeburt, weil er aus einer Menschheit hervorgegangen ist, die sich willkürlich eines bedeutenden Teils von ihr entledigt hat und zu einer Zeit entstanden ist, wo der größte Teil der Menschheit als minderwertig oder nicht einmal als Teil der menschlichen Gemeinschaft betrachtet worden ist. Die weltweite Gültigkeit der politischen und juristischen Normen, die das heutige System ausmachen, hat den Rassismus als Geburtsfehler und ist noch immer rassistisch. Die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft ist ein juristisches Konstrukt und als ein Instrument entstanden, womit die Beziehungen innerhalb einer Gemeinschaft und zwischen den Gemeinschaften geregelt sind. Für das Rechtssystem im bürgerlichen Staat ist die Frage der Staatszugehörigkeit schon immer entscheidend gewesen, ist es noch und wird es immer sein. Anders gesagt, ob mensch dazugehört oder nicht. Dem universellen Anspruch nach wurde den Menschen das Menschsein zuerkannt, sie aber zugleich in oft strikt getrennte Kategorien aufgeteilt, bspw. in Staatsbürger und Ausländer. Damit waren für immer die Beschränkungen und die Reichweite dessen festgelegt, wie die Freizügigkeit politisch gehandhabt wird. Alle hieraus entstandenen politischen Instrumente und Mechanismen haben das Prinzip der Gleichheit den künstlich geschaffenen politischen Kategorien, wie Staat und Nation, wie Staatsbürger und Ausländer untergeordnet. Grenzen sind weniger eine geografische Realität, sie sind politisch gesetzt. Buchstaben und Geist der europäischen Flüchtlingspolitik atmen die rassistische Ideologie der „Festung Europa“, die aus der Immigrantenjagd ein politisches Programm macht. Bei der Handhabung der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft ist der Nationalstaat in zentraler Position und macht aus der Gemeinschaft und der Freizügigkeit eine Grundsatzfrage, während der politische Rahmen so beschaffen ist, dass der Warenverkehr globalisiert ist und diese Globalisierung von widerstreitenden wirtschaftlichen und politischen Interessen beherrscht wird. Grenzen töten Die Grenze ist insofern ein politisches Instrument zur Organisierung der Gesellschaft auf nationaler und globaler Ebene. Dieses definiert nicht nur die Zugehörigkeit zu bestimmten Räumen, sondern strukturiert auch in D O S S I E R : M I G R AT I O N ökonomischer und politischer Hinsicht den Zugang zu ihnen entlang bestimmter Eigenschaften und realer Gegebenheiten, die aus politischen Zielvorstellungen oder Konflikten resultieren. Die wirtschaftliche Entwicklung, die technologische und wissenschaftliche Fortschritte hervorgebracht hat, und nicht einmal diejenigen mitgezählt, die bei ihrer Vertreibung oder ihrem Verhör in den Auffanglagern erstickt sind oder an den militärisch befestigten Grenzen erschossen wurden oder auf den Fluchtrouten durch Selbstmord, Hunger, Durst, Kälte oder Hitze gestorben sind. Allein die Zahl derjenigen, die auf dem Weg nach Europa ertrunken Nunmehr ist die EU dazu übergegangen, mittels ökonomischer Erpressung die Herkunfts- und Durchgangsländer zu kontrollieren und die Immigration als beliebige Ware zu behandeln.“ die folgende Vermehrung der weltweit verfügbaren Reichtümer hat die Grenzen nicht abgebaut, sondern im Gegenteil oft noch undurchlässiger gemacht. Diese wissenschaftlichen und technologischen Fortschritte spiegeln die historischen wie auch aktuellen Beziehungen zwischen den Völkern wider, in denen ein Teil der Menschheit die materiellen und wissenschaftlichen Reichtümer angehäuft hat, indem er zuvor den Rest der Welt versklavt, kolonialisiert und ausgebeutet hat. Diese Reichtümer will er denjenigen vorenthalten, denen er sie gestohlen hat, und errichtet deswegen physische und symbolische Grenzen. Aus dieser ungleichen Beziehung sind die physischen und symbolischen Grenzen zwischen Arm und Reich entstanden, zwischen denen, die alles besitzen oder davon träumen, alles zu besitzen, und denen, die fast nichts besitzen und nicht einmal davon träumen können, zwischen denen, die alles können, und denen, die sich nicht einmal etwas erhoffen können. Also haben die Länder, die sich durch den Raub an anderen bereichert haben, beschlossen, sich abzuriegeln und mit dem alleine zu bleiben, was zuvor allen gehörte. So sieht die Geschichte der gegenwärtigen Flüchtlingsbewegung aus: Auf allen Seiten werden Mauern gegen die Flüchtlinge errichtet, die bloß bessere Lebensbedingungen suchen. Die Menschen wandern aus, weil sie es müssen und auf etwas Besseres hoffen als das, was sie haben, oder wenigstens auf das, was die Bevölkerung in den Ländern hat, von dem sie zuvor beraubt wurden und noch immer ausgebeutet werden. Und sie haben alles Recht dazu, nicht nur auf ein besseres Leben zu hoffen, sondern wirklich besser zu leben. Verschiedenen NGO zufolge sind in den letzten 20 Jahren über 40 000 Flüchtlinge umgekommen und realiter wird diese Zahl dreimal so hoch liegen. Dabei sind noch sind, dürfte bei 70 – 80 000 liegen und damit einen beträchtlichen Teil der weltweit umgekommenen Flüchtlinge ausmachen. Die Grenzpolitik in Europa ist mörderisch und die Alternative hierzu liegt im Recht auf Freizügigkeit, Solidarität und Menschenwürde. Wir müssen dieser Ideologie der Abschottung und des Einmauerns eine internationalistische Sichtweise entgegenstellen und ein sozialistisches Gesellschaftsmodell, in dem alle Rechte gelten, besonders das auf Freizügigkeit und darauf, sich ein besseres Leben im Land der Wahl, wo immer dies ist, schaffen zu können. Wir müssen politisch dafür kämpfen, dieses Recht auf Freizügigkeit zu verteidigen, das Recht auf Kommen und Gehen, auf eine freie Wahl des Aufenthaltsorts und dafür, dass diese Rechte unveräußerlich sind. Um den Tod an den Grenzen Europas zu beenden, muss die politische Maxime von der „Festung Europa“ fallen und kategorisch für das Ende aller Grenzen gekämpft werde, nicht nur der physischen, sondern auch der sozialen und kulturellen, der juristischen und politischen. Grenzpolitik als Mittel zur ökonomischen Unterwerfung Seit 1985 verfolgt Europa eine Einwanderungspolitik, bei der Flucht als Verbrechen gilt und die Grenzen – wie im Schengener Abkommen vorgesehen – immer weiter nach außen verlagert werden. Das fortgeschrittenste Ergebnis dieser Militarisierung der Flüchtlingspolitik ist FRONTEX mit Tod und Vertreibung als unvermeidbaren „Kollateralschäden“ dieser Politik. Daneben werden aber auch die bilateralen Handelsbeziehungen als Druckmittel eingesetzt. Nicht nur die europäischen Staaten schweigen sich über die tödlichen Folgen dieser Abschottungspolitik Inprekorr 3/2016 7 D O S S I E R : M I G R AT I O N aus, sondern auch die Herkunftsländer, die durch verschiedene Kooperationsabkommen beauftragt werden, die Flüchtlingsströme zu begrenzen und eigene Auffanglager zu schaffen, wenn sie nicht finanziell unter Druck gesetzt werden wollen. Wenn man die Kosten dieser Flüchtlingspolitik zusammenrechnet, kommt man auf einen Betrag von fast 13 Milliarden Euro. Der setzt sich zusammen aus 46 Mio. € für Auffanglager in Drittländern, 74 Mio. € für technische Unterstützung „befreundeter“ Diktaturen, 76 Mio. € für die Verstärkung der Grenzmauern (Spanien, Griechenland, Bulgarien) und des militärischen Abschreckungspotenzials, 225 Mil. € für die grenzpolizeiliche Aufrüstung, 230 Mio. € für die Entwicklung von Grenzsicherungs- und „Entwicklungseinrichtungen“, 954 Mio. für „europäische Koordination“, 669 Mio. € für Frontex, 11,3 Mrd. € für die Abschiebungen. In diesen Zahlen zeigt sich die wirtschaftliche und finanzielle Größenordnung, um die es allein bei der Grenzsicherung der europäischen Flüchtlingspolitik geht. Demgegenüber nehmen sich die Ausgaben für „Entwicklungshilfe“ dieser Länder (0,42 % des EU-BIP), um die dortige Bevölkerung zum Bleiben zu bewegen, lächerlich gering aus. Auf dem EU-Gipfel auf Malta wurden den afrikanischen Ländern dafür 1,8 Milliarden Euro versprochen. Dem stehen 6 Milliarden € gegenüber, die der Türkei zur „Bewältigung der Flüchtlingskrise“ zur Verfügung gestellt werden sollen. Die allein für Abschiebungen anfallenden Kosten von über 11 Milliarden Euro zeigen, dass es dieser Politik nur um Abschottung und nicht um Öffnung der Grenzen geht. Auf der Grundlage ihres Anfang der 2000er Jahre entwickelten Konzepts einer „Pendelmigration“, sind die EU-Politiker dazu übergegangen, den zweifach prekären Status der Flüchtlinge, nämlich im Arbeitsleben und juristisch, politisch zu legitimieren und somit das Recht auf Freizügigkeit endgültig von der juristischen auf die kaufmännische Ebene zu verlagern. Jahrzehntelang hat Europa gemeinsam mit den internationalen Institutionen wie IWF und Weltbank den Herkunftsländern der Flüchtlinge Strukturanpassungsmaßnahmen aufgezwungen und lokale Konflikte und Kriege befördert, die wiederum zu Verarmung und Vertreibung geführt haben. Nunmehr ist die EU dazu übergegangen, mittels ökonomischer Erpressung die Herkunfts- und Durchgangsländer zu kontrollieren und die Immigration als beliebige Ware zu behandeln, über die wie bei Rohstoffen im Rahmen der kapitalistischen 8 Inprekorr 3/2016 Beziehungen zwischen Europa und den Herkunftsländern verhandelt wird. Für die Schaffung von Auffanglagern innerhalb ihrer Grenzen erhalten diese Länder ein paar Almosen, mit denen sie die Sicherung der Grenzen und die Repression der Ausreisewilligen finanzieren sollen. Aber auch die Regierungen der dortigen Nachbarländer werden über verschiedene Abkommen als „Drittländer“ in diese Repression einbezogen. Beim EU-Afrika-Gipfel in Lissabon 2007 wurde diese wirtschaftliche Erpressung auf dem Weg über die „Vereinbarungen über die Wirtschaftspartnerschaft“ (APE) weiter verschärft und die Einwanderungspolitik dazu benutzt, die bilateralen Beziehungen in neokolonialer Manier zu gestalten. Insofern ist es unsere zentrale Aufgabe, auch diese Herabwürdigung der Flüchtlinge zur Ware und demnach ihre Kriminalisierung zu bekämpfen. Wir müssen sie als politische Subjekte wahrnehmen, die dazu beitragen, die Flüchtlingspolitik grundlegend zu ändern, und nicht als bloße Zahlengröße in der geopolitischen Interessenspolitik. Gemeinsam mit ihnen müssen wir verschiedene Organisationsformen finden, die auch politische Antworten auf die genannte marktwirtschaftliche Logik liefern und dafür die von der herrschenden Ideologie geschaffenen Grenzen zwischen Raum und Zeit, zwischen Politik und Geschichte durchbrechen. Die Geschichte und die geografische Aufteilung in Vergangenheit und Gegenwart nach sozialen, kulturellen, politischen etc. Gesichtspunkten bedingen die Wahrnehmung dessen, was wir in Europa als „Bürger“ verstehen und wer dazugehört oder nicht, wohinter die eindeutige Absicht steckt, die ausländischen BürgerInnen auszuschließen. Wenn wir uns der Flüchtlingsfrage widmen, müssen wir die Rhetorik vom „Europa der demokratischen Werte“ entmystifizieren und uns auf eine entsprechende ideologische Auseinandersetzung einlassen. Die hier gängigen Mythen beeinflussen die hiesige Vorstellungswelt genauso wie die Alltagspolitik und die sozialen Verhältnisse. Die systematisch durch eine gängig gewordene eurozentristische Sichtweise wahrgenommene Geschichte unterschlägt eine Reihe von Ereignissen, die den Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Flüchtlingspolitik verdeutlichen. Dabei gehen letztlich auch die realen und symbolischen Zusammenhänge zwischen Gewalt, Ausbeutung, Enteignung und Herrschaft verloren und auch, dass die D O S S I E R : M I G R AT I O N europäische Grenzpolitik Teil der kapitalistischen Herrschaft über die Herkunftsländer ist. Neue Probleme, neue Antworten Der Anstieg nationalistischer, populistischer und v. a. rechtsextremer Strömungen ist die zweite Seite der rung“, „Kampf gegen die Mafia“, „Ausbau der Landund Seeüberwachung“, „Ausrüstung zur Überwachung des Luftraums, um Sicherheit und öffentliche Ordnung zu garantieren“, „Aufdeckung und Prävention des organisierten Verbrechens und des internationalen Terrorismus infolge der zunehmenden Flüchtlings- Es leben hier über 20 Millionen aus der politischen Gemeinschaft Ausgeschlossene, die in die Kategorie von „Drittstaatenbürger“ abgestuft sind.“ aktuellen Krise der bürgerlichen Herrschaft und des kapitalistischen Systems. Diese Krise gebiert vereinfachende Rhetorik und Schwarz-Weiß-Denken, wonach leichthin Gute und Böse unterschieden werden. Dabei handelt es sich es weitgehend um eine Krise der politischen Alternativen und die Frustration über ihr Scheitern, die nicht nur unter den „Abgehängten“ dieser Gesellschaft entstanden ist, sondern auch in der sog. „Mittelklasse“. Um diese Strömungen zu bekämpfen, müssen wir mit bestimmten bequemen „Wahrheiten“ brechen und unsere Theorie und Politik radikal überdenken. Dies klingt anspruchsvoll, aber die Realitäten und Herausforderungen, die vor uns liegen, sind eben nicht einfach. In einer Zeit, wo im „alten“ Europa die ideologischen Gespenster des Nationalismus und Faschismus wieder aufleben und sich – als Folge der politischen Strategie einer „Festung Europa“ und der daraus erwachsenden Paranoia – laufend Tragödien vor den Pforten und innerhalb Europas abspielen, müssen wir die Flüchtlingsdebatte neu und an richtiger Stelle verorten: in einem unnachgiebigen Kampf für Freiheit und Gleichheit, gegen die auf kommenden nationalistischen, faschistischen und populistischen Strömungen, gegen wachsende Fremdenfeindlichkeit und Rassismus und gegen alle Grenzen. Immer wenn von Flüchtlingsströmen und deren politischer Bewältigung die Rede ist, wird auch von der Bedrohung der Sicherheit und der Bereitschaft zum Krieg gesprochen. Man muss sich dafür nur das Vokabular vor Augen führen, das in Reden und Rechtsund Verwaltungstexten gebraucht wird und vor kriegerischer Rhetorik strotzt: „Krieg gegen den Terrorismus“, „Bekämpfung der illegalen Einwande- ströme“ etc. Damit soll die Angst vor Flüchtlingen geschürt werden, um so die Repression ihnen gegenüber und die Ausnahmegesetze zu rechtfertigen, mit denen sie stigmatisiert und diskriminiert werden. Wachsender Fremdenhass in Europa So sehr sich die herrschenden Parteien auch bemühen, mit ihrer ausgrenzenden Rhetorik gegenüber Flüchtlingen den Rechtsextremen das Wasser abzugraben, zeigt deren europaweiter Aufschwung, dass sie sozial und politisch immer mehr Gewicht erlangen, ihre WählerInnenbasis verbreitern und ihre Reputation mehren können. Um diesen reaktionären Nationalismus entgegen zu treten, müssen wir umso mehr darauf bestehen, dass der Aufenthalt das Recht auf Staatsbürgerschaft begründet, und wir müssen dafür kämpfen, dass die Grenzen fallen, die Flüchtlinge das Wahlrecht erhalten und der Rassismus keinen Platz hat. Es entstehen immer mehr Gesetze, die angeblich dazu dienen sollen, den säkularen Staat, die sozialen Errungenschaften und die „fortschrittliche“ westliche Kultur und Zivilisation vor der Bedrohung durch die Flüchtlinge und deren kulturellen Praktiken zu schützen, die aber in Wahrheit eine rassistische Ideologie der kulturellen Überlegenheit transportieren und sich gegen die „Nicht-Europäer“ wenden, auch wenn viele von ihnen in Europa geboren sind. Seit Jahrzehnten schon klopfen abertausende Menschen an Europas Tür und es leben bereits über 20 Millionen Ausländer hier, denen Europa aus ideologischen und politischen Gründen die Staatsbürgerschaft verweigert und damit auch die Möglichkeit, sich zugehörig zu fühlen. Es leben hier also über 20 Millionen aus der politischen Gemeinschaft AusgeInprekorr 3/2016 9 D O S S I E R : M I G R AT I O N schlossene, die in die Kategorie von „Drittstaatenbürger“ abgestuft sind. Die „Europäer“ haben bislang gut damit leben können, dass diese Menschen sozial und politisch Fremdkörper sind. Dahinter verbirgt sich ein unverhüllter Rassismus, der sich auch in der Politik Europas zeigt, wie auch in der wachsenden Zahl von Ausnahmegesetzen, mit denen letztlich diese Kategorie der „Nichteuropäer“ zementiert und sozial legitimiert werden soll. In London kam es 1981 und 2011 und in Paris 2005 zu Aufständen in den Vorstädten. Roma werden aus Italien und Frankreich und auch sonst in Europa abgeschoben. Es finden Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte in einfachen Wohngegenden und auf Flüchtlingslager in ganz Europa statt. Und wenn wir dann an die rassistischen Angriffe 1992 in Rostock, im Februar 2000 in El Ejido und im Januar 2010 in Rosarno zurückdenken, dann begreifen wir, dass das, was gegenwärtig in nahezu ganz Europa passiert, keineswegs außergewöhnlich ist und kein isoliertes Phänomen darstellt. Einundsiebzig Jahre nach der Befreiung der KZHäftlinge von Auschwitz durch die Sowjetarmee ist die politische Kraft der extremen Rechten in nahezu ganz Europa noch immer zu spüren. Dieses Europa mag den Nazi-Faschismus militärisch und moralisch besiegt haben, den Rassismus in der Politik und den Köpfen hat es jedoch nie beseitigt. Und es ist dasselbe Europa, das sich einst mit der unverzichtbaren Hilfe der Vorfahren derselben afrikanischen, asiatischen oder maghrebinischen Einwanderer und Flüchtlinge des Nazi-Albtraums entledigt hat, auf die es heute Jagd macht. Zur gleichen Zeit, wo feierlich die Niederlage des Dritten Reichs gefeiert wird, sind es nicht nur dessen Gespenster, sondern der Nazi-Faschismus selbst, der über Europa schwebt: Grenzen, die zu offenen Friedhöfen für Zehntausende geworden sind; Flüchtlinge, die in Wales zum Tragen von leuchtenden Armbändern als Erkennungsmerkmal gezwungen werden; Konfiszierung von Schmuckstücken der Flüchtlinge in Dänemark und wahrscheinlich schon bald in anderen europäischen Ländern; angestrebte Verfassungsänderung in Frankreich zur Ausbürgerung migrantischer Straftäter und zur leichteren Deklarierung des Ausnahmezustands; Flüchtlinge, die an den europäischen Ostgrenzen und besonders in Ungarn, Bulgarien und Mazedonien einen Stempel aufgedrückt bekommen 10 Inprekorr 3/2016 wie zu Zeiten der Verhängung des Ausnahmezustands, um Flüchtlinge zu bloßen Nummern zu stempeln und ihnen das Menschsein abzusprechen etc. So wird heute die Vergangenheit gefeiert, die nicht vergangen ist, sondern ganz konkrete Realität im Alltag von Zehntausenden ausländischer BürgerInnen in Europa. Diese Vorgänge werfen ein beunruhigendes Licht auf die weitere Entwicklung und einen beschleunigten Faschisierungsprozess. Zunehmende Hetze und Gewalt gegenüber den Flüchtlingen und ethnischen Minderheiten sind natürlich die Folge einer Politik, die die Rückkehr des Nationalismus aus dem rassistischen Geist der nationalen und im weiteren Sinne europäischen Überlegenheit befördert. Das Gedenken wird zur politischen Legitimation missbraucht und dient als Basis für eine Politik und Gesetzgebung, deren Hauptziel darin besteht, nicht nur soziale und rassische Unterscheidungsmerkmale festzulegen, sondern den Rassismus hoffähig zu machen – ganz wie zu Zeiten des Kolonialismus, der Sklaverei, der Unterwerfung der Eingeborenen, des Holocaust oder der Apartheid. Die scheinheilige Verteidigung der modernen Zivilisation gegen Barbarei und kulturelle Rückständigkeit der Einwanderergruppen und der Öffentlichkeit gegen religiösen Fanatismus haben in ganz Europa dafür herhalten müssen, Ausnahmegesetze zu schaffen, die entweder auf die Immigration oder auf den Schleier oder die (glorreiche) Vergangenheit gemünzt waren. Die ganze Hysterie jakobinisch-fundamentalistischer Prägung, mit der die politische Debatte um die Vielfalt in Frankreich durchzogen ist, zeugt davon. In Wahrheit sind all die Ausnahmegesetze der letzten Zeit – ob sie im Namen der öffentlichen Ordnung oder der Trennung von Kirche und Staat oder der herrschenden Zivilisation erlassen wurden – ein eindeutiger Hinweis darauf, dass der Rassismus als ideologische Waffe benutzt wird. Europas Vergangenheit als Gesellschaft von Sklavenhaltern, Kolonialherren und Nazis schwebt über dieser Politik, die sich auf die Unterschiede beruft, um ihre Abschottungspolitik zu rechtfertigen, die selbst nur ein Erbe der Rassenideologie ist. Dieses Europa, dessen Einwanderungspolitik und Umgang mit Minderheiten zwischen Kriegstümelei und Ausnahmegesetzen schwankt, hat FRONTEX erfunden, um Jagd auf Menschen zu machen, bloß weil sie anders sind und nicht dem geographischen und politischen Raum Europas angehören – die Flüchtlinge. Wir D O S S I E R : M I G R AT I O N müssen uns mit aller Macht wehren gegen diese in den zahlreichen Ausnahmegesetzen zementierten Grenzziehungen in Europa, ob sie in der Kriegsrhetorik im Umgang mit Flüchtlingen zum Ausdruck kommen oder in der politischen Legitimation der Islamophobie oder in der Diskriminierung von Roma oder Schwarzen, d. h. im Rassismus. Denn die dadurch gezogenen physischen und symbolischen Barrieren haben v. a. dazu gedient, Grenzen zwischen „uns“ und den „Anderen“ zu errichten. Freiheit bedeutet (auch) Freizügigkeit Angefangen bei dem Schengener Abkommen 1985 über die Dublin-Abkommen (1990) bis hin zu den Verträgen von Maastricht (1992), Amsterdam (1997), Nizza (2001) und Lissabon (2007) hat sich Europa immer tiefer in eine schizophrene Logik verstrickt, indem es sich gegenüber dem Anderen abschottet und dabei die unverkennbare soziologische Realität ihrer eigenen Multiethnizität ignoriert. In all diesen Jahren waren die europäischen Politiker nicht in der Lage, diese Zustände auf politischem Weg zu ändern und Europa so zu gestalten, dass es nicht nur Vielfalt und Unterschiede akzeptiert, sondern sie integriert und v. a. respektiert. Damit steuerten sie zwangsläufig auf die sog. Rückführungsrichtlinie von 2008 zu (auch „Richtlinie der Schande“ genannt), einem der vorläufigen Höhepunkte dieser Politik, der an Gestapo-Me- hoden erinnert. Damit erhielt der berüchtigte SarkozyPakt zu Einwanderung und Asyl im Herbst desselben Jahres seine traurige Legitimation. Seither sind alle Dämme gebrochen und Europa betreibt eine Politik institutionalisierter Diskriminierung und Verfolgung von Flüchtlingen. Die klassische Rechte und die Sozialdemokratie haben vor der extremen Rechten kapituliert und die ethnischen Minderheiten zu Sündenböcken der Krise gemacht. Die Rechte verbündet sich dabei mit den Rechtsextremen und die Sozialdemokraten eifern ihnen – angeblich um sie bekämpfen – nach und legitimieren somit deren rassistischen und fremdenfeindlichen Diskurs und verschaffen ihm obendrein noch eine breitere soziale und politische Basis. Unsere Verantwortung als Linke liegt darin, den Faschismus und Rassismus unterschiedslos zu bekämpfen und diesen Kampf mit allen anderen gesellschaftlichen Protesten und Mobilisierungen zu verknüpfen, und zwar mit mehr Engagement als bisher. Mamadou Ba ist Mitglied der portugiesischen Sektion der IV. Internationale Leicht gekürzte Übersetzung: MiWe INTERNATIONALISMUS VON UNTEN GEGEN DIE FESTUNG EUROPA Erklärung des Internationalen Komitees der IV. Internationale Im Laufe des vergangenen Jahres ist eine Million Menschen auf der Flucht vor Hunger und Bomben vor allem über das östliche Mittelmeer und den Balkan nach Europa gekommen. Es ist der größte Zustrom von Flüchtlingen nach Europa seit dem Zweiten Weltkrieg und, weltweit gesehen, die höchste Zahl von MigrantInnen und Asylsuchenden seit Jahrzehnten. Die Hälfte von ihnen kommt aus Syrien, wo fünf Jahre Krieg bereits zu 250 000 Toten Inprekorr 3/2016 11 D O S S I E R : M I G R AT I O N und fünf Millionen Flüchtlingen sowie zur Vertreibung von 50 % der restlichen Bevölkerung im Lande geführt haben. Viele kommen aber auch aus Afghanistan, dem Irak sowie afrikanischen und anderen asiatischen Ländern. Unter ihnen sind viele Frauen, die eine besondere Unterdrückung erleiden und Opfer von besonderer Gewalt sind. Von den politischen Institutionen und den etablierten Medien wird uns diese Flüchtlingskrise als menschliche Flutwelle dargestellt, die von nirgendwo hergekommen ist. Gerade so, als sei es eine meteorologische Erscheinung, scheinbar ohne Ursache; die Menschen auf der Suche nach Asyl werden entweder als Bedrohung oder als Opfer hingestellt, ihnen gegenüber gibt es angeblich nur zweierlei Antworten: die Schließung der Grenzen oder Notfallhilfe. In dem einen wie in dem anderen Fall werden die Flüchtenden nicht mehr als Subjekte mit Rechten, mit Hoffnungen und Forderungen begriffen, sondern schlicht als zu verwaltende Objekte. Diese Sichtweise ist nicht nur verengt, sie bedient auch und gerade die Interessen der verschiedenen politischen Stellen, die mit dieser Situation konfrontiert sind. 1. Allgemeine Rechtekrise Die Migrationsströme machen im Gegensatz zum offiziellen Diskurs nicht alleine eine humanitäre Krise aus, sondern auch und vor allem eine Krise der Rechte im Allgemeinen und infolgedessen eine politische Krise. Für diese Krise gibt es konkrete Ursachen und konkrete Verantwortungen, sie hängt mit anderen, tiefer reichenden Krisen zusammen, die Teil einer Welt und eines globalisierten kapitalistischen Systems in Krise sind. Die RechteKrise hat drei Facetten: a) Sie hat zu tun mit den systematischen Verletzungen der Grundrechte in den Herkunftsländern, die der Anlass für die Emigration sind; b) das System der Aufnahme und des internationalen Asylrechts, das Haushaltskürzungen und weiteren Verfahren, die nur noch ein Minimum vorsehen, ausgesetzt ist, befindet sich ebenfalls in Krise; c) es ist eine Krise der generellen Migrationspolitik, sowohl in den Transitländern wie in den Zielländern. 2. Lokaler Terror und imperialistische Intervention Es gibt die internen Faktoren für die bewaffneten Konflikte, von denen die Bevölkerungsverschiebungen ausgelöst werden (im Fall von Syrien sind das die völkermörderische Repression des Assad-Regimes und der Totalitarismus von Daesh); darüber hinaus haben die imperialistischen Interventionen ebenso wie die militärischen und ökono12 Inprekorr 3/2016 mischen Interessen von ausländischen Regierungen, internationalen Institutionen und multinationalen Unternehmen ihren Teil der Verantwortung für die Instabilität der Herkunftsländer der MigrantInnen. Die Plünderung der Ressourcen, die geostrategischen Interessen und die Freihandelsabkommen bewirken Hunger, Verarmung, Kriege und Exodus. Im Fall der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten nehmen die Folgen ihrer Einmischung von außen jetzt die Form von Asylsuchenden an, die an die Türe klopfen. Erdogan in der Türkei und Assad in Syrien benutzen die Flüchtlinge als Tauschgegenstand und Druckmittel, um bei Verhandlungen das Beste für ihre Interessen herauszuholen. Unterdessen stecken die Menschen in der Falle der geopolitischen Konflikte und der Konfrontationen zwischen heimischen und regionalen Eliten. 3. Die unerträgliche europäische Verantwortungslosigkeit Dieselbe Europäische Union, die mit einer erstaunlichen Leichtigkeit enorme Rettungspläne zugunsten von Privatbanken auflegt oder Strafmaßnahmen gegen Regierungen verfolgt, die von der neoliberalen Austeritätspolitik abweichen, beantwortet diese Herausforderung mit hohlen Erklärungen, Passivität der Institutionen und dem Ausbau der Festung Europa. Gleichzeitig schieben sich die europäischen Staaten gegenseitig den Schwarzen Peter zu und erlassen Gesetze gegen MigrantInnen und Flüchtlinge. Sie hatten sich verpflichtet bis Ende 2015 160 000 Menschen aufzunehmen, davon sind bislang gerade einmal 400 in den verschiedenen Mitgliedsstaaten der EU untergebracht worden. Selbst wenn die genannte Zahl erreicht würde, wäre das in Anbetracht der wirklichen Bedürfnisse lächerlich wenig (2015 ist eine Million gekommen, die Voraussagen für 2016 liegen höher); dies steht im Gegensatz zu Libanon, Jordanien, Ägypten und der Türkei, wo 4,5 Millionen Syrerinnen und Syrer aufgenommen worden sind ԟ in Ländern mit einer niedrigeren Bevölkerungszahl und geringeren wirtschaftlichen Ressourcen als die EU. 4. Nieder mit der Festung Europa und allen Formen von Fremdenfeindlichkeit Die europäische Antwort konzentriert sich auf den Bau von Zäunen, die Verschärfung der Polizeirepression, systematische Abschiebungen und das Gefangenhalten der Flüchtlinge in Konzentrationslagern, wo ihnen die elementarsten Rechte vorenthalten werden. Solche D O S S I E R : M I G R AT I O N Maßnahmen werfen zudem noch saftige Profite für private Firmen ab, die durch das Grenzregime eine neue Marktlücke gefunden haben. Das Niederwalzen der elementaren Rechte, die zunehmende Stigmatisierung der Flüchtlinge insgesamt (auch unter Verwendung von feministischen Formulierungen) und der Versuch, eine Spaltung zwischen Flüchtlingen mit ein paar Rechten und illegalen Flüchtlingen herbeizuführen, ist eine Strategie institutioneller Fremdenfeindlichkeit; dadurch wird rassistischer Hass legitimiert und befördert. Rassismus, identitärer Nationalismus und die Schließung der Grenzen sind alte Fantasiebilder, von denen Europa jetzt von Neuem heimgesucht wird. Bei dem Versuch, den Aufstieg der extremen Rechten einzudämmen und ihnen das Monopol auf Angst und Hass streitig zu machen, wenden die Institutionen und die Parteien des Systems in ganz Europa die gleiche Politik an. Nach dem Muster der Politik zur sogenannten TerrorBekämpfung dient die Flüchtlingskrise ebenfalls als Vorwand, um die Rechte und die Freiheiten der gesamten arbeitenden Klasse zu niederzuwalzen. 5. Flüchtling oder Migrantin – kein Mensch ist illegal Die Garantien internationaler Rechte und Abkommen, die es einem Teil der MigrantInnen ermöglichen, politisches Asyl zu verlangen und zu erhalten, dürfen nicht das einzige Argument sein, um für ihre Aufnahme und die Einhaltung ihrer Rechte einzutreten. Die von einem wirtschaftsliberalen Geist geprägten internationalen Standards beschränken die Möglichkeiten Asyl zu beantragen durch den Ausschluss sozialer, wirtschaftlicher und klimatischer Gründe auf die Liste der „offiziell anerkannten“ politischen Konflikte. Hunger, Elend und Mangel töten ebenso viel, wenn nicht mehr als Bomben. Durch die Wirtschaftskriege des globalisierten Kapitals werden Jahr für Jahr Millionen von Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Die Wirtschaftsund die Klimaflüchtlinge müssen als Asylberechtigte anerkannt werden. Auch unabhängig davon ist das Recht auf Migration auch ohne politische oder wirtschaftliche Gründe ein Recht, das es zu verteidigen gilt. 6. Internationalistische Antwort Keine verpflichtende internationale Vereinbarung, keine von mehreren Staaten geteilte Verantwortung kann jemals die internationalistische Pflicht, die Solidarität der Völker untereinander und die Loyalität der unteren Klassen gegenüber denen, die vor den Folgen des Terrors, des Klimawandels und des globalisierten Kapitalismus auf der Flucht sind, ersetzen. Die Würde und das Leben der Menschen sind mehr wert als irgendein privater Gewinn, als irgendwelches Kalkül im Zusammenhang mit einer Wahl oder als die Anwendung irgendeines Gesetzes. Aus diesen Gründen beschließt das Internationale Komitee auf seiner Tagung am 27. Februar – 2. März 2016 Aktivitäten und Mobilisierungen sowie Unterstützung für die Selbstorganisierung der Flüchtenden und der MigrantInnen, die die Grenzen durchbrechen, und für solidarische gesellschaftliche Mobilisierung; sie sollte Teil einer Dynamik des politischen Kampfs für folgende Punkte sein: 1 Die Ursachen für die massiven Vertreibungen und Fluchtbewegungen sind anzuprangern, indem Mobilisierungen und politische Initiativen gegen Imperialismus und Krieg auf der Straße gestartet werden. 