Blickpunkt Albanien - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge

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Blickpunkt Albanien - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
Blickpunkt
Albanien
Blutrache
April 2014
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Grundlage sorgfältig ausge­wählter und zuverlässiger Informationen erstellt. Wurden Infor­
mationen im Rahmen sogenannter Fact-Finding-Missions in den Herkunftsländern gewon­
nen, erfolgte dies unter Berücksichtigung der gemeinsamen EU-Leitlinien für (gemeinsame)
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größter Sorgfalt recherchiert, bewertet und aufbereitet. Alle Quellen werden genannt und
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Die vorliegende Ausarbeitung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Findet ein be­
stimmtes Ereignis, eine bestimmte Person oder Organisation keine Erwähnung, bedeutet
dies nicht, dass ein solches Ereignis nicht stattgefunden hat oder die betreffende Person
oder Organisation nicht exis­tiert. Der Bericht/die Information erlaubt keine abschließen­
de Bewertung darüber, ob ein individu­eller Antrag auf Asyl-, Flüchtlings- oder subsidiären
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Rechtauffassung verstanden werden. Die Prüfung des Antrags auf Schutzgewährung muss
durch den für die Fallbearbeitung zuständigen Mitarbeiter erfolgen. Die Veröffentlichung
stellt keine politische Stellungnahme des Bundesamtes für Migra­tion und Flüchtlinge dar.
Diese Ausarbeitung ist öffentlich.
Disclaimer
The information was written according to the „EASO COI Report Methodology“ (2012), the
„Common EU guidelines for processing factual COI“ (2012) and the quality standards of the
Fed­eral Office for Migration and Refugees (Bundesamt) (2013). It was composed on the ba­
sis of care­fully selected and reliable information. Information from so-called fact-finding
missions in coun­tries of origin is provided in accordance with EU directives for (common)
fact-finding missions (2010). All information provided has been researched, evaluated and
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cular claim to interna­tional protection or asylum. Terminology used should not be regarded
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Abstract
Mit der steigenden Zahl von Asylbewerbern aus Albanien in Deutschland rückt auch das
Thema „Blut­rache“ wieder in den Blickpunkt, da Gefährdung wegen Blutrachefehden häu­fig
als Asylgrund angeführt wird. Hierbei werden auch vielfach Bescheinigungen verschiedener
Stellen, vor allem von sog. Versöhnungskomitees vorgelegt.
Vorliegende Ausarbeitung befasst sich daher mit dem Phänomen der Blutrache im heu­
tigen Alba­nien, das seinen Ursprung im traditionellen albanischen Gewohnheitsrecht,
dem Kanun hat. Der Be­richt beleuchtet dabei Ursprünge und Gründe für die fortdauernde
Existenz dieser archaischen ge­wohnheitsrechtlichen Tradition sowie deren geografische
und quantitative Verbreitung. Einen wei­teren Schwerpunkt bilden die Regelungen der
Blutrache sowie die Abgren­zung zu anderen Formen von Rachemorden. Desweiteren wird
auf die Rolle sog. Versöhnungskomittees sowie vorgelegter Bescheinigungen eingegangen.
Ein weiteres Kapitel befasst sich mit Kri­minalität und Korruption, Rechtsstaatlichkeit und
Rechtsschutz.
Insgesamt ist festzustellen, dass das Phänomen schwer zu erklären und auch zahlenmäßig
kaum zu erfassen ist. Der Mangel an verlässlichen Daten macht es schwierig, den tatsächli­
chen Um­fang des Problems zu erkennen. Sicher ist aber, dass es nach wie vor Blutrachefälle,
vor allem in Nordalba­nien gibt. Verschiedene Interpretationen und Auslegungen des
Kanuns erschweren eine klare Ab­grenzung zu „normaler“ Kriminalität. Die Schwäche des
albanischen Staates, verbrei­tete Korrup­tion und Kriminalität sowie das teilweise nicht
vorhandene Vertrauen der Bevölkerung in die Justiz behindern die Bekämpfung des
Phänomens und beschränken die Schutzmöglichkeiten für die Be­troffenen.
Abstract
With the rising number of asylum seekers from Albania arriving in Germany, the issue of
„blood feud“ has become a focal point again since the endangerment of the applicant due
to „blood feud“ has been quoted more and more as being a reason for seeking asylum. In
this respect many certifi­cates issued by different authorities, especially by the so-called
Reconciliation Commissions have been presented by asylum seekers.
This is why the presentation in hand deals with the phenomenon of „blood feud“ in today’s
Albania that originates from the traditional Albanian custom and practice, the Kanun. The
report takes a closer look at the origins and reasons for the on-going existence of this archa­
ic and established tra­dition as well as its geographic and quantitative distribution. A further
focus lies on the rules of „blood feud” and its differentiation from other forms of revenge
killings. Furthermore, the paper addresses the role of the Reconciliation Commissions and
any corresponding certificates pre­sented. Another chapter deals with crime and corruption,
the rule of law and legal protection.
All in all one must come to the conclusion that the phenomenon is difficult to explain and
also difficult to determine in terms of figures. The lack of reliable data makes it difficult to
identify the actual volume of the problem. It is, however, certain that cases of blood feud
continue to exist, especially in North Albania. Different interpretations of the Kanun make
a clear distinction between „blood feud“ and „normal“ crimes very difficult. The weakness
of the Albanian Government, the widespread corruption and criminality reigning in the
country as well as to some extent the non-existing trust of the people in their own judiciary
obstructs the fight against the phenomenon and limits the protection measures for those
affected.