2 Wir fördern und beteiligen uns an Mobilisierungen zur Solidarität und zum Aufbau kämpferischer politischer Alternativen gegen die restriktiven Immigrationspolitiken. 3 Wir fordern mehr Mittel für die Aufnahme von Flüchtlingen statt diese Mittel für repressive Maßnahmen auszugeben, vor allem statt der weiteren Aufrüstung zur Schließung der Grenzen. 4 Wir verlangen, dass mit allen Instrumentarien zur Jagd auf MigrantInnen Schluss gemacht wird, insbesondere mit SIS, CRATE, RABIT, FAST TRACK, ICONet, VIS, EURODAC sowie EUROSUR. 5 Wir fordern, dass Dublin III außer Kraft gesetzt und die Genfer Konvention revidiert wird, sodass sie der heutigen Zeit und den heutigen Bedingungen besser gerecht wird. 6 Wir treten ein für ein Ende von Frontex und die Schaffung einer Einrichtung für Rettungsmaßnahmen und humanitäre Hilfe. 7 Wir treten für die Öffnung von speziellen Korridoren und die Ausgabe von speziellen Einreisevisa für die Flüchtlinge ein, die sich in den „Hotspots“ an den Grenzen und in den Transitländern aufhalten. 8 Wir treten für die Schaffung von Mechanismen bilateraler Kooperation zwischen den Mitgliedsländern ein, damit die institutionelle Blockade der Europäischen Union beim Umgang mit den Migrationsströmen überwunden wird. 9 Wir treten für die „Regularisierung“ aller Menschen ohne Papiere und für die Außerkraftsetzung der Richtlinie über die Familienzusammenführung ein. 10 Wir werden den Kampf gegen den Rassismus und gegen den Faschismus jeder Art als Querschnittsthemen in alle unsere politischen Aktivitäten integrieren. 11 Wir müssen den politischen, ideologischen und kulturellen Kampf gegen die extreme Rechte frontal angehen. Es Inprekorr 3/2016 13 D O S S I E R : M I G R AT I O N gilt, den Aufstieg der extremen Rechten mit einem Programm hegemonischer Gegenkultur gegen den Konservatismus und mit interkulturellen Interventionen zu begegnen, indem über Kampagnen und Initiativen zur Mobilisierung mit den Opfern des Rassismus die Besetzung des öffentlichen Raums erstritten wird. 12 Wir kämpfen für das Recht der MigrantInnen auf Beteiligung an allen Wahlen, damit die Bürgerrechte zu verwirk lichen, denn die Demokratie wird erst dann vollständig sein, wenn sich alle daran beteiligen und alle vertreten sind. 13 Wir kämpfen für das Recht des Bodens (Geburtsortprinzip) und die Abschaffung des Rechts des Blutes (Abstammungsprinzips) bei der Erlangung der Staatsbürgerschaft. 14 Wir verlangen im Namen der Einhaltung der Menschenrechte und der Würde derjenigen, die alleine wegen ihres Status als MigrantInnen festgehalten werden, die Beendigung der Abschiebungen und die Schließung der Auffangzentren in Europa und an seiner Peripherie. 15 Wir kämpfen dafür, dass die Richtlinie zur Rückkehr und die zur Familienzusammenführung aufgehoben werden, die Richtlinien zur Arbeitserlaubnis und zur Abstammung („Rasse“) müssen geändert werden. 16 Wir wollen durch Debatten und mit kritischem Denken die Gesellschaft allgemein und die akademischen Einrichtungen im Besonderen vor die Herausforderung stellen, die Produktion von Wissen und von Kenntnissen zu „entkolonisieren“, vor allem mithilfe von postkolonialen und „dekolonialen“ Untersuchungen. Und wir wollen verstärkt die verschiedenen Ausdrucksweisen des Rassismus untersuchen – besonders, was die Feindschaft gegenüber Roma, AfrikanerInnen und Muslime angeht. 17 Wir fordern eine Überprüfung der Lehrprogramme und der Schulbücher, sodass sich darin die kulturelle Unterschiedlichkeit reflektiert und die Unterschiede positiv gewertet und die Interkulturalität und ihre zahlreichen Beiträge in Schulfächern und universitären Disziplinen gefördert werden. 18 Schließlich werden wir für den Unterricht in den Herkunftssprachen aktiv. Dies ist nicht nur ein Instrument zum Erhalt der Sprachen und Kulturen, sondern auch ein Werkzeug zum Interagieren und dem Bekanntmachen der Unterschiede innerhalb der Schulgemeinschaften. Bei diesen Mobilisierungen sollte der Selbstorganisation der MigrantInnen eine zentrale Rolle gegeben werden, so dass sie ihre Rechte einfordern können, und sie sollten von einer solidarischen gesellschaftlichen Mobilisierung 14 Inprekorr 3/2016 unterstützt werden, so wie sie in einigen europäischen Ländern zu schon zu sehen war. Für die Waren und für das Kapital fallen die Grenzen, während für die Menschen immer höhere Mauern errichtet werden. Marktfundamentalismus und fremdenfeindlicher Nationalismus verbünden sich zum Ausbau der Festung Europa mit vielen Grenzen, massenhafter Zerstörung von Bürgerrechten und Brutkästen des Rassenhasses. Aber es gibt weiterhin Widerstand und Solidarität mit denen ganz unten; damit wird einmal mehr belegt, dass nur die Bevölkerung sich selbst retten kann und dass ein anderes Europa möglich ist. Vom Internationalen Komitee am 1. März 2016 einstimmig beschlossen. Aus dem Englischen und Französischen übersetzt von Wilfried Dubois K U R D I S TA N UNTERSTÜTZUNG FÜR DEN KAMPF DES KURDISCHEN VOLKES Gemäß einem Beschluss des Internationalen Komitees vom 2. März veröffentlicht das Büro der IV. Internationale folgende Erklärung. 1. Nach zwei Jahren der Verhandlungen mit dem Führer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Abdullah Öcalan hat das islamistische, neoliberal-autoritäre Regime Erdo÷ans im Sommer 2015 beschlossen, wieder einen blutigen Krieg gegen das kurdische Volk aufzunehmen. Dabei hatte dieser Sommer 2015 mit den Wahlergebnissen vom 7. Juni zunächst den Hoffnungen im Volk gewaltigen Auftrieb gegeben. Der außergewöhnliche Wahlerfolg der HDP (Demokratische Partei der Völker – eine linksreformistische, aus der kurdischen Bewegung hervorgegangene Sammlungspartei) zwang mit der Verdoppelung ihres Stimmenanteils die AKP, eine Koalitionsregierung zu bilden, was die Möglichkeit eröffnete, dass damit deren Beherrschung bestimmter Sphären des Staatsapparates gebrochen würde. Außerdem bekam mit diesem Ergebnis die AKP nicht genügend Sitze, um eine Verfassungsänderung zu beschließen und das von R. T. Erdo÷an gewünschte autoritäre Präsidialregime durchzusetzen, dessen Sultan er sein will. Schon im März 2015 hatte Erdo÷an erste Anhaltspunkte für seine Wende hin zu einem harten nationalistischen Kurs geliefert. Dies betrieb er als Reaktion auf die zu erwartenden Stärkung der nationalistischen Rechten bei den Wahlen, vor allem, aber weil er erschrocken war über die Unruhen zur Unterstützung des Widerstands im vom Daesh/IS belagerten Kobanê. Dieser Wutausbruch der kurdischen Massen war die Folge einer langen Reihe von Enttäuschungen, hervorgerufen durch die Weigerung der AKP, im Rahmen der „Friedensverhandlungen“ konkrete Maßnahmen zu ergreifen. Hinzu kam die Empörung, die aus der weitverbreiteten Überzeu- 2. gung erwuchs, dass die AKP den Daesh/IS unterstützt. Dies beruht auf der Tatsache, dass die Dschihadisten des „Islamischen Staats“ lange Zeit die türkisch-syrische Grenze in beiden Richtungen ohne jegliche Kontrolle überqueren konnten und in den grenznahen türkischen Krankenhäusern behandelt wurden. Und wir wissen, dass das türkische Regime lieber den Daesh als die Kurden zu Nachbarn hat. „Es gibt keine kurdische Frage“, hat Erdo÷an schlussendlich erklärt, als er jeglichen Besuch Öcalans verbot und damit de facto die im März 2013 begonnenen Verhandlungen beendete. 3. Mit dem Wahlergebnis unzufrieden und angeleitet von Erdo÷an sprach sich die AKP für Neuwahlen aus. Dabei war die Schwächung der HDP für die AKP die unumgängliche Voraussetzung dafür, bei den nächsten Wahlen als Siegerin hervorzugehen. So wurden auf sehr fragwürdige Weise das dem Daesh zugeordnete Attentat von Suruç und die anschließenden Vergeltungsmaßnahmen „lokaler PKK-Einheiten“, bei denen zwei Polizisten starben, zum Anlass genommen, den Krieg gegen die Kurden wieder aufzunehmen und die HDP zu kriminalisieren, die als der legale Arm der „terroristischen Organisation“ bezeichnet wurde. Das Klima des Bürgerkriegs, begleitet von heftiger Repression jeglicher sozialer und politischer Proteste sowie von einer Kriminalisierung oppositioneller Zeitungen und einer Stärkung des Nationalismus – der sich in anti-kurdischen Pogromen niederschlug – hat schließlich seine Ergebnisse gezeitigt. Die AKP hat die Wahlen vom 1. November haushoch gewonnen. Inprekorr 3/2016 15 K U R D I S TA N Seitdem herrscht ein Massaker-Regime. Erdo÷ans Staatspartei mobilisiert (mit der Polizei und der Gendarmerie verbundene) offen faschistische und islamistische „Anti-Terror“-Brigaden, um jeglichen Protest und Widerstand in Türkisch-Kurdistan niederzuschlagen. Die Stadtviertel in Diyarbakır, Mardin, ùırnak, Hakkari, wo junge kurdische städtische Milizen, die der PKK nahestehen (aber nicht direkt von ihr kontrolliert werden) eine „demokratische Autonomie“ deklariert haben (ähnlich dem Modell in Rojava), leiden seit Monaten unter der Ausgangssperre. Ihnen droht eine Hungersnot. Diese Stadtviertel werden belagert und von Panzern und gepanzerten Militärfahrzeugen zerstört. Hunderte von Leichen, darunter auch solche, die bis zur Unkenntlichkeit verbrannt sind, liegen unter den Trümmern, mehr als hunderttausend EinwohnerInnen mussten fliehen. Nach Angaben der türkischen „Stiftung Menschenrechte“ haben zwischen August 2015 und Februar d. J. 224 Zivilisten (darunter 42 Kinder), 414 AktivistInnen der kurdischen Bewegung und 198 Polizisten und Soldaten ihr Leben verloren. 4. 5. Die Entscheidung, die die PKK und die städtischen Milizen der YDG-H (Bewegung der patriotischen revolutionären Jugend) getroffen haben, die Auseinandersetzungen von den Bergen in die Städte zu verlagern – übrigens im Gegensatz zu den früheren Empfehlungen Öcalans –, kann sicherlich Diskussionen auf taktischer Ebene hervorrufen. Die von dem bewaffneten Konflikt geprägte Atmosphäre hat offensichtlich die Möglichkeiten eingeschränkt, die demokratische, kämpferische und auf Frieden ausgerichtete Botschaft der HDP aufzunehmen, der es gelungen war, sich als hegemonialer Pol in breiten Teilen der Bevölkerung zu etablieren, die sich den diktatorischen Bestrebungen Erdo÷ans und den staatlichen Maßnahmen zur Islamisierung der Gesellschaft widersetzen, und dies nicht nur in der kurdischen Bevölkerung. Aber ganz zweifellos sind das Erdo÷an-Regime sowie die Instrumentalisierung seiner verschiedenen Vorgehensweisen gegenüber dem kurdischen Volk – im Bestreben, damit seine Präsidialmacht auszubauen – für diese Tragödie verantwortlich, was die nationalistischen Gefühle auf beiden Seiten anstachelt und die Möglichkeiten eines friedlichen Zusammenlebens beider Völker stark beschädigt. Wir verurteilen die kriegerische Politik des Erdo÷anRegimes und der AKP. Wir fordern, dass der türkische Staat die Massaker einstellt und die Ausgangssperre und 16 Inprekorr 3/2016 die Blockaden in den kurdischen Städten aufhebt. Und wir fordern die Identifizierung und Verurteilung der für die Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen. Wir fordern vom türkischen Staat, die Isolierung Öcalans aufzuheben und Verhandlungen mit den verschiedenen Teilen der kurdischen Bewegung aufzunehmen, um die Bedingungen für einen dauerhaften Frieden zu schaffen, der nur zustande kommen kann, wenn die demokratischen und sozialen Forderungen des kurdischen Volkes erfüllt werden. Und wir verurteilen die Komplizenschaft der westlichen Imperialismen, besonders der EU, die – von den Flüchtlingsströmen aufgeschreckt, für die sie allerdings mitverantwortlich ist – sich offenbar mit dem repressiven und mörderischen Regime der Türkei arrangiert, wenn diese sich nur bereit erklärt, zu einem riesigen Internierungslager für MigrantInnen zu werden, und zwar außerhalb der EU-Grenzen. Wir fordern die Beendigung von Unterdrückung und Verfolgung der kurdischen Bewegung in Europa. Die PKK muss von der Liste terroristischer Organisationen gestrichen werden. Wir erklären unsere Unterstützung für das kurdische Volk und seinen Kampf für ein Leben in Würde, für die HDP, die einer beispiellosen Kriminalisierung durch den Staatsapparat ausgesetzt ist, für die AktivistInnen der radikalen Linken, für die FriedensaktivistInnen und die VerteidigerInnen der Menschenrechte wie auch für die Studierenden und Lehrenden an den Universitäten und die JournalistInnen, die von dem konfessionell-nationalistischen und autoritären Regime Erdo÷ans verfolgt werden. 6. Der vom türkischen Staat gegen die kurdische Bewegung geführte Krieg wie auch die Strategie der PKK werden heute vor allem durch die Ereignisse in Syrien bestimmt. Die Festigung und Ausweitung der Verwaltungseinheiten – gestützt auf die Schwesterpartei PYD (Partei der demokratischen Einheit) – im Norden Syriens (Rojava) ist für die PKK viel bedeutsamer als das, was sie in Verhandlungen mit dem türkischen Staat durchsetzen kann, vor allem was die historische Konkurrenz mit dem feudalen und US-hörigen Regime Barzanis angeht, und zwar in Bezug auf die Durchsetzung ihrer Hegemonie im kurdischen Volk, das auf vier Länder (Iran, Türkei, Irak und Syrien) aufgeteilt ist. Das Erdo÷an-Regime versucht, die Hegemonialmacht des Mittleren Ostens zu werden und hatte dafür in den ersten Monate des Volksaufstands in Syrien auf ein Arrangement zwischen dem Regime und den Moslembrü- K U R D I S TA N dern gesetzt. Danach setzte es auf eine aktivere Einmischung und einen schnellen Sturz Assads. Dazu hat die Türkei zunächst den von den Moslembrüdern und der (neo)liberalen Opposition beherrschten Syrischen Nationalrat unterstützt. Mit der Militarisierung des Aufstands – eine Reaktion auf die brutale Repression seitens des Assad-Regimes – hat die Türkei nicht gezögert, mit verschiedenen Mitteln (politisch, finanziell, logistisch, militärisch, medizinisch) verschiedene bewaffnete dschihadistische Gruppen, darunter den Daesh, direkt und/oder indirekt zu unterstützen. Einer der Hauptgründe für das Erdo÷an-Regime, in den Kampf zum Sturz Assads einzugreifen, war die starke kurdische Besiedlung an der syrisch-türkischen Grenze. Die Bildung einer kurdischen Regionalverwaltung im Norden Iraks im Gefolge der imperialistischen Intervention von 2003 hatte zweifellos bereits ein schweres Trauma für den türkischen Staat hervorgerufen. Offenbar hat also die Angst, ein solches Szenario noch einmal zu erleben, das türkische Regime bewogen, sich aktiv in den syrischen Konflikt einzuschalten. Die Lage ist dann noch kritischer geworden, als nach dem Abzug der Truppen des Assad-Regimes aus einem Teil Syrisch-Kurdistans im Juli 2012 die PYD die Kontrolle über diese Grenzregion erringen konnte und dort eine Autonomie ausrief. Heute hat die türkische Regierung an der Grenze zu Syrien eine Blockade errichtet und behindert damit die in der Türkei und im Ausland organisierten Solidaritätsanstrengungen mit Rojava. Wir verurteilen diese Grenzkontrollen der Regierungen, mit denen die zivilen Initiativen gegen die Unterdrückung verhindert werden und unterstützen die Kampagnen gegen diese Blockaden. 7. 8. Ein Ergebnis der 2003 beschlossenen Dezentralisierung der PKK ist die weiterhin bestehende Anerkennung der ideologischen und politischen Führung Öcalans durch die PYD. Im Gefolge der Revolution von Rojava stellt die Verwaltung der drei Kantone Cizre (Cizîr), Afrin und Kobanê den Versuch dar, Öcalans Strategie der „demokratischen Autonomie“ (oder des „demokratischen Föderalismus“) umzusetzen, die an die Stelle des Marxismus-Leninismus getreten ist, der Anfang der 1990er Jahre aufgegeben worden war. Die im Januar 2013 deklarierte Charta von Rojava basiert auf demokratischen, laizistischen und multikulturellen Prinzipien und ist von einer ökologischen Sensibilität geprägt. Die besondere Betonung, die auf die Rechte der Frauen und der ethni- schen wie religiösen Minderheiten gelegt wird, ist – vor allem angesichts des syrischen Chaos – beeindruckend. Und trotz der Instabilität, die in der Region herrscht, sind diese Verpflichtungen keine leeren Worte geblieben, auch wenn sie sicherlich noch vertieft werden müssen. Allerdings gibt es in dieser originellen und fortschrittlichen Erfahrung der Selbstverwaltung – mittels verschiedener Räte und Vollversammlungen – praktisch keinen politischen Pluralismus. Die PYD hat keine gewichtige historische Verankerung in Rojava und konnte nach ihrer Rückkehr aus dem irakischen Exil 2011 ihre Hegemonie nur aufgrund ihrer militärischen Macht durchsetzen (mithilfe der YPG, Einheiten zur Verteidigung des Volkes). Sie hat nicht gezögert, diese Macht einzusetzen, um die verschiedenen lokalen kurdisch nationalistischen Strömungen zu unterdrücken, genauso wie die demokratischen Netzwerke junger kurdischer AktivistInnen, die in der revolutionären Erhebung engagiert waren. Wir müssen zudem festhalten, dass in einigen Städten wie Hassake und Qamischli auch nach der Autonomieerklärung das Assad-Regime immer noch vertreten ist. 9. Heute genießen PYD und YPG dank ihres heroischen Widerstands gegen die Barbarei des Daesh in Kobanê (an dem auch revolutionäre Organisationen der Türkei sowie Gruppen der Freien Syrischen Armee und Peschmergas aus Irakisch-Kurdistan beteiligt waren) mit Recht internationales Prestige. Die Stellung der PYD vor Ort und ihre Wirksamkeit im bewaffneten Kampf machen aus ihr paradoxerweise einen privilegierten Partner sowohl der USA, die sich nicht allzu weit in das syrische Chaos hineinziehen lassen wollen (für das sie aber zu einem großen Teil selbst verantwortlich sind), als auch Russlands, das seit dem 30. September 2015 militärisch aufseiten des blutrünstigen Assad-Regimes, des Irans und der libanesischen Hizbollah eingreift, um seine Machtposition in der Region zu stärken. Erdo÷an indes versucht um jeden Preis zu verhindern, dass die Region von Azaz bis Dscharabulus (die heute noch weitgehend vom Daesh kontrolliert wird) in die Hände der PKK-PYD fällt, denn dies ist heute die einzige Grenzregion zur Türkei, die nicht von kurdischen Kräften kontrolliert wird. Heute kämpfen die „Demokratischen Kräfte Syriens“1, deren wichtigster Teil die YPG sind, mit russischer Luftunterstützung effektiv gegen die verschiedenen dschihadistischen Gruppen des Daesh, der al-Nusra oder des Ahrar al-Scham und gegen andere angeblich gemäßigt salafistische Gruppen, die von Saudi-Arabien, der Türkei Inprekorr 3/2016 17 K U R D I S TA N und Katar unterstützt und bewaffnet werden. Diese Geländegewinne und Siege der Demokratischen Kräfte Syriens legen jedoch auch Widersprüche an den Tag, und zwar aufgrund des Pragmatismus der vor Ort praktizierten Bündnispolitik. Sie können sich Seite an Seite mit den Streitkräften des Regimes befinden oder aber auch in Konkurrenz mit ihnen, um als Erste gegnerisches Terrain zu besetzen. Darüber hinaus führen sowohl die Vorherrschaft salafistisch-dschihadistischer Kräfte in den Gebieten, die dem Regime entrissenen wurden, wie auch die Tatsache, dass diese Kräfte sich bisweilen mit denen der Freien Syrischen Armee vermischen, zu der Konsequenz, dass die Demokratischen Kräfte Syriens (und damit die YPG) in Konflikt mit der Freien Syrischen Armee und den lokalen, sehr heterogenen Rebellengruppen geraten. Das wiederum erhöht die Gefahr, von der ansässigen Bevölkerung als Bündnispartner des Regimes zu erscheinen. Außerdem verstärken Anschuldigungen (beruhend auf mehreren Berichten und Zeugenaussagen), dass die PYD in bestimmten Regionen arabische Bevölkerungsteile umsiedele, das Misstrauen gegenüber der PYD, das auf jahrzehntealten ethnischen Spannungen in einigen Regionen des Nordens zwischen Kurden und Arabern beruht. Hinzu kommt, dass die dominanten, von der Türkei und den Golfstaaten unterstützten neoliberalen und mit den Moslembrüdern verbundenen Kräfte in der Syrischen Nationalen Koalition die Repression der PKK durch das türkische Regime unterstützen, arabisch chauvinistische Propaganda betreiben und keine Garantie für die nationalen Rechte der Kurden geben, was das Misstrauen der PYD gegenüber dieser Opposition erklärt. 10. Die Vierte Internationale bekräftigt ihre Ablehnung jeglicher militärischer Intervention und aller imperialistischen Pläne zur Zerstückelung Syriens. Diese Interventionen imperialistischer und subimperialistischer Mächte haben einzig und allein zum Ziel, ihre eigenen Interessen und die der Regionalmächte zu stärken, und sind nur eine weitere Katastrophe für die Völker Syriens. Wir fordern den sofortigen Stopp russischer wie auch aller anderen Bombardements und den Abzug aller ausländischen Streitkräfte. Auf der anderen Seite vertreten wir den Standpunkt, dass die syrische Bevölkerung das Recht hat, sich gegen die Barbarei der Dschihadisten und des Regimes wie auch gegen jede Form der Unterdrückung mit den Mitteln zur Wehr zu setzen, die sie sich beschaffen kann. Unabhängig von der Kritik, die wir gegenüber 18 Inprekorr 3/2016 bestimmten Praktiken der PYD und der Demokratischen Kräfte Syriens haben, begrüßen wir ihren Kampf gegen die reaktionären und dschihadistischen Kräfte, die einen Pol der Konterrevolution in Syrien darstellen. Wir drücken unsere Solidarität mit dem Kampf des kurdischen Volkes für seine Selbstbestimmung aus. Wir betonen ausdrücklich, dass das Schicksal der Selbstbestimmung des kurdischen Volkes und das der syrischen Revolution eng miteinander verknüpft sind. Die Emanzipation der Völker der Region wird nur gelingen auf dem Weg des Sturzes der autoritären Regimes und der Befreiung vom Einfluss der Großmächte und der multinationalen Konzerne durch ein Bündnis der unterdrückten Klassen dieser Völker. Büro der IV. Internationale, Paris, 9. März 2016 Übersetzung: Jakob Schäfer 1 Die Demokratischen Kräfte Syriens sind ein am 10. Oktober 2015 gebildetes Militärbündnis. Außer der YPG gehören ihr im Wesentlichen an: die sunnitisch-arabische Armee der Revolutionäre, die sunnitisch-arabische Schammar-Stammesmiliz Quwat as-Sanadid und der assyrischaramäische Militärrat der Suryoye (MFS) [Anm. d. Übers.]. DOSSIER: IMPERIALISMUS IMPERIALISMUS UND GLOBALISIERUNG „Das Transpazifische Handelsabkommen erlaubt es Amerika, die Regeln für das 21. Jahrhundert zu schreiben - und nicht Ländern wie China.“ (US-Präsident Barack Obama) Ein Dossier mit 4 Beiträgen Imperialismus und Globalisierung Zurück zu alter Stärke? Der chinesische Imperialismus SEITE 20 SEITE 25 SEITE 28 Zieht China die Weltwirtschaft in den Abgrund? SEITE 32 Inprekorr 3/2016 19 DOSSIER: IMPERIALISMUS IMPERIALISMUS UND GLOBALISIERUNG „…[es] wurde argumentiert, man exportiere Maschinen und stelle dem Fernen Osten den gesamten technischen Apparat des Westens einschließlich stattlicher Ausbilderstäbe zur Verfügung und werde infolgedessen bald die übermächtige, weil mit billigeren Arbeitskräften arbeitende überseeische Konkurrenz zu spüren bekommen, und zwar in solchem Maße, daß ein wirtschaftlicher Ruin Europas im Bereich des Möglichen liege.“, so zitiert H. Gollwitzer in seinem Buch Die gelbe Gefahr die Diskussion Anfang des 20. Jahrhunderts über die „Bedrohung des weißen Mannes durch die Asiaten“. Yann Cézard Seither hat sich die Welt gedreht, aber das Hirngespinst hat sich gehalten. Bloß dass damals China das Objekt der rivalisierenden imperialistischen Mächte war und heute die „Werkbank des Westens“ darstellt. Bei der damaligen „ersten Globalisierungswelle“ des Kapitalismus triumphierte der Westen. Erlebt er diesmal seinen Abstieg? Und lässt sich heute überhaupt noch von Imperialismus reden? Darüber herrscht gegenwärtig äußerste Konfusion in den Köpfen, die politisch verheerende Folgen hat. Von allen Herangehensweisen ist die isolierte Betrachtung einzelner Phänomene ohne Weitblick auf das Ganze die schlechteste. Sie ermöglicht es den Einen mühelos, vom Ende des Imperialismus zu schwadronieren (und warum nicht gleich von einem „Imperialismus mit umgekehrten Vorzeichen: Überschwemmt schließlich nicht China den Westen mit industriellen Produkten?), und den Anderen, darauf zu beharren, dass der von Lenin 1916 beschriebene Imperialismus noch immer haargenau derselbe geblieben ist (Betreibt der Westen nicht weiterhin seine ständigen militärischen Interventionen in jedem Winkel der Erde?). Stattdessen sollte man sich besser direkt dem Kern der Sache 20 Inprekorr 3/2016 zuwenden: Wenn der klassische Imperialismus die Form war, die damals die erste kapitalistische Globalisierungswelle angenommen hat, wie sieht dann der Imperialismus unter der heutigen Globalisierung aus? Von der ersten zur zweiten Welle der Globalisierung Die kapitalistische Wirtschaft erlebte Ende des 19. Jahrhunderts eine erste Welle der internationalen Expansion. Nach dem I. Weltkrieg zerschlugen sich die internationalen wirtschaftlichen Beziehungen auf lange Sicht, um nach 1945 allmählich wieder aufzuleben. Wie langsam dieser Internationalisierungsprozess vonstatten ging, zeigt, dass der Außenhandel erst 1973 wieder den Stellenwert von 1913 am weltweiten BIP erreichte. Anschließend vollzog sich die Entwicklung allerdings rasant. Dennoch ist das, was wir seit 30 Jahren erleben, nicht eine bloße Rückkehr zur Globalisierung von 1900, nur auf einer höheren Stufe, sondern ein ganz unterschiedlicher Prozess. Vor etwas mehr als 100 Jahren schickte sich das industrialisierte Europa an, massenhaft Kapital zu exportieren, einerseits in die „Neue Welt“ (USA, Kanada etc.), andererseits in die Kolonien und Halbkolonien. In erstere exportierte Europa auch seine Menschen (60 Millionen EuropäerInnen verließen im 19. Jahrhundert den „Alten Kontinent“) und knüpfte damit zugleich – für damalige Verhältnisse modernste – kapitalistische Beziehungen. In den anderen – agrarischen und armen – Ländern jedoch ging es in erster Linie darum, Infrastrukturen zu schaffen, um dort die Rohstoffe zu plündern, die Märkte mit Industrieprodukten aus dem Westen (oder Japan) zu überfluten oder diese Staaten mit endlosen Schulden zu knebeln. Diese geknechteten und finanziell ausgebluteten Länder wurden angehalten, sich auf eine sog. „win-winSituation“ einzulassen, d. h. auf einen Freihandel mit den Kolonialherren. Indien bspw. musste dafür teuer bezahlen: Das heimische Textilhandwerk wurde durch englische Manufakturen zu Tode konkurriert und das vorindustrielle Land wurde „angespornt“, sich auf seine „Wettbewerbsvorteile“ zu spezialisieren, z. B. Opium für den Tausch gegen Tee aus China zu produzieren, was beiden Völkern zum höchsten Nachteil gereichte und England Profite bescherte. Die durchschnittliche Einkommenskluft zwischen Indien und England, die 1820 noch eins zu zwei betragen hatte, lag Ende des 19. Jahrhunderts bereits bei eins zu vier. Damit lässt sich nachvollziehen, warum diese Länder, nachdem sie nach 1945 eine reale Unabhängigkeit erlangt DOSSIER: IMPERIALISMUS hatten, oft flugs ihre Grenzen abschotteten und ihren eigenen Industrialisierungsprozess in die Wege leiteten. Dies war allerdings ein weitgehender Fehlschlag. Fast alle Regierungen dieser Länder kehrten in der Zeit zwischen dem Tod Mao Zedongs und dem Fall der Berliner Mauer an die Tafel des Weltmarkts zurück, da der eigenständige Industrialisierungsprozess stagnierte und zugleich die kapitalistischen Weltmächte (Europa, USA, Japan), aber auch die „asiatischen Tiger“, ein über 20 Jahre langes starkes Wirtschaftswachstum erlebten. Sehr schnell konnte sich das globale Kapital darauf hin riesige Portionen der Weltkugel wieder einverleiben, wo doch die Kapitalisten nach immer neuen Anlagemöglichkeiten außerhalb ihrer Heimatstaaten Ausschau hielten und ihre Geschäfte zunehmend international ausrichteten, weil in der „Heimat“ der Schwung der Wirtschaftswunderjahre erlahmt war. Zweifellos handelten die Regierungen der „Entwicklungsländer“ aus äußerster Not heraus, zugleich jedoch oftmals aus dem Bestreben, für sie selbst einträgliche Geschäfte mit den multinationalen Konzernen (TNK) auf dem Rücken der eigenen Bevölkerung zu knüpfen. Aber das Kapital und die Regierungen der reichen Länder hatten auch für manche von ihnen anderes anzubieten als die bloße Spezialisierung auf Bananen und Bambusholzmöbel oder die unumwundene finanzielle Ausplünderung. Die Produktion wird weltweit organisiert Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre betrieben die Regierungen mancher Länder (Reagan, Thatcher …) eine regelrechte politische Offensive, die als Neoliberalismus bekannt wurde und einherging mit einem breiten Spektrum wirtschaftsstrategischer Maßnahmen seitens verschiedenster kapitalistischer Akteure. Binnen zweier Jahrzehnte fand ein radikaler Wandel auf der Welt statt: Die weltweite Durchdringung des Finanzkapitals ermöglichte eine nahezu allgegenwärtige Kapitalzirkulation und setzte de facto auf der gesamten Erde die Lohnabhängigen, die Nationalstaaten und die Sozialsysteme in Konkurrenz zueinander. Hand in Hand mit dem wieder ungehindert zirkulierenden Finanzkapital nahmen die TNK massive Investitionen in den Ländern vor, die ihnen als potentielle Absatzmärkte attraktiv genug erschienen und zugleich arm genug, um billige Arbeitskräfte zu liefern (China, Mexiko etc.). Die Produktionsabläufe wurden zergliedert und passend über den ganzen Erdball verteilt, um jeweils die größtmöglichen Vorteile aus den einzelnen Ländern abzuschöpfen: Niedriglöhne in China, Zwischenprodukte in Taiwan, Forschung in den USA etc. Diese neue weltweite Arbeitsteilung wurde erst möglich, weil die reichen Länder ihre Grenzen geöffnet, ihre Großkonzerne zur Auslagerung ihrer Produktionskapazitäten animiert und das heimische Kapital in etlichen armen Ländern dazu bewegt haben, Exportgüter zu produzieren. In der Folge kam es zu einer massiven Verlagerung der weltweiten Industrieproduktion weg von den OECDStaaten und hin zu den großen Schwellenländern mit China an der Spitze. Über Jahrzehnte hinweg verzeichneten die Schwellenländer höhere Wachstumsraten als die Industrieländer. Dadurch ist – nach IWF-Angaben – der Anteil