Inhalt
Einleitung
7
1. Wiederaufleben der Blutrache
7
2. Verbreitung
8
2.1
Geografisch
8
2.2
Quantitativ
9
3. Regelungen nach dem Kanun
3.1
Auslöser
10
3.2
Verlauf
11
3.3
Isolierte Familien
12
3.4
Versöhnungszeremonie
12
10
4. Versöhnungskomitees und
Nichtregierungsorganisationen
13
5. Bescheinigungen in Blutrachefällen
15
6. Rechtsstaatlichkeit
16
6.1
Kampf gegen Kriminalität und Korruption
17
6.2
Staatliche (Schutz)Massnahmen gegen Blutrache
18
7. Zusammenfassende Bewertungen
Anhang: Karte von Albanien
21
19
7
Einleitung
Seit dem Wegfall der Visapflicht für albanische Staatsangehörige im Jahr 2010 und der
Wirt­schaftskrise in Europa steigt die Zahl der albanischen Asylantragsteller in Europa wie­
der an. Haben im Jahr 2010 1.820 albanische Staatsangehörige in Europa um Asyl nachge­
sucht, waren es 2012 bereits 7.465 und 2013 sogar 9.977.1 Auch in Deutschland steigen die
Zugangszahlen aus Albanien seit Herbst 2013 deutlich an. Ursachen sind aber nicht nur die
nach wie vor schwierige wirtschaftli­che Allge­meinsituation des Landes (niedriges Pro-KopfEinkommen, hohe Arbeitslosigkeit) son­dern auch lokale Konflikte und Blutrachefehden,
die in ländlichen Regionen Albaniens immer noch gegen­wärtig sind. Auf traditionellen
Wertvorstellungen beruhende Blutrachefehden werden häufig als Asylgrund angeführt.
Nach langjähriger Isolation sieht Albanien seit dem Umschwung 1991/92 seine Zukunft
in Europa. Im April 2009 wurde Albanien NATO-Mit­glied und beantragte die Aufnahme
in die EU. In Aner­kennung der durchgeführten Reformen hat die EU-Kommission erst­
mals im Oktober 2012 und er­neut im Oktober 2013 die Verleihung des Status eines EUBeitrittskandidaten an Albanien emp­fohlen. Die Entschei­dung über die Verleihung soll beim
EU-Gipfel im Juni 2014 fallen. Trotz er­reichter Fortschritte wird die Entwicklung des Landes
durch die starke politische Polarisierung der albanischen Gesellschaft, durch traditio­nelle
und aus Zeiten des Totalitarismus übernommene Ver­haltensweisen, die Schwäche des
Staates und seiner Institutionen sowie die starke Durchsetzung der albanischen Gesellschaft
mit Korruption und organisiertem Verbrechen gebremst. Ein generelles Problem Albaniens
ist die noch immer vorherrschende Rückständigkeit großer Teile des Landes. Gerade länd­
liche Strukturen sind noch immer patriarcha­lisch geprägt und von Stammes- und Son­
derregeln durchsetzt. Insbesondere im Norden ist die albanische Gesellschaft bis heute
von archai­schen Strukturen beeinflusst. Dort kommt es weiterhin zu Fällen von Blutrache,
welche nicht nur ein Problem für die albanische Gesellschaft darstellen, sondern auch ein
Hindernis auf dem Weg in die EU sind.
1. Wiederaufleben der Blutrache
Immer noch gelten in Teilen Albanien bestimmte Prinzipien und Ordnungselemente des
jahrhun­dertealten albanischen Gewohnheitsrechts, des sog. Kanuns.2 Kanun bedeutet Regel
oder Norm. Im Kanun werden weite Teile des Zusammenlebens der Albaner geregelt. Er ist
Strafrecht, Zivil­recht und öffentliches Recht in einem. Dieses ursprünglich ungeschriebene
Rechtssystem be­stimmte die we­sentlichsten Aspekte des Sozialverhaltens in den abgelege­
nen und sonst gesetzlosen Gegen­den Nordalbaniens. Der Kanun wurde von den Stämmen
des Nordens streng beachtet und hatte Vorrang vor anderen Rechtssystemen, seien sie staat­
licher oder kirchlicher Art, die man im Laufe der Zeit im Hochland zur Geltung zu bringen
1
2
Republic of Albania: Peoples Advocate: Tracing, Analysis and evincing factors affecting increase of Asylum applications, March 2014, http:/
Www.theioi.org/news/albania-people-s-advocate-releases-report-on-albanian-asylum-seekers (Abruf am 09.04.2014).
Der Kanun. Das albanische Gewohnheitsrecht nach dem so genannten Kanun des Lekë Dukagjini, aktualisiert 1874-1929 von Shtefjen
Gjekovi
8
versuchte. Mit Hilfe dieses alten Systems konnten die Ge­birgsstämme auch während der
fünf Jahrhunderte, als sie zumindest formell Teil des Osmani­schen Reichs waren, ihre
Identität, ihre Autonomie und ihre Lebensart bewahren. Der Ka­nun regelte na­hezu alle
Bereiche des täglichen Lebens und ist bis heute die Wurzel traditioneller Wertemuster: die
Familie, die Ehre, die Treue, das Gastrecht und die Blutrache. „Man verliert das Leben, aber
nicht die Ehre“, ist ein zentraler Satz. Ein weiterer lautet: Ein starker Mann aber nehme „die
Strafe selbst in die Hand“, denn laut dem Kanun wird er solange als tot betrachtet, bis er die
Rache vollzo­gen habe. Der Kanun oder das „Recht der Väter“, wie er auch genannt wird,
wurde im 15. Jahrhun­dert von Leke Dukagjini erstmals kodifiziert und war immer Ergän­
zungs- und zugleich Konkur­renzrecht zum staatlichen Recht, zu dem der Osmanen, zu
dem des al­banischen Staates nach 1912, zum Recht der Besatzungsverwaltungen im ersten
und zweiten Welt­krieg und später Albani­ens.3 500 Jahre osmanischer Herrschaft hatten zur
Folge, dass dieses Recht mit Elementen aus dem Mit­telalter kon­serviert wurde. Die Skepsis
gegenüber staatli­chen Strukturen und fremden Herr­schaften führte dazu, dass dieses
Gewohnheitsrecht immer Teil des albanischen Volkes geblieben ist.4
Die alten Regeln des Kanuns bestimmten bis zur kommunisti­schen Machtüber­nahme
1944/45 das Le­ben der Menschen in Nordalbanien. Während des Kommunismus wurde die
Anwendung des Kanuns und der Regeln der Blutrache bekämpft. Mit dem Ende der Ära
im Jahre 1992 blühten je­doch alte Feh­den und somit das Gewohnheitsrecht wieder auf. Die
staatli­che Ordnung konnte sich vor allem im Norden Albaniens kaum etablieren, so dass die
Menschen auf Grund des entstandenen Vakuums auf die Regeln zurückgriffen, die ihnen
von den Vätern und Großvätern mündlich überlie­fert wur­den. Im Chaos des postkommuni­
stischen Albaniens kam es zu einer Renais­sance der Blut­rache in einer brutalisierten Form,
d.h. ohne Ein­haltung traditioneller Regeln (eine Rache aus dem Hinter­halt galt früher als
wenig ehrenhaft). Mit der beginnenden Mig­ration von Nordalbanern in andere Regionen
des Landes haben sich die For­men und Regelungen der Blutrache weiter verändert und ver­
breitet. Seit den 90er Jahren ist außer­dem eine Verwischung zwischen tra­ditionellen Wert­
vor­stellungen und kriminellen oder politischen Motivationen festzu­stellen. Der Ka­nun wird
zur Recht­fertigung von Racheakten herangezogen, zum Beispiel in Fällen von ge­wöhnli­cher
Krimina­lität.5
2. Verbreitung
2.1. Geografisch
Blutrache oder ähnliche Familienfehden aufgrund von Ehre und Ehrverlust sind vor allem
in den ländlichen nördlichen Teilen Albaniens (v.a. in den Distrikten Shkoder, Lezha, Kukes,
3
4
5
Der Kanun, Dukagjini Publishing House, Peje 2001. Hrsg. Robert Elsie
Die albanische Tradition der Vermittlung. In: Deutsche Gesellschaft für Mediation e.V., 2/2011; http://albanisches-institut.ch/wp-content/
uploads/2011/12/albanische-Tradition.pdf (Abruf am 31.3.2014).
Research Directorate of the Immigration and Refugee Board of Canada: Issue Paper Albania, Blood Feuds, May 2008 , http://www.ecoi.net/
file_upload/1684_1243258524_http-www2-irb-cisr-gc-ca-en-research-publications-index-e-htm.pdf (Abruf am 27.03.2014).
9
Diber) ver­breitet. Blutrachefehden kommen aber auch in anderen Teilen Albaniens, wie z.B.
in der Gegend von Kucove und Berat vor. Auch in Mazedonien, Kosovo, Serbien, Griechenland und Italien gibt es sie noch.6
Exkurs: Die albanische Sprache hat zwei Hauptdialekte. In Nordalbanien (sowie bei der
albani­schen Bevölkerung Kosovos, Mazedoniens, Montenegros und Südserbiens) wird
Ghegisch (gegë) gesprochen, in Süd- und Zentralalbanien (Grie­chenland) wird Toskisch
(toskë) gesprochen. Inner­halb der Dialektgruppe bestehen aber wiederum beträchtliche
Unterschiede, insbesondere zwischen den Dialekten Nordwestalbaniens und Kosovos. Auch
das Ghegische in Mazedonien ist sehr unter­schiedlich gegenüber demjenigen in Albanien
und in Kosovo. Ghegisch und Toskisch unterschei­den sich phonologisch, grammatisch
und lexikalisch. Neben sprachlichen Unterschieden bestehen zwischen den Tosken und
Ghegen auch kulturelle und gesellschaftliche Verschiedenheiten. So waren die Ghegen in
Stammesverbänden (alb. fis) or­gani­siert, die ihrerseits in Clans gruppiert wurden und somit
die verschiedenen Grundbesitzer zu­sam­menbrachten. Das Gewohnheitsrecht war bei den
Ghegen ausgeprägter als bei den Tosken. Ihr Ka­nun des Lekë Dukagjini nahm im gesell­
schaftlichen Leben eine viel höhere Bedeutung ein als bei den Tosken. Die Tosken hatten
keinen eigenen Grundbesitz und mussten deswegen für ihre Land­herren arbeiten. Seit
der Eroberung Albaniens durch die Osmanen wendeten sich die Tosken vom System der
Stammesverbände ab, um es durch eine gesellschaftliche Organisation auf der Ba­sis eines
Dorfes zu ersetzen. Bei den Tosken hatte der Kanun einen niedrigen Stellenwert. Seit der al­
banischen Sprachreform 1974 ist das Toskische heute die Standardsprache in ganz Albanien
und wird von jeden Albaner verstanden.7
2.2 Quantitativ
Die Zahl der Opfer und der Familien, die in Blutfehden verwickelt sind, ist kaum zu erfassen.
Eine Schätzung der Anzahl von Todesfällen ist schwierig, weil viele Blutrache-Morde nicht
bekanntge­geben werden. Bis in die Zeit des Zweiten Weltkrieges gab es sehr viele Fälle von
Blutrache. Unter kommunistischer Herrschaft war sie verboten und selten gewor­den.