der BRIC-Staaten am weltweiten BIP (in Dollar gemessen) zwischen 1992 und 2013 von 5 % auf 21 % gestiegen, während er in den USA von 27 % auf 23 % und in der EU von 33 % auf 23 % zurückgegangen ist. Cui bono [zu wessen Nutzen]? In China haben die aus der bürokratischen Nomenklatura hervorgegangene Bourgeoisie und auch Andere reichlich davon profitiert. Ob in Rio oder Shanghai – wir sind weit entfernt von der Kompradorenbourgeoisie der Kolonialzeiten, diesen Mittelsmännern der Ausbeutung ihrer Landsleute durch die westlichen oder japanischen Kapitalisten, die ihnen dafür eine beiläufige Provision zukommen ließen. Aber darüber hinaus erhofften sich Hunderte von Millionen Menschen eine neue Zukunft aus dieser einmalig drangvollen Industrialisierungswelle. In etlichen dieser Schwellenländer ist die Armut erheblich zurückgegangen. Auf der anderen Seite kamen natürlich all die schrecklichen Seiten des Kapitalismus: die verschärfte Ausbeutung der Lohnabhängigen, die bestürzende Ungleichheit und die Zerstörung der Umwelt, da der Westen und Japan mit ihren Fabriken auch großteils ihre Schornsteine ausgelagert haben. Chinamerika Wir leben also nicht mehr in der Epoche des Imperialismus, wie sie von Lenin oder Luxemburg beschrieben worden war. Die Industrieländer sind nicht mehr unbedingt Waren- und noch nicht einmal Kapitalexporteure, sondern oft Nettoimporteure. Das erstaunlichste Beispiel liefert „Chinamerika“, also das Zentrum der Weltwirtschaft: Die in China gefertigten Konsumgüter, die den US-Markt überschwemmen, steigern dort das Handelsdefizit, das zu einem guten Teil von der chinesischen Zentralbank finanziert wird, indem sie US-amerikanische Staatsanleihen kauft. Inprekorr 3/2016 21 DOSSIER: IMPERIALISMUS Die nebenstehende Grafik illustriert die verblüffenden Seiten dieses ungleichen Paares. Wenn man sich den Imperialismus bisher so vorgestellt hat, dass die Agrarländer notwendigerweise durch die kapitalistischen Industriemetropolen geplündert werden, indem erst Waren und nachfolgend Kapital aus dem „Norden“ in den „Süden“ exportiert werden (für Lenin das zentrale Kriterium des modernen Imperialismus), dann würde man jetzt gar nichts mehr verstehen … Die multinationalen Konzerne regieren … …es sei denn, man bedenkt, dass die multinationalen Konzerne der Industrieländer es sind, die diese neue Globalisierungswelle losgetreten haben. Sie haben die Produktion auf internationaler Ebene organisiert, um ihre Profite zu mehren, hier billigere Arbeitskräfte zu finden, dort weniger Steuern zu bezahlen und woanders von besser qualifiziertem Personal und den modernsten Technologien zu profitieren. In diesem Zusammenhang wirft es ein Schlaglicht, wenn man die internationalen Handelsgewinne in den Kategorien der Wertschöpfung berechnet. Die USA, die all ihre iPhones aus China importieren, wiesen 2009 gegenüber China ein Handelsdefizit von 1,9 Mrd. Dollar auf, [aufgrund der komparativen Produktionskostenvorteile] liegt das Wertschöpfungssaldo jedoch bloß bei 79 Millionen, (während es gegenüber Japan 680 Millionen und gegenüber Deutschland 300 Millionen sind). Die Profite schließlich flossen ganz überwiegend in die Taschen der US-Aktionäre. Von dem Paar Nike-Turnschuhe, das in den USA für 75 Dollar verkauft wird, fließen durchschnittlich nur drei Dollar an die indonesischen ArbeiterInnen, die sie herstellen. Zudem liefert diese Globalisierung einen trefflichen Hebel, um die Staaten und die Sozialsysteme in den reichen wie in den armen Ländern unter Druck zu setzen, indem man sie gegeneinander ausspielt. Mehr denn je leben wir in der Ära der großen Oligopole, selbst wenn sie sich immer wieder aufs Neue einen Konkurrenzkampf liefern. Alle TNK [transnationale Konzerne] versuchen eine dominierende Position zu erlangen, um zu verhindern, dass neue Konkurrenten erwachsen: durch größenbedingte Kostenvorteile, Spezialisierung im Produktionsablauf oder die Erzielung von Extraprofiten durch technologischen Vorsprung, Patente oder das Monopol auf Markenzeichen. Sie symbolisieren das Prinzip des Monopolismus „the winner takes it all“, wie es im Poker heißt, egal ob sie Google, Nike oder Barbie heißen: Die synthetischen 22 Inprekorr 3/2016 LEISTUNGSBILANZ IN MRD. US-DOLLAR NACH ANGABEN DER WELTBANK Schwellenländer Industrieländer China USA Haare stammen aus Japan, das Plastik von den Philippinen und montiert wird in Indonesien. Nur das Markenzeichen der Plastikblondine stammt aus den USA. …und die Staaten liefern die Politik dazu. Die Industrienationen, die ihrerseits ebenfalls unter Druck gestanden waren, haben sich nachdrücklich dafür eingesetzt, die Grenzen für den Waren- und Kapitalverkehr zu öffnen. Ohne sie wäre das nicht passiert. Kein Wunder, denn gilt den Marxisten nicht die Allianz der politischen „Eliten“ mit den Industrie- und Finanzkonzernen als eines der Wesensmerkmale des Imperialismus seit Beginn des 20. Jahrhunderts? Unser Blick muss jedoch darüber hinaus gehen: Die westlichen und japanischen Regierungen stehen nicht allein den TNK zu Diensten, sondern sind ganz generell der Dynamik des Gesamtkapitalismus in ihrem Land und allen Vermögenden und Unternehmern gegenüber verpflichtet – selbst denen, die bloß einen Friseursalon oder eine Autowerkstatt betreiben. Die massenhafte Einfuhr billigerer Waren, die in den Regalen von Wal-Mart landen, ermöglicht es, die Löhne in den USA gering zu halten und somit die Arbeitskosten zu senken und die Ausbeutungsrate auf eigenem Boden zu erhöhen. Zugleich mehrt der Staat [seine Ausgaben und] sein Defizit und heizt somit den Binnenkonsum und die Konjunktur an. Die USA sind insofern das beste Beispiel für das, was in den Industrienationen passiert ist. Auch wenn wir nicht in der Epoche des Imperialismus leben wie zu Zeiten Lenins, da der Imperialismus die Formen und mitunter auch die Richtung der Waren- und Kapitalströme geändert hat, sind wir doch weit von einer DOSSIER: IMPERIALISMUS hierarchisch flachen Welt entfernt, in der es keine herrschenden und beherrschten Nationen mehr gibt, wo die Bevölkerung der armen Länder nicht mehr durch das Kapital der reichen Länder ausgebeutet wird und wo die Großkonzerne nicht mehr die Weltwirtschaft dominieren. Genauso müssen wir uns von bestimmten Formen der Dritte-Welt-Ideologie verabschieden, die ihre Hochzeit hatte, als es noch eine „Dritte Welt“ gab: ein Ensemble von Ländern, in denen die Mehrheit der Weltbevölkerung lebte und die weder dem industrialisierten Ostblock noch dem kapitalistischen Westen angehörten. Diese Ideologie hatte immerhin das Verdienst, in Anlehnung an die verschiedenen marxistischen Strömungen nach 1945 die Ausbeutung und Unterdrückung der armen Völker durch das Kapital der reichen Länder zu kritisieren. Bestandteil dieser Ideologie war in den 60er und 70er Jahren jedoch nicht nur die Solidaritätsarbeit, sondern auch die Auffassung, dass sich die damals armen Länder niemals in einem kapitalistischen Rahmen entwickeln könnten und dass nur die sozialistische Revolution sie aus ihrer äußersten Armut rausholen und die Weltordnung stürzen könnte. Diese Prognosen haben sich inzwischen mit der (wenn auch keineswegs linear verlaufenden) Entstehung der großen „Schwellenländer“, die noch einmal das Schreckensszenario des Manchester-Kapitalismus durchlaufen, und dem Aufschwung des kapitalistischen Chinas zur politischen und wirtschaftlichen „Großmacht zweiter Ordnung“ relativiert. Ähnliches gilt für die Theorie, dass die Lohnabhängigen im Norden von der Ausbeutung des Proletariats im Süden so profitieren, dass sie als Klasse definitiv nicht mehr zum erhofften „revolutionären Subjekt“ taugen würden. Denn auch wenn sie sich dank der Unterdrückung der Entwicklungsländer billig mit Kakao und Textilien versorgen können, führen die Mechanismen der gegenwärtigen Globalisierung trotz allem dazu, dass auch unter ihnen die Löhne gesenkt und die Ausbeutung verschärft werden. Auf der anderen Seite erleben wir die Solidarität unter der Bourgeoisie (fast) aller Länder. Deren Einvernehmen ist sicher brüchig, aber friedlicher als in den Kolonialzeiten. Sie konkurrieren gegeneinander und es gibt Konfrontationen, aber sie bekriegen sich nicht mehr um die Rohstoffe und Absatzmärkte. Und alle Reichen und Superreichen, auch – und mitunter gar besonders – in den wirtschaftlich peripheren Ländern, essen alle mehr oder minder vom gemeinsamen Topf der globalen Finanzwirtschaft. Instabilität und Gewalt Die relativ friedliche Koexistenz der kapitalistischen Mächte sorgt allerdings nicht für stabile Verhältnisse auf der Welt. Denn das freie Spiel des Kapitalismus stürzt ganze Regionen ins Elend, gebiert eine gigantische Umweltkrise und schafft keineswegs harmonische Wirtschafts- und Lebensverhältnisse. Es vertieft sogar die Gegensätze: Mag das Durchschnittseinkommen vieler Asiaten etwas näher an westliche Verhältnisse herangerückt sein, so leben doch Milliarden Menschen dort mittlerweile in Slums, sind die ärmsten Länder noch ärmer geworden und schießt überall die Ungleichheit in die Höhe. Der Kapitalismus entfaltet so noch immer seine Zentrifugalkraft. Dies trifft umso mehr zu, als der Globalisierungsprozess sehr ambivalent ist. Darin vermischen sich ganz neue Phänomene, wie die Standortverlagerung der weltweiten Industrie, mit ganz alten, wie der imperialistischen Ausplünderung, die keineswegs verschwunden ist. Die Schuldenfalle stranguliert weiterhin ganze Nationen. Viele Staaten und ihre kriminellen Führungsschichten haben die Strukturanpassungspläne des IWF hingenommen, die Staatsunternehmen verschleudert und die Rohstoffe des Landes an ausländische Konzerne verhökert. Durch derlei räuberische Maßnahmen sind Dutzende Länder ruiniert worden, was sich in dem Begriff des „verlorenen Jahrzehnts“ für die 80er Jahre in Lateinamerika widerspiegelt und momentan vorwiegend Afrika mit immer mehr „gescheiterten Staaten“ und Bürgerkriegen betrifft – neuerdings aber auch die Peripherie von Europa. Durch den Freihandel sind Hunderte von Millionen Bauern in den ärmsten Ländern der Welt ins Elend gestürzt worden. Die angeblichen „Chancen“, die der Weltmarkt bieten sollte, haben sich immer wieder als Tragödie herausgestellt. Durch die explodierenden Agrarpreise auf dem Weltmarkt konnte 2008 die Bevölkerung der afrikanischen Großstädte nicht mehr ihren Reis aus Thailand oder den USA kaufen, während die einheimischen Produzenten traditioneller, heimischer Getreidesorten in diesen Städten schon längst durch billigere Importwaren aus den Ländern mit höherer Produktivität und/oder mehr Subventionen vom Markt verdrängt worden waren. Verschärfte Konkurrenz, monströse Ungleichheit, Inprekorr 3/2016 23 DOSSIER: IMPERIALISMUS geopolitisches „Niemandsland“, immer weitere Krisen … Wie lässt sich dieses weltweite Chaos regieren? Empire? Nationalstaaten! Die Nationalstaaten spielen eine größere Rolle als je zuvor. Sie sind die bewaffneten Interessensvertreter ihrer Kapitalisten und für die Reichsten und Mächtigsten die Garanten eines für den Kapitalismus unerlässlichen intakten Finanzsystems. Dies hat erst die Krise von 2008 wieder gezeigt und dasselbe gilt auch für die Schwellenländer. Es sind nicht die schwachen und dem Neoliberalismus auf Gedeih und Verderb ausgelieferten Staaten, die sich am besten in die neue kapitalistische Weltordnung integrieren konnten. Sondern es ist bspw. der chinesische Staat, Erbe der maoistischen Revolution – vereinigt, nationalistisch und gerüstet. Er war in der Lage, über Marktöffnung, Ansiedlung von Produktionskapazitäten und Technologietransfer zu verhandeln, indem er seine Partner und die Investoren gegeneinander ausgespielt hat. Von dem „Empire“, das Hardt und Negri prophezeit haben – eine hierarchisch „flache Erde“, die der Schrankenlosigkeit eines transnationalen und vom Staat unabhängigen Kapitals ausgeliefert ist, welches allein und ohne politische Vermittlung der „Multitude“ gegenüber tritt, sind wir weit entfernt Der Imperialismus von heute bedeutet vielmehr, dass die Welt zwar von den Geschäften der TNK und des Finanzkapitals dominiert, jedoch durch ein System von Staaten, die miteinander konkurrieren und kooperieren, strukturiert wird. Es gibt gewissermaßen einen „kollektiven Imperialismus“, der sich schlecht und recht verständigt und dafür einsteht, dass Handel, Investitionen und Rohstoff- und Energieversorgung sicher ablaufen, und sei es gelegentlich mit brutalster Gewalt. Dieses System ist strikt hierarchisch: An der Spitze stehen die reichsten und – nicht nur für ihre eigene Bourgeoisie, sondern für alle Reichen der Welt – verlässlichsten kapitalistischen Staaten. Und ganz oben der US-amerikanische Staat. Seine Hegemonie misst sich nicht in Weltmarktanteilen. Er ist der Schlussstein des ganzen Systems: Seine Macht garantiert, dass die Kapitalund Materialflüsse frei vonstatten gehen, und sein „starker und liquider“ Finanzmarkt bildet die Zuflucht für all das beunruhigte Kapital und über seine Währung laufen alle Zahlungen. Natürlich lässt sich der US-Imperialismus seinen Aufwand bezahlen, indem er sich durch seine Währungs- und Finanzpolitik sein Monopol zum Gelddrucken entgelten lässt und indem er seine Militär24 Inprekorr 3/2016 macht für „egoistische“ Interessen missbraucht. Aber weder Japan noch Europa – das so gar nicht existiert – wollen es ihm streitig machen. Und Moskau und Peking können es nur im Ansatz. Dabei schrecken sie natürlich alle nicht davor zurück, für ihre Politik auch ihr grausamstes Waffenarsenal einzusetzen. Das Kapital zählt auf den Staat, misstraut ihm aber zugleich. Denn die Demokratie kann für das Finanzkapital und die TNK gefährlich sein. Genauso die Diktatur: Unkontrollierte Cliquen könnten auf den Gedanken kommen, nur zu ihrem eigenen Vorteil oder „populistisch“ zu handeln. Gute Verfassungen sind so beschaffen, dass sie die Demokratie nur Scheingebilde sein lassen und das Volk im Zaum halten. Starker Staat? Bitte sehr! Aber der Rubel muss weiter rollen! Dasselbe gilt für die internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Die Kapitalisten mögen keinerlei Reglementierung durch sozial-, umwelt- gesundheitspolitische oder sonstige Auflagen, die bloß ihre Freiheit beschränken, zu produzieren, zu investieren und auszubeuten. Vom Staat jedoch fordern sie, dass er ihre Investitionen im Ausland absichert, offene Grenzen und das Recht auf Gewinnrückführung garantiert, die Steuern niedrig hält und das Patentrecht durchsetzt. Daher bestehen die TNK auch so hartnäckig auf internationale Gerichtsbarkeit und Rechtssicherheit, wie sie in internationalen Organisationen wie bspw. der WTO oder beim Aushandeln von Freihandelsverträgen wie dem TTIP zum Ausdruck kommen. Dieses zielt darauf ab, die Normen auf beiden Seiten des Atlantiks nach unten zu nivellieren und die Staaten internationalen Schiedsgerichten zu unterwerfen, die von den Konzernen angerufen werden können. Wohin dies führen kann, haben die Pharmakonzerne Ende der 90er Jahre demonstriert, als sie im Rahmen der WTO gegen die Herstellung pharmazeutischer Generika durch die Entwicklungsländer kämpften, um somit die gängige Methode der trivalenten Therapie für die zig Millionen AIDS-Kranken in diesen Ländern zu unterbinden. Dies zeigt, dass selbst unter dem Siegel der Rechtsstaatlichkeit die imperialistische Barbarei unsere Welt zerstört. aus l‘Anticapitaliste - la revue mensuelle, Nr. 73, Februar 2016 Übersetzung: MiWe DOSSIER: IMPERIALISMUS ZURÜCK ZU ALTER STÄRKE? Die USA sind eindeutig weiterhin die stärkste Großmacht der Welt und kein anderer Staat kann ihnen diese Position streitig machen. Aber trotzdem befindet sich die Vormachtstellung des US-Kapitals in der Krise, sowohl inner- als auch außerhalb der Grenzen … Yvan Lemaitre „Die Vereinigten Staaten von Amerika sind die mächtigste Nation der Welt. Punkt!“, erklärte Obama in seiner letzten Rede zur Lage der Nation vor dem Kongress, um dann fortzufahren: „Wenn es zu einer wichtigen internationalen Krise kommt, dann wendet sich niemand an Peking oder Moskau, sondern an uns. […] Wer glaubt, dass die USA oder ich selbst sich nicht verpflichtet fühlen, Gerechtigkeit zu üben, der soll Osama Bin Laden fragen. Wenn Amerika angegriffen wird, dann antworten wir. Manchmal dauert dies etwas, aber wir haben einen langen Atem und unsere Arme reichen weit.“ Während die erste Aussage unbestritten wahr ist, kommt der Umstand, dass sich Obama verpflichtet fühlt, indirekt auf Donald Trump zu antworten, der wiederum Amerikas Niedergang anprangert, einem Eingeständnis von Schwäche gleich, erst recht, wenn er dann anschließend den Krieg erklärt. Dies unterstreicht eher, dass Obama darin gescheitert ist, die Ära Bush politisch beenden zu wollen, und zeugt vielmehr vom Gegenteil. Darin zeigt sich, wie sich entlang der Transformation des Kapitalismus als solcher die Rolle und Position der USA innerhalb der kapitalistischen Welt geändert haben. Die Epoche des Imperialismus, wie ihn Lenin vor 100 Jahren definiert hat, ist nach zwei Weltkriegen und den Kolonialkriegen in ein neues Stadium eingetreten. Was dies für Auswirkungen in Bezug auf die Klassenkämpfe hat und welche neuen Chancen und Perspektiven sich daraus ergeben, diese Frage muss ergründet werden. Dies ist ein weites Aufgabenfeld, aber unerlässlich, um nicht einfach alte Formeln nachzubeten, die den heutigen Realitäten nicht mehr gerecht werden. Dazu gehört auch die Einschätzung, welche Position und Rolle die USA im globalisierten Kapitalismus einnehmen. Das manichäische Weltbild aus den Zeiten des Kalten Krieges und der antiimperialistischen Kämpfe und das Lagerdenken, das darin besteht, sich kritiklos auf die Seite der Gegner der Yankee-Imperialisten zu schlagen und dabei den Maßstab des Klassenkampfes außer Acht zu lassen, verleiten heutzutage zu noch karikaturistischeren Positionen. Wir müssen die neue Weltordnung in all ihrer Komplexität begreifen, ohne dabei unser Orientierung auf die Arbeiterklasse, ihre politische Unabhängigkeit und ihre Kämpfe aus den Augen zu lassen. Wir müssen darlegen, wo sich neue Widersprüche aufgetan haben, die zu einer Schwächung der USA auf internationaler Ebene und im Herzen dieser Hochburg des Kapitalismus führen, ohne dass freilich der Status als Weltmacht Nr. 1 infrage gestellt wäre. Vom siegreichen US-Imperialismus … Im Laufe der ersten Globalisierungswelle Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts, als die USA eine junge, aufstrebende Nation waren, ist aus dem Kapitalismus der freien Konkurrenz der Imperialismus entstanden. Damals galt die Monroe-Doktrin der „splendid isolation“, was jedoch keineswegs ausschloss, durch eine aggressive Außenpolitik dem US-Kapital Märkte zu erschließen, da der Binnenmarkt allein – so riesig und in vollem Wachstum er auch war – ihm nicht ausreichte. Dieser Expansionismus wurde als göttlicher Auftrag gerechtfertigt. „Gottes Hand hat uns diesen Weg gewiesen“, verkündete Woodrow Wilson, ein glühender Verfechter dieser Ideologie, in der Religion, Kapitalismus, Demokratie, Frieden, Freiheit und die Macht der USA eins sind. Bis hin zu Bush und noch heute Obama blieb diese Ideologie das Maß aller Dinge in den Reden der US-Politiker. Schluss mit ihrer Isolationspolitik machten die USA 1917, inmitten des Ersten Weltkriegs, bei dem es um die Aufteilung der Welt ging und die Völker Europas gegeneinander gehetzt wurden. Damals vollzogen sie den ersten Schritt zum Aufstieg als weltweite kapitalistische Führungsmacht. Dabei stießen sie jedoch […] einerseits auf die Welle der revolutionären Erhebungen und andererseits auf die alten Kolonialmächte, die die Welt mit Grenzen zerrissen und unter Protektion gestellt hatten. Der rasante Aufstieg der USA endete mit der Weltwirtschaftskrise von 1929. Die Welle der revolutionären Erhebungen, die von der faschistischen und stalinistischen Reaktion besiegt und gebrochen worden ist, konnte nicht verhindern, dass ein Inprekorr 3/2016 25 DOSSIER: IMPERIALISMUS zweites Mal um die Aufteilung der Welt ein barbarischer Krieg geführt wurde – der Zweite Weltkrieg, der dazu führte, dass die USA zur alleinigen Macht aufstiegen, die die kapitalistische Weltordnung aufrecht erhalten konnte. Als neue Hegemonialmacht schufen sie die Instrumente, um auf Erden ihren messianischen Anspruch zu verwirklichen: die Verträge von Bretton Woods, den IWF, die UNO, die NATO etc. Aber noch war der Moment für den weltweiten Triumph der Marktwirtschaft nicht gekommen. Dem standen die Sowjetunion und die Aufstände der Kolonialvölker entgegen, besonders in Vietnam. Damals herrschte der Kalte Krieg und die Botschaft von Frieden und Demokratie auf dem Boden der Marktwirtschaft hatte die hässliche Fratze von Napalmbomben. Der Sieg des vietnamesischen Volkes 1975 beendete diesen Zeitabschnitt, auch wenn es noch 40 Jahre dauerte, bis die USA wieder diplomatische Beziehungen mit Kuba aufgenommen haben. Ende der 70er Jahre begann die neoliberale Offensive unter der Ägide der USA und ihres Adepten Großbritannien und somit die zweite Globalisierungswelle, die dem Fall der Profitrate begegnen sollte und in deren Verlauf sich der Kapitalismus als weltweite Produktionsweise bis in den letzten Winkel der Erde durchsetzte. Am Ende dieser auf die Wirtschaftswunderjahre folgenden neoliberalen Offensive standen das Aus der Sowjetunion und der Zerfall der dahinterstehenden Bürokratie. Diese hatte wohl die nationalen Befreiungskämpfe unterstützt, aber zugleich – im Namen der Friedlichen Koexistenz – zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Weltordnung beigetragen. …zum imperialistischen Neoliberalismus Nach dem Ende der Kolonialreiche und der ComeconStaaten kamen die imperialistischen Mächte im Rahmen der weltweit freien Konkurrenz zur freien Entfaltung. Dem weiteren Aufstieg der USA stand nichts mehr im Wege und die neoliberale und imperialistische Euphorie trug sie unter den Regierungen von Bush sen. und jun. immer weiter bis zur weltweiten Durchsetzung des Kapitalismus. Die USA beherrschten nunmehr die Welt, aber der Mythos vom „Ende der Geschichte“ hielt den Realitäten nicht lange stand. Der erste Irak-Krieg eröffnete eine lange Periode, in der den Völkern die neoliberale Globalisierung mit Nachdruck aufgezwungen wurde und wo die „Strategie des gelenkten Chaos“ zu einer neuen instabilen Weltordnung führte und zu immer neuen Kriegen – in Afghanistan, Libyen, Syrien etc. 26 Inprekorr 3/2016 Schließlich zerbrach der Mythos, dass dank des freien Kapital- und Warenverkehrs Demokratie und Frieden Einzug halten würden. Diese Freizügigkeit, die Verallgemeinerung der Ausbeutungsverhältnisse und die Durchdringung des gesamten Soziallebens durch das Kapital haben sowohl die sozialen Beziehungen als auch die Beziehungen zwischen den Staaten zersetzt. Seit der Finanzkrise von 2008 versuchen die Auguren der neoliberalen Globalisierung wohl die internationalen Verhältnisse neu zu ordnen, aber die globalisierte Wirtschaft entzieht sich jeder Regulierung, da es keine Macht gibt, die über die dazu notwendigen Mittel verfügt. Stattdessen wächst die Diskrepanz zwischen der durch die globalisierte Konkurrenz bedingten Instabilität und der Erfordernis, den Kapitalismus gemeinsam in geordnete Verhältnisse zu lenken, um somit das Funktionieren von Produktion und Handel zu gewährleisten. In den vergangenen 30 Jahren haben sich die Kräfteverhältnisse umgewälzt: Nach wie vor sind die USA auf allen Gebieten die unangefochtene Supermacht, aber sie sind gezwungen, sich zu arrangieren und Verbündete zu finden. Der Widerspruch zwischen Nationalstaat und der Internationalisierung von Produktion und Handel war noch nie so groß, wobei keine der Großmächte gegenwärtig in der Lage ist, die internationalen Verhältnisse zu regulieren. Stattdessen nimmt die Instabilität aus diesen beiden Gründen zu. Die internationale Arbeitsteilung wird neu aufgestellt, indem die ehemaligen Kolonial- oder abhängigen Länder und besonders die Schwellenländer eine wirtschaftliche Weiterentwicklung im Rahmen der Globalisierung der Produktion durchlaufen, die nicht bloß eine Internationalisierung oder „eine integrierte Weltwirtschaft“ – wie M. Husson es nennt – darstellt. Statt der althergebrachten Teilung der Welt regiert nun der Kampf um die Kontrolle der Handelskreisläufe, der Produktionsstätten, der Energieversorgung etc. Kapitalistische Funktionsweise und territoriale Kontrolle ordnen sich in neuen Formen, um einen Begriff von David Harvey aufzugreifen. Die daraus folgende zunehmende Instabilität der Welt führt zu immer mehr Militarisierung und Spannungen, so dass die USA ihre militärische Präsenz ausbauen müssen und dabei eine Allianz mit den anderen Großmächten Europa und Japan sowie mit den Schwellenländern anstreben, um so die Weltordnung aufrecht zu erhalten. Ein Beispiel dafür ist die Wiederaufwertung der NATO. Durch diese Politik nehmen die Ungleichgewichtigkeiten DOSSIER: IMPERIALISMUS zu, zerfallen ganze Staaten und wächst der religiöse Fundamentalismus, der in seiner terroristischen Form für permanentes Chaos sorgt. Supermacht und Führung Die Zeitschrift Alternatives économiques schreibt im Editorial ihrer Spezial-Ausgabe (N°107) zum Thema „Wie sieht die Welt von 2016 aus?“ mit dem Titel „Eine Welt ohne Plan“: „Es herrscht heute eine tiefgreifende Unordnung im internationalen System. Durch die unipolaren Verhältnisse zwischen 1990 und 2000, als die USA die internationale Szene beherrschten, sind unverzeihliche Fehler gemacht worden, wie bspw. die Anmaßung, den Nahen Osten neu gestalten zu wollen, was diese Region völlig aus dem Gleichgewicht geworfen hat. Jetzt, wo diese unipolare Dominanz einer „Apolarität“ gewichen ist, sind die Gefahren nicht kleiner geworden, weil dadurch eine destabilisierende Anarchie unterhalten wird, wo überall auf der Welt interveniert wird, ohne dass eine übergeordnete Strategie besteht, wie man in Syrien oder im Jemen sieht. Es ist höchste Zeit, dynamische, multipolare Verhältnisse – auch unter Einschluss der Schwellenländer – zu schaffen, um so wieder Ausgewogenheit zwischen den Ländern herzustellen. Sicherlich ein großes Vorhaben … das wohl nicht so schnell umgesetzt werden wird.“ Dieses „große Vorhaben“ ist v. a. eine reine Kopfgeburt. Die Grenzen, die durch die erweiterte und auf exponentiell wachsenden Kreditvergaben und Verschuldung beruhende Akkumulation des Finanzkapitals erreicht sind, führen dazu, dass sich eine „Akkumulation durch Enteignung“ (Harvey1) entwickelt. Da der Kapitalismus außerstande ist, durch wirtschaftliche Weiterentwicklung die Mehrwertmenge zur Zufriedenheit des Kapitals zu steigern, sucht er seinen Ausweg aus diesen Problemen bei der Kapitalakkumulation in einer kombinierten Offensive gegen die Lohnabhängigen und gegen die Völker, um beiden eine Umverteilung der Reichtümer aufzuerlegen, die immer mehr zu deren Lasten geht. Dies führt zu einem erbitterten Kampf um die Kontrolle der Territorien, der Energiequellen, der Rohstoffe und der Handelswege etc. Der globalisierte freie Wettbewerb führt zum Kampf über die Kontrolle der Reichtümer und damit zu einer Neuaufteilung der Welt, allerdings unter komplett anderen Kräfteverhältnissen als Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts. Die US-Vorherrschaft wird durch ihre Fähigkeit bedingt, die Weltordnung, also die „Regierbarkeit der Welt“ zu garantieren. Dies setzt voraus, dass sie als Super- macht ihrem Anspruch gerecht werden kann, im Allgemeininteresse zu handeln, da wirtschaftliche und militärische Dominanz allein nicht ausreichen, um einen Konsens herzustellen. Die Entstehung neuer Großmächte oder Regionalmächte mit imperialistischem Anspruch lässt die Führerschaft der USA zunehmend brüchig und die internationale Lage immer chaotischer werden. Wohin können diese Spannungen und Ungleichgewichtigkeiten führen? Langfristig lässt sich keine Hypothese hierüber ausschließen, und wenn die herrschenden Klassen den Lauf der Dinge nicht umkehren können, auch die allerschlimmste nicht, nämlich dass es zu einer weltweiten Eskalation der lokalen Konflikte kommt, bis hin zu einem Weltenbrand oder einem neuen Weltkrieg, der die ganze Erde involviert. Der amerikanische Traum ist vorbei Im Gefolge dieser Veränderung der internationalen Kräfteverhältnisse ändern sich auch die Verhältnisse zwischen den Klassen. Durch die weltweite Proletarisierung der Massen können die herrschenden Kapitalisten – bes. in den USA – in die Offensive gehen, um die Profitrate zugunsten einer immer größeren Kapitalmenge aufrechtzuerhalten. Zwar war die US-Bourgeoisie – ohne freilich das Rassenproblem mit den Schwarzen in den USA lösen zu können – imstande, den Zusammenhalt des Imperiums mehr oder weniger zu gewährleisten, nämlich dank der Extraprofite infolge ihrer Dominanz und besonders der Funktion des Dollars, aber inzwischen beginnt die Hochburg des Kapitalismus zu bröckeln. Seit Ende des 19. Jahrhunderts war die Ungleichheit in den USA nie so groß wie heute. Für weite Teile der Bevölkerung ist der „amerikanische Traum“ ein unerreichbarer Mythos geworden. 