In den darauffolgenden zwei Jahrzehnten sollen dann 20.000 Menschen in Blutfehden
verwickelt und 9.500 davon getötet worden sein.8 Angaben zur aktuellen Verbreitung va­
riieren stark. Laut offizi­ellen Stellen gehen die Zahlen aber zurück. So sollen im ersten
Jahrzehnt nach dem Zusam­menbruch des Kommunis­mus (1991-2001) 8.229 Familien in
Blutrachefehden verwickelt gewesen sein, von 2001 bis 2012 nur noch 1.559. Von 2001 bis
2012 soll es nach Angaben des Ombuds­mannes 98 Fehdemorde gege­ben haben und fünf in
den ersten neun Monaten des Jahres 2013. Diese Zahlen werden allerdings von NGOs und
Wissenschaft­lern bezweifelt. Die Regierung spiele das Ausmaß der Blutrache herunter, weil
sie in die EU strebe und das nationale Image aufbessern möchte. Nach Angaben lokaler
NGOs soll es vor 2008 jedes Jahr 70-80 Fehdemorde gegeben ha­ben, seitdem sei die Zahl auf
ca. 150 pro Jahr ange­stiegen.9
6
7
8
9
Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) (13.02.2013): Auskunft der SFH-Länderanalyse: Albanien: Posttraumati­sche Belastungsstörung;
Blutrache.
Sprachen-der-Welt.de http://www.sprachen-der-welt.de/sprachen/albanisch.html (Abruf am 16.04.2014).
Deutsche Welle (2011) Albanien: Blutrache; http://www.dw.de/albanien-blutrache/a-6526139, (Abruf am 27.03.2014).
„Ich blute – du sollst auch bluten“. In: SZ vom 11.11.2013.
10
3. Regelungen nach dem Kanun
3.1 Auslöser
Nach den Regeln des Kanuns sind nur Tötungen, welche als Antwort auf eine zuvor erfolgte
Tötung erfol­gen, Fälle der klassi­schen Blutrache (gjakmarrje). Nur bei der vorsätzlichen
Tötung „fällt er ins Blut“ der Familie seines Opfers. Meist führt die Eskalation eines Streits
zwi­schen zwei Män­nern, deren Familien befreundet oder benachbart sind, zu der Tötung
eines der Männer oder eines männlichen Familienmitglieds.10 Unter die Blutrache fallen
auch die Anstifter, meist auch die Mittä­ter. Bei Tötungen wird zwischen Mord und unbeab­
sichtigter (fahrlässiger) Tö­tung unterschie­den; letztere ist straflos. Bei der Körperverletzung
erhält das Opfer nach den Regeln des Kanuns die Möglichkeit, sich nach dem Prinzip „Auge
um Auge, Zahn um Zahn“ zu rächen. Bei einer Ehrver­letzung kann der Ge­kränkte nicht
Blutrache im klassischen Sinn üben, da noch kein Blut vergossen worden ist. Um die verletz­
te Ehre wieder herzustellen, bleibt ihm aber meist nur der Griff zur Waffe. Ehrverletzungen
ziehen da­her in der Regel ein Tötungsdelikt nach sich, wobei in diesen Fällen von gewöhnlicher Rache (hakmarrje) gesprochen wird.11 Gründe für eine Ehrverletzung können un­
ter anderem sein: Beleidi­gung, Bezichtigung der Lüge oder alle anderen Verletzungen der
Grundprinzipien des albani­schen Gewohnheitsrechtes. Während bei der Blutrache die
Parteien zwingend verschiedenen Fami­lie angehören, ist es möglich, dass im Falle von
Ehrverletzungen Tö­tun­gen innerhalb derselben Familie erfolgen. Die meisten Fehden ent­
stehen im Streit um Eigentum. Gut zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Kommunismus
haben die Gerichte immer noch nicht über Zehntausende Klagen entschieden, die auf
Rückgabe von Land oder Ent­schädigung abzielen.12
Obwohl die Fälle, in denen Blutrache angewandt werden kann, vom traditionellen albani­
schen Ge­wohnheitsrecht eng umgrenzt werden, ist seit den 90er Jahren eine Verwischung
zwischen traditio­nellen Wertvorstellungen und kriminellen oder politischen Motivationen
festzustellen. Ein weiteres Problem ist, dass die Blutrache heute mit allgemeiner Selbstjustiz
verwechselt wird und man sich dabei auf den Kanun beruft. D.h. man bezieht sich nicht
mehr nur auf bestimmte Schutzgüter wie die Ehre, das Gastrecht oder den materiellen
Besitz der Clanangehörigen, sondern erstreckt sich auf alle möglichen Güter und Tätigkeiten, die durchaus illegaler Natur sein können. Der Handel mit Drogen oder Waffen,
Schmuggelaktivitäten, aber auch Erpressung und Prostitution fallen bei­spielsweise darun­
ter. Einzelne Grundsätze des Gewohnheitsrechts wurden vollständig pervertiert, wie bei­
spielsweise das Gesetz der Waffenruhe (besë13), das nun zur Legitimation von Schutzgelder­
pressun­gen benützt wird. An Stelle von Ehrbewusstsein und prinzipientreuem Verhal­ten als
statusschaffenden Kriterien geben heute Reichtum und Besitz den Ausschlag für An­sehen
und Einfluss eines Gruppenmitgliedes.14
10 Egeler Barbara (16.04.2007): Diplomarbeit: Der Kanun – Gewohnheitsrecht als rechtliche Grundlage für Un­recht?, http://www.ccfw.ch/egeler_barbara.pdf, (Abruf am 31.3.2014)
11 Egeler Barbara (16.04.2007): Diplomarbeit: Der Kanun – Gewohnheitsrecht als rechtliche Grundlage für Un­recht?, http://www.ccfw.ch/egeler_barbara.pdf , (Abruf am 31.3.2014)
12 „Ich blute – du sollst auch bluten“. In: SZ vom 11.11.2013.
13 Im Zusammenhang mit dem Kanun, stellt Bese das Prinzip des Einvernehmens und der Versöhnung dar. Dieses Prinzip umfasst Gäste und
Verbündete, aber auch ehemalige Gegner, mit denen man sich ausgesöhnt hat, und bedeutet, dass der Schutz ihres Lebens und ihrer Ehre
sogar noch wichtiger ist als Leben und Ehre des eigenen Clans. In der pervertierten Form dieses Prinzips muss der Beschützte für einen
solchen Schutz bezahlen, ob er ihn will oder nicht.
14 Fedpol.ch (Juni 2004): Strategischer Analysebericht; Kriminelle Gruppen ethnischer Albaner „Lagebild Schweiz“, http://www.mafialand.de/
Members/juergen/pdf/Kriminelle%20Gruppen%20ethnischer%20Albaner-1.pdf (Abruf vom 02.04.2014).
11
3.2 Verlauf
Der Täter muss durch Vermittler zunächst einen 24-stündigen Waffenstillstand (besë) erwir­
ken und an der Beerdigung seines Opfers teilnehmen; die Familie kann noch einen weiteren
30tägigen Waf­fenstillstand gewähren, muss es aber nicht. Gelingt es der Familie des Opfers,
den Mörder, ohne dass eine besë gewährt wurde, binnen 24 Stunden zu töten, gilt dies als
vollzogene Blutrache, da­nach eröffnet die Tötung des Mörders eine neue Blutrache.15 Die
Tötung im Namen der Blutrache hat öffentlich zu erfolgen oder ist zumindest publik zu ma­
chen; die betroffene Familie ist zu infor­mieren.16
Die Ausübung der Blutrache obliegt nur den männli­chen Mitgliedern der Hausgemein­
schaft. Sie darf auch nicht im Haus des Täters stattfinden. Nur in den (seltenen) Fällen, wo
es keine Männer gibt, können auch die Frauen (Mütter, Schwestern, Ehefrau des Opfers) das
Blut rächen. In einigen Regionen konnte das Recht auf einen benachbarten „fis“ oder Stamm
des Opfers, einen Freund oder Paten fallen, falls es in der Familie keine männlichen Rächer
gab.17
Blutrache richtet sich in erster Linie gegen den Täter und dann gegen die männli­chen
Angehörigen seiner Sippe, wenn der Täter nicht zu fassen ist. Die klassische Blutrache
kann nur die männliche Linie des Blutes durchlaufen. D.h. es werden nur die männlichen
Verwandten väterlicherseits in die Blutfehde hineingezogen, nicht aber die mütterlicher­
seits.18 Unter die Blutrache fallen auch die Anstifter, meist auch die Mittäter. Selbst wenn ein
Mörder von der Justiz verurteilt wurde, löst dies nicht das Problem. Die Familie des Toten
kann entweder darauf warten, dass der Mörder wieder frei kommt oder sie rächen sich an
anderen männ­lichen Verwandten des Mörders. Frauen und Kinder sind grundsätzlich von
der Tradi­tion der Blut­rache ausge­nommen. In den letzten Jahren wurde al­lerdings vermehrt
berichtet, dass auch Frauen und Kinder unter 16 Jahren direkt von Gewalt und Isolation
aufgrund von Blutrache betroffen sind. Im Mai 2012 wurde in der Region Shkoder ein 17jähriges Mädchen zusammen mit seinem 70-jährigen Großvater auf­grund von Blutrache
getötet. Sie wurden in ihrem Vorgarten von zwei benachbarten Brüdern er­schossen, deren
Vater zwei Jahre zu­vor vom Bruder des Mädchens aufgrund eines Streits über den geteilten
Bewässerungsbach umge­bracht wurde. Weil der Täter daraufhin inhaftiert wurde, rächten
sich die Männer stattdessen an der Schwester und dem Großva­ter. Im November 2006 wur­
de eine Frau in Vlorë im Südwesten von Albanien getötet. Nachdem ihr Sohn in Spanien
einen Landsmann umge­bracht hatte, rächte sich die Familie des Opfers an ihr.19 Nach
Angaben des US Departement of State ist die Zahl der von Blutfeh­den betroffenen Frauen
heute zehnmal höher als noch vor 20 Jah­ren.20
15 Der Kanun, Dukagjini Publishing House, Peje 2001. Hrsg. Robert Elsie
16 Egeler Barbara (16.04.2007): Diplomarbeit: Der Kanun – Gewohnheitsrecht als rechtliche Grundlage für Un­recht?, http://www.ccfw.ch/egeler_barbara.pdf (Abruf am 31.3.2014)
17 Redi Isak (Universität Wien, Diplomarbeit März 2011): Der Kanun in Albanien. Gewohnheitsrecht im modernen Staat. http://www.design.
kyushu-u.ac.jp/~hoken/Kazuhiko/2011DerKanun.pdf (Abruf am 13.3.2014).
18 Research Directorate of the Immigration and Refugee Board of Canada: Issue Paper Albania, Blood Feuds, May 2008 , http://www.ecoi.net/
file_upload/1684_1243258524_http-www2-irb-cisr-gc-ca-en-research-publications-index-e-htm.pdf (Abruf am 27.03.2014).
19 Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) (13.02.2013): Auskunft der SFH-Länderanalyse: Albanien: Posttraumati­sche Belastungsstörung;
Blutrache.