51 % der US-Lohnabhängigen verdienen weniger als 30 000 Dollar im Jahr. Drei Viertel der Bevölkerung nehmen soziale Beihilfe in Anspruch und 47 Millionen Menschen leben in Armut. Die 0,1 % Reichsten besitzen genauso viel wie die 90 % am anderen Ende der Vermögensskala zusammen. Sowohl diese zunehmende Verschlechterung der sozialen Lage im Innern als auch die genannten Probleme des Landes auf internationaler Ebene sind bedingt durch die zweifache Offensive der US-Bourgeoisie, die sich um der Profite und der Vormachtstellung willen gegen die Lohnabhängigen und die Völker richtet. Aus dieser Konstellation bezieht ein reaktionärer Rassist wie der Milliardär Donald Trump seinen Rückenwind bei den Vorwahlen. Kunterbunt zieht er über Inprekorr 3/2016 27 DOSSIER: IMPERIALISMUS die höheren Beamten, die Hedgefonds-Manager und anderen superreichen Spekulanten her und macht das System für den Abstieg der Nation verantwortlich. Dabei schürt er den Hass und die Vorurteile unter weiten Teilen des Kleinbürgertums und der weißen Durchschnittsbevölkerung angesichts des ausgeträumten „amerikanischen Traums“ und des Endes des „american way of life“, was in Wirklichkeit deren Angst vor den eigenen Problemen, dem Verfall ihres Lebensstandards und ihrer ungewissen Zukunft widerspiegelt. Er zieht über die parasitären Exzesse des Finanzkapitalismus her, um dem Volk besser Sündenböcke, namentlich die ImmigrantInnen, zum Fraß vorwerfen zu können und beschwört dabei „das Amerika der Gewinner“. Er beruft sich auf das Scheitern Obamas, dessen Rhetorik nicht den Realitäten der kapitalistischen Entwicklung und ihrer Krise, die die Supermacht mit voller Wucht erwischt, hat standhalten können. Dieses Scheitern öffnet die Tür für die reaktionäre Offensive von Trump, die auf ein reales Echo trifft. Bei den Vorwahlen zeigt sich, wieweit die reaktionären Kräfte, die rechten Hardliner und die extreme Rechte unter den Republikanern in den USA vorgedrungen sind. Und sie zeigt, in welche Richtung sich die Politik der weltweit größten Supermacht entwickeln wird. Der US-Bourgeoisie fällt es zunehmend schwerer, die eigene Nation zusammen zu schweißen, um ihre Großmachtansprüche und ihr messianisch beseeltes Dominanzstreben im Namen der „Demokratie“ besser durchsetzen zu können. Zwangsläufig wird eine größere Aggressivität nach außen mit mehr Aggressivität im Klassenkampf im eigenen Land einhergehen. Wohin dies führt, lässt sich nicht sagen, aber die Resonanz eines Donald Trump klingt wie eine Warnung. „It can happen here“, schrieb Sinclair Lewis 1935, als er die Gefahr eines faschistischen Amerika herauf beschwor. Noch sind wir weit davon entfernt, aber das Land wird seine weltweite Dominanz nicht aufrecht erhalten können, ohne sowohl die internationalen als auch die zwischen den Klassen herrschenden Spannungen zu verschärfen und ohne auf entsprechende polizeiliche und militärische Mittel zurückzugreifen, die es braucht, um die sozialen und internationalen Verwerfungen infolge der kapitalistischen Logik in Zaum zu halten. Die Legitimationskrise der herrschenden Klassen und Staaten eröffnet eine Periode der Instabilität, die zugleich aber auch den Lohnabhängigen und der Jugend viele 28 Inprekorr 3/2016 Interventionsmöglichkeiten bietet, die einzige Chance, das Schlimmste zu verhindern und der Krise zu entkommen. Übersetzung: MiWe 1 David Harvey Der ‚neue‘ Imperialismus: Akkumulation durch Enteignung, VSA, 2003 DER CHINESISCHE IMPERIALISMUS China hat in den letzten Jahren seine Rolle als imperialistische Macht auf ökonomischer, diplomatischer der militärischer Ebene sowohl in der Region als auch auf dem Globus zunehmend ausgedehnt. Steht nun durch die Gegenoffensive der USA und die Wirtschaftskrise ein Rückschlag bevor? Pierre Rousset Chinas Aufstieg zu einer Weltmacht begann auf einem – in vielerlei Hinsicht – bescheidenen Niveau und durchlief einen dornenreichen Weg, der stets durch Gegenschläge aus Washington und auch Zwistigkeiten und Schwachstellen im eigenen Land bis hin zu einer potenziellen Führungskrise gezeichnet ist. Zwar steht die Position der USA als alleinige Supermacht noch immer außer Frage, trotzdem kann sich Peking vor Ort meist frei entfalten und immerhin hat sich das Land zur zweitstärksten Weltmacht entwickelt. Tabula rasa mit der Vergangenheit Wie in vielen anderen Bereichen auch hat die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) außenpolitisch radikal mit ihrer Vergangenheit gebrochen und hegt weltweite Expansionsgelüste und Großmachtambitionen – ganz im Gegensatz zu der vorwiegend defensiven „Grundhaltung“ der maoistischen Epoche. Nach der Ausrufung der Volksrepublik im Oktober DOSSIER: IMPERIALISMUS 1949 ging es der maoistischen Führung vorrangig um die Konsolidierung ihres neuen Regimes und den Wiederaufbau eines durch den Krieg verwüsteten Landes. Dabei blieb es ihr jedoch nicht erspart, höchst widerwillig in den Koreakrieg eingreifen zu müssen, wobei sie immerhin die US-Armee dabei bis zum 38. Breitengrad zurückdrängen konnte. Washington verfolgte damals die Strategie, die chinesische Revolution „einzudämmen und zurückzudrängen“ und dafür einen „Sicherheitsgürtel“ zu errichten, der noch breiter war als an den Grenzen zu Osteuropa. Das damals entstandene Arsenal besteht noch immer: die US-Basen in Südkorea, Japan (Okinawa), auf den Philippinen (inzwischen als „permanentes Besuchsrecht“ in deren Häfen), die Siebte US-Flotte im westlichen Pazifik und Indischen Ozean etc. Zu dieser Zeit war das Kuomintang-Regime in Taiwan als alleinige Vertretung ganz Chinas mit einem Sitz im UN-Sicherheitsrat vertreten. Die USA lösten damals Frankreich als Kolonialmacht in Vietnam ab, unterstützten Suhartos Staatsstreich und das folgende antikommunistische Blutbad in Indonesien und leiteten die Aufstandsbekämpfung in Malaysia, den Philippinen und Thailand. Peking reagierte darauf, indem es Vietnam im Krieg gegen die französische Besatzung half, die maoistische Guerilla in der Region (Thailand und Malaysia) – eher zurückhaltend – unterstützte und eine breite diplomatische Gegenoffensive startete, um seine Einkreisung zu durchbrechen. Maßgeblich war daran Zhou Enlai beteiligt, eine der prägenden Persönlichkeiten auf der Konferenz von Bandung in Indonesien 1955, aus der die Bewegung der Blockfreien Staaten hervorging. Mit Beginn der 60er Jahre nahm der Konflikt zwischen China und der UdSSR Gestalt an: Beim Grenzkrieg zwischen China und Indien 1963 bezog Moskau Position auf Seiten von Neu Delhi und Chruschtschow handelte mit den USA ein Atomabkommen aus, ohne Peking zu Rate zu ziehen. Die chinesische Führung vollzog daraufhin eine radikale Kehrtwendung in ihrer internationalen politischen Ausrichtung und erkor die UdSSR zum „Hauptfeind“. Im Jahr 1969 kam es sogar zu Grenzgefechten am Fluss Ussuri. In der Folge betrieb die chinesische Führung die Wiederannäherung an Washington. Ab 1971 ersetzte Peking Taiwan im UN-Sicherheitsrat und im Jahr darauf – inmitten der militärischen Eskalation des Indochinakrieges – fand Nixons Staatsbesuch in Peking statt. Damit veränderte sich auch die Haltung gegenüber Vietnam: China „riet“ dem Land, nicht mehr den militärischen Sieg anzustreben sondern einen Kompromiss, ähnlich der Teilung Koreas oder Deutschlands. Später kam es sogar zu der ideologisch unheiligen Allianz zwischen den Roten Khmer in Kambodscha, China und Washington, die 1978–1979 in den chinesisch-vietnamesischen Krieg einmündete und 1979 zur Wiederaufnahme offizieller diplomatischer Beziehungen zwischen China und den USA führte. Dreißig Jahre nach der Machteroberung konnte Deng Xiaoping als regelrechter Wiedergänger die „Reformen“ in die Wege leiten, die zur Wiederherstellung des Kapitalismus in China führten. Zu dieser Zeit wies das Land bereits die Kennzeichen einer internationalen Großmacht auf: Als offizielle Atommacht war das Land ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat mit Vetorecht. Aus der maoistischen Periode hat Peking eine Obsession hinübergerettet, nämlich jedweder Einkreisung vorzubeugen. Dies mag angesichts der Größe des Landes absurd erscheinen, wird aber nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass zu Lande die Grenzen durch eine indisch-russische Allianz dicht gemacht werden könnten und der Zugang zum Ozean durch eine Inselkette begrenzt wird, die in einer US-dominierten Meereszone liegt. Die im Eiltempo vollzogene Integration Chinas in die Weltwirtschaft war und ist nicht ohne Risiken. Die Aufnahmebedingungen in die WTO sind eindeutig zugunsten der multinationalen Konzerne gehalten und die Regierung musste Anfang der 2000er Jahre die wirtschaftliche Entwicklung kontrollieren, um eine innere „Neokolonialisierung“ des Landes zu verhindern. Nach wie vor waren die Beziehungen zu Washington angespannt, wie das Bombardement der chinesischen Botschaft in Belgrad 1999 während der Jugoslawienkrise zeigte. Als neue kapitalistische Großmacht ging es für China darum, sich entweder als imperialistische Macht zu etablieren oder in den Status eines untergeordneten Landes zurückzufallen, was sich auf die Einheit des Landes hätte auswirken können. Diese zweite Obsession, die das chinesische Regime seit 1949 umtreibt, lässt sich darauf zurückführen, dass das Land nach den Opiumkriegen durch (Land- und Zoll-)Konzessionen an die Imperialisten und später durch die Herrschaft der Warlords zerstückelt worden war. Eine neue Militärdoktrin Jede Großmacht ist zwangsläufig auch eine Militärmacht, v. a. wenn sie sich als eine neue imperialistische Macht etabliert. Denn sie muss selbsttätig ihre weltweiten Inprekorr 3/2016 29 DOSSIER: IMPERIALISMUS Interessen schützen und besonders ihre Kommunikationswege. Insofern hat sich die chinesische Doktrin grundlegend gewandelt. Unter Mao lag der Schlüssel noch beim Landheer und der unendlichen Weite des Landes, in der sich jeder Eindringling verloren hätte. Unter Xi Jinping, dem jetzigen Staatspräsidenten und starken Mann des Regimes, ist die Schiffsflotte zum Schlüsselstück geworden, das es erlaubt, sich über die Grenzen hinaus zu orientieren. Auf militärischem Gebiet spielt sich das innerimperialistische Kräftemessen vorwiegend auf den Ozeanen ab. Mit Erscheinen eines Weißbuchs über die Militärstrategie am 26.5.2015 erhält diese neue chinesische Doktrin auch einen offiziellen Anstrich. Darin heißt es: „Regionale Unruhen, Terrorismus, Piraterie, schwere Naturkatastrophen und Epidemien können die nationale Sicherheit bedrohen. Bedrohungen der überseeischen Interessen Chinas bezüglich der Energieversorgung und der Seeverbindungen sowie von Einrichtungen, Personal und Vermögen Chinas im Ausland nehmen zu. […] Um den Herausforderungen gerecht zu werden, die sich aus den wachsenden strategischen Interessen des Landes ergeben, werden sich die Streitkräfte sowohl an der regionalen als auch der internationalen Sicherheitskooperation beteiligen und Chinas Überseeinteressen effektiv wahrnehmen. […] Die Marine der VBA [Volksbefreiungsarmee] wird von den Anforderungen einer küstennahen Verteidigung und offener Überseeverteidigung auf eine Kombination von küstennaher Verteidigung und Überseeverteidigung übergehen und eine kombinierte, multifunktionale und effiziente Struktur einnehmen. Sie wird ihr Potenzial zur strategischen Abschreckung und für Gegenschläge, für maritime Manöver, verbundene Operationen auf See, zur umfassenden Verteidigung und für den Nachschub erhöhen.“1 Die chinesische Führung macht inzwischen gar kein Geheimnis mehr aus ihren Ambitionen. Zum letzten Jahrestag der Kapitulation Japans im Zweiten Weltkrieg hat das Regime am 3. September 2015 eine außergewöhnlich große Militärparade organisiert, die nach sowjetischem oder französischem Muster Chinas militärische Schlagkraft demonstrieren sollte, was nicht eben zur Beruhigung der Nachbarländer beigetragen hat. Der Umbau der chinesischen Streitkräfte erfordert Zeit und ist noch lange nicht abgeschlossen. Dennoch sind bereits jetzt die Fortschritte erheblich und China ist zur zweitgrößten Militärmacht – weit hinter den USA – aufgestiegen. Nachdem das Land bereits einen von Russland 30 Inprekorr 3/2016 gekauften Flugzeugträger besaß, baute es nun selbst einen zweiten, um dadurch einen ständigen Einsatz zu ermöglichen und einen davon in entlegenere Schauplätze schicken und zugleich den zweiten vor den eigenen Küstengewässern im Einsatz halten zu können. Noch immer beherrscht China nicht die Katapulttechnik zur Beschleunigung der startenden Flugzeuge auf den Trägerschiffen, sondern bedient sich der veralteten Sprungschanzentechnik. Hingegen hat China mit der neuen Rakete „Dongfeng 21 D“ („Ostwind“)eine weltweit einmalige Waffe entwickelt, mit der auch Flugzeugträger versenkt werden können. Die Achillesferse des chinesischen Militärprogramms liegt allerdings noch immer darin, dass weder die Truppen noch das Arsenal bisher unter realen Kriegsbedingungen getestet werden konnten. Seit der Invasion in Vietnam 1978/79 hat China keine praktischen Erfahrungen in Kriegseinsätzen mehr gesammelt. Die damals angewandte Militärtaktik mit massiven Sturmangriffen Chinas ist inzwischen veraltet. Zur Zeit sind chinesische Truppen bei zahlreichen UN-Interventionen mit vertreten und können insofern gewisse Erfahrungen sammeln, etwa bei den gemeinsamen Einsätzen gegen Piraterie auf See. Daneben werden auch unabhängige Militäreinsätze durchgeführt, bspw. bei der Evakuierung chinesischer Staatsangehöriger aus Libyen (2011) oder dem Jemen (2015). Chinesische Kriegsschiffe steuern den Golf von Aden an oder verkehren entlang der afrikanischen Ostküste. Über die Errichtung der ersten überseeischen Militärbasis in Dschibuti wird viel gesprochen und dabei vergessen, dass in der Walfischbucht ein viel weiter reichendes Projekt vonstattengeht, nämlich der Bau eines chinesischen Hafens an der namibischen Küste, von dem aus die internationalen Haupthandelsrouten kontrolliert werden können. Vor Ort betreibt China bereits ein „Tracking“System (Datensammlungssystem) per Satellit – und zwar nicht als einziges! Darüber hinaus schließt Peking reihenweise Abkommen mit immer mehr Ländern, die es seinen Truppen erlauben, die jeweiligen Hafenstrukturen zu nutzen, und daneben erwirbt das Land auch direkt immer mehr Häfen auf der Welt, wie etwa Piräus in Griechenland. Die internationalen Institutionen China ist zu einem Akteur ersten Ranges auf der internationalen diplomatischen Bühne geworden, was nicht nur die Klima- oder die laufenden Afghanistanverhandlungen gezeigt haben. Als zweitgrößte Wirtschaftsmacht nimmt sein Gewicht in den internationalen Institutionen immer DOSSIER: IMPERIALISMUS mehr zu. So ist das Land dem OECD-Entwicklungszentrum beigetreten und hat außerdem durchgesetzt, dass der Yuan als weitere Leitwährung in den Währungskorb der Sonderziehungsrechte (SZR) des IWF aufgenommen wurde. Zugleich schafft China seine eigenen internationalen Finanzinstitutionen, etwa die Asiatische Infrastrukturinvestmentbank (AIIB), der mittlerweile zum großen Leidwesen der USA zahlreiche Industrie- und Schwellenländer (Frankreich, Großbritannien, Russland, Brasilien, Dänemark etc.) beigetreten sind. Damit ist eine explizite Alternative zu der Asiatischen Entwicklungsbank (ADB), die unter der Dominanz der USA und Japans steht, entstanden und zugleich das nach dem WK II geschaffene internationale Finanzsystem herausgefordert. Parallel gehen von der chinesischen Führung solche Megaprojekte wie die beiden „neuen Seidenstraßen“ aus, wovon die eine auf dem Landweg entlang der ehemaligen muslimischen Republiken der Sowjetunion in Richtung Zentralasien und die andere auf dem Seeweg verläuft. Dabei geht es nicht nur um Transportwege für Waren sondern um die Schaffung von Investitionskorridoren besonders in der Schusslinie von Kasachstan und damit in der traditionellen Einflusszone Russlands. Damit würde eine neue Frontlinie im Kampf um die Energiereserven (Erdöl, Gas) eröffnet. China drängt mit Macht in alle Zirkel vor, die von den traditionellen imperialistischen Staaten oder Russland kontrolliert werden: Kernenergie, zivile und militärische Luftfahrt, Waffenhandel oder Raumfahrt, wo China erstmals einen Landeroboter auf die dunkle Seite des Mondes schicken will. Inzwischen ist das Land führend in der Herstellung von Solarpaneelen, hat ein deutsches Maschinenbauunternehmen übernommen und kauft Land und Bergwerke in aller Welt. Noch gibt es Regionen, in denen sich China nur sehr zurückhaltend positioniert, etwa im Nahen Osten. Die Reise, die Präsident Xi Jinping kürzlich u. a. nach Ägypten, Iran und Saudi-Arabien unternommen hat, fand dann auch unter streng geschäftlichen Vorzeichen statt. Solche Unternehmen dienen dazu, Chinas Präsenz in diesen untereinander verfeindeten Ländern zu verstärken und somit Geopolitik in von Kriegen zerrissenen Ländern zu praktizieren, in denen China bisher außen vor geblieben ist. Ähnlich gestalten sich die Beziehungen zu Russland, die zwischen gemeinsamer Allianz gegenüber den USA und Rivalität untereinander oszillieren, und zu Indien, dem Gendarmen Südasiens. In Westeuropa hingegen und in Afrika sowie Lateinamerika investiert das chinesische Kapital unverhohlen. Noch viel direkter und umfangreicher ist das Vorgehen in der unmittelbaren Einflusszone in Südostasien. Doch genau dort setzt Washingtons – auch militärische – Gegenoffensive an. Gegenoffensive der USA Erstmals seit 2012 sind am 26. Oktober 2015 US-Kriegsschiffe in das Archipel um die Spratly-Inseln und damit in die Zwölfmeilenzone um die von Peking künstlich aufgeschüttete Inselgruppe eingedrungen. Anspruch auf dieses Gebiet erheben die Philippinen, Malaysia, Vietnam, Brunei und China, wobei Peking vollendete Tatsachen geschaffen hat, indem es seit 2014 weitere künstliche Inseln als Maßnahme zur Landgewinnung geschaffen hat. Dabei werden auf diesen Inseln Landebahnen und andere Einrichtungen errichtet, was dem Muster folgt, das auch in den anderen sensiblen Meereszonen zwischen dem Südosten und dem Nordosten Asiens angewandt wird. Offensichtlich haben sich die USA, nachdem sie durch Chinas Vorgehen überrumpelt worden waren, zu einem Gegenschlag entschlossen, da doch einiges auf dem Spiel steht. Der dortige Meereskorridor gehört zu den weltweit am stärksten frequentierten und wird besonders für Erdöltransporte zwischen dem Nahen Osten und Japan genutzt. Peking pocht auf seine Hoheitsrechte über weite Teile dieser strategisch wichtigen Zone, während die anderen Länder sie als internationales Territorium für einen ungehinderten Luft- und Schiffsverkehr erachten. Dem US-Imperialismus geht es darum, seine Präsenz zu unterstreichen, zumal seine beiden engsten Verbündeten in dieser Region an vorderster Front in Territorialstreitigkeiten verstrickt sind: nämlich Japan, dessen Premier Abe die Militarisierung seines Landes vorantreibt, und die Philippinen, die eine der wenigen direkten US-Kolonien waren und noch immer enge Beziehungen auf oberer Ebene untereinander pflegen. Die beiden wichtigsten US-Militärbasen liegen heute in Japan (Okinawa) und Südkorea. Südkorea wird inzwischen von Peking hofiert und Chinas wirtschaftlicher Einfluss dort nimmt zu. Beredtes Zeugnis dafür ist die Teilnahme der südkoreanischen Präsidentin Park Geunhye an der o.g. Militärparade in Peking, während die USA, Japan, die meisten europäischen Staaten und viele Länder Südostasiens entweder fernblieben oder demonstrativ Personal von niederem Rang schickten. Washington unterstreicht seit einigen Jahren, dass seine neue strategische Ausrichtung im asiatisch-pazifischen Inprekorr 3/2016 31 DOSSIER: IMPERIALISMUS Raum liegt, was allerdings leichter gesagt als getan ist, da seine militärischen Streitkräfte auch weiterhin im Nahen Osten und in Afrika präsent bleiben müssen. Allerdings rücken wichtige politische Termine näher, wie der kommende ASEAN-Gipfel (Verband Südostasiatischer Nationen) oder das alljährlich stattfindende APEC-Forum (Asiatisch-Pazifische Wirtschaftsgemeinschaft). Insofern wird das Gerangel zwischen China und den USA voraussichtlich neue Nahrung erhalten. Krise in China Peking musste in letzter Zeit einige politische Rückschläge verdauen, namentlich in den „heimischen Gefilden“. So waren die jüngste Wahlniederlage der Kuomintang bei den taiwanesischen Präsidentschaftswahlen und der Sieg der die Unabhängigkeit [Taiwans] hochhaltenden Kandidatin Tsai Ing-wen ein herber Schlag für China, auch wenn diese den formalen Status des Inselstaates nicht infrage stellen will. Außerdem lässt die demokratische Opposition gegen die Einflussnahme seitens der KPCh in Hongkong nicht locker. Und zuletzt wachsen fremdenfeindliche Tendenzen in der dortigen Bevölkerung gegenüber den „MigrantInnen“ aus Festlandchina. Durch ihr autoritäres Gebaren droht der Regierung eines ihrer ehernen Prinzipien untergraben zu werden, dass es nämlich nur „ein einziges China“ gäbe. Hinzu kommt die Wirtschafts- und Finanzkrise in der Volksrepublik, die allerdings die imperialistischen Ambitionen des Regimes allenfalls verzögern, jedoch nicht grundlegend verändern können. Im Gegenteil liefert der Großmachtchauvinismus dem Regime noch immer den wichtigsten ideologischen Kitt und der äußere Feind den besten Blitzableiter für innere Probleme. Mit der Anschuldigung, die „nationale Sicherheit“ durch Umtriebe zu gefährden, lässt sich die zunehmende Repression im Innern trefflich rechtfertigen. Übersetzung: MiWe 1 Zitiert nach http://www.isor-sozialverein.de/cms/fileadmin/user_upload/isor/pdf/Aktuelle_Beitraege_zum_Zeitgeschehen/Akt._Beitraege_2-2015_-_China.pdf 32 Inprekorr 3/2016 ZIEHT CHINA DIE WELTWIRTSCHAFT IN DEN ABGRUND? Der Autor meint nein, da in China noch immer kein „normales“ kapitalistisches System besteht; v. a. aber weil die USA nach wie vor das Zentrum des weltweiten Kapitalismus und seiner Widersprüche darstellen. Eher mehren sich dort die Zeichen, die auf eine neuerliche Rezession hindeuten. Michael Roberts Weltweit geben die Aktienkurse nach: in den USA innerhalb eines Monats um 10 % – ein Phänomen, das die Investoren als Kurskorrektur bezeichnen. Noch kein Börsenkrach oder ein „Bärenmarkt“, wozu üblicherweise ein Kurssturz von 20 % gehört, aber immerhin geht es in diese Richtung. Die Börsen brechen ein, weil die Großinvestoren, die Banken und darüber hinaus die Finanzinstitutionen befürchten, dass China zusammenbricht und eine drastische Abwertung des Yuan im Schilde führt. Damit könnte das Land die anderen Schwellenländer mitreißen, von denen viele schon in der Rezession stecken (Brasilien, Russland, Südafrika etc.), und so auch die restliche Welt und besonders die Industrieländer in den Abgrund ziehen. Viele Investmentbanker, die bisher auf einen wirtschaftlichen Wiederaufschwung setzten und voller Lob über das Wirtschaftswunder in den Schwellenländern waren, werden nunmehr von Horrorszenarien geplagt. Die Analysten der britischen Royal Bank of Scotland (RBS) raten ihren Kunden, „alles abzustoßen“, weil die Börsenkurse mehr als ein Fünftel ihres Werts verlieren könnten und die Erdöl- und sonstigen Rohstoffpreise auf ein Zehntel ihres Vorjahreswerts abstürzen könnten. Verantwortlich dafür ist in ihren Augen ein gefährliches Gebräu aus verfallenden Rohstoffpreisen, Rezession in den Schwellenländern, Kapitalflucht aus China und den DOSSIER: IMPERIALISMUS anderen Schwellenländern und wachsender (Dollar-) Schuldenlast in dem Maß, wie die US-Notenbank die geplante Leitzinserhöhung in diesem Jahr umsetzt. Bereits vor zwei Jahren und nochmals im vergangenen Jahr habe ich darauf hingewiesen, dass eine Wirtschaftskrise in den Schwellenländern bevorsteht und eine Zinswende in den USA eine neue Rezession der Weltwirtschaft hervorrufen könnte. Inzwischen ist dies auch in der gängigen Lehrmeinung angekommen und der Kundschaft aus reichen Investoren wird geraten, aus den Märkten auszusteigen. Der zuvor übertriebene Optimismus ist nun in sein Gegenteil umgeschlagen. Aber droht denn wirklich ein weltweiter Finanz- und Wirtschaftscrash? Zumeist gelten die Kassandrarufe China, das als Ausgangspunkt einer Weltwirtschaftskrise angesehen wird. Bei der RBS liest sich das so: „China ist dabei, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen grundlegend zu ändern und damit einen Schneeballeffekt auszulösen. […] Insofern steht China, wo die schuldenfinanzierte Konjunktur an einem Sättigungspunkt angelangt ist, im Epizentrum der weltweiten Verwerfungen. Jetzt steht dem Land eine massive Kapitalflucht ins Haus und es muss sein Heil in einer drastischen Abwertung suchen.“ Albert Edwards von der französischen Société Générale rechnet bereits seit Beginn der wirtschaftlichen Erholung vor fünf Jahren mit einer Deflationsspirale und glaubt jetzt, dass die Krise in China auch die Weltwirtschaft mitziehen wird. „Der verarbeitenden Industrie in den westlichen Ländern wird unter diesem starken Druck der Deflation die Luft ausgehen“, meint er. Doch trifft dies zu? Zweifelsohne steht die chinesische Wirtschaft vor Problemen: Das Wirtschaftswachstum, das 2010/11 noch im zweistelligen Bereich lag, ist nach offiziellen Angaben 2015 auf unter 7 % gefallen. Und diese offiziellen Zahlen werden ohnehin von vielen bezweifelt und unter Verweis auf die geringe Zunahme des Stromverbrauchs als ökonometrischer Indikator auf eher 4 % geschätzt, was für chinesische Verhältnisse schon fast einer Rezession gleichkommt. Trotz der Krise der chinesischen Wirtschaft … Nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise reagierte die chinesische Regierung auf den drastischen Rückgang des weltweiten Absatzes von Exportprodukten aus China mit einem staatlichen Konjunkturprogramm, das erhebliche Ausgabenerhöhung für infrastrukturelle Maßnahmen (Brücken, Städtebau, Straßen und Schienennetze) vorsah. Dadurch konnte das Wirtschaftswachstum im Land aufrechterhalten werden. Die Zinsen wurden erheblich gesenkt und den lokalen Behörden wurde gestattet, Kredite zur Finanzierung des Wohnungsbaus und anderer Projekte aufzunehmen. Die Kreditvergabe schoss in die Höhe und die Gesamtverschuldung (ohne den Finanzsektor) stieg von 100 auf 250 % des BIP. Die Neuverschuldung besonders der Lokalverwaltungen und der staatlichen Unternehmen wächst inzwischen dreimal so stark wie das offiziell ausgewiesene BIP, de facto also noch stärker (s. o.). Die Regierung folgt hier wirtschaftlichen Beratern, die bis in die eigenen Reihen hinein eine weitere Öffnung der Wirtschaft gegenüber Auslandskapital und Privatunternehmen verfechten. Ihnen zufolge sollte die Regierung die großen staatlichen Unternehmen und Banken privatisieren, den Kapitalverkehr nicht länger kontrollieren und den Kurs des Yuan komplett freigeben. Tatsächlich hatte die Regierung unmittelbar vor dem Einbruch der chinesischen Börsen und Währung durchgesetzt, dass der Yuan als weitere Leitwährung in den Währungskorb der Sonderziehungsrechte (SZR) des IWF aufgenommen wird. In der Folge gerät die chinesische Währung zunehmend unter den Einfluss der Gesetzmäßigkeiten des internationalen Devisenmarktes und die heimische Wirtschaft insgesamt unterliegt mehr und mehr dem Zwang des Wertgesetzes. Höhere Schulden, langsameres Wachstum und Überbewertung der nunmehr spekulationsanfälligen Landeswährung haben zum Börsencrash geführt, weswegen jetzt Chinas Reiche und Superreiche sowie ausländische Investoren versuchen, ihr Geld aus China abzuziehen und ihre Bestände im Ausland in Dollar zu tauschen. Die Kapitalflucht hat inzwischen einen Umfang von über 100 Mrd. Dollar pro Monat (1,2 Billionen $ pro Jahr) erreicht, was bei anhaltender Tendenz dazu führen würde, dass nach etwa 18 Monaten die Währungsreserven von 3,3 Billionen Dollar verbraucht wären, da etwa die Hälfte davon zur Finanzierung der Importe benötigt wird. (Grafik 1) Die chinesischen Behörden waren außerstande, diese Finanzkrise zu bewältigen. Indem sie der Finanz- und Währungsspekulation Tür und Tor öffneten, haben sie einen Geist aus der Flasche gelassen, der sie nun zu verschlingen droht. Zunächst haben sie den Yuan gegenüber dem Dollar zu schwächen versucht, um so die Exporte anzukurbeln, was aber hauptsächlich dazu führt, dass die Reichen und Unternehmen des Landes zunehmend, und auch mit illegalen Methoden, in den Dollar Inprekorr 3/2016 33 DOSSIER: IMPERIALISMUS flüchteten. Danach haben sie versucht, die Börse zu stützen, indem sie noch mehr Kredite vergaben und Aktien durch Staatsbanken aufkaufen ließen. Dadurch stieg aber bloß die Staatsverschuldung. Schließlich haben sie eine Kehrtwende vollzogen und dadurch einen Börsenkrach und eine Kreditklemme verursacht. Wegen der offensichtlichen Inkompetenz der chinesischen Behörden und der andauernden Kapitalflucht sind viele Mainstream-Ökonomen im Westen inzwischen der Meinung, dass Chinas Wirtschaft deutlich abstürzen oder gar einen Crash wie 2008 in den westlichen Ländern erleben wird und dies zusätzlich zu der Rezession in den anderen Schwellenländern die Weltwirtschaft in eine tiefe Krise stürzen könnte. Aber lassen sich der Börsencrash in China und der Verfall des Yuan mit einer wirtschaftlichen Rezession gleichsetzen? Das Land hat kein „normales“ kapitalistisches Wirtschaftssystem. Der Staat ist nach wie vor in Industrie, Finanzsektor und Investitionen die entscheidende Instanz, auch wenn die Behörden das Land gegenüber dem kapitalistischen Wertgesetz – besonders bei Außenhandel und Kapitalverkehr – geöffnet und es dadurch erheblich krisenanfälliger gemacht haben. Dies war aber schon zuvor klar: „Wenn der Weg zum Kapitalismus eingeschlagen und das Wertgesetz bestimmend wird, dann wird das chinesische Volk ökonomischer Instabilität (mit ihrem Auf und Ab), Arbeitsplatzunsicherheit und wachsender Ungleichheit ausgesetzt sein“, schrieb ich 2012. Und genau dies ist geschehen, weil sich die chinesische Führung dem Druck der Weltbank und der anderen Institutionen, den Finanzsektor zu liberalisieren und der internationalen „Finanzgemeinschaft“ beizutreten, nachgegeben hat. Die lange Welle der wirtschaftlichen Depression ist noch nicht überwunden. Erst vergangene Woche hat die Weltbank bekanntgegeben, dass die Wirtschaft in den Schwellenländern 2015 nur um 3,7 % gewachsen ist – so gering wie seit 2001 nicht mehr und über zwei Prozentpunkte unter dem Schnitt der Boomjahre 2000 bis 2008 (6,7 %). Christine Lagarde vom IWF meinte, dass diese Länder nun von der wirtschaftlichen Realität eingeholt worden sind: „Die Wachstumsraten gehen zurück und zyklische wie auch strukturelle Faktoren haben die herkömmliche Wachstumsformel untergraben. Nach gegenwärtigen Prognosen werden die Schwellenländer das Einkommensniveau der Industriestaaten deutlich langsamer erreichen, als wir vor 10 Jahren angenommen haben. Dies ist Anlass zur Sorge.“ Lagarde zitierte Studien des IWF, wonach eine Abnahme des Wachstums in den 34 Inprekorr 3/2016 GRAFIK 1: CHINAS WÄHRUNGSRESERVEN IN BILLIONEN DOLLAR Schwellenländern um einen Prozentpunkt die Entwicklung in den Industrieländern um 0,2 % dämpft. … bleibt die US-Wirtschaft entscheidend Dennoch: Werden der Rückgang der chinesischen Wirtschaft und die Rezession in den anderen großen Schwellenländern den Ausschlag für eine Weltwirtschaftskrise geben? Die Befürworter dieser These stützen sich u. a. auf die Behauptung, dass die Schwellenländer inzwischen die Motoren der Weltwirtschaft seien. Ihr Anteil am weltweiten BIP liegt nach Angaben des IWF bei 57 % und damit höher als derjenige der Industrieländer. Allerdings sind diese Zahlen weit übertrieben, da der IWF dabei die „Kaufkraftparität“ zugrunde legt. Diese besagt, wie viel man in einem beliebigen Land in der Landeswährung ausgeben oder investieren kann. Dadurch erscheint jedoch das Sozialprodukt der Schwellenländer viel höher, GRAFIK 2: VERTEILUNG DES WELTWEITEN BSP (IN DOLLAR) DOSSIER: IMPERIALISMUS als wenn es in Dollar gemessen würde, also so, wie es Handel und Investitionen auf Weltebene erfordern. In Dollar gemessen, liegt der Anteil aller Schwellenländer am weltweiten BSP bei 40 %. Dieser Anteil hat sich gegenüber 2002 zwar verdoppelt, liegt aber immer noch hinter den sieben größten kapitalistischen Ländern, die zusammen 46 % halten. Zudem ist die Quote seit zwei Jahren stabil. Obwohl Chinas Anteil am weltweiten BSP (in Dollar gemessen) von nur 4 % auf 15 % hochgeschnellt ist, liegt er noch immer hinter den USA, wo er zwischen 2002 und heute von 32 % auf 24 % zurückgegangen ist. (Grafik 2) Die obige Grafik zeigt, dass die chinesische Wirtschaft zwar massiv gewachsen ist, aber auch, dass die USA nach wie vor für die globale kapitalistische Krise ausschlaggebend sind, zumal sie im Finanz- und Technologiesektor die führende Nation sind. Als 1998 die Schwellenländer eine schwere Wirtschafts- und Finanzkrise durchmachten, hatte dies keinen weltweiten Crash zur Folge. Als aber 2008 die USA den größten Crash ihrer Nachkriegsgeschichte erlebten, führte dies zu einer globalen Rezession, wie wir wissen. Und an dieser Gewichtung hat sich m. E. nichts geändert. Hinsichtlich einer möglichen neuen Rezession der US-Wirtschaft ist nicht das Zinsniveau ausschlaggebend, also ob die Zinsen in Bezug auf ein gleichgewichtiges „natürliches“ Zinsniveau im Sinne der klassischen Ökonomie zu hoch oder zu niedrig liegen, sondern was mit den Profiten und Investitionen der Unternehmen passiert. Denn Investitionen ziehen Arbeitsplätze und Löhne nach sich und somit Wirtschaftswachstum. In der Regel ergeben sich aus der Kapitalrendite und den Unternehmensprofiten die Investitionsmengen mit einer Zeitverzögerung von 12 bis 18 Monaten. Gegenwärtig sind die Unternehmensprofite weltweit (in einem gewichteten Durchschnitt der Länder USA, GB, Deutschland, Japan und China) im Jahresvergleich rückläufig. Für die USA allein trifft diese Tendenz mittlerweile ebenfalls zu. Daraus folgt, dass die Investitionen, die in den USA zuletzt noch um 5 % zugenommen haben, binnen Jahresfrist fallen dürften. Wenn dies eintrifft, dann steuern die USA wahrscheinlich auf eine Rezession zu. Aber dafür werden dann eben nicht China oder die Schwellenländer ausschlaggebend sein. Neu bei ISP Reiner Tosstorff Die POUM in der spanischen Revolution 2., erweiterte Auflage 2016 184 Seiten, 17,80 Euro ISBN 978-3-89 900-118-1 Der Putsch der spanischen Militärs unter Franco am 18. Juli 1936 scheiterte zunächst in weiten Teilen des Landes und löste im Gegenzug eine breite revolutionäre Erhebung aus. Industriebetriebe und Großgrundbesitz wurden kollektiviert, Arbeitermilizen gebildet. All dies war aber auch mit heftigen Auseinandersetzungen auf der Linken verbunden. Sie sind nicht zuletzt durch George Orwells Buch Mein Katalonien und Ken Loachs Film »Land and Freedom« bekannt. Die Sowjetunion und die spanischen Kommunisten griffen vor allem die POUM (Arbeiterpartei der marxistischen Einigung) an. Sie war, in Worten von Günter Grass, »eine spanische linkssozialistische Arbeiterpartei, die, innerhalb des republikanischen Lagers, von den Kommunisten bekämpft und mit stalinistischen Methoden als Trotzkisten-Partei verfolgt wurde«. Die POUM war von oppositionellen Kommunisten gegründet worden, die als »Abweichler« ausgeschlossen worden waren. Im Juni 1937 ließ der sowjetische Geheimdienst nach Kämpfen in Barcelona ihre Führung verhaften. Ihr Sekretär Nin wurde ermordet. Als Folge wurde die Front gegen Franco geschwächt. Der Band schildert das Schicksal der Partei vor dem Hintergrund des revolutionären Prozesses und diskutiert u. a. ihre Vorschläge für den Kampf gegen die Putschisten und das Verhältnis zu den Anarchisten. Er vereinigt neuere Aufsätze und Auszüge aus einer vergriffenen Darstellung des Autors und berücksichtigt neueste Erkenntnisse nach Öffnung der sowjetischen Archive. Neuer ISP Verlag GmbH Belfortstr. 7, D -76133 Karlsruhe Tel.: (0721) 3 11 83 [email protected] www.neuerispverlag.de Übersetzung aus dem Engl. von MiWe Quelle: https://thenextrecession.wordpress. com/2016/01/14/will-china-pull-down-the-world/ Inprekorr 3/2016 35 IRLAND IRLAND 1916 UND HEUTE Hundert Jahre nach dem Osteraufstand, in dem die irische Bevölkerung ihre Unabhängigkeit von England erkämpfen und eine wirkliche Demokratie errichten wollten, steht das Land wieder unter der Knute (diesmal der internationalen Institutionen) und wieder verlassen Hunderttausende aus Not das Land. Anlässlich des Jahrestags einige Passagen aus einem Flugblatt unserer irischen GenossInnen von Socialist Democracy sowie eine Würdigung des sozialistischen Revolutionärs James Connolly. Socialist Democracy Es ist beschämend, wie hierzulande offiziell des hundertsten Jahrestags des irischen Osteraufstands gedacht wird und die politischen und kulturellen Zusammenhänge heruntergespielt werden. Die Revolutionäre der irischen Selbstverteidigungsarmee Irish Citizen Army werden in eins gesetzt mit dem konstitutionellen Nationalisten John Redmond, der sie denunzierte, oder mit den britischen Truppen, die sie niedermetzelten, oder gar mit den pro-britischen Loyalisten von der UVF (Ulster Volunteer Force), die gegen ein demokratisches Irland kämpften. Die irischen Kapitalisten beschränken sich auf diese folkloristische Mixtur, weil sie zwischen Scham und Abscheu hin und her gerissen sind und einer Sache gedenken sollen, die ihnen zutiefst zuwider ist. Lieber würden sie mit der Royal Family gemeinsam Tee trinken oder den Immobilienbestand an die Geierfonds verschleudern. Das wichtigste an diesem Aufstand ist ihnen, dass er besiegt wurde, so wie auch die späteren – breiteren – Rebellionen. Damit richten ausgerechnet diejenigen die Gedenkfeiern aus, die nicht die Erben dieser Revolution sind, sondern ihre Totengräber. Ein Erbe der Konterrevolution ist, dass viele von denen, die sich als Gegner der heutigen Regierungsparteien darstellen, sich schwer damit tun, die Lehren von damals auf heute anzuwenden. Der Osteraufstand war 36 Inprekorr 3/2016 gegen den Imperialismus gerichtet und heute ist dieser so tief verwurzelt, dass er unsichtbar geworden ist. Die Troika führt ihre regelmäßigen Inspektionen im Land durch und EZB und IWF warnen und instruieren „unsere“ Politiker. Inmitten allgemeiner Wohnungsnot verschleudert die staatliche Hypothekenbank NAMA, die 2008 die faulen Kredite und damit viele Immobilien übernommen hatte, ihre Bestände an die Geierfonds – die würdigen Nachfolger der einstigen Gutsbesitzer. Auch bei den jüngsten Parlamentswahlen traten alle kandidierenden Parteien so auf, als könnte die künftige Regierung eine unabhängige Wirtschaftspolitik betreiben. Dabei sind sie hierin genauso frei, wie es die griechische Regierung war. Sinn Fein sieht sich als Erbe des Osteraufstands und betreibt dabei im Norden Irlands faktisch Versöhnungspolitik mit den britischen Imperialisten. Angeblich würde dort eine unabhängige Lokalpolitik zu allgemeinem Wohlstand und zur Aufhebung der Spaltung des Landes zwischen Loyalisten und Nationalisten führen, wo doch die Briten dem dortigen Parlament die Sparpolitik diktieren und damit die Spaltung der Gesellschaft weiter vertiefen. Unsere Aufgabe als Sozialisten liegt nicht darin, die leere Hülle von 1916 für uns zu reklamieren, sondern die Konterrevolution von heute zu bekämpfen. Die Besetzung von Betrieben und die autonome Organisierung der Arbeiterklasse sind heute tausendmal revolutionärer als sich auf Wahlen zu konzentrieren und Parlamentsplätze zu besetzen. Wenn wir das Land wirklich befreien wollen, müssen wir eine unabhängige und klassenkämpferische Partei auf bauen! Wie sagte Conolly? „Wir wollen Irland für die Iren. Aber wer sind die Iren? Nicht der Großgrundbesitzer; nicht der nach Profit gierende Kapitalist; nicht der aalglatte und schmierige Anwalt; nicht der sich prostituierende Journalist – die vom Feind angeheuerten Lügner. Nicht von diesen Iren hängt die Zukunft ab. Nicht von ihnen, sondern ausschließlich von der irischen Arbeiterklasse, dem einzig sicheren Fundament, auf der eine freie Nation errichtet werden kann.“ Übersetzung: MiWe IRLAND IRLANDS BEDEUTENDSTER REVOLUTIONÄR „So kann Irland die Fackel an einen europäischen Flächenbrand legen, der nicht ausbrennen wird, bevor der letzte Thron und die letzten kapitalistischen Schuldverschreibungen und Anleihen bei der Feuerbestattung des letzten Kriegsherrn verbrannt sind.“ … Harkin Shaun … schrieb der irische Sozialist James Connolly im August 1914. Er wurde am 12. Mai 1916 zusammen mit anderen Führern des irischen Osteraufstands von einem britischen Erschießungskommando hingerichtet. Bei seinem Kriegsgerichtsprozess beschrieb Connolly das Ziel der Aktion: „Wir wollten die Verbindung zwischen diesem Land und dem britischen Empire zerbrechen und eine irische Republik gründen.“ Heutzutage feiert das politische Establishment Irlands Connolly als „irischen Patrioten“. Und ja, Connolly glaubte an Irlands Recht auf Selbstbestimmung. Jedoch, die Eliten der irischen Republik würden sich in Connollys Gesellschaft nicht wohlfühlen. So schrieb er vorausschauend: „Auch wenn ihr die britische Armee morgen vertreibt und die grüne Flagge über dem Dubliner Schloss hisst, werden eure Bemühungen vergeblich sein, wenn ihr nicht mit der Organisierung einer sozialistischen Republik beginnt. England würde euch immer noch regieren. Es würde euch über seine Kapitalisten, seine Grundherren und seine Finanziers beherrschen.“ Anders als die anderen Führer der irischen Rebellion von 1916 war Connolly ein revolutionärer Marxist. Fast 30 Jahre lang war er in Schottland, Irland und den USA als sozialistischer Organisator, Gewerkschaftsaktivist und Theoretiker tätig gewesen. Connolly hatte sich dem Marxismus und der Emanzipation der Arbeiterklasse verschrieben. Connolly wurde als Sohn verarmter irischer Immigranten in einem Getto im schottischen Edinburgh geboren. Sein Vater arbeitete als Dungsammler in den Slums der Stadt. Connolly selbst fing an zu arbeiten, als er 10 oder 11 Jahre alt war. Mit 14 veranlasste ihn die Armut, in die britische Armee einzutreten, wie das auch heute noch junge Menschen tun. Er diente 7 Jahre, unter anderem in Irland, bevor er 1889 den Dienst quittierte. Connolly hatte keine formale Bildung; dennoch verschaffte er sich ein breites Wissen über Geschichte und Marxismus und entwickelte sich zu einem erstklassigen sozialistischen Agitator und Arbeiter-Intellektuellen. Connolly wurde wegen seiner politischen Aktivität in Schottland schikaniert und zog daher nach Irland, wo er 1896 in Dublin den Sozialistischen Klub gründete, den er bald zur Irischen Sozialistischen Republikanischen Partei (Irish Socialist Republican Party, ISRP) umgründete. Die ISRP gab die erste reguläre sozialistische Zeitung Irlands, die Workers‘ Republic, heraus, kandidierte bei örtlichen Wahlen und repräsentierte Irland in der Zweiten Internationale. Connollys herausragender Beitrag zum Marxismus war seine Darlegung, dass der Kampf für nationale Befreiung untrennbar mit dem Kampf für den Sozialismus verbunden ist. Er erläuterte, dass die SozialistInnen in den Kolonien den Kampf für nationale Befreiung anführen sollten. Eine solche Revolte in den Kolonien könnte den revolutionären Prozess in den ökonomisch entwickelten Ländern beschleunigen, weil der dann ausbleibende Zugang zu diesen Märkten „zu wirtschaftlichen Krisen führt und revolutionäres Denken anregt“. Connolly brach mit der überkommenen elitären Ansicht, dass Sozialisten in verarmten Kolonien vom Kampf für Arbeitermacht absehen sollten, bis der Kapitalismus dort voll entwickelt sei. Gleichzeitig hinterfragte er das Konzept, dass die Revolution in den Händen konspirativer nationalistischer Gruppen gelassen werden sollte: „Die Sozialisten haben mit dieser lächerlichen Geheimniskrämerei gebrochen und in Hunderten von Reden auf den belebtesten Plätzen der Metropole, sowie in Tausenden von Schriften, die im ganzen Land verbreitet wurden, ihr Ziel verkündet, alle Kräfte der Arbeiterbewegung für die revolutionäre Rekonstruktion der Gesellschaft zusammenzuschließen und damit auch zur Zerstörung des britischen Empires beizutragen.“ Connolly führte aus, dass die reichen Iren „für jede historische Bindung an den irischen Patriotismus tausend ökonomische Verbindungen mit dem englischen Kapitalismus haben, die aus Inprekorr 3/2016 37 IRLAND gemeinsamen Investitionen herrühren; nur die irische Arbeiterklasse bleibt als nicht korrumpierbarer Erbe des Kampfs für Irlands Freiheit.“ Connolly war ein unnachgiebiger Gegner loyalistischer Ideen protestantischer Arbeiter(innen), aber er kämpfte für die Schaffung eines politischen Raums, wo katholische und protestantische Arbeiter(innen) auf der Basis von Klassenpolitik zusammenkommen konnten. Ihm war sehr bewusst, warum protestantische Arbeiter(innen) konfessionellen Ideen anhängen, betonte aber: „Wenn ein Mitglied von Sinn Fein zu Männern spricht, die gegen niedrige Löhne kämpfen, und ihnen sagt, dass Sinn Fein jedem ausländischen Kapitalisten, der sich in Irland niederlassen will, viele irische Arbeiter zu niedrigen Löhnen in Aussicht stellt, braucht man sich nicht zu wundern, dass sie zu der Ansicht kommen, dass ein Wechsel von den Tories zu Sinn Fein nur einem Wechsel von einem bekannten zu einem unbekannten Teufel gleichkommt.“ In der Frage der Teilung Irlands in zwei getrennte Staaten, die er nicht mehr erlebte, war Connolly bemerkenswert vorausschauend: „Das würde zu einem reaktionären Karneval im Norden und im Süden führen, wäre ein Rückschlag für jedweden Fortschritt, würde die beginnende Einheit der irischen Arbeiterbewegung zerstören und würde damit alle fortschrittlichen Bewegungen paralysieren.“ Und tatsächlich nutzten die herrschenden Eliten nach der Teilung 1921, den Orangismus im Norden und den Nationalismus im Süden, um konservative unternehmerfreundliche Politik festzuschreiben und konfessionelle Schranken zwischen katholischen und protestantischen Arbeitern zu errichten. Heutzutage verkörpert der Reverend Ian Paisly, der loyalistische Eiferer, der sich anschickt Nord-Irlands „erster Minister“ zu werden, diesen „Karneval der Reaktion“, vor dem Connolly warnte. 1903 ging Connolly in die USA, wo er sieben Jahre lebte. Anfänglich wurde er von der Socialist Labor Party wegen ihres Engagements für Revolution statt Reformismus angezogen, orientierte sich dann aber am militanten Syndikalismus der Industrial Workers of the World (IWW). Connolly kehrte als überzeugter Syndikalist nach Irland zurück. Er glaubte an den Aufbau der „One Big Union“ (einen großen Gewerkschaft) und dass „jede von ihr gewerkschaftlich organisierte Werkstatt oder Fabrik eine Festung ist, die der Kontrolle der kapitalistischen Klasse entrissen und mit Soldaten der Revolution bemannt ist, die sie für die Interessen der Arbeiter(innen) verteidigen müssen.“ Connolly setzte seine Ideen als Organisator für die Irish Transport and General Workers Union (Irische Gewerkschaft der Transport- und anderer Arbeiter, ITGWU) um. Zusam38 Inprekorr 3/2016 men mit James Larkin führte er 1913-14 einen von Irlands härtesten Arbeitskämpfen, der als Great Dublin Lockout (große Dubliner Aussperrung) bekannt wurde. Unglücklicherweise erlitt die ITGWU trotz heroischer Anstrengungen eine brutale Niederlage. Dieser Tragödie folgte 1914 eine weitere, als die internationale sozialistische Bewegung zerbrach und die einzelnen Parteien im Ersten Weltkrieg die jeweiligen imperialistischen Krieg führenden Mächte unterstützten. Connolly schrieb: „Das Signal des Krieges hätte ein Signal für Rebellion sein sollen. Als die Hörner den ersten Ton des gegenwärtigen Krieges bliesen, hätten diese Töne zur Sturmglocke für die soziale Revolution werden müssen.“ Die Niederlage der irischen Arbeiterbewegung und der Kollaps der sozialistischen Parteien auf internationaler Ebene wären verständliche Gründe für eine Demoralisierung Connollys gewesen. Stattdessen blieb er der internationalistischen Haltung treu und versuchte dem britischen Imperium einen Schlag zu versetzen. Vor diesem desolaten Hintergrund ist Connollys Rolle beim Aufstand von 1916 zu verstehen. Er hoffte, dass die Revolte in Irland zum Katalysator werden würde, der das Wiedererwachen sozialistischer Opposition gegen den Krieg befördern könnte. Nach der Lähmung des wirtschaftlichen Lebens durch den Militarismus wäre selbst der erfolglose Versuch einer sozialistischen Revolution mit der Waffe in der Hand weniger desaströs für die Sache des Sozialismus als die Tätigkeit von Sozialisten, die sich für das Schlachten ihrer Brüder missbrauchen ließen. Der Osteraufstand war isoliert und wurde niedergeschlagen. Obwohl die Rebellen es schafften, zentrale Örtlichkeiten in Dublin zu besetzen und eine Irische Republik auszurufen, wurde die Rebellion nach sechstägigem Kampf niedergeschlagen. Ihre Führer, einschließlich Connolly, wurden gefangen genommen, vor Gericht gestellt und hingerichtet. Aber Connollys Überlegung, dass die durch den Krieg ausgelöste Krise in die Bahn von Revolten gelenkt werden könnte, war richtig. 1917 demonstrierten 10 000 Arbeiter(innen) in Dublin ihre Unterstützung für die Russische Revolution und dieses Jahr markierte auch den Beginn des radikalen Aufschwungs in Irland, der bis 1923 andauerte. James Connolly war ein herausragender Arbeiterführer und Antiimperialist und seine Ideen und Aktionen sind auch heute noch ein Inspirationsquell. Übersetzung: Wolfgang Weitz DOSSIER: FR ANKREICH DER ZORN BLEIBT WACH „Frankreich muss auf die Jugend hören“, heuchelt Premier Valls und versucht mit vagen Zugeständnissen an Studierende und Azubis der Jugend den Widerstand abzukaufen. Ein Dossier mit 3 Beiträgen „PARIS WACHT AUF ... ... ließe sich in Anspielung auf ein altes Chanson zumindest in Bezug auf Frankreichs Jugend sagen.“ MiWe Bereits nach den ersten umfangreichen Protesten am 9. März sah sich die sozialdemokratische Regierung gezwungen, geringfügige Änderungen am Maßnahmenpaket der Arbeitsrechtsreform zu verkünden, um so die stärker sozialpartnerschaftlich orientierten Gewerkschaften (CFDT, CGC, CFTC) aus der Ablehnungsfront zu brechen. Der Erfolg war begrenzt – seither sind die Mobilisierungen immer weiter gewachsen und seit dem 31. März breitet sich die Bewegung „Nuit debout“ (wörtlich: „Nacht im Stehen“, übertragen: „Wach bleiben“) von der Hauptstadt in die Vorstädte hinein und ins ganze Land aus. Die größte Dynamik geht dabei von der Jugend – ob in den Schulen, Universitäten, Betrieben oder arbeitslos – aus. Da ihr diese Mobilisierungen über den Kopf zu wachsen und die ohnehin geringen Chancen auf eine Wiederwahl noch weiter zu verringern drohen, reagiert die Regierung mit Zuckerbrot und Peitsche. Diese bekommen diejenigen, die sich nicht ködern lassen, in Form von Tränengas, Schlagstöcken und Kriminalisierung zu spüren. Das Zuckerbrot in Form symbolischer Maßnahmen wie einem viermonatigen Übergangsgeld nach Ausbildungsende, einer Strafsteuer für befristete Arbeitsverträge und höhere Löhne für Azubis soll den „moderateren“ Flügel dazu bewegen, seine Proteste zu beenden. Und tatsächlich lobt bereits der Chef der Studierendengewerkschaft UNEF das Entgegenkommen als Erfolg der bisherigen Mobilisierungen, ohne zu bedenken, dass seine „Zufriedenheit“ mit diesen Regierungsmaßnahmen ein Schritt zur Demobilisierung ist. Die kommenden Wochen und Monate werden zeigen, ob die Strategie von Premierminister Valls und Präsident Hollande aufgeht oder ob zehn Jahre nach der durch Massenproteste erzwungenen Rücknahme des Ersteinstellungsgesetzes (CPE) wieder eine Regierung von der Straße in die Knie gezwungen wird. Nachfolgend dokumentieren wir einen Aufruf gegen das Arbeitsgesetz, der von VertreterInnen der radikalen Linken und Gewerkschaften lanciert worden ist, sowie eine vorläufige Einschätzung der Mobilisierungen, die unter dem Eindruck der bisher größten Proteste am 31. März verfasst worden ist. Inprekorr 3/2016 39 DOSSIER: FR ANKREICH FÜR EIN STARKES ARBEITSRECHT Wir brauchen mehr statt weniger Rechte! Gemeinsam gegen die geplante Reform des Arbeitsrechts! In der laufenden Amtszeit von Hollande haben die Lohnabhängigen schon Rechte eingebüßt. Wir werden nicht hinnehmen, dass sie durch das geplante Gesetz der Arbeitsministerin El-Khomri noch weiter eingeschränkt werden. Durch den Gesetzentwurf sollen Entlassungen vereinfacht werden, angeblich um Arbeitsplätze zu schaffen. Die Erfahrung jedoch zeigt, dass das Gegenteil zutrifft: nämlich dass leichter entlassen werden kann, während die Dividenden steigen. Schon seit 100 Jahren jammern die Unternehmer, dass das Arbeitsrecht für sie eine Zwangsjacke sei. „Eure Sozialgesetze ruinieren die ohnehin schon schwache Industrie“, schleuderte 1909 Senator Touron, Präsident der damaligen Unternehmerlobby, dem sozialistischen Arbeitsminister René Viviani entgegen, unter dessen Ägide das erste Arbeitsschutzgesetz entstanden ist. Hundert Jahre später liest sich das Herzensanliegen der Unternehmerpräsidentin Parisot so: „Die Gedankenfreiheit endet dort, wo das Arbeitsrecht anfängt.“ Valls und Holland wollen das Arbeitsrecht abspecken. Zu wessen Nutzen? Etwa um die Arbeitslosigkeit zu mindern? Bereits unter Sarkozy hat der zuständige Berichterstatter Combrexelle das Gesetz skelettiert, indem er 1,5 Millionen Zeichen und 500 Gesetze strich. Die entstandene „Leichtversion“ werde Arbeitsplätze schaffen, tönte damals die Rechte. Tatsächlich ist keiner entstanden. Denn selbst die OECD gibt zu, dass Schutzgesetze für Arbeitsplätze keinen Einfluss darauf haben, ob Stellen geschaffen oder vernichtet werden. Hierzulande fällt nie ein Wort darüber, dass Lohnabhängige bei ihrer Arbeit verheizt werden. Sie sind die unbeschreiblichen Opfer eines ungenannten Wirtschaftskriegs: alljährlich 500 tödliche Arbeitsunfälle, 700 Selbstmorde, 650 000 Unfälle mit vorübergehender Arbeitsunfähigkeit und 4500 Berufskranke mit bleibender 40 Inprekorr 3/2016 Behinderung. Das sind keine abstrakten Zahlen, sondern dahinter stecken Lebensläufe. In Arbeitslosigkeit, Prekarität und Not entlassen – ruiniert, unsichtbar, verachtet. Das Arbeitsrecht ist weder überfrachtet noch unverständlich. Bereits jetzt haben die Unternehmer zu viel Handhabe zulasten der Lohnabhängigen. Es gibt schon jetzt zu wenig Weisungs- und Kontrollmöglichkeiten und die Realität sieht ohnehin anders aus: Die Angriffe auf Arbeitsinspektoren haben sich in den letzten zehn Jahren vervierfacht; juristische Eingaben der Inspektoren werden kaum mehr verfolgt und ihre Handhabe wird zunehmend geringer. Die geplanten Einschnitte im Arbeitsrecht sind nicht hinnehmbar! Referenden unter den Beschäftigten eines Unternehmens entwerten de facto den Handlungsspielraum der Gewerkschaften und liefern den Unternehmern die Handhabe zur Erpressung. Bei Smart beispielsweise hätte so die Unternehmensführung die Möglichkeit gehabt, die Arbeitszeit auf 39 Stunden zu erhöhen und nur 37 Stunden zu bezahlen. Bei der FNAC könnte damit Sonntagsarbeit fällig werden. Für die Mehrarbeit über die 35h-Woche hinaus soll es künftig einen „Ausgleich“ geben. Sie soll nicht mehr wie heute mit einem 25-%-Zuschlag bezahlt werden. [Wirtschaftsminister] Macron sagt dazu ganz richtig: Das ist das Ende der 35h-Woche. Momentan gehen die Gewerkschaften mit der Forderung nach einem Überstundenzuschlag zwischen 25% und 50% in die Verhandlungen. Wie soll der „Ausgleich“ beschaffen sein? Unter dem Strich sicherlich schlechter. El Khomri plant, die Arbeitsdauer auf dem Weg von betrieblichen Verhandlungen zu erhöhen? Mehr arbeiten also, um weniger zu verdienen. Zugleich soll es mehr gesetzliche Handhabe gegen die Lohnabhängigen geben, indem die Abfindungen bei missbräuchlichen Entlassungen gesenkt werden oder arbeitsrechtliches Vorgehen gegen die Arbeitgeber erschwert wird, etwa um ihn zu verpflichten, eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen zurückzunehmen … etc. pp. Im Entwurf von El Khomri wird der Arbeitgeber zum König! Aber das, was daraus bekannt geworden ist, ist erst der Anfang. Daneben werden weitere Pläne verfolgt. So haben Combrexelle und Badinter Berichte vorgelegt, wonach das Arbeitsrecht weiter ausgehöhlt werden soll, indem sein Anwendungsbereich eingeschränkt wird. Ein Beispiel dafür ist die Günstigkeitsregelung, die DOSSIER: FR ANKREICH vorsieht, dass die jeweils für die Beschäftigten günstigste Regelung Anwendung findet, wenn sich das Gesetz und der Arbeits- oder Tarifvertrag widersprechen. Laut Combrexelle soll dies nur noch gelten, wenn „das Gesetz es nicht anders vorsieht“. Die Verpflichtung zur innerbetrieblichen Umsetzung legt fest, dass ein Unternehmer alles in diesem Sinne unternehmen muss, bevor er aus betrieblichen Gründen entlässt. Die Formulierung „außer dort, wo das Gesetz Sonderregelungen vorsieht“ greift auf, was schon im Bericht von Badinter stand. Damit werden Einfallstore geöffnet, mit denen diese Verpflichtung ausgehebelt werden kann, besonders um diejenigen loszuwerden, die durch die Arbeit krank geworden sind. Im selben Bericht heißt es in Artikel 13: „Der Arbeitsvertrag ist unbefristet und kann nur in gesetzlich vorgesehenen Fällen befristet werden.“ Es ist sicher kein Zufall, dass hier nicht mehr die geltende Formulierung benutzt wird, wonach der unbefristete Vertrag „grundsätzlich der Normalfall eines Arbeitsverhältnisses“ ist. Gegenwärtig gibt es eine Schutzklausel für Ausnahmen, nämlich dass eine Befristung nur bei vorübergehenden betrieblichen Erfordernissen zulässig ist. Warum ist diese Formulierung verschwunden? Weil die Unternehmer keine Einschränkungen mehr wollen! Artikel 1 proklamiert, dass „die Grundrechte der Person in jedem Arbeitsverhältnis garantiert sind. Einschränkungen sind nur zulässig, wenn andere Grundrechte davon tangiert werden oder wenn betriebliche Notwendigkeiten dies erfordern …“ Wir reden hier doch von Arbeitsrecht?! Warum wird dann von „Personen“ und nicht von „Beschäftigten“ gesprochen? Im Gesetz zählt das Wort. Wenn nicht von Beschäftigten die Rede ist, dann auch nicht von Unternehmern oder Unternehmermacht. Damit sind wir bei der neoliberalen Denkungsart, wonach der Arbeitsvertrag eine freie Willensvereinbarung zwischen gleichen Personen ist. Im Übrigen hebt dieser Artikel das Wohl des Unternehmens auf dieselbe Stufe wie die Grundrechte. Darin gleicht er dem Lissabon-Vertrag, der die Würde des Menschen, das Recht auf Eigentum und die Unternehmerfreiheit auf die gleiche Stufe hebt. Als [Ministerpräsident] Valls die Badinter-Kommission eingerichtete, erklärte er: „Die Doppelfunktion, die das Arbeitsrecht wahrnehmen soll, wird zunehmend schlecht umgesetzt. Schließlich sollen darin zugleich die Beschäftigten geschützt und die Unternehmen in ihren Entwicklungsmöglichkeiten abgesichert werden …“ Aber genau darum geht es im Arbeitsrecht nicht und darf es nicht gehen! Im Artikel L. 120-3 ist festgelegt, dass das Gesetz „das ständige Weisungsrecht des Unternehmers gegenüber den Beschäftigten“ begrenzen soll. Seit 1910 und mit jedem sozialen Fortschritt hatte es diese Funktion. Das erste Arbeitsgesetz kam durch die Gegenwehr der ArbeiterInnen zustande. Auch heute zielen die Arbeitskämpfe oft darauf ab, diese juristische Hürde, die im Arbeitsgesetz verankert ist, zu stärken. Daraus jetzt einen Schutzmechanismus für die Unternehmen zu machen, hieße, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Gemeinsam werden wir in den kommenden Monaten die Rechte der Lohnabhängigen verteidigen und den Grundstein für ein Arbeitsgesetz legen, das sie wirklich schützt. Clémentine Autain (Ensemble), Olivier Besancenot (NPA), Eric Coquerel (Parti de gauche), Gérard Filoche (PS), Willy Pelletier (Fondation Copernic), Pierre Laurent (PCF), Eric Beynel (Solidaires), Fabrice Angei (CGT), Noël Daucé (FSU). Übersetzung: MiWe IHR HABT MILLIARDEN, WIR SIND MILLIONEN! Für die Bewegung „Nuit debout“ war der 31. März der Beginn einer neuen Zeitrechnung. Seither durchwachen Tausende gemeinsam die Nacht auf öffentlichen Plätzen, um gegen die Arbeitsrechtsreform der Regierung zu protestieren – zunächst auf der Place de la République, mittlerweile in ganz Frankreich. Leon Crémieux Der Aktionstag am 31. März war mit landesweiten Streiks und Kundgebungen zweifellos ein großer Erfolg: Nach Inprekorr 3/2016 41 DOSSIER: FR ANKREICH Angaben der Gewerkschaftskoordination demonstrierten über eine Million Menschen in 260 Städten, während es am 9. März noch 450 000 in 170 Städten waren. Selbst die Polizei räumte ein, dass die Teilnehmerzahl sich gegenüber dem 9. März verdoppelt habe. Hinzu kommen zwei Aktionstage am 17. und 24. März, an denen SchülerInnen und StudentInnen – meist auch unter Beteiligung von Unternehmensdelegationen – demonstriert hatten. Zahlreiche öffentliche und private Betriebe nahmen erstmals an den Streiks teil. Bei der staatlichen Eisenbahngesellschaft SNCF streikten über 40 % der Beschäftigten gegen das geplante Arbeitsgesetz und zugleich auch gegen ein geplantes Dekret, mit dem ein „sozialer Sockel“ für alle Bahnunternehmen, d. h. eine Deregulierung des Beschäftigungsverhältnisses eingeführt werden soll. Auch unter der Jugend hat die Beteiligung zugenommen: Waren am 9. März 120 und am 17. März 200 Gymnasien verbarrikadiert, so waren es diesmal 250. An den Universitäten verlief die Mobilisierung etwas schleppender, inzwischen gibt es aber an Dutzenden von ihnen Aktionskomitees. Auch aus den Vorstädten waren diesmal mehr Jugendliche beteiligt als am 9. März. Die Polizei reagierte in etlichen Städten mit Provokationen und Gewalteinsätzen gegen die Jugendlichen ähnlich aggressiv, wie schon am 24. März gegenüber einem Schüler im XIX. Arrondissement von Paris. Damit nimmt die Mobilisierung in dem Maß zu, wie der Termin zur Parlamentsdebatte über das Gesetz am 9. Mai näher rückt. Schon jetzt sind die Mobilisierungen so massiv wie seit 2010 nicht mehr, als erfolglos versucht worden war, eine neuerliche Rentenreform mit Demonstrationen und Blockaden zu verhindern. Es drängt sich aber der Vergleich mit der erfolgreichen Protestbewegung gegen das Ersteinstellungsgesetz (CPE) auf, das die damalige Regierung De Villepin auf Druck der Jugend und der Beschäftigten zurücknehmen musste. Ein bedeutsamer Unterschied besteht freilich: Die letzten großen Proteste in Frankreich (1995, 2003, 2006 und 2010) richteten sich jedes Mal gegen eine rechte Regierung. Viele spüren daher ein neues 2003 oder 2010 heraufziehen. Aber im Unterschied zu 2003 ist die Streikbewegung an den Schulen und Universitäten momentan nicht so breit und basisorganisiert und in den Betrieben fehlt es an einer vorwärtstreibenden Kraft, wie sie 2010 die Eisenbahner, die Müllmänner oder die LKW-Fahrer und in anderen Bewegungen die Postler oder die LehrerInnen gebildet hatten. Natürlich trifft das geplante Gesetz die Beschäftigten in 42 Inprekorr 