20 U.S. Department of State (19.4.2013): Country Report on Human Rights Practices 2012 - Albania.
12
3.3 Isolierte Familien
Die sozialen Folgen dieses Phänomens sind für die Betroffenen beträchtlich. Betroffene
Familien isolieren sich, die Männer können keiner Erwerbstätigkeit nachgehen. Kinder, ins­
besondere Söhne, haben häufig keine Möglichkeit zu einer Schulausbildung. Familien haben
versucht, diesem Schick­sal zu entgehen, und sind in die Städte abgewandert. Das hat aber
dazu geführt, dass sich die Blut­fehden vom Norden Albaniens bis nach Tirana ausgebreitet
haben.21 Wird einer Familie Blutra­che angedroht, ist diese isoliert und zwar von heute auf
morgen. Alle Männer und Jungen ab vier­zehn Jahren sind im Haus oder im Gartenbereich
förmlich eingesperrt. Es gehört zum Ehrenkodex, dass keiner der Sippe das Haus verlässt.
Einzig die Frauen können noch hinaus, begleitet von stän­diger Angst. Ganz oft sind auch die
Mädchen und die kleineren Jungen isoliert.22
Nach einer Schätzung von einem lokal stationierten Beobachter der OSCE im Jahre 2005,
sollen damals 188 Familien im Umland der nordalbanischen Stadt Shkoder und 250
Familien in der „Malësija e Madhe“ (hohes Bergland) genannten nordalbanischen Region in
Furcht vor Blutrache gelebt haben.23 Im Oktober 2012 machte der stellvertretende albani­
sche Innenminister anhand von Polizeistatisti­ken folgende Angaben: 67 Familien lebten zu
diesem Zeitpunkt in Isolation aufgrund von Blutrache, zumeist im Norden von Albanien. 39
dieser Familien befanden sich in der Region Shkoder, neun in Malesi e Madhe, dreizehn in
Kukes, vier in Lezhe, eine in Tirana und eine in Durres.24 Nach Angaben des Ombudsmanns
sollen mehr als 200 Kinder im Alter von 9-15 Jahre keine Schule besuchen kön­nen.25
Wirklich belastbare Daten liegen aber nicht vor.
3.4 Versöhnungszeremonie
Die klassische Blutrache ist erst dann beendet, wenn sie entweder vollzogen ist oder eine
aufwän­dige Kon­fliktmediation, einschließlich einer offiziellen Wiederversöhnungszeremonie, stattgefun­den hat.26 Die Tradition der Streitbeilegung, ohne sich an die
staatlichen Gerichte zu wenden, ist beim albani­schen Volk heute noch Realität. Eine
Konfliktaustragung vor Gericht berücksichtigt nicht, dass es nicht nur darum geht, Recht
zugesprochen zu bekommen, sondern es muss ein Kom­promiss erwirkt werden, in dem
beide Seiten ihr Gesicht wahren können. In Blutrachefällen gibt es zwei Arten der
Versöhnung: die Verzeihung (pajtim) und den Verzicht (falje e gjakut). Der Ver­zicht auf die
Blut­rache bedeutet, dass die Familie, die das Blut eines Verwandten rächen muss, dazu
bewegt wird, von ihrer Pflicht abzusehen. Das nicht gerächte Blut wird meist über ein
Blutgeld aus­geglichen. Die Verzeihung ist eine Versöhnung nach einer ungefähr gleichen
Anzahl von Toten auf beiden Seiten. Die Verzeihung ist am wahrscheinlichsten, wenn dieses
21 European Stability Initiative: Balkan Express, Themen: Blutfehden http://www.esiweb.org/index.php?lang=de&id=311&film_
ID=3&slide_ID=3, (Abruf am 27.03.2014).
22 Jürgen Rotner: Blutrache im Norden Albaniens (4/2006). Internet: http://www.reli.ch/uploads/media/Rotner_Blutrache_RL_4-06.pdf (Abruf
am 04.04.2014).
23 Stephanie Schwandner-Sievers (2009): Zwei Fingerbreit Ehre. http://www.journal-ethnolo­gie.de/Deutsch/Schwerpunktthemen/
Schwerpunktthemen_2009/Ehre_und_Schande/Zwei_fingerbreit_Ehre/in­dex.phtml (Abruf am 16.04.2014).
24 Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) (13.02.2013): Auskunft der SFH-Länderanalyse: Albanien: Posttraumati­sche Belastungsstörung;
Blutrache.
25 MA. Edlira Baka Peco: Blood-Feud – Internally Displacing Because of Life Security Threat. In: Mediterranean Journal of Social Sciences
(March 2014): www.mcser.org/journal/index.php/mjss/article/download/.../2227 (Abruf am 01.04.2014).
26 Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) (13.02.2013): Auskunft der SFH-Länderanalyse: Albanien: Posttraumati­sche Belastungsstörung;
Blutrache.
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Gleichgewicht erreicht ist.27 Die Versöhnung darf erst nach der Beerdigung des Opfers an­
fangen. Das Ver­söhnungsverfahren wird in der Regel von einem Vermittler (entweder einem
Ältestem der Region oder einer Versöh­nungsgruppe) übernommen. Seine Aufgabe ist, den
Kontakt zwischen den beiden Fa­milien herzu­stellen. Lehnt eines der ältesten Mitglieder
der verletzten Familie die Vermittlung ab, dann geht die Blutrache weiter. Akzeptieren
beide Familien die Vermittlung, so können die Ver­handlungen an­fangen. Dabei muss die
Ehre beider Familien unbedingt gewährleistet werden, ohne dass eine be­nachteiligt wird.