3/2016 den privaten Betrieben, die dem Arbeitsgesetz, den Tarifverträgen und den Betriebsvereinbarungen unterliegen, am härtesten. Trotzdem waren die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes am 31. März – mit Ausnahme der Lehrergewerkschaft FSU, die sich diesmal zurückhaltender als sonst positioniert – genauso zahlreich vertreten, weil klar ist, dass die antisoziale Regierungspolitik ausnahmslos alle Beschäftigten trifft. Allen ist klar, dass diesmal die Bewegung eine andere Dimension einnimmt als in den Jahren zuvor. Dies hat positive wie negative Seiten. Zunächst einmal sind die politischen Rahmenbedingungen unterschiedlich. Noch bis vor kurzem dominierten die Folgen der Anschläge vom November und die polizeistaatlichen Maßnahmen der Regierung mit der Verlängerung des Ausnahmezustands. Daneben wirkt noch immer die politische Polarisierung fort, die der Front National als unangefochtener Gewinner der Regionalwahlen vom Dezember 2015 ausgelöst hat. Hollande und Valls hatten gehofft, der klassischen Rechten um Sarkozy das Wasser abgraben und sich wie damals Bush nach dem 11. September als verlässliche Staatsmänner gerieren und sich so ihre Wiederwahl sichern zu können. In einem Punkt ist dieser Plan aufgegangen: Die Rechte steckt tatsächlich in einer historischen Krise. Ihre Partei „Die Republikaner“ liegt in Scherben, Sarkozy hat sein Comeback verpasst und ist weit weniger populär als sein Konkurrent Juppé und immer mehr Parteiprominenz drängt sich um die Präsidentschaftskandidatur 2017. Zudem will sich die rechtsliberale UDI nicht an gemeinsamen Vorwahlen mit den Republikanern beteiligen. Auf der anderen Seite jedoch ist die staatsmännische und wehrhafte Aura der Herren Valls und Hollande genauso schnell verblasst, wie sie aufgeschienen war. Das geplante Arbeitsgesetz ist nur der eine Stachel im Fleisch der Regierung. Der andere, der sie drückt, ist die fehlgeschlagene Verfassungsreform, mit der Hollande und Valls die Rechte auflaufen lassen und sie zwingen wollten, für die Verstetigung des Notstands und die Ausbürgerung wegen terroristischer Vergehen zu stimmen, obwohl dies zu Staatenlosigkeit führen könnte und damit internationales Recht mit den Füßen getreten würde. Letztlich hat sich diese Taktik als Bumerang erwiesen, auch weil die Regierung sogar in den Reihen der Sozialdemokratie wegen ihrer Sozial- und Sicherheitspolitik diskreditiert ist und dadurch durch die Rechte erpressbar war. Am Ende haben sich die Republikaner mit ihrer Senatsmehrheit auf keinen Kompromiss mit der PS eingelassen und die DOSSIER: FR ANKREICH Regierung zum Rückzug in der Verfassungsfrage gezwungen. Mit nur noch 15 % Zustimmung in der Bevölkerung hat Hollande einen Tiefpunkt erreicht wie noch nie zuvor ein Präsident der V. Republik und Valls folgt ihm auf dem Fuße. Versteht sich, dass er innerhalb der Linken (außerhalb der PS) mit seiner reaktionären Politik diskreditiert ist. Dafür sorgen neben seiner Polizeistaatspolitik auch der Abbau der sozialen Rechte durch die Minister Macron und Rebsamen, die menschenunwürdige Flüchtlingspolitik sowie das Durchpeitschen unsinniger Großprojekte wie zuletzt des Flughafens bei Notre Dame des landes im Westen des Landes. Diese Kritik reicht auch in die Reihen der PS hinein und kommt dem linken Flügel zugute, der durch die Exministerin Aubry unlängst prominente Verstärkung erhalten hat. Selbst der Chef der Jugendorganisation Lucas fordert die Rücknahme des geplanten Arbeitsgesetzes und die Führung der PS-nahen Studentengewerkschaft UNEF ruft zu den Protesten auf. Hinzu kommt das repressive Vorgehen gegen aktive Gewerkschafter – etwa bei Good Year –, die kriminalisiert und verurteilt werden, weil sie aus Protest gegen die Werksschließung das Management in seinen Stuben festgehalten haben. Auch im Gefolge der Verhängung des Notstands und der staatlich verordneten rassistischen Kampagne gegen die Moslems sind in den letzten Monaten Tausende Bewohner in den Kleine-Leute-Vierteln durchsucht und schikaniert worden. Dies wiederum hat die dortige Jugend dazu veranlasst, sich den gegenwärtigen Protesten anzuschließen. Diese politische Gemengelage sorgt eher für Konfusion, da es momentan keine Kraft aus gewerkschaftlichen, sozialen oder politischen Zusammenhängen gibt, die diesen Bestrebungen nach sozialer Gerechtigkeit und wirklicher Demokratie eine einheitliche Richtung zu geben in der Lage wäre. Die Gewerkschaftsführungen scheinen im Gegenteil in dieser Situation noch mehr überfordert zu sein als sonst und die Reaktion auf die geplante Gesetzesreform kam vielmehr durch die Mobilisierung der Jugend und die Aktivität der sozialen Netzwerke zustande, die binnen dreier Wochen über eine Million Unterschriften unter eine Petition gesammelt und zum Auftakt der Proteste am 9. März geblasen haben. Natürlich haben sich diesen Aktionen einzelne kämpferische Gewerkschaftsgliederungen angeschlossen und mit allen Kräften in ihren Reihen mobilisiert. Lediglich die Bürokraten an den Gewerkschaftsspitzen scheinen mehr noch als 2010 zu fürchten, dass eine soziale Dynamik entstehen könnte, aus der heraus auch eine politische Alternative zu der herrschenden Austeritätspolitik gesucht wird. Davor schrecken sie umso mehr zurück, als sich die Proteste erstmals gegen eine „linke“ Regierung richten. Insofern bemühen diese Bürokraten ständig die drohende Gefahr von rechtsaußen, weswegen man keine Totalkonfrontation gegen die Regierungspolitik betreiben dürfe. Erfrischend dagegen erscheint der Aufruhr in den sozialen Netzwerken, wo all die brisanten Probleme wie Solidarität, soziale Gerechtigkeit, Klimakatastrophe und demokratische Kontrolle über die politischen Entscheidungen im Staat thematisiert werden. So haben bspw. 400 „illegal“ Beschäftigte Ende März einen überraschenden Erfolg erzielen können, als sie mit der Unterstützung der Gewerkschaftskoordination der Beschäftigten des Arbeitsministeriums und einer Bürgerrechtsinitiative zunächst die Generaldirektion für Arbeit besetzt hatten und dann Verhandlungen ertrotzen konnten, die ihnen eine reguläre Aufenthaltsgenehmigung verschaffen sollen. Ein weiteres Beispiel sind die Unterstützungskomitees für die verurteilten Gewerkschafter von Good Year, die in vielen Städten entstanden sind. Am Abend des 31. März haben sich mehrere Tausend Jugendliche auf der Place de la République in Paris versammelt, um über ihre Netzwerke, die die phantasievollen Namen: „Wachbleiben“, „Rote Nächte“ oder „Jagen wir ihnen Angst ein“ tragen, Platzbesetzungen zu propagieren. Ihnen angeschlossen hat sich die Obdachloseninitiative DAL. Dies alles zeigt, dass die Stimmung brodelt und eine breite soziale Mobilisierung entfacht werden soll, so wie es in einem Aufruf von mehreren Hundert GewerkschafterInnen aus CGT, Solidaires und FSU formuliert wird, die für ein gemeinsames Vorgehen aller Lohnabhängigen die Trommel rühren. In den kommenden Wochen wird sich zeigen, ob all diese verschiedenen Initiativen zu einem einheitlichen Vorgehen zusammenfinden und andere Menschen mitziehen können, sodass ein Kräfteverhältnis entsteht, das die Regierung zum Einlenken zwingt. Übersetzung: MiWe Inprekorr 3/2016 43 D O S S I E R : Ö KO LO G I E ÖKOLOGIE IM KORSETT DES GLOBALISIERTEN KAPITALISMUS Das ökologisch Notwendige zur Rettung der natürlichen Grundlagen und Entfaltungsbedingungen der Menschheit findet immer noch seine Grenzen der Verwirklichung in der Zwangsjacke des globalisierten Kapitalismus. Selbst das Zika-Virus lässt sich in diesem Kontext behandeln. Ein Dossier mit 3 Beiträgen COP21 – Perspektiven des Klassenkampfs SEITE 45 44 Inprekorr 3/2016 Kapitalismus, Arbeit und Natur: den Teufelskreis durchbrechen Von Mücken und Menschen – die soziale Genesis des Zika-Virus SEITE 51 SEITE 54 D O S S I E R : Ö KO LO G I E COP21 – PERSPEKTIVEN DES 2. KLASSENKAMPFS Unter dem Titel „Die Anerkennung der 1,5 °C-Grenze durchsetzen, Klimagerechtigkeit herstellen und nicht auf unbeherrschbare Technologien setzen“ wurde die folgende Resolution des Internationalen Komitees (IK) der IV. Internationale zur Bilanz der COP21 und der Perspektiven des Klimakampfs am 1. März 2016 mit großer Mehrheit angenommen). 1. 23 Jahre nach dem Gipfel von Rio und der Verabschiedung der UN-Klimarahmenkonvention (UNFCCC) waren die Regierungen der Welt gezwungen, die Realität des „anthropogenen“ [von Menschen verursachten] Klimawandels und die dringende Notwendigkeit von Maßnahmen zur Abwehr einer enormen ökologischen und sozialen Katastrophe zuzugeben. Der Krieg ist nicht vorbei, aber die gute Wissenschaft hat eine Schlacht gegen die Klima-Leugner gewonnen. Völlig unerwartet umfasst die Pariser Vereinbarung auch das Ziel, „die Bemühungen fortzusetzen, den Temperaturanstieg auf 1,5 °C gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen“. Die Präambel der Vereinbarung sagt, dass dieses Ziel erreicht werden soll unter Berücksichtigung der Menschenrechte, des Rechts auf Entwicklung, der Rechte der indigenen Völker und der grundlegenden Priorität der Ernährungssicherheit, wobei die Gleichstellung der Geschlechter und das Ziel eines gerechten Übergangs für die Beschäftigten berücksichtigt werden sollen. Diese Aussagen – insbesondere die 1,5 °C-Grenze – sind ein Sieg für die Klimabewegung und werden die Mobilisierungen fördern. Diese sind wichtiger denn je, denn das Abkommen der COP21 ist im Grunde ein sehr schlechtes Abkommen, sowohl ökologisch als auch sozial. Paris war ein Wendepunkt. Es markiert den Beginn einer gefährlichen globalen Politik des „grünen“ Kapitalismus, die zur Nutzung von Geo-Engineering und einer massiven Aneignung von Ökosystemen führen wird. In Wirklich- keit zielt diese Politik darauf ab, den Klimawandel nur soweit zu begrenzen, wie es zur Rettung des Kapitalismus nötig ist, aber nicht, wie es der Kampf im Interesse der Natur und der Menschen erfordern würde. Das von der COP211 beschlossene Abkommen kennzeichnet nicht einmal den Beginn einer Lösung der Klimakrise zum Wohle der Menschen und der Umwelt. a. Kein Datum für den Gipfelpunkt der Emissionen wurde festgelegt, keine Emissionsobergrenze für die kommenden Jahre wurde genannt, und das Ziel der „Klimaneutralität“ ist vage terminiert: „in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts“. b. Sicherlich bringt das Abkommen die Absicht zum Ausdruck, die Erwärmung auf deutlich unter 2 °C gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter zu begrenzen, und wenn möglich sogar auf 1,5 °C. Aber nichts wird gesagt, wie die diesen Zielen entsprechenden Kohlenstoff budgets eingehalten werden sollen. Bei der aktuellen Rate der Emissionen wird das C-Budget für 2 °C in 15 bis 20 Jahren erschöpft sein, und das für 1,5 °C schon in noch nicht einmal sechs Jahren. c. Die einzigen von den Regierungen beschlossenen quantifizierten Verpflichtungen sind die INDC2 , deren kumulative Wirkung eine Erwärmung von 2,7 bis 3,7 °C bis zum Ende des Jahrhunderts bedeuten würde. Es wird auch befürchtet, dass diese Schätzung noch zu optimistisch ist, da einige INDC nur bedingt gelten und andere den Kohlenstoff-Absorptionsmechanismen der Ökosysteme eine unverhältnismäßig große Bedeutung gegenüber Maßnahmen zur Emissionsminderung zumessen. d. Das Abkommen lässt eine Erwärmung von 3 °C oder mehr bis zum Ende des Jahrhunderts (im Vergleich zu vorindustriellen Zeiten) befürchten. Die Folgen wären dramatisch und unberechenbar für die Ökosysteme und für die Menschheit. Die Existenzbedingungen von Hunderten von Millionen von Arbeitenden, Jugendlichen, Bäuerinnen und Bauern, Armen und indigenen Völkern würden ernsthaft beeinträchtigt werden. Die Auswirkungen wären besonders negativ für die Frauen. Sogar die nackte Existenz einer bedeutenden Zahl von Menschen wäre in großer Gefahr. e. Trotz dieser schrecklichen Bedrohung enthält das Abkommen keinen verbindlichen Mechanismus, um die Lücke zwischen dem Ziel von 1,5-2 °C und den INDC im Zuge regelmäßiger Überprüfungen zu schließen. Das Abkommen verschärft die „Klima-Ungerechtigkeit“ zwischen den Ländern und innerhalb der Länder. Das Untergraben des in der UNFCCC enthaltenen 3. Inprekorr 3/2016 45 D O S S I E R : Ö KO LO G I E Prinzips der gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortung entsprechend der historischen Verantwortung, des Entwicklungsstands und der Kapazitäten der Länder setzt sich fort. a. Die Untergrenze von 100 Milliarden pro Jahr zur Finanzierung von Anpassungsmaßnahmen in Entwicklungsländern wird in den Entscheidungen der COP erwähnt, aber nicht im Abkommen. Dieser Betrag kann also neu verhandelt werden. Die Industrieländer verpflichten sich im Übrigen nur, diese Mittel zu „mobilisieren“, und der Text erwähnt nicht, dass sie, wie vorher angekündigt, „neu“ und „zusätzlich“ sein müssen. b. Die COP von Warschau hatte einen neuen Mechanismus geschaffen, um die „Verluste und Schäden“ durch die Zahl und die Heftigkeit von extremen Wetterereignissen abzudecken; durch das Fehlen des Begriffs der rechtlichen Verantwortung im Abkommen wurde dies geschwächt. c. Mit der Ankündigung der Schaffung einer „Mechanismus für nachhaltige Entwicklung“ bereitet das Abkommen eine Ausweitung der „flexiblen Mechanismen“ des KyotoProtokolls vor. Das bewirkt, dass den „Entwicklungsländern“ eine neue untergeordnete Rolle in der globalen Arbeitsteilung zugewiesen wird: Als Anbieter von Ökosystemdienstleistungen sollen sie die Emissionen des globalisierten Kapitalismus zu geringsten Kosten „kompensieren“. Dies wird zu einer Beschleunigung der Aneignung von Wald und Land zulasten der biologischen Vielfalt, der Bevölkerung, ihrer Menschenrechte und der Rechte der indigenen Völker führen. d. Es ist also kein Zufall, dass der Verweis auf die Menschenrechte und die Rechte der indigenen Völker nur in der Präambel der Vereinbarung erscheint, nicht in seinen Artikeln. Es ist kein Zufall, dass die gleiche Behandlung dem Begriff des „gerechten Übergangs“ widerfährt, der von der Gewerkschaftsbewegung verteidigt wird, um zu verhindern, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter Opfer der Klimapolitik werden. Das Abkommen bringt letztendlich den unversöhnlichen Gegensatz zum Ausdruck zwischen der kapitalistischen Produktionsweise auf der einen Seite und einem behutsamen, rationalen Austausch zwischen Menschen und Umwelt auf der anderen Seite. Mit dem Klimawandel verringert sich die Möglichkeit, die Auswirkungen dieses Antagonismus in die Zukunft zu verlagern. Die zerstörerische Kraft der kapitalistischen Produktionsweise wird damit immer offensichtlicher. a. Innerhalb der herrschenden Klassen hat sich jetzt eine Mehrheit herausgebildet, die die Realität der globalen 4. 46 Inprekorr 3/2016 Erwärmung und ihre Ursachen anerkennt. Das Großkapital kann kaum noch leugnen, dass Untätigkeit mehr kostet als Gegenmaßnahmen und ein unkontrollierbares Chaos schaffen wird, das objektiv den Kapitalismus gefährdet und seine Legitimität auf subjektiver Ebene untergräbt. Es organisiert sich, um diese Gegenmaßnahmen in verschiedenen Bereichen und auch branchenübergreifend in Richtung eines „grünen Kapitalismus“ zu steuern. b. Allerdings können die Technologien, die es erlauben die Erwärmung zu Kosten einzudämmen, die mit den Profitzwängen kompatibel sind, heute global nur wenig mehr als die Hälfte der Emissionsreduktionen realisieren, die erforderlich sind, um die Grenze von 2 °C einzuhalten, und auch das nur theoretisch. c. Praktisch muss man viele strukturelle Hindernisse berücksichtigen, insbesondere: i. Die Macht der multinationalen Konzerne, die fossile Brennstoffe ausbeuten (und der Banken, die ihre Investitionen finanzieren); ii. die Tatsache, dass diese Macht eingesetzt, um die Entwicklung „grüner“ Technologien zu bremsen, um letztendlich eine massive Entwertung von Vermögenswerten („Karbon-Blase“) zu verhindern und die maximale Energierendite zu sichern; iii. die Tatsache, dass der Mechanismus der Börsennotierung dieser multinationalen Unternehmen sie dazu zwingt, ständig das Volumen ihrer Rücklagen zu erhöhen; iv. die Tatsache, dass Handelsabkommen Gesetze außer Kraft setzen und die Klimapolitik in eine neoliberale Zwangsjacke stecken; v. die Tatsache, dass sich der kapitalistische Wettbewerb auch in den geostrategischen Rivalitäten zwischen den Staaten ausdrückt, und zwar in einem Rahmen ungleicher und kombinierter Entwicklung, in der es keine unangefochtene Führerschaft der ganzen kapitalistischen Welt gibt. d. Dies erklärt, warum die INDC kaum 20 bis 25 % von dem darstellen, was getan werden müsste, um unter 2 °C zu bleiben. Während die Dringlichkeit gewaltig ist, kommt in der Lücke von 75-80 % zwischen den projizierten Auswirkungen der INDC und dem im Abkommen enthaltenen Stabilisierungsziel die Tatsache zum Ausdruck, dass der Kapitalismus die Widersprüche, die aus dem Konflikt zwischen seinem Bedürfnis nach Wachstum und den Grenzen des Planeten entstehen, nur vor sich herschieben kann, ohne sie zu lösen. Als Folge werden sich diese Widersprüche verschärfen und zunehmend unentwirrbar werden. D O S S I E R : Ö KO LO G I E e. In der „Bodenkrise“ des 19. Jahrhunderts wurde der Antagonismus durch die Erfindung von chemischen Düngemitteln umgangen, die die produktivistische Entwicklung seit über hundert Jahren getragen haben, trotz Abschneidens des natürlichen Nährstoffkreislaufs. Angesichts des derzeitigen Bruchs im Kohlenstoffkreislauf (und der schweren Störungen in anderen natürlichen Kreisläufen) könnte man dem Antagonismus möglicherweise für einige Zeit und zu einem gewissen Grad durch Nutzung der Kernenergie, massive Nutzung von Biotreibstoffen, Anwendung von Geo-Engineering-Technologien (insbesondere von Technologien „negativer Emissionen“ wie „Bio-Energie mit Kohlenstoff-Abscheidung und -Speicherung“) und Erhöhung der Absorption von Ökosystemen ausweichen. f. Generell ist die Steigerung der natürlichen Kohlenstoffabsorption durch die Ökosysteme der einzige Weg, CO2 aus der Atmosphäre zu entfernen, der nachhaltig aus ökologischer Sicht und akzeptabel aus sozialer Sicht ist. Doch unter den konkreten kapitalistischen Bedingungen, wo jede Klimaauswirkung auf das Maß der Ströme von „Kohlenstoffäquivalenten“ reduziert wird (sozusagen „abstrakter Kohlenstoff“ als abstraktes Produkt menschlicher Arbeit), kann es sich nur um eine Pseudo-Lösung handeln: Sie erfordert notwendigerweise eine beispiellose Unterordnung/Verarmung der Ökosysteme unter die Bedürfnisse des Kapitals und damit auch eine beispiellose Unterordnung/Entfremdung aller menschlichen Tätigkeiten unter diese Bedürfnisse. Dieser Prozess ist bereits im Gange, vor allem in Form der „REDD+“3 -Projekte. Das Abkommen ist das Ergebnis einer direkten Intervention des Großkapitals in die Politik, in Abstimmung mit den internationalen Organisationen und den wichtigsten Regierungen. Die Methoden der „Governance“, wie sie auf anderen Ebenen (EU, TTIP-Verhandlungen, Handelsabkommen, ...) Anwendung finden, wurden selten in einem solchen Umfang und so deutlich eingesetzt, um die sozialen Bewegungen auszumanövrieren. Das Abkommen ist ein Sieg für die Industrieländer, vor allem für die Vereinigten Staaten, dank ihrer Allianz mit dem chinesischen bürokratischen Kapitalismus. a. Seitens der Plattformen des „grünen Kapitalismus“ wie dem World Business Council on Sustainable Development hat man entlang dieser Eckpunkte bei der COP21 verhandelt: ein „ehrgeiziges“ langfristiges Abkommen, aber gestützt auf die INDC; ohne quantifizierte Verpflichtungen zur Emissionsminderung; unter Einschluss aller Länder (oder zumindest aller großen Emittenten); alle fünf 5. Jahre überarbeitet; ohne Beschränkungen für den Seeund Luftverkehr; mit Unterstützung der internationalen Kohlenstoffmärkte. b. Bei der Entwicklung dieser Eckpunkte scheint die Global Commission on the Economy and Climate unter ihrem Co-Vorsitzenden Nicholas Stern eine wichtige Rolle als Think Tank und Schnittstelle gespielt zu haben. Die Berichte der Kommission sind in dem Geist verfasst, der bereits den Stern-Bericht4 an die britische Regierung im Jahr 2006 prägte: Der Klimawandel ist ein zu behebendes „Marktversagen“, aber wir müssen „vermeiden, zu viel zu früh zu tun“, damit die Kosten nicht „zu bedeutend“ werden, vor allem im Verkehrs- und Transportbereich. Diese langfristige makroökonomische Sicht hat sich innerhalb der herrschenden Klasse gegen die andere durchgesetzt, die den Kampf gegen den Klimawandel eher im Hinblick auf die Haushaltskosten betrachtet. c. Die Vorschläge der Geschäftswelt wurden den politischen Entscheidungsträgern im Rahmen des „flexiblen Dialogs“ mit den Unternehmen kommuniziert, der auf der COP20 von den Regierungen Perus und Frankreichs eingerichtet worden war, und dann noch einmal beim Business-Klimagipfel [Business & Climate Summit] am 20. Mai 2015 in Paris. In diesem Dialog haben die politischen Entscheidungsträger den Unternehmern versichert, dass die Klimapolitik nach ihren Interessen zugeschnitten werde. d. Fast alle „Vorschläge“ der Unternehmer finden sich im Abkommen und in den Entscheidungen wieder. Nur in zwei Punkten ist die COP von den Empfehlungen der Konzerne abgewichen: i. das Ziel, „die Bemühungen fortzusetzen, den Temperaturanstieg auf 1,5 °C gegenüber über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen, da dies die Risiken und Auswirkungen des Klimawandels deutlich reduzieren würde“. Die Einbeziehung dieses Ziels in das Abkommen selbst (Art. 2) ist ein Sieg für die Klimabewegung und die LDC [„Vierte Welt“], vor allem für die kleinen Inselentwicklungsländer. ii. die Forderung nach einem Kohlenstoffpreis (oder mehrerer auf die Kohlenstoffmärkte abgestimmter Preise) wurde nicht Gegenstand des Abkommens. Diese Frage wird wohl einer der ersten Punkte auf der Tagesordnung des „flexiblen Dialogs“ in den kommenden Monaten und Jahren sein. e. Die Einstimmigkeit zu diesen Vorschlägen ist letztlich Ausdruck der verallgemeinerten Ausrichtung der Regierungen der Welt auf neoliberale Politik, insbesondere der Regierungen mit sozialdemokratischer Beteiligung und Inprekorr 3/2016 47 D O S S I E R : Ö KO LO G I E jener der lateinamerikanischen Linken. Aber diese Ausrichtung allein war nicht ausreichend für den „Erfolg“ der COP21. Das Hindernis, das zum Scheitern des Kopenhagener Gipfels geführt hatte, musste aus dem Weg geräumt werden: direkte Verhandlungen über die Aufteilung des Kohlenstoff budgets entsprechend der Verantwortung und Fähigkeiten der verschiedenen Länder. Das Problem wurde durch Trennung des globalen Abkommens von den (selbst erklärten) Verpflichtungen der Staaten (die INDC) umgangen. f. Unweigerlich werden Fragen der Differenzierung und der Fähigkeiten bei regelmäßigen Überprüfungen des Abkommens wieder auftauchen, wenn es darum geht, zu versuchen, die Lücke zwischen ihm und den INDC zu schließen. Doch in der Praxis entbindet das Abkommen die Industrieländer davon, ein Beispiel zur Emissionsminderung zu geben. Dies ist ein Sieg besonders für die Vereinigten Staaten, die jetzt als weltweit führend in der Klimapolitik erscheinen. Durch die bilateralen Abkommen mit China vor der COP haben die USA zum einen die EU zur Seite geschoben und zum anderen Indien isoliert, sodass Indien die Idee akzeptieren musste, dass alle Länder Beiträge von Anfang an leisten müssen. g. Es versteht sich von selbst, dass der Abschluss dieses undemokratischen Prozesses durch den von der Regierung Hollande im Namen der Bekämpfung des Terrorismus (Demonstrationsverbote, präventive Verhaftungen, Grenzkontrollen usw.) verhängten Ausnahmezustand erheblich erleichtert wurde. Um die „Gesetze der (kapitalistischen) Ökonomie“ nicht infrage stellen zu müssen, hat die AG3 des IPCC Klimastabilisierungsszenarien unter Einbeziehung von Geo-Engineering berücksichtigt. Diese ideologische Voreingenommenheit hilft zu glauben, dass alle Optionen offenblieben, eine gravierende Klimastörung zu vermeiden, doch ist das nicht mehr der Fall. In Wirklichkeit kann die Obergrenze von 2 °C, wenn man nicht schnell zu radikalen antikapitalistischen Maßnahmen greifen will, nicht ohne Rückgriff auf „Negative Emissionstechnologien“ (NET) eingehalten werden. Diese sind allerdings hypothetisch und potenziell gefährlich. a. Mehr als 90 % der von der AG3 für den fünften IPCCBericht zusammengefassten „unter 2 °C“-Szenarien beinhalten die Verwendung von NET, einschließlich Biomassekraftwerken mit CO2-Speicherung (BECCS). Die Möglichkeit, CO2 aus der Atmosphäre durch diese Technologien zu entfernen, ist hypothetisch. Darüber hinaus verbinden die BECCS die physikalischen Gefahren 6. 48 Inprekorr 3/2016 von Capture-Sequestrierung5 (insbesondere die Leckagegefahr der Tanks) mit den sozialen Gefahren einer umfassenden Konkurrenz zwischen Nahrungs- und Energiepflanzen. b. Nach den Szenarien des IPCC ohne NET hätten die Emissionen weltweit spätestens im Jahr 2010 ihren Spitzenwert erreichen müssen, um eine Chance von 66 % zu haben, unter der 2°-Grenze zu bleiben. Das Verschieben dieses Gipfelpunkts unterstreicht das Versagen der kapitalistischen Klimapolitik seit Rio (1992). Es wurde von den Regierungen mit Unterstützung des IPCC vor der Öffentlichkeit verborgen. Die Szenarien mit NET verschieben den Gipfelpunkt der Emissionen, aber diese Verschiebung basiert auf der riskanten Wette, dass das Überschreiten des Kohlenstoff-Budgets später im Jahrhundert durch Entfernen von CO2 aus der Atmosphäre dank der NET ausgeglichen werden könne. c. In dem Maße, in dem die Regierungen die fünfjährlichen Überprüfungen des Abkommens nutzen wollen, um die Lücke zwischen den INDC und dem Abkommen zu schließen, haben sie im Rahmen des Kapitalismus keine andere Wahl, als auf NET zurückzugreifen, vor allem auf BECCS. Ohne diese Technologien wird es nicht möglich sein, unter 2 °C zu bleiben, und erst recht nicht unter 1,5 °C. Die Einhaltung dieser Grenzen bleibt zwar möglich, aber nur unter Bedingung, dass aus der produktivistischen Marktlogik ausgestiegen wird, zumindest in bestimmten Schlüsselbereichen der Wirtschaft: Landwirtschaft, Energie und Verkehr. d. Allerdings regen die NET den Appetit der multinationalen Konzerne auf fossile Energien sogar noch an. Diese nutzen die wachsende Abhängigkeit der Forschung von Unternehmen, um Untersuchungen zu finanzieren, die auf die Möglichkeit spekulieren, durch die BECCS der Atmosphäre eine Menge an CO2 zu entziehen, die einem Kohlenstoff-Budget von 2 °C entspricht, was die Möglichkeit zur Ausbeutung fossiler Reserven entsprechend verlängern würde. e. Indem er Stabilisierungsszenarien einbezieht, die hypothetische und potenziell gefährliche Technologien integrieren, weicht der IPCC von Artikel 3 der UNFCCC ab, der besagt, dass „die Parteien Vorsorgemaßnahmen ergreifen sollen, um die Ursachen des Klimawandels zu antizipieren, zu verhindern oder zu minimieren und seine negativen Auswirkungen zu mindern (...), unter Berücksichtigung, dass Politik und Maßnahmen kostengünstig sein sollten, um sicherzustellen, dass globaler Nutzen zu niedrigstmöglichen Kosten erreicht wird“. Allerdings sind D O S S I E R : Ö KO LO G I E die NET keine „Vorsorgemaßnahmen“ und es gibt keinen empirischen Beweis für ihre Unschädlichkeit. f. Artikel 3 der UNFCCC spricht deutlich von geringeren Kosten für die Menschheit als Ganzes und meint damit nicht nur die wirtschaftlichen Kosten für die Unternehmen, sondern auch andere Kosten (sonst hätte der Begriff „globale Vorteile“ keinen Sinn). Allerdings erklärt die AG3 des IPCC, Abstand von der „idealisierten Annahme“ zu nehmen, dass die Emissionsreduktionen sich „zu dem Zeitpunkt umsetzen ließen, wo die Kosten am geringsten“ sind. Dieses Eingeständnis steht mit der durch die NET ermöglichten Verschiebung des Gipfelpunkts der Emissionen in Einklang, die ja die Gesamtkosten erhöht. In der Tat bedeuten die Integration von Szenarien mit NET, dass die AG3 des IPCC davon Abstand nimmt, nach einer Stabilisierung zu geringsten Kosten für die Menschheit zu suchen, weil der „Realismus“ die Forscher dazu bringt, eine Stabilisierung zu geringsten Kosten für den das kapitalistische System dominierenden Finanz/Fossil-Komplex zu suchen. Für diese Entscheidung steht das IPCC als Ganzes in der Verantwortung. Im selben Augenblick, in dem die gute Wissenschaft einen Sieg über die KlimaLeugner erringt, wirft dies einen Schatten auf die Arbeit zur Bewusstseinsbildung, die seit mehr als dreißig Jahren von vielen hartnäckigen Forschern und vom IPCC selbst geleistet wird. Soziale Mobilisierungen für das Klima haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Und dies hat die COP unter Druck gesetzt. Trotz des Inhalts des Abkommens wird das Ergebnis von Paris neue Energien freisetzen. Die Lücke zwischen den 1,5 °C und den INDC ist der Schwachpunkt der kapitalistischen Strategie. Dies ist der Punkt, an dem wir handeln und eine Legitimität schaffen müssen, die zivilen Ungehorsam rechtfertigt. Wir müssen zur Klimabewegung beitragen als einer „weltweiten Erhebung“, als einer breiten und pluralen Bewegung, die auf der optimistischen und bestimmten Botschaft basiert, dass es nicht nur notwendig, sondern möglich und legitim ist, die Einhaltung der 1,5 °C-Grenze in Klimagerechtigkeit und ohne Zauberlehrlingstechnologien durchzusetzen. a. Zunächst einmal könnte der „einmütige Erfolg“ der COP Gefahr laufen, einen Teil der sozialen und Umweltorganisationen, die sich beim COP von Warschau zurückgezogen hatten und die jetzt denken, dass die Entscheidungen von Paris das Ende der fossilen Brennstoffe einläuten würden, ins Lobbying zu treiben. Aber die Illusionen werden von kurzer Dauer sein. Der Mechanis- 7. mus der regelmäßigen Überprüfung, der beschlossen wurde, um zu versuchen, die Lücke zwischen den INDC und dem Abkommen zu schließen, wird bald zeigen, dass nichts geregelt ist und neue Gefahren entstehen. Die Schaffung eines Kräfteverhältnisses durch Massenaktionen ist die einzig mögliche Strategie. b. Auf der anderen Seite müssen wir Weltuntergangsszenarien entgegentreten, die ein Teil der ökologischen Bewegung zu entwickeln neigt. Eine unkritische Lektüre der IPCC-Berichte löst in der Tat bei einigen die Idee aus, dass ein Zusammenbruch der Menschheit nun unvermeidlich, jeder Kampf zwecklos und der Rückzug auf widerstandsfähige Gemeinschaften die einzige Lösung sei. c. Die Termine für die regelmäßige Überprüfung des Abkommens und die des „flexiblen Dialogs“ mit den Unternehmen sind Gelegenheit für Mobilisierungen, die genutzt werden müssen, um den Einfluss der Unternehmen auf die Klimapolitik anzuprangern und maximalen Druck auf Entscheidungsträger auszuüben, durch Straßendemonstrationen oder jede andere Art von Massenaktion, die alle Bestandteile der Bewegung zusammenführt. d. Gleichzeitig ist es wichtig, dass sich die Bewegung nicht auf diese Agenda beschränken lässt und eigene lokale Aktivitäten nach eigenem Zeitplan entwickelt und koordiniert. In diesem Rahmen spielt die Blockade von Großprojekten zur Nutzung von fossilen Brennstoffen, Extraktivismus6 , gefährlichen Technologien und solchen der Kohlenstoffkompensation (REDD+) eine strategische Rolle. Diese Kämpfe beinhalten oft ein hohes Maß an Konfrontation mit den Repressionskräften. Sie müssen weltweit unterstützt und bekannt gemacht werden. Die Verteidigung des Klimas ermöglicht es, sie zusammenzuführen. e. Indigene Völker leisten einen wichtigen Beitrag zur Klimabewegung, nicht nur wegen ihrer Rolle bei der Blockierung großer Abbau- und Wald-Kompensationsprojekte, sondern auch weil ihre Weltanschauung dazu einlädt, eine Vorstellung von den Beziehungen zwischen Gesellschaft und Natur unter Anerkennung des Gleichgewichts der Austauschprozesse als Alternative zur Ideologie des kapitalistischen Raubbaus (Extraktion-ProduktionKonsumtion-Abfall) neu zu entwickeln. f. Die Bauernbewegung ist ein entscheidender Bestandteil der Klimabewegung, weil sie aus Produzenten – und vor allem Produzentinnen – besteht, die die Fähigkeit haben, sofort ganz praktisch zu einer nachhaltigen Produktion überzugehen. Dies erlaubt Ernährungssouveränität, qualitativ hochwertige Lebensmittelversorgung, BekämpInprekorr 3/2016 49 D O S S I E R : Ö KO LO G I E fung der Frauenarmut, Kohlenstoffspeicherung in Böden, Förderung der Artenvielfalt und den Stopp chemischer Vergiftung der Biosphäre. In jedem Fall wird es notwendig sein, bis zum Ende des Jahrhunderts CO2 aus der Atmosphäre zu entfernen, und eine ökologische Landwirtschaft ist der einzige Weg, dies sicher und in sozialer Gerechtigkeit zu erreichen. Es ist sehr wichtig, sich an Initiativen zu beteiligen, die die Entwicklung dieser Art von Landwirtschaft unterstützen, einschließlich selbstorganisierter alternativer Netzwerke, die die großen kapitalistischen Handelsketten umgehen. g. Das Ziel der Klimagerechtigkeit ist die Achse, um alle Teile der Klimabewegung zusammenzuführen. Es geht nicht nur um Unterschiede in der Verantwortung und den Fähigkeiten zwischen Nord und Süd, sondern ganz allgemein um die Klassenfrage in jedem einzelnen Land. Die Hauptverantwortlichen für die Katastrophe müssen identifiziert und bestraft werden. Diese Verantwortlichen sind multinationale Unternehmen des Finanz/FossilKomplexes in dessen Zentrum sich Energieunternehmen befinden und die Finanzgruppen, die auch das Agrobusiness finanzieren. Klimagerechtigkeit verlangt, dass diese Verantwortlichen, egal ob aus dem Norden oder Süden, die Kosten für die Anpassungs-, Minderungs- und Ersatzmaßnahmen sowie für Verluste und Schäden zu bezahlen haben. In letzter Instanz erfordert dies ihre Enteignung zum Nutzen der Gemeinschaft. Innerhalb der Bewegung muss die Anklage dieser Gruppen für ihre Verbrechen gegen die Menschheit und gegen die Umwelt akzentuiert werden und Kampagnen, die zu ihrer Diskreditierung beitragen (insbesondere die Bewegung für Desinvestition) sollten unterstützt werden. Die Arbeiterbewegung steht beim Kampf für das Klima insgesamt abseits. Die Gewerkschaftsführungen sind sich meist der Gefahren durch den Klimawandel bewusst und tragen dazu bei, das Bewusstsein ihrer Mitglieder darüber zu schärfen. Aber diese Führungen glauben mehrheitlich auch an die massive Schaffung grüner Arbeitsplätze durch eine Strategie der Zusammenarbeit für einen kapitalistischen Übergang im Austausch für gerechte soziale Bedingungen. Dieser Weg ist weder sozial noch ökologisch vertretbar. Die Klimabewegung muss ihre Zusammenarbeit und Diskussion Intensivieren, vor allem mit den Sektoren der Gewerkschaftsbewegung, die eine alternative, sowohl soziale als auch ökologische Strategie verteidigen und an Mobilisierungen teilnehmen. a. Die Resolution „Klima“ des 2. IGB-Kongresses (Vancouver, 2010) schreibt den Klimawandel nicht dem 8. 50 Inprekorr 3/2016 Kapitalismus zu, sondern einem „Modell“, das die „Schaffung von Wohlstand von Umweltzerstörung abhängig macht und eine inakzeptable Ungleichheit erzeugt.“ Der IGB setzt sich für einen gerechten Übergang ein und fordert ein internationales Abkommen, dass „gerecht, ehrgeizig und verbindlich“ (...) ist und „die Lebensbedingungen der Menschen verbessert, ohne die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft zu gefährden oder die öffentlichen Haushalte übermäßig zu belasten.“ Doch ein „gerechter Übergang“, der „die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft“ (einschließlich der Wettbewerbsfähigkeit des fossilen Kapitals!) verteidigt, lässt sich nicht mit der Forderung nach Klimagerechtigkeit vereinbaren. b. Im „Green Jobs Report“, der gemeinsam mit ILO, IOE und UNEP7 erstellt wurde, zeigt der IGB Möglichkeiten zur Schaffung grüner Arbeitsplätze auf. Allerdings werden dabei auch Arbeitsplätze mitgerechnet, die durch „Lösungen“ des grünen Kapitalismus entstehen, wie Biokraftstoffe, Abscheidung und Einlagerung von CO2, Wald-Kompensationsprojekte (REDD und REDD+), Pseudo-Zertifizierung von Waldprodukten und Fischerei, industrielle Baumpflanzungen in Monokulturen usw. Der Report sagt nichts über die Definition von „grünen Arbeitsplätzen“, was zu dem Schluss führt, dass Arbeitsplätze in Atomkraft und Großwasserkraft auch „grüne Arbeitsplätze“ sind. c. Die IGB-Führung verbindet Illusionen in grünen Kapitalismus mit Illusionen in die Klassenzusammenarbeit. Umwelt-Grenelle (Frankreich), Green Economy Accord (Südafrika) und Climate Strategy (Brasilien) werden als Beispiele für „gewerkschaftliche Beteiligung am nationalen Dialog“ für einen gerechten Übergang zitiert. Auf internationaler Ebene ist die IGB-Generalsekretärin eines von 24 Mitgliedern der Weltkommission für Wirtschaft und Klima. Sie begrüßte die Tatsache, dass der „gerechte Übergang“ in dem Bericht dieser Kommission erwähnt wurde. Tatsächlich ist diese Aussage rein formal (wie in der Präambel des Abkommens von Paris). Sie dient nur dazu, die Gewerkschaftsbewegung in die kapitalistische Klimapolitik einzubinden. d. Einige Strömungen der Arbeiterbewegung entwickeln eine andere, sowohl soziale als auch ökologische, sogar antikapitalistische Strategie. Dies ist der Fall bei der Internationalen Transportarbeiter-Föderation (ITF). Für die ITF ist die Klimakrise „systemisch“ und nicht das Produkt eines fehlerhaften „Modells“: „Der Anstieg der Emissionen und der Klimawandel sind die Symptome einer tiefen Disharmonie zwischen der Dynamik des globalen Kapitalismus D O S S I E R : Ö KO LO G I E und unseren fragilen Ökosystemen.“ Die ITF beteiligt sich am Zusammenschluss „Gewerkschaften für Energiedemokratie“ (Trade Unions for Energy Democracy), der den Gedanken verteidigt, dass der Kampf gegen den Klimawandel einen „Transfer von Ressourcen, Kapital und Infrastruktur von privaten Händen zu öffentlichen Einrichtungen erfordern wird. Er wird auch erfordern, dass die bestehenden öffentlichen Einrichtungen, die sich heute wie private oder ‚staatskapitalistische‘ Unternehmen verhalten, in einer Weise neu orientiert werden, dass sie die Energiekrise angehen können.“ e. Diese und andere Positionen müssen in Basisaktionen umgesetzt werden, die die arbeitenden Menschen gemeinsam in konkreten Kämpfen für Forderungen einbeziehen, die soziale Bedürfnisse erfüllen und gleichzeitig den Ausstoß von Treibhausgasen reduzieren. Die Kampagnen „Eine Million Klima-Arbeitsplätze“ in Großbritannien und in Südafrika sind dafür gute Beispiele, wie auch die Teilnahme vieler Gewerkschaften am Kampf gegen die Keystone-XL-Pipeline in den Vereinigten Staaten. f. Überall sind Arbeiterinnen und Arbeiter als Individuen aktiv und viele in Umweltkämpfen, die für sie offensichtlich auch soziale Kämpfe sind. In den kommenden Jahren wird es von zunehmender strategischer Bedeutung sein, dass eine solche Beteiligung auch von ihren Organisationen getragen wird und somit einen Klassencharakter annimmt. Es ist unverzichtbar, die Glaubwürdigkeit der ökosozialistischen Alternative zum Kapitalismus zu stärken, diesem absurden System, das „die beiden einzigen Quellen allen Reichtums erschöpft: Land und Arbeit“. Übersetzung und Fußnoten: Björn Mertens 1 Die 21. UN-Klimakonferenz fand vom 30. November bis 12. Dezember 2015 in Paris statt. 2 Klimaschutz-Zusagen der Länder ( Intended Nationally Determined Contributions) 3 REDD: Reduzierung von Emissionen aus Entwaldung und Waldschädigung; REDD+: zusätzlich Nutzung von Wäldern in Entwicklungsländern als Kohlenstoffspeicher 4 Siehe Inprekorr Nr. 428/429 (Juli/August 2007), S. 4 5 Kohlendioxidabtrennung und –speicherung (CCS) 6 Abbau von Bodenschätzen für den Export 7 ILO: Internationale Arbeitsorganisation, IOE: Internationaler Arbeitgeberverband, UNEP: Umweltprogramm der Vereinten Nationen KAPITALISMUS, ARBEIT UND NATUR: DEN TEUFELSKREIS DURCHBRECHEN „Die Welt besitzt den Traum von einer Sache, von der sie nur das Bewusstsein besitzen muss, um sie wirklich zu besitzen.“ (Karl Marx, Brief an Arnold Ruge) Daniel Tanuro Der Kapitalismus lässt sich aus verschiedener Sicht definieren. Aus dem Blickwinkel der Ausgebeuteten handelt es sich um ein System, in dem die natürlichen Ressourcen der Erde von einer Minderheit monopolisiert werden. Auch die anderen Produktionsmittel befinden sich im Besitz dieser Minderheit. Um zu überleben, bleibt der Mehrheit nichts anderes übrig, als ihre Arbeitskraft zu verkaufen – im Grunde genommen muss sie sich selbst verkaufen. Die Mehrheit hängt somit vollständig von den Besitzenden ab und ist von der eigenen Existenzsicherung entfremdet, was letztlich eine Entfremdung vom Menschsein bedeutet. Die Besitzenden kaufen die Arbeitskraft – oder auch nicht – für eine gewisse Zeit und zahlen dafür einen Lohn. Scheinbar ein gerechtes Geschäft … außer dass der Wert der Arbeitskraft (der Lohn) tiefer angesetzt wird als der Wert der geleisteten Arbeit. Die Differenz macht den Profit. Noch nie zuvor wurde die Arbeit so wirksam ausgebeutet. Insbesondere lässt sich auf diese Art mehr Profit erzielen als mit Leibeigenschaft und Sklaverei, zwei Produktionsweisen, bei denen die Ausbeutung transparent und offen sichtbar war. Aus Sicht des gesellschaftlichen Reichtums definiert sich der Kapitalismus als allgemeine Produktion von Gütern, die dazu dienen, immer mehr menschliche Bedürfnisse in immer größerem Umfang zu erfüllen. Dabei ändert es nichts an der Sache, ob diese Bedürfnisse echt sind oder nicht, „ob sie dem Magen oder der Fantasie entspringen“, ob sie vom Kapital geschaffen werden oder Inprekorr 3/2016 51 D O S S I E R : Ö KO LO G I E nicht, um dem Produktivismus Absatzmärkte zu liefern. Die enorme Anhäufung von Produktions- und Konsumgütern, durch die sich dieses System auszeichnet, ist historisch ebenfalls einzigartig. Ihr Antrieb ist die Konkurrenz um Profit. Denn jedem Kapitaleigentümer droht das wirtschaftliche Aus, wenn er nicht ständig versucht, die Produktivität der ausgebeuteten Arbeit zu steigern, das heißt, die ArbeiterInnen durch Maschinen zu ersetzen. Seit der Erfindung der Dampfmaschine durch James Watt hat sich die Dynamik von Mechanisierung und Akkumulierung unaufhörlich verstärkt. Das kann auch gar nicht anders sein, denn jeder Fortschritt in der Mechanisierung verkleinert den Anteil der menschlichen Arbeit, das heißt die Menge des geschaffenen Werts, also die Profitrate. Es ist ein Hauptwiderspruch des Kapitalismus, dass sich der tendenzielle Fall der Profitrate nur dadurch kompensieren lässt, dass die Profitmenge vergrößert wird. Dies geschieht einerseits durch die Steigerung der Produktion und andererseits durch die Steigerung der Ausbeutungsrate – der unbezahlten Arbeit. So bewegt sich das System unweigerlich in Richtung Sozialabbau und Umweltzerstörung. Der Kapitalismus als Hors-sol-System Aufgrund seiner Wachstumslogik lässt sich der Kapitalismus auch aus Sicht der Naturbeziehung definieren. Frühere Gesellschaften stützten sich noch unmittelbar auf die Produktivität der Natur. Wenn sie die ökologischen Grenzen überschritten, konnte dies nur von kurzer Dauer sein und kam sie teuer zu stehen. Erst die Entwicklung neuer Kenntnisse und landwirtschaftlicher Techniken erlaubte es, die Grenzen auszuweiten (zum Beispiel die Entdeckung, dass sich Leguminosen als „Gründüngung“ eignen, weil sie den Stickstoff aus der Luft im Boden binden). Beim Kapitalismus verhält es sich anders. Dank der Industrie und Technologie (angewandte Wissenschaft für die Produktion) kann er die Grenzen künstlich verschieben, indem er natürliche Stoffe durch chemische Produkte ersetzt. Der Kapitalismus tendiert sozusagen dazu, sich „horssol“ zu entwickeln. Ein gutes Beispiel dafür ist die Zerstörung der Nährstoffkreisläufe im Zuge der kapitalistischen Urbanisierung im 19. Jahrhundert. Die daraus resultierende Abnahme der Bodenfruchtbarkeit konnte durch die Erfindung synthetischer Düngemittel kompensiert werden. Das funktioniert auch heute noch. Gleichzeitig ist aber auch klar, dass diese Hors-sol-Entwicklung nicht unbegrenzt weitergehen kann. Früher oder später wird das 52 Inprekorr 3/2016 System von den Gegensätzen zwischen seiner Wachstumsbulimie und der Endlichkeit der Ressourcen eingeholt werden. Der Schock wird groß sein, denn die Probleme nehmen durch das Aufschieben und Verdrängen laufend zu. Schwieriger, als Maßnahmen gegen die Erschöpfung der Böden einzuleiten, ist es, einen kapitalistischen Ausweg aus der globalen Erwärmung zu finden. Die Lage ist äußerst kritisch: Infolge des langen Zuwartens genügt es heute nicht mehr, den Ausstoß an Treibhausgasen zu reduzieren, um die Klimakatastrophe abzuwenden. Zusätzlich müssen wir der Atmosphäre nun auch Kohlendioxid entziehen. Daraus zu schließen, dass der Kapitalismus zusammenbricht, wäre jedoch vorschnell. Im Gegenteil, es droht ein barbarischer Kapitalismus. Wenn wir die drei beschriebenen Sichtweisen kombinieren, können wir die schwierige Aufgabe, vor der die ökologischen Kämpfe stehen, anpacken. Natürlich sind diese Kämpfe per Definition sozial: Die Ausgebeuteten und Unterdrückten leiden am stärksten unter der Umweltzerstörung, also jene, die dafür am wenigsten verantwortlich sind. Die Klimakatastrophe bedroht die Existenz von Hunderten Millionen Menschen. Viele sind sich dessen bewusst und werden aktiv. Allerdings engagieren sich die sozialen Gruppen in unterschiedlichem Umfang: Stark beteiligt sind Bauern und Bäuerinnen und indigene Völker, auch Frauen sind besonders aktiv; die ArbeitnehmerInnen jedoch halten sich generell zurück. Die Arbeitswelt als strategische Aufgabe Die Zurückhaltung der ArbeitnehmerInnen ist ein großes Handicap: Eigentlich könnten sie die kapitalistische Zerstörungsmaschine lahmlegen und der Menschheit und Natur damit einen riesigen Dienst erweisen –doch die Arbeiterklasse scheint durch ihre Stellung und ihren Dienst an der Maschine wie gelähmt! Die Erklärung dafür ist einfach: Die ArbeitnehmerInnen hängen existenziell von ihrem Lohn ab, der Lohn hängt von der Beschäftigung durch das Kapital ab und die Beschäftigung durch das Kapital hängt vom Wachstum ab. Fehlt das Wachstum, verstärkt die Mechanisierung die Erwerbslosigkeit, die Kräfteverhältnisse verschlechtern sich und die Gewerkschaften können die Löhne oder die soziale Sicherheit immer weniger gut verteidigen. Genau an diesem Punkt befinden wir uns heute: Die Gewerkschaften sind in der Defensive, geschwächt durch hohe Arbeitslosigkeit und Globalisierung. Während die Bauern und Bäuerinnen ihre Produktionsmittel ganz oder teilweise besitzen und die indigenen D O S S I E R : Ö KO LO G I E Völker ihre Existenz durch die direkte Verbindung mit der Natur sichern, fehlen den ArbeitnehmerInnen die entsprechenden Möglichkeiten. Doch daraus abzuleiten, dass sie im Dienste des Produktivismus stehen, ist zu einfach und völlig unangebracht. Natürlich konsumieren sie, und die Bestgestellten unter ihnen konsumieren in einem Maße, das ökologisch nicht vertretbar ist. Aber ist das ihre Schuld? Ist die ungebremste Konsumwut nicht vielmehr ein Produkt der Geldillusion, die alles für alle erreichbar scheinen lässt? Dient übermäßiger Konsum nicht eher dazu, die verarmten menschlichen Beziehungen in dieser merkantilen Gesellschaft zu kompensieren? Viele ArbeitnehmerInnen sind sich der Umweltproblematik bewusst und machen sich Sorgen über die ökologischen Gefahren, die ihnen und ihren Kindern drohen. Viele wünschen eine Veränderung, die es ihnen erlaubt, gut zu leben und der Umwelt Sorge zu tragen. Die Frage lautet: Was ist zu tun und wie ist es zu tun? In einer zunehmend verstädterten Welt können wir den ökologischen Kampf nur gemeinsam gewinnen. Deshalb ist es von strategischer Bedeutung, die Arbeitswelt bei der Beantwortung dieser Frage zu unterstützen. Es geht nicht nur darum, dass sich die ArbeiterInnen an den ökologischen Mobilisierungen beteiligen, sondern sie müssen als ProduzentInnen kollektiv präsent sein. Nur so kann ihre Beteiligung die volle Wirkung entfalten. Außerdem müssen sie sich in ihrer Eigenschaft als ProduzentInnen in den Fabriken, Büros und an den anderen Arbeitsplätzen um die ökologische Frage kümmern. So wie es LandwirtInnen und indigene Völker tun. Möglich ist dies nur im Rahmen einer Strategie, die die ökologischen und sozialen Kämpfe vereint und zu ein und demselben Kampf macht. Dies erfordert: 1. ein richtiges Verständnis der zerstörerischen Kraft des Kapitalismus, 2. die Vorstellung einer anderen, nämlich ökosozialistischen Gesellschaft und 3. ein Programm und Forderungen, die Lösungen zu ökologischen und sozialen Fragen liefern, sodass jeder und jede würdig leben und sich für die Gemeinschaft nützlich machen kann. Kompromiss mit dem grünen Kapitalismus? Abgesehen von einigen Ausnahmen hat die Gewerkschaftsbewegung begriffen, dass sie sich mit der Umweltfrage befassen muss. Der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB) unternimmt Anstrengungen, um das entsprechende Bewusstsein zu fördern. Auf seinem zweiten Weltkongress (Vancouver 2010) verabschiedete er eine Resolution zum Klimawandel. Dieser Text bekräftigt, dass der Kampf gegen die globale Erwärmung eine gewerkschaftliche Frage ist und dass es ein internationales Abkommen zur Einhaltung des Zwei-Grad-Ziels braucht. Außerdem vertritt er das Prinzip der gemeinsamen, aber für Nord und Süd differenzierten Verantwortung, pocht auf die Rechte der Frauen und fordert einen „gerechten Übergang“ im Bereich der Arbeit … Der Umgang mit der Frage der Arbeit ist allerdings zweideutig. Da der IGB glaubt, der grüne Kapitalismus werde für Wachstum und „grüne Arbeitsplätze“ sorgen, ist er bereit, am Übergang mitzuarbeiten – vorausgesetzt, dass die Rechnung für die Arbeitswelt nicht zu hoch ausfällt und den Sektoren, die in der Kritik stehen, eine Umorientierung angeboten wird. Allerdings betrachtet der IGB auch Arbeitsbereiche als „grün“, die es überhaupt nicht sind: CO2-Abscheidung und -Speicherung, Vertrieb von „Label“-Produkten aus „nachhaltiger“ Waldwirtschaft und Fischerei (betrügerische Labels), Mechanismen zur Kompensation von Emissionen mithilfe der Wälder (REDD+), Baumpflanzungen in Monokulturen und CO2-arme Energieformen (inklusive Kernenergie?). Ein Ausdruck dieser zweideutigen Haltung ist, dass die Resolution von Vancouver fordert, der „gerechte Übergang“ dürfe die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen nicht gefährden. Damit ist klar: Der IGB glaubt, das Klima könne gerettet werden, ohne die produktivistische Logik infrage zu stellen. Schlimmer noch: Zur Bekämpfung der Erwerbslosigkeit sieht er kein anderes Mittel als Wachstum. Das geht so weit, dass die IGB-Generalsekretärin Mitglied der „Global Commission on the Economy and Climate“ ist, einem einflussreichen Organ, das von Nicholas Stern mitgeleitet wird. Der Bericht dieser Kommission („Better Growth, Better Climate“) listet neoliberale Maßnahmen auf, mit denen nur knapp über 50 Prozent der Emissionsminderungen erreicht werden, die für die Einhaltung des Zwei-Grad-Ziels nötig wären. Immerhin ist Stern kohärent: Um „zu hohe Kosten“ zu vermeiden, plädierte sein Bericht von 2006 für eine Stabilisierung des Klimas auf 550 ppm CO2-eq – was einer Erwärmung von mehr als drei Grad im Zeitraum von heute bis Ende Jahrhundert entspricht. Der IGB ist nicht so kohärent. Lässt sich die Gewerkschaftsbewegung ins Schlepptau des Kapitalismus nehmen, riskiert sie, zur Komplizin weitreichender Klimaverbrechen zu werden, deren Opfer die Armen sind. Wir müssen einen anderen Weg einschlagen. In welche Richtung er führt, zeigen uns die Betriebe, Inprekorr 3/2016 53 D O S S I E R : Ö KO LO G I E die in Argentinien oder anderswo von den ArbeiterInnen übernommen wurden. Bei den Firmen RimaFlow (Mailand) oder Fralib (Marseille) kämpfen die ArbeiterInnen gegen die drohende Erwerbslosigkeit und versuchen nun, unter Berücksichtigung ökologischer Anliegen für die sozialen Bedürfnisse zu produzieren. Weitere Elemente einer Alternative finden sich in den Stellungnahmen des Netzwerks „Trade Unions for Energy Democracy“ (TUED), das sich dafür einsetzt, den Energiesektor in die öffentliche Hand zu überführen. Angesichts des Kapitalismus in der Krise und des Klimaproblems ist es illusorisch zu hoffen, die Arbeitslosigkeit könne durch einen Kompromiss mit dem „Wachstum“ überwunden werden. Im Gegenteil, die einzige kohärente Strategie, um Ökologie und Soziales in Einklang zu bringen, besteht darin, den Produktivismus – also den Kapitalismus – radikal infrage zu stellen. Wir müssen Neues wagen. Vier Punkte stehen dabei im Vordergrund: die Zusammenarbeit mit den Bauern und Bäuerinnen gegen das Agrobusiness und die großen Handelsketten, die Enteignung des Finanzsektors (der mit dem Energiesektor stark verflochten ist), die Entwicklung des öffentlichen Sektors (Verkehrsbetriebe, Gebäudeisolierung, Pflege der Ökosysteme …) sowie eine radikale Arbeitszeitverkürzung (Halbtagsarbeit), ohne Lohneinbußen, mit Neueinstellungen und Taktreduzierung. Jenseits der unzähligen Flachbildschirme und Smartphones, der Hightech-Autos und All-inclusive-Ferien, jenseits dieser Spielereien, mit denen man die Beschäftigten von ihrer Ausbeutung ablenkt, wissen die ArbeiterInnen im Grunde genommen genau, dass ihr wirkliches Interesse, nämlich ihre Zukunft und die ihrer Kinder, nicht darin besteht, die zerstörerische Spirale des Kapitals am Laufen zu halten, sondern sie zu durchbrechen. Nur die soziale Praxis kann dieses diffuse Gefühl in Bewusstsein und Organisation umwandeln. Auf zur Tat! (24. Februar 2016. Ursprünglich wurde dieser Artikel für die Zeitschrift des von Eric Toussaint mitgegründeten Netzwerks CADTM verfasst. Leider publizierte die Zeitschrift den Beitrag von Daniel Tanuro nicht.) Übersetzung: Alena Wehrli 54 Inprekorr 3/2016 VON MÜCKEN UND MENSCHEN – DIE SOZIALE GENESIS DES ZIKA-VIRUS Am 1. Februar 2016 hat die WHO aufgrund des akuten Ausbruchs von NeugeborenenMikrozephalie in Brasilien den „globalen Gesundheitsnotstand“ ausgerufen. Wie erst kürzlich bei Ebola geschehen, dürfte auch dies dafür sorgen, dass wieder Milliarden öffentlicher Gelder in die Entwicklung fragwürdiger Medikamente fließen. Dabei ist die Beweislage für die (Allein-) Schuld des Zika-Virus mehr als mager. Jean Batou Im Allgemeinen bleibt eine Infektion mit dem Zika-Virus beschwerdefrei und in einem von fünf Fällen entwickeln sich leichte Grippesymptome. Nur in Ausnahmefällen kommt es zu einer schweren Autoimmunreaktion, dem sog. Guillain-Barré-Syndrom. Ernster jedoch scheinen die Folgen für schwangere Frauen zu sein, deren Neugeborene mitunter an Mikrozephalie und manchmal auch Blindheit leiden. Trotz alledem ist der monokausale Zusammenhang zwischen diesen Missbildungen und dem Zika-Virus keinesfalls absolut gesichert. Gestörtes ökologisches Gleichgewicht Erstmals wurde dieser Virus 1947 in Uganda identifiziert, das damals englische Kolonie war, weswegen er auch den Namen eines dortigen Waldes trägt. Damals wurde er von einer in den tropischen Wäldern vorkommenden Stechmücke, Aedes Africanus, übertragen, deren nächste Artverwandte Aedes Aegypti und Aedes albopictus (Tigermücke) sich in Gebieten vermehren, die von Monokultur und Bergbau entwaldet worden sind, manchmal jedoch auch in D O S S I E R : Ö KO LO G I E angrenzenden urbanen Siedlungen, wo sie den Keim in gleicher Weise übertragen. Doch während in dem komplexen Ökosystem eines Waldes eine große Anzahl pathogener Substanzen im Gleichgewicht mit ihrem Wirtsorganismus leben, ändert sich dies grundlegend, sobald sie in ein Milieu gelangen, das infolge von Profitgier in Zeiten der kapitalistischen Globalisierung aus dem Gleichgewicht gebracht worden ist. Nunmehr werden sie von Vektoren getragen, die üblicherweise in engem Kontakt mit Menschensiedlungen leben. Infolge der allerorts fortschreitenden Entwaldung, der Zunahme exportbestimmter Monokulturen und der galoppierenden Verstädterung der südlichen Halbkugel ist der Zika-Virus zunächst nach Südostasien gelangt, anschließend nach Französisch- Polynesien und dann nach Kolumbien (2014) und Brasilien (2015), wo sein Epizentrum im Westen des Bundesstaates Bahia mit der aktuellen Ausdehnungsgrenze der neoliberalen Expansion übereinstimmt. In diesem Gebiet wurden Millionen Hektar in Farmen umgewandelt und für künstlich bewässerte Monokulturen von Soja, Baumwolle, Mais, Kaffee, Obstplantagen etc. zu Exportzwecken bestimmt. Diese ökologischen Verwerfungen haben in der Folge dann zu einer Invasion von anthropophilen Stechmücken geführt, die eine Vorliebe für menschliches Blut haben, etwa der Aedes albopictus, der Aedes Egypti oder anderer Arten, die diesen Virus bewirten. Zika und Mikrozephalie Was die Epidemiologie angeht, gibt es im Moment nur eine Gewissheit, nämlich dass die austeritätsfixierte Wirtschaftspolitik zur endemischen Verelendung ganzer Regionen geführt hat und die bestehenden und selbst rudimentären öffentlichen Versorgungs- und Sozialleistungen in den Bereichen Ernährung, Wasser- und Abwasserversorgung, Wohnungs- und Gesundheitswesen etc. zugrunde gerichtet hat. Insofern ist diese Politik für die wachsende Anfälligkeit der ärmsten Bevölkerungsschichten gegenüber den Erkrankungen verantwortlich, die gerade von Stechmücken übertragen werden. Zika ist aber deswegen über Nacht in den Mittelpunkt des weltweiten Interesses gerückt und hat gar die WHO dazu veranlasst, einen globalen Gesundheitsnotstand auszurufen, weil der Virus unter starkem Verdacht steht, eine Epidemie mit Mikrozephalie unter den Neugeborenen in Brasilien, wo bisher über anderthalb Millionen Menschen infiziert worden sind, hervorgerufen zu haben. Warum aber wurden derlei Missbildungen nicht auch in Kolumbien festgestellt, wo ebenfalls 2000 schwangere Frauen infiziert worden sind? Und warum sind die ersten Fälle von Mikrozephalie gehäuft im Nordosten aufgetreten, noch bevor der Ausbruch der Virusinfektion nachgewiesen wurde. Hängt dies vielleicht damit zusammen, dass – nach den Angaben von zwei Ärzteverbänden in Argentinien und Brasilien – diese Missbildungen Regionen betroffen haben, in denen ein Pestizid, das die Stechmückenlarven abtötet, systematisch in die Trinkwasserversorgung gemischt worden ist? Insofern drängt sich geradezu der Gedanke auf, dass diese gegenwärtige Mikrozephalie-Epidemie zumindest teilweise durch eine chemische Substanz hervorgerufen worden ist, die von einem japanischen Partnerunternehmen von Monsanto hergestellt wird: dem Pyriproxyfen von Suminoto Chemical. Diese Substanz wurde nämlich in die Trinkwassernetze bestimmter Regionen des Landes beigemischt, besonders im Nordosten, wo ca. 1500 Fälle von Mikrozephalie aufgetreten sind, und zwar auf Geheiß der WHO, die damit die für das Dengue-Fieber verantwortlichen Stechmücken bekämpfen wollten. Durch die Dürreperiode und die folgende Wasserrationierung (Juli bis Dezember 2015) konnte eine anomal hohe Konzentration dieser chemischen Substanz im Trinkwasser entstehen, was erklären würde, warum gerade zwischen Oktober 2015 und Januar 2016 eine derart hohe Zahl dieser kongenitalen [bei der Geburt mitgebrachten] Missbildungen aufgetreten ist. Man muss jedoch hinzufügen, dass diese Hypothese bisher nicht durch weiterreichende Studien untermauert werden konnte. Eine Goldgrube für die Pharmakonzerne Auf alle Fälle ist die Vorbeugung gegen den Zika-Virus ein gefundenes Fressen für die Pharmaforschung, besonders nachdem die WHO sich der Sache so spektakulär angenommen hat. Die Pharmakonzerne laufen jetzt derart um die Wette, um einen Impfstoff zu entdecken, zu testen und großtechnisch zu produzieren, dass sogar Barack Obama beim US-Kongress 1,6 Mrd. Dollar angefordert hat, um die US-Forschung zu unterstützen und diesen Absatzmarkt zu erobern. Ein angenehmer Nebeneffekt davon wäre, dass dadurch das Prestige der USA in Lateinamerika sich wieder aufpolieren ließe und ihre Präsenz vor Ort unterstrichen werden könnte, zumal sich die „progressiven“ Regierungen dort gerade im Abwind befinden. Inprekorr 3/2016 55 D O S S I E R : Ö KO LO G I E Daneben arbeiten die Zauberlehrlinge auch an der Entwicklung genetisch veränderter Stechmücken, die den momentanen Hauptüberträger bestimmter Viruserkrankungen (Gelbfieber, West-Nil-Fieber, Dengue-Fieber, Chikungunyafieber, Zika etc.), nämlich Aedes Aegypti, auslöschen und verdrängen soll. Damit befasst ist der Konzern Oxitec, der solche Experimente mit genetisch veränderten Mücken auf den Kaiman-Inseln, in Malaysia, Panama und Brasilien (besonders im Nordosten) durchführt, während die europäischen Behörden hierzulande solche Versuche wegen damit verbundener Risiken abgelehnt haben. Nach Ansicht der NGO GeneWatch neigen diese gentechnisch veränderten Mücken dazu Aedes Aegypti bloß in angrenzende Regionen zu verjagen und so die Vermehrung anderer und viel schwerer auszurottender Überträger, wie Aedes Albopictus zu befördern. Daran soll es nicht scheitern, denn die Forschung auf dem Gebiet gentechnisch veränderter Mücken greift auch auf noch ausgefeiltere und gruseligere Techniken zurück, die auf dem Prinzip des Gene-Drive (Genflug) beruhen, was besagt, dass durch die genetische Manipulation einiger Mitglieder einer Population diese Mutation auf die Gesamtheit übertragen werden kann. Mit solchen Eingriffen könnte bspw. eine Art sterilisiert und somit nach einigen Generationszyklen ausgerottet werden. Ebenso könnte – und warum nicht? – ein Insekt in eine biologische Kriegswaffe umgewandelt werden. Obwohl sie von vielen Wissenschaftlern als extrem gefährlich eingestuft werden, haben diese Technologien wieder Rückenwind, gerade jetzt, wo die ZikaEpidemie derart dramatisiert wird. Klimawandel und pathogene Substanzen Egal ob die Mikrozephalie-Epidemie in Brasilien direkt durch Zika verursacht wird oder durch die außergewöhnlich hohe Konzentration eines Pestizids im Trinkwasser oder durch eine kombinierte Wirkung noch unbekannter Faktoren – viel grundlegender sind dafür die sozialen und ökologischen Verwerfungen im Zuge der neoliberalen Globalisierung. Zur selben Zeit nämlich gibt es viele andere Überträgermücken, die ihren Aktionsradius ständig über den Rest der Welt erweitern. Sind sie in Afrika, Asien und Lateinamerika weit verbreitet, so erreichen sie inzwischen allmählich Europa und Nordamerika, was wohl Pate dafür steht, dass dieses neue Risiko so breite Beachtung in den Medien findet. Was aber sind die Gründe für diese starke Ausbreitung? 56 Inprekorr 3/2016 Zum einen liegt es sicherlich an der raschen Zunahme des Flugaufkommens, zum anderen jedoch und vorwiegend an der globalen Klimaerwärmung. Um bei dem Beispiel der Stechmücken zu bleiben: Diese ernähren sich im Allgemeinen von Blütenstaub und brauchen zusätzlich Eiweiß aus dem menschlichen Blut nur dann, wenn sie als Weibchen ihre Eier tragen. Durch die Wärme wird wiederum der Reproduktionszyklus beschleunigt und auch die Inkubationsdauer des Virus im Wirtsorganismus (Mücke), so dass es bereits früher durch einen Stich übertragen werden kann. Der Temperaturanstieg erklärt auch die geographische Ausbreitung von Erkrankungen, die von diesen Insekten übertragen werden. Zweifelsfrei gilt dies bspw. für den Malaria-Ausbruch in den bis dato ausgesparten Hochebenen Ostafrikas. Ebenso wird Mexiko-Stadt nicht mehr viel länger durch seine hohe Lage (2500 m) von Gelbfieber, Dengue-Fieber oder Chikungunya-Fieber verschont bleiben. Aus eben denselben Gründen breitet sich die Borreliose, die durch Zecken übertragen wird, in Nordamerika aus oder die Blauzungenkrankheit der Schafe unter den europäischen Viehbeständen. So wie Ebola ist die Zika-Epidemie keine Naturkatastrophe. Beide resultieren aus den raschen sozialen, ökologischen und klimatischen Veränderungen, die durch die kapitalistische Globalisierung hervorgerufen werden. Diese unterwirft die menschlichen Gesellschaften und die Umwelt einem zunehmend unerträglichen Stress. Die Zerstörung der tropischen Wälder durch den Raubbau an Holz, durch die unablässige Gier nach neuen Rohstoffen unter der Erde, durch die ständige Ausweitung von Monokulturplantagen für Exportzwecke und durch die hirnlose Urbanisierungswelle provoziert immer neue Katastrophen, die inzwischen Alltag geworden sind. Die Ausbreitung neuer pathogener Substanzen stellt inzwischen einen der gefährlichsten und am meisten unterschätzten Aspekte dieses Wettlaufs in den Abgrund dar. 4.3.2016 Jean Batou ist Historiker und Leitungsmitglied der Mouvement anticapitaliste, féministe et écologiste pour le socialisme du XXIe siècle solidaritéS (Antikapitalistische, feministische und ökologische Bewegung für den Sozialismus des 21. Jahrhunderts) in der Schweiz. Übersetzung: MiWe Die Internationale 58 ÖKOSOZIALISMUS AUS MARXISTISCHER SICHT Was ist aus marxistischer Sicht Ökosozialismus und gibt es im Marxismus eine ökologische Utopie? 63 ÖKOLOGIE ALS KLASSENFRAGE BEGREIFEN Thesen für die Aufnahme einer ökosozialistisch orientierten Arbeit gegen die kapitalistischen Verheerungen der Umwelt D I E I N T E R N AT I O N A L E ÖKOSOZIALISMUS AUS MARXISTISCHER SICHT Der nachfolgende Beitrag ist die Niederschrift eines Vortrags, den der Autor am 28.1. 2016 auf einer RSB-Veranstaltung in Wiesbaden hielt. Friedrich Voßkühler Teil I: Was ist Ökosozialismus? In einer Diskussion am 5.12.2015 wurde ich von einigen Ökosozialisten darüber belehrt, was unter Ökosozialismus zu verstehen sei. Dabei kamen folgende Punkte zusammen: 1. Unter Ökosozialismus sei eine nachhaltige Wirtschaftsweise zu verstehen. 2. Eine solche Wirtschaftsweise müsse den Weg in die „technological society“ beenden, der mit dem Kapitalismus begonnen habe. 3. Sie zeichne sich überdies dadurch aus, dass sie – da die Ressourcen sparend – auf die hemmungslose Vernutzung der natürlichen Grundlagen verzichte. 4. Die drohende Klimakatastrophe fordere eine solche Wirtschaftsweise unbedingt, da die Weiterexistenz der menschlichen Gattung auf dem Spiel stehe. 5. Daher sei nicht mehr die Klassenfrage entscheidend, sondern die Gattungsfrage. Für die Wirtschaftsweise des Ökosozialismus stehe somit das Überleben der menschlichen Gattung im Mittelpunkt. 6. Angesichts dieser Problemlage sei es obsolet, an den Industrialismus der Arbeiterbewegung anzuknüpfen. 7. Selbstverständlich müsse daher auch Karl Marx sehr kritisch gesehen werden. Sein Industrialismus sei abzulehnen. 58 Inprekorr 3/2016 8. Der Ökosozialismus sei aber nicht nur mit dem Marx‘schen Industrialismus inkompatibel, sondern er verweigere sich auch der Arbeitswertlehre Marxens, da diese die Natur nicht in die Wertrechnung einbeziehe. 9. Die Kritik der politischen Ökonomie von Marx sei somit nicht die theoretische Grund lage des Ökosozialismus. Gilt dies, dann ist es überaus bemerkenswert, dass die Ökosozialisten, die mich über den Ökosozialismus belehrten, eigentlich nicht zu sagen vermochten, warum der Ökosozialismus, den sie vertreten, ein Sozialismus sein soll. Sie vertreten ja – um dies polemisch auf die Spitze zu treiben – einen Sozialismus ohne Sozialismus. Sie wollen eine Ressourcen sparende, auf nachhaltiger Produktion beruhende und daher das Weiterbestehen der menschlichen Gattung sichernde „ecological society“. Das Gegenteil zu einer „technological society“, was der Sozialismus, wie ihn Marx und die revolutionäre Arbeiterbewegung verstehen, für sie nicht ist. Technik, so sagte in diesem Zusammenhang ein junger Mann, dem man von der bürgerlichen Universitätswissenschaft einräumt, seine Position als soziologische Dissertation in die wissenschaftliche und politische Öffentlichkeit zu D I E I N T E R N AT I O N A L E bringen, sei per se schon Herrschaft. Wobei es offensichtlich so ist, dass diese Position von Kreisen gefördert wird, die Wert darauf legen, Technikkritik so mit angeblicher Herrschaftskritik zu verbinden, dass nach den gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen von Herrschaft nicht mehr eigens gefragt wird. Teil II: Was Marxisten zu einer solchen Position sagen sollten Ist eine solche Position mit dem Marxismus kompatibel? Nein. Warum? 1. Weil der Marxismus nach den sozioökonomischen Bedingungen von Herrschaft fragt. 2. Weil er schon von daher keine abstrakte Technik- und Industriekritik betreibt. 3. Weil der Marxismus sagt, dass die Macht aus den Gewehrläufen kommt und ihre Basis nicht in der Technik hat. 4. Weil er die These vertritt, dass die Macht, die mit den Gewehrläufen durchgesetzt wird, die Macht eines Gesellschaftsverhältnisses ist, das für ihn das Kapital ist. 5. Weil er sich auf die wissenschaftliche Analyse des Kapitals beruft und keine vom Kapital abstrahierenden Erwägungen durchführt. 6. Weil er davon überzeugt ist, dass die weitere Existenz der Gattung Mensch letztlich von der Lösung der Klassenfrage abhängt. 7. Weil der Marxismus die Wurzel allen Übels in der Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft und mit ihr verbunden in der Ausbeutung der Naturpotenzen sieht. 8. Weil er die Beendigung der „Entfremdung“ der Produzenten von ihren Produkten, ihrer Produktion, ihrem Gattungsleben und der Natur zum Ziel hat, letztlich also die Befreiung der Arbeit vom Joch des Kapitals. Nimmt man diese Punkte zusammen, die formulieren, was die Marxisten sagen sollten, wenn sie manche Ökosozialisten von ihrer Position reden hören, dann bleibt nur eine Folgerung übrig: Wenn das, was sie Ökosozialismus nennen, tatsächlich Ökosozialismus ist, dann können Marxisten keine Ökosozialisten sein. Warum? Weil ein solcher Ökosozialismus im Widerspruch zu allen Essentials des Marxismus steht. Teil III: Was ist aus marxistischer Sicht Ökosozialismus? Wenn nun dieser Ökosozialismus kein Ökosozialismus ist, weil er kein Sozialismus ist, was aber ist dann Ökoso- zialismus? Die Antwort ist: Wenn der Ökosozialismus nur Ökosozialismus ist, wenn er Sozialismus ist, dann ist der Sozialismus an sich selbst schon Ökosozialismus. Es gibt also keinen Sozialismus, wenn er kein Ökosozialismus ist. Woraus folgt: Es gibt keinen Ökosozialismus an sich selbst, denn Ökosozialismus ist Sozialismus. Was aber ist Sozialismus? Dasjenige Verhältnis unter den Menschen, da sie als die Produzenten ihres Lebens ihre materiellen Bedingungen selbstbewusst und demokratisch regeln. Aber nicht nur ihre materiellen Bedingungen, sondern auch ihre Beziehungen zueinander und zu ihren natürlichen Grundlagen. Was also ist Sozialismus? Das gesellschaftliche Verhältnis, da – auf der Grundlage der gemeinschaftlichen Regelung der materiellen Bedingungen – der andere Mensch „höchstes Bedürfnis“ (Marx) wird und die Bewahrung der natürlichen Grundlagen ein Wert an sich selbst. Mit anderen Worten: Der andere Mensch kann nur dann das „höchste Bedürfnis“ sein, wenn die Natur, von deren Produktivität die Menschen abhängen, keine geknechtete Natur ist. Der Sozialismus ist also an sich selbst Ökosozialismus. Seine Grundlagen sind der Sturz des Kapitalismus, die gemeinschaftliche Planung von Produktion und Konsumtion und die Befreiung der menschlichen und natürlichen Produktivkräfte aus ihrer Inbetriebnahme und Ausbeutung durch das Privateigentum an den gesellschaftlichen Produktionsmitteln. Hat es einen solchen Sozialismus je gegeben? Nein! Warum nicht? Weil die Befreiung der menschlichen und natürlichen Produktivkräfte unter der Bedingung des degenerierten Arbeiterstaates der Sowjetunion nicht stattfinden konnte. In den Satrapenstaaten der Sowjetunion auch nicht. Wenn es aber nicht nur kleinbürgerliche Utopien sein sollten, die sich hinter dem Begriff des Ökosozialismus verbergen, nicht nur die Strategie, das Ziel des Sozialismus in Wirklichkeit fallen zu lassen, sich aber zu gleicher Zeit mit dem Begriff Sozialismus zu bekränzen, als Strategie gleichsam, eine neue, sich überdies radikal gerierende Variante des Reformismus zu kreieren, die deswegen reformistisch ist, weil sie letztlich gar nicht darauf aus ist, das Gesellschaftsverhältnis Kapital abzuschaffen, die Arbeit zu befreien etc., sondern stattdessen abstrakte Technik- und Industriekritik zu betreiben, wofür könnten dann diese Utopien genutzt werden? Dazu, dass der Sozialismus sich wieder auf seine eigene ökologische Utopie besinnt. Betrachtet man die genannten Utopien unter diesem BlickInprekorr 3/2016 59 D I E I N T E R N AT I O N A L E winkel, dann sind sie durchaus angebracht. Gehen wir also auf diesen Punkt näher ein. Teil IV: Gibt es im Marxismus eine ökologische Utopie? Fragen wir also: Gibt es eine marxistische ökologische Utopie? Wobei zunächst gefragt werden muss, was eine Utopie ist. Das Wort Utopie wörtlich übersetzt bedeutet: ein Ort jenseits. Inwiefern hat nun der Marxismus eine ökologische Utopie? Weil er zu einem Ort jenseits des Kapitalismus gelangen will. Weil er zu einem Ort gelangen will, der jenseits des Kapitalismus die freie Entfaltung der menschlichen und natürlichen Produktivkräfte bedeutet. Ist dieser Ort ein Ort der Fantasie und des bloßen Wunsches? Eines Wunsches, den man möglichst weit ins zeitliche Jenseits schiebt, weil man sowieso nicht daran glaubt, dahin kommen zu können? Nein! Eine solche Utopie ist dem Marxismus nicht eigen. Sein Ziel will er – wie man das philosophisch sagt – durch eine „konkrete Negation“ erreichen. Seine wissenschaftliche Theorie dient ihm dazu, die konkrete Situation, in der die Menschen stecken, zu konkretisieren, um auf diese Weise die konkreten Möglichkeiten der vorhandenen Situation dingfest zu machen und sie dann in der Weise einer radikalen politischen Praxis zu verwirklichen. Radikale politische Praxis ist theoriegeleitete Praxis. Sie ist die Geburtshelferin jener Möglichkeiten, die schon in der vorhandenen Realität stecken, diese aber sprengen müssen, um sich frei entwickeln zu können. Inwiefern ist nun also die ökologische Utopie schon in der kapitalistischen Realität vorhanden? Um dies zu erläutern, müssen wir auf die Marx‘sche Naturtheorie zurückgreifen und diese kurz erläutern. Nehmen wir zu diesem Zweck erstens an, dass es – was nicht zu bezweifeln ist – eine Geschichte der Natur gibt. Nehmen wir zweitens an - und das ist schon weniger selbstverständlich – dass es eine „menschliche Geschichte der Natur“ (Moscovici) gibt. Eine Geschichte der Natur, die es ohne den Menschen nicht gäbe. Was ist nun – so fragen wir uns drittens – die „menschliche Geschichte der Natur“? Sie ist die Geschichte der Entfaltung spezifischer Naturpotenzen durch die menschliche Arbeit. Was ist – so sei viertens gefragt – Arbeit? Sie ist einerseits die Kraft des Naturwesens Mensch, die Natur in für ihn bewohnbare Zustände umzuformen. Sie ist andererseits – und damit zusammenhängend – die Fähigkeit des Naturwesens Mensch zur Kultur. Daraus folgt: Arbeit ist 60 Inprekorr 3/2016 die Fähigkeit des Menschen, jene „Zustände“ (Moscovici) der Natur zu schaffen, die für sein Überleben notwendig sind. Er ist als Naturwesen zu gleicher Zeit ein Kulturwesen. Zu seiner Natur gehört die Kultur. Indem er die genannten „Zustände“ schafft, ist er die Ursache sowohl seiner eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten als auch der Entfaltung jener Naturpotenzen, die es ohne ihn nicht gäbe. Was ist daraus – fünftens – die Folge? Marx spricht sie in dem für uns wichtigen Merksatz aus, dass der „vollendete Naturalismus“ ein „Humanismus“ sei und der „vollendete Humanismus“ ein „Naturalismus“ (Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte. Frankfurt 2009, S.116). Die Naturkategorien der menschlichen Arbeit: der Jäger, der Hirt, der Bauer, der Handwerker, der Ingenieur, der Kybernetiker und der Informatiker – um nur einmal einige zu nennen und in eine chronologische Abfolge zu bringen – sind zugleich und ineins Kategorien der Humanisierung der Natur und der Naturalisierung des Menschen. Sie sind Kategorien der menschlichen und natürlichen Produktivkräfteentwicklung. Dabei ist klar: Diese Kategorien sind immer auch technische Kategorien. Der Jäger beherrscht die Techniken des Jagens. Er kann mit Speer, Bogen und Pfeil umgehen. Diese macht er sich zunutze, um sich seine Lebensmittel zu beschaffen. Der Hirt beherrscht die Techniken des Hütens. Er weiß, das Vieh zu den besten Weidegründen zu treiben, sein Vieh zu züchten. Und erwirbt sich dabei die Kenntnisse bestimmter Gräser und Kräuter usw. usf. Der Bauer weiß, wie man den Acker bearbeitet, er kennt die günstigsten Fruchtfolgen, betätigt den Pflug, verarbeitet die Milch, beherrscht die verschiedenen Gärungsprozesse usw. usf. Er ist ohne Zweifel ein Biotechniker par excellence. Die menschliche Kulturentwicklung ist ohne seine biotechnologischen Kenntnisse gar nicht möglich. Ohne den Werkzeugmacher schon gar nicht. Ich kann so weiter fortfahren, breche hier aber ab, weil schon klar geworden sein dürfte, was ich sagen will. Nämlich: Kulturentwicklung ist immer auch Technikentwicklung. Ohne Technik keine Entwicklung der menschlichen und natürlichen Produktivkräfte. Selbstverständlich gilt das auch für die Industrie, diese heutzutage bzw. in manchen Kreisen so gerne verteufelte Stufe der Produktivkraftentwicklung. Marx ist da in seiner Aussage ganz eindeutig und klar. Er sagt: Die „Industrie“ ist das „aufgeschlagne Buch der menschlichen Wesenskräfte“ (Ökonomisch-philosophische Manuskripte, S.124). Ergänzen wir dies gemäß seiner sonstigen Ausführungen: Die D I E I N T E R N AT I O N A L E „Industrie“ ist auch das „aufgeschlagne Buch“ der natürlichen „Wesenskräfte“. Alle Kräfte, so kann man sagen, sind Naturkräfte. In allen Kräften, die vom Menschen betätigt werden, äußern sich Potenzen der Natur. Daher sind weder Technik noch Industrie per se naturwidrig. Was ist bei alle dem nun die ökologische Utopie des Marxismus? Sie ist, dass die „menschliche Geschichte der Natur“ das Stadium des Kapitalismus hinter sich lassen und die Kräfte des Menschen und der Natur zu ihnen selbst befreien kann. Die Möglichkeiten, die aus der Realität der kapitalistischen Produktionsweise durch deren konkrete Negation befreit werden sollen, sind die Möglichkeiten der „menschlichen Geschichte der Natur“. Und damit auch die Möglichkeiten der Technikentwicklung mitsamt der Industrie. Teil V: Die Befreiung der menschlichen und natürlichen Produktivkräfte durch die Sprengung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse Wie sieht nun die Konkretisierung jener konkreten Situation aus, die der Befreiung der Möglichkeiten der „menschlichen Geschichte der Natur“ im Wege steht? Antwort: Sie erfolgt zumindest theoretisch in der „Kritik der politischen Ökonomie“ von Marx. Wie? Erstens dadurch, dass in der Arbeitswertlehre gezeigt wird, dass die menschliche Arbeitskraft im Kapitalismus im Wesentlichen als Ware gilt, nicht aber als qualitativ bestimmte Produktivkraft. Zweitens dadurch, dass gezeigt wird, dass alles getan wird, um die Intensivierung der Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft im Dienste der Mehrwertschöpfung in privater Hand zu erhöhen. Drittens dadurch, dass gezeigt wird, dass Maschinerie und Technik allein dem Ziel der Intensivierung der Arbeitskraftnutzung dienen und damit dem quantitativen Mehrwertwachstum in privater Hand. Viertens dadurch, dass auf diese Weise gezeigt wird, dass sowohl der Mensch als auch die Natur Objekte ihrer Ausnutzung, Vernutzung und Erschöpfung im Dienste der Profitmaximierung sind. Fünftens dadurch, dass gezeigt wird, dass diese Ausbeutung, Vernutzung und Erschöpfung ökonomisch keine Grenzen kennen, weil der Kapitalismus eine Konkurrenzökonomie ist und von daher auf stets steigendes Wachstum der Profite angelegt ist. Sechstens dadurch, dass gezeigt wird, dass die immer effektivere Maschinisierung der Produktion tendenziell stets zum Fall der Profitrate führt und damit zu zyklischen Krisen, die eine Zerstörung der Produktivkräfte mit sich führen. Siebtens dadurch, dass gezeigt wird, dass Kapitalismus so und so Krieg bedeutet und somit auch das Risiko, das Leben der menschlichen Gattung – wenn es denn sein muss – zu zerstören. Die ökologische Krise, von der seit einiger Zeit gesprochen wird und die nun mit der Klimakatastrophe dräut, ist Teil dieses eingegangenen Risikos. Mit dem Kapitalismus riskiert die Menschheit auf der Basis der fortschreitenden Destruktion ihrer natürlichen Grundlagen die eigene Selbstdestruktion. Der Marxismus aktiviert gegen dieses Risiko die wesentliche Erkenntnis seiner ihn tragenden Wissenschaft, der Kritik der politischen Ökonomie. Welche ist diese? Die Erkenntnis, dass der Auf bau des Sozialismus es erfordert, Schritt für Schritt mit der ökonomischen Hegemonie der Ware Schluss zu machen. Um dies auf den Punkt zu bringen: Der Sozialismus wird sich nicht bis zum Kommunismus fortentwickeln können, wenn die Ware die alles entscheidende Wertform der gesellschaftlich erzeugten Produkte bleibt. Noch pointierter ausgedrückt: Wenn der Wert weiterhin die Qualität schluckt und das Wer, das Was, das Wo und das Wie der Produktion der Gebrauchswerte bestimmt, wird es keine Überwindung des Kapitalismus geben und damit auch keine Aufhebung der „Entfremdung“ der Produzenten von ihren Produkten, ihrer Produktion, ihrem Gattungsleben und der Natur. Was auch heißt: Wenn die Warenform der Produkte weiterhin ungebrochen den Ton angeben sollte, wird es keinen gemeinschaftlichen Planungsprozess der materiellen Bedingungen geben können, denn dieser wäre dann von vornherein ausgehebelt. Worin besteht nämlich dieser gemeinschaftliche Planungsprozess? Er besteht darin zu beschließen, was, wann, wo, wie, von wem, in welchen Mengen und in welcher Qualität hergestellt wird und welche Bedürfnisse befriedigt werden müssen und befriedigt werden sollen, welche aber auch nicht. Bei alle dem spielen qualitative Kriterien die entscheidende Rolle. Die Rechnungsführung hat diesen Kriterien zu dienen, sie aber nicht zu dominieren. Die ökologische Utopie des Marxismus kann nur verwirklicht werden, wenn mit der Hegemonie des Wertes bzw. der Ware gebrochen wird. Inprekorr 3/2016 61 D I E I N T E R N AT I O N A L E Wenn der Ökosozialismus Sozialismus sein soll, ist er genau daran gebunden. Der Weg zu einer „ecological society“ – wenn man dieses Wort einmal aufnehmen will – führt nur über den Bruch mit der Warenökonomie. Die Marxisten sollten das wissen und dies denjenigen, die sich für Ökosozialisten halten, zu Bewusstsein bringen, weil sonst die Utopie vom Ökosozialismus pure Illusion bleibt. Der Sozialismus ist – schon allein um ihrer Utopie willen – nicht zu umgehen. Und auch nicht, was die Voraussetzung des Sozialismus ist, die Abschaffung des Privateigentums an den gesellschaftlichen Produktionsmitteln etc. Jedenfalls kann man sich eine Ignoranz gegenüber der Marx‘schen Theorie sicher nicht leisten. Teil VI: Zum kritischen Einwand, in der Arbeitswertlehre Marxens käme der Wert der Natur nicht vor Was ist nun von dem Einwand zu halten, dass die Arbeitswertlehre von Marx deswegen unbrauchbar sei, weil sie der Natur keinen Wert zuspreche. Haben die Ökosozialisten, die das sagen, Recht? Nein! Sie haben nicht Recht. Warum? Weil die Natur im Kapitalismus realiter keinen Wert hat! Wie sollte da die Kritik der politischen Ökonomie von einem Wert der Natur sprechen können? Es gibt ja keinen! 62 Inprekorr 3/2016 Die Frage ist, warum man meint, dass die Natur einen Wert haben sollte. Die Antwort ist: Weil man dann die Natur in die betriebliche und volkswirtschaftliche Rechnungsführung einbringen könnte. Und warum sollte die Natur ein Fall für die Rechnungsführung sein? Damit man mit ihr nicht so schludrig umgeht. Damit man merkt, dass das, was man für wertlos hält, einen Wert hat. Was aber schlägt man vor, wenn man fordert, die Natur müsse in die kapitalistische Wertrechnung einbezogen werden? Man schlägt vor, sie zu einer Ware zu machen. Eine Ware hat an sich selbst keinen Wert, wenn sie nicht gekauft und im Sinne der Mehrwertschöpfung in privater Hand verwertet wird. Man schlägt also die explizite kapitalistische Verwertung der Natur vor. Wenn aber der Sozialismus der schrittweise Bruch mit der ökonomischen Kategorie der Ware ist und damit verbunden mit der Verwertung der Produkte im Sinne des Profitprinzips, dann ist die Forderung, die Natur zur Ware zu machen, keine sozialistische Forderung. Und damit ist diese Forderung alles andere als ökosozialistisch. D I E I N T E R N AT I O N A L E ÖKOLOGIE ALS KLASSENFRAGE BEGREIFEN Thesen für die Aufnahme einer ökosozialistisch orientierten Arbeit gegen die kapitalistischen Verheerungen der Umwelt Friedrich Voßkühler und Jakob Schäfer Das einzige faktische Ergebnis von COP 21 liegt darin, dass die globale Staatengemeinschaft nun erstmals offiziell anerkennt, dass die Erderwärmung ein riesiges Problem ist. Ansonsten besteht das Abkommen von Paris (12. Dezember 2015) nur aus heißer Luft. Wenn wir verstehen wollen, wieso im Rahmen der herrschenden Gesellschaftsordnung nichts anderes zu erwarten war, kommen wir an wesentlichen Erkenntnissen der marxistischen Kapitalismuskritik nicht vorbei: I. Zu den Ausgangsbedingungen für die Bestimmung einer schlüssigen Aufgabenstellung 1. Der Kapitalismus ist seinem Wesen nach eine Konkurrenzgesellschaft. Die dringend notwendige Umstellung von Produktion und Konsumtion kann das Kapital aus strukturellen und logischen Gründen nicht realisieren. Denn die gesamtgesellschaftlich notwendigen Entscheidungen für sinnvolle Investitionen (etwa in den Bereichen Energie, Verkehr, Infrastruktur usw.) widersprächen der einzelbetrieblichen Vernunft. Der Hinderungsgrund für ein Umsteuern unter kapitalistischen Bedingungen ergibt sich somit aus dem Widerspruch zwischen einzelbetrieblicher und gesamtgesellschaftlicher Rationalität, und zwar auf verschiedenen Ebenen: Kosten: Für die Umstellung der Produktion auf Nachhaltigkeit und Umweltverträglichkeit sind so große Investitionen erforderlich, dass sie von Einzelkapitalen nicht zu bewältigen sind; gleichzeitig muss durch gesellschaftliche Absicherung dafür gesorgt werden, dass nicht massenhaft Erwerbstätige für „überflüssig“ erklärt werden, nur weil „ihre Produkte“ nicht mehr gebraucht werden. Verschwendung ist nur gesamtgesellschaftlich erfassbar und vermeidbar. In weiten Bereichen sind schädliche Produkte für die Einzelkapitalisten sehr einträglich. Schon allein deswegen ist eine gesamtgesellschaftliche Kontrolle über die Produktion, über die Produktionsbedingungen und die Produktionsverfahren unabdingbar. 2. Die Zwänge, die sich aus der Konkurrenz der Kapitale ergeben, haben zur Folge, dass Produktionsbetriebe und Versorgungsbetriebe grundsätzlich bestrebt sind, Kosten zulasten von Mensch und Umwelt einzusparen und gleichzeitig die Produktion immer weiter auszudehnen. Dieser systemische Zwang führt zu ungezügeltem Ressourcenverbrauch, Vergiftung der Umwelt (nicht nur zum weiteren Anstieg des CO2-Gehalts in der Luft), Ausbeutung der Ware Arbeitskraft usw., aber auch zu gewaltigen Rüstungsproduktionen, Kriegen, Verelendung breiter Bevölkerungsschichten, und zwar nicht nur in der unterentwickelt gehaltenen Welt, Unterdrückung demokratischer Bestrebungen, Flucht und Vertreibung, … 3. Daraus ergibt sich eine destruktive Dynamik des Kapitalismus, die nicht vom Willen der einzelnen Kapitale oder gar vom Willen der abhängig Beschäftigten oder der Inprekorr 3/2016 63 D I E I N T E R N AT I O N A L E KonsumentInnen abhängt. Weder hat das Einzelkapital – bei Strafe seines Untergangs – eine andere Wahl, als den Zwängen des Wertgesetzes zu folgen, noch können die einzelnen Menschen mit ihrem individuellen Verhalten etwas Nennenswertes bewirken, um die sich abzeichnende (bzw. schon einsetzende) Klimakatastrophe abzuwenden. Das betrifft die vom Kapitalismus systemisch erzwungene Obsoleszenz der Produkte, die ölbasierte Wirtschaftsweise (angefangen beim unzureichend ausgebauten ÖPNV bis zur Energiegewinnung, der Energieverschwendung u. der fehlenden Infrastrukturpolitik), die Verschwendung usw. II. Klassengesellschaft und strategische Schlussfolgerungen Das Kapital ist keine naturgegebene, unumstößliche Konstante menschlicher Gesellschaft. Die bürgerliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist das Produkt geschichtlicher Entwicklung, sie ist jedoch nicht der Endpunkt der Geschichte. Da diese Gesellschaftsordnung eine Klassengesellschaft ist, wird sie nicht mittels Wahlen oder Volksbefragungen zu überwinden sein. Denn die Kapitalistenklasse profitiert nun mal ganz gewaltig von den herrschenden Verhältnissen und wird einer Enteignung des Kapitals wie auch einer Umstellung der Produktionsweise auf eine demokratisch kontrollierte gesamtgesellschaftliche Planung massivsten Widerstand entgegensetzen, und zwar mit allen Mitteln, die ihr der bürgerliche Staat (auch der tiefe Staat) zur Verfügung stellt. Schließlich lebt die Kapitalistenklasse nach dem Prinzip: nach mir die Sintflut. Die Alternative kann nur in der Durchsetzung des Ökosozialismus liegen, also einer gesamtgesellschaftlich demokratisch geplanten Wirtschaft, basierend auf weitestgehender Dezentralisierung und vor allem auf demokratischer Kontrolle aller Bereiche des wirtschaftlichen und politischen Lebens durch die assoziierten ProduzentInnen und KonsumentInnen. Im Kampf für die Durchsetzung einer solchen Gesellschaftsordnung kann die Nutzung der parlamentarischen Bühne (als „Tribüne des Klassenkampfs“) eine gewisse Rolle spielen, aber letztlich nicht die entscheidende. Langfristig müssen über die Kämpfe der abhängig Beschäftigten wie der sozialen, feministischen, ökologischen, antirassistischen, internationalistischen und sonstigen potenziell antikapitalistischen Bewegungen andere Kräfteverhältnisse geschaffen werden. Nur so können die Bedingungen herbeigeführt werden, dass breiteste Bevölkerungsschichten mit dem herrschenden System Schluss machen wollen und sich für eine alternative, menschliche und zukunftssichern64 Inprekorr 3/2016 de Gesellschaftsordnung einsetzen. Und nur so reifen die Bedingungen, dass ein Bruch mit diesem System nicht nur erfolgreich, sondern auch so „kurz und schmerzlos“ wie möglich realisiert werden kann. III. Kapitalismuskritische Verortung und lokale Verankerung einer Politik gegen den Klimawandel Bei all unseren politischen (ökosozialistischen) Aktivitäten müssen wir die o. g. gesamtgesellschaftlichen Bedingungen im Auge behalten und darauf orientieren, dass eben diese Gesamtbedingungen zu ändern sind, wenn Wirksames – auf Dauer – erreicht werden soll. Deswegen kann sich unsere Aktivität in keinem Fall in der Förderung umweltfreundlicher (klimanützlicher) Hilfsprojekte verzetteln oder gar darin erschöpfen. Das Ziel unserer Arbeit muss ein doppeltes sein: Mit Aufklärungs- und Informationsbeiträgen zur Bewusstseinsbildung beitragen. Hier muss es uns vor allem um die Analyse gesamtgesellschaftlicher Bedingungen gehen, aber auch um die Informationen zu den verheerenden Folgen kapitalistischen Wirkens auf den unterschiedlichsten Ebenen. Nicht zuletzt bedarf es der Entwicklung von Visionen. Aber auch die Information über laufende Kämpfe an anderen Orten kann Mut machen. Parallel dazu ist der Auf bau einer breiten Widerstandsbewegung gegen besonders schädliche Projekte (Braunkohleabbau, Kohlekraftwerke, …) unverzichtbar. Vor allem die lokale Verankerung solcher Kämpfe ist wichtig. Eine gesamtgesellschaftlich wirksame Bewegung kann sich nämlich nicht im Demonstrationstourismus erschöpfen. Sie muss auf die Einbeziehung breiter Bevölkerungskreise zielen, damit den herrschenden PolitikerInnen Grenzen aufgezeigt werden und die Gesamtbewegung an Kraft gewinnt. Die konkreten Bedingungen für die Entwicklung einer lokalen Arbeit sollten sorgfältig untersucht werden, denn eine Grundvoraussetzung für erfolgreiches Handeln ist das Anknüpfen an den Sorgen und Nöten mindestens eines nennenswerten Teils der Bevölkerung. Ökologische Fragen sind deshalb in vielen Fällen nicht ohne das Eingehen auf die damit verbundenen sozialen Fragen anzugehen. Auf keinen Fall darf uns eine Gegenüberstellung dieser Ebenen faktisch lähmen. Die ökologische Frage ist immer auch als eine Klassenfrage herauszuarbeiten. 2. 1. 2016