Versöhnungsmöglichkeiten sind: die Ehe zweier Angehöriger von den Feindfami­lien (diese
Tradition ist jedoch immer seltener), die Bereitschaft der Schuldfamilie, umzu­ziehen oder
das volle entschädigungslose Verzeihen. Finanzielle Entschädigungen können das Ver­söh­
nungsver­fahren erleichtern. Die formelle erfolgreiche Versöhnung erfolgt in Gestalt einer
Erklä­rung, die von beiden Familien unterschrieben wird. Nur ein öffentliches Zelebrieren
der Versöh­nung ratifiziert dann den Vertrag.28
4. Versöhnungskomitees und
Nichtregierungsorganisationen
Laut dem albanischen Gesetz zur außergerichtlichen Konfliktlösung29 dürfen seit 1999
Mediatoren eingesetzt werden. Die Mediation wird von NGOs durchgeführt, die zu diesem
Zweck gerichtlich registriert sein müssen. Die eingesetzten Mediatoren müssen geschult
sein und ehrenamtlich arbei­ten. Die NGO muss staatliche Behörden beraten können
und ihre Ergebnisse und Untersuchungen veröffentlichen. Die im Gesetz ausdrücklich
genannten vermittlungsfähigen Fälle sind aus den Be­reichen des Familienrechts, der
Erbstreitigkeiten und der Eigentumskonflikte. Außerdem lässt das Gesetz auch zu, dass die
außergerichtliche Mediation bei allen Streitigkeiten beschritten werden kann, in denen
die Konfliktparteien sich darauf einlassen und das Gesetz nicht zwingend ein ge­richtliches
Verfahren vorsieht. Somit steht eine außergerichtliche Mediation in Blutrachefällen ei­
gentlich in Konflikt mit dem Gesetz und ist illegal. Dennoch werden auch Blutrachefälle
ge­schlichtet. Ei­nige NGOs sind nur auf Blutrache und ihre Folgen spezialisiert. Kommt
es zu einer Versöhnung in Blutrachefällen, kann dies mildernde Umstände vor Gericht
nach sich ziehen. Für eine erfolgreiche Vermittlung werden entgegen den Vorgaben des
Vermittlungsgesetzes, dass die Vermittlung ehrenamtlich zu erfolgen hat, häufig Gebühren
verlangt. Beträge bis zu 2.000 Euro sollen üblich sein.30
Versöhnungskomitees für Blutrachefälle gibt es überwiegend im Norden des Landes. So
z.B. in Shkoder oder in Puka; größere Organisationen haben ihren Hauptsitz in Tirana und
Zweigstellen im Norden. Einige dieser NGOs sind vom albanischen Innenministerium of­
27 Stephane Voell (2004): Das nordalbanische Gewohnheitsrecht und seine mündliche Dimension; Hrsg. Förderver­ein „Völkerkunde in
Marburg“ e.V, stephanevoell.files.wordpress.com/2009/06/voell19-3.pdf , (Ab­ruf am 27.03.2014).
28 ebenda
29 In Albanien wurde 1999 ein Vermittlungsgesetz vom Parlament verabschiedet (Gesetz Nr. 8465102 „Zur Vermitt­lung und Lösung durch
Versöhnung von Streitigkeiten“). Es handelt sich um eine Art außergerichtliche Konfliktlösung. Ziel des Gesetzes war eine einvernehmliche
Beilegung der Streitigkeiten im Einklang mit den bestehenden Gesetzen und mit den „guten Sitten“. Die Mediatoren sollen bei Streitigkeiten
zwischen Privatper­sonen ihren Beitrag leisten. Die Arbeit der Mediatoren ist inzwischen durch ein neues Gesetz Nr. 9090 vom 26.06.2003
geregelt Quelle: http://albanisches-institut.ch/wp-content/uploads/2011/12/albanische-Tradition.pdf (Abruf vom 04.04.2014).
30 Stephane Voell: Das nordalbanische Gewohnheitsrecht (2004), Hrsg: Curupira; Förderverein Völkerkunde in Marburg; http://stephanevoell.
files.wordpress.com/2009/06/voell19-3.pdf (Abruf vom 01.04.2014)
14
fiziell anerkannt. Die be­deutendsten Organisationen auf die­sem Gebiet sind das Nationale
Versöhnungskomitee (Komiteti i Pajtimit Mbarëkombëtar, Comittee of Nationwide
Reconciliation - CNR) sowie die Albanian Foundation for Conflict Re­solution and
Reconciliation of Disputes (AFCR). Sie betreiben Kon­fliktmediation, bieten Rechtsbe­ratung
an und leisten von Blutrache betroffenen Personen Hilfestel­lung.31
Das Komitee der landesweiten Aussöhnung ist das bekannteste Vermittlungskomitee
Albaniens, es wurde 1990 gegründet und hat Vertreter in jedem Distrikt des Landes. Das
CNR setzt sich für den Vorrang des Rechtes und den Kampf gegen die Blutrache ein. Es
hilft selbstisolierten Familien, Frauen und Kindern. Das CNR arbeitet mit albanischen
Regierungsorganisationen und Versöh­nungsgruppen zusammen. Es organisiert
Konferenzen und veröffentlicht Berichte.32 Nach Angaben des Komitees sollen rund 200
Fälle pro Monat geschlichtet werden.33 Seit der Verhaftung des Vorsit­zenden und drei weite­
re Personen wegen Verdachts der Korruption und Fälschung von Blut­rachebescheinigungen
ist das Komitee in Verruf geraten.34 (siehe unter 5.) Sitz der AFCR ist in Tirana, mit Niederlassungen in Diber, Gjirokastra, Berat, Shkoder, Puke, Korce, Mat, Vlore und einem Netzwerk
von Mediatoren in Lezhe, Puke, Durrës, Kavaje, Mirditë, Gramsh, Pogradec und Elbasan. Jede
Abteilung hat einen Koordinator und Moderator. Diese arbei­ten eng mit ehrenamtlichen
Mediatoren zusammen. Laut Informationen des Vorstands vom Sep­tember 2010 an die
kanadische Asylbehörde behandelt die Organisation 8 bis 10 Fälle pro Jahr.35
Daneben gibt es zahlreiche NGOs, die in diesem Bereich tätig sind u.a.:
• Mother Tereza Organization of Nationwide Reconciliation (Shoqata e Pajtimit
Mbarekombe­tar Nene Tereza)
• Organization of Blood Feud Reconciliation (Shoqata e Pajtimit te Gjakmarrjes)
• Missionaries of Peace Organization (Shoqata Misionaret e Paqes)
• Foundation Peace and Justice (Catholic church) (Fondacioni Paqë e Drejtësi (Kisha
Kato­like) në Shkodër –
• Reconciliation Mission Mother Teresa (Misioni i pajtimit Nënë Tereza - Reconciliation
Mis­sion Mother Teresa)
• Association of Peace Missionaries (Shoqata e misionarëve të paqës –
• Association of Mothers with Orphans (Shoqata e nënave me jetimë)
• Association BESA (Shoqata Besa - BESA Association)
• The Peace Missionaries Union Albania (Präsident: Paskho Toma) (Lidhja e
Misionarëve të Paqes të Shqiperisë)
• The Peace Reconciliation Missionaries of Albania (Präsident: Mustafa Daija) (Shoqata
Mision­aret e Paqes dhe Pajtimeve te Shqiperise)
• Mother Teresa’s Missionaries for Peace. Präsident: Fran Nikolli (Misionarëve te Nënë
Terezës për Paqe)
• Nationwide Reconciliation Mission, “Mother Teresa. Präsident: Gjin Mekshi (Misioni i
Pajtimit Mbarekombetar “Nene Tereza“)
• Institute “House of Justice and National Reconciliation” ( “Shtepia e Drejtesise dhe
Pajtimit Kombetar”).
31 Research Directorate of the Immigration and Refugee Board of Canada: Issue Paper Albania, Blood Feuds, May 2008; http://www.ecoi.net/
file_upload/1684_1243258524_http-www2-irb-cisr-gc-ca-en-research-publications-index-e-htm.pdf, (Abruf am 27.03.2014).
32 Website: http://www.pajtimi.com/index.php?faqe=ekspediteodir
33 Albanien: „Blutrache wird verschwinden“. In: DiePresse.com: 31.07.2013, http://diepresse.com/home/panorama/welt/1436761/Albanien_
Blutrache-wird-verschwinden, (Abruf vom 27.3.2014).
34 Auswärtiges Amt, Auskunft vom 28.02.2014 an das BAMF, 508-516.80/47965
35 Immigration and Refugee Board of Canada (IRB), 8/10/2010: How reconciliation groups begin working on cases. http://irb-cisr.gc.ca/Eng/
ResRec/RirRdi/Pages/index.aspx?doc=453164&pls=1, (Abruf vom 04.04.2014):
15
Anzahl und Betätigungsfelder dieser Organisationen sind nicht zu übersehen, ebenso wenig
gibt es gesicherte Informationen zu deren Seriosität. Konfliktmediation ist auch Geschäft,
häufig wird gar von einer „Blutfehde Industrie“ ge­sprochen. NGOs finanzieren sich meist
durch internationale För­dergelder, Spenden und Gebühren, mit der Ausstellung von
Zertifikaten wird zusätzlich Profit er­zielt. Den Mediatoren wird auch vorgeworfen, dass sie
dazu beigetragen hätten, den Kanun im Nor­den zu reetablieren und damit lokale
Parallelinstitutionen zu bilden, die die Rechtshoheit des Staates und das staatliche Gewaltmonopol unterminieren.36
5. Bescheinigungen in
Blutrachefällen
In den Asylverfahren werden folgende Bescheinigungen vorgelegt:
• Bescheinigungen/Bestätigungen von Versöhnungskomittees oder anderen NGOs
• Bescheinigungen/Bestätigungen von Ortsvorstehern
• Zeitungsartikel
• Urteile oder andere von Behörden ausgestellte Dokumente
Nach Angaben der französischen Asylbehörde ist laut dem albanischen Innen- und dem
Justizmi­nisterium keine Organisation befugt, Bescheinigungen über das Vorhandensein
einer Blutrache­fehde auszu­stellen. Auch die Polizei stellt seit drei Jahren keine solchen
Bescheinigungen mehr aus.37 Angaben in vorgelegten Bescheinigungen lassen sich nur noch
durch direkte Nachfrage beim Generaldirekto­rat der albanischen Staatspolizei in Tirana
verifizieren.38 Albanische Migranten nut­zen dennoch sogenannte Blutrachebescheinigun­
gen, um ihre Aussichten auf Schutzgewährung zu verbessern. Diese sollen belegen, dass
der Inha­ber des Dokuments von Blutrache bedroht ist. Blut­rachedoku­mente werden in
Albanien gegen eine „Gebühr“ von 300 bis 1.000 Euro von verschiede­nen NGOs ausgestellt,
obwohl sie dazu nicht be­rechtigt sind. Es muss aber davon ausgegangen werden, dass dies
nicht allen Antragstellern bekannt ist.
Hauptansprechpartner zur Verifizierung von Einzelfragen in Blutrachefällen war bis 2012
das Na­tionale Komitee für Versöhnung (CNR), welches entsprechende Bestätigungen aus­
stellte. Die Seri­osität des Nati­onalen Komitees für Versöhnung ist aufgrund der Verhaftung
des Vorsitzenden we­gen Korrupti­onsvor­würfen (Verkauf von Bescheinigungen) in Frage
gestellt. Auch hinsichtlich der Organisation „Missionare des Friedens und der Versöh­nung
Albaniens“ (Shoqata Misionaret e paqes dhe pajtimeve te Shqiprise) mit Sitz in Shkoder beste­
hen konkrete Be­denken, inwieweit schriftliche Be­stätigungen zum Vorliegen einer Blutfehde den Tatsachen ent­sprechen. Der Vorsit­zende Herr Shullani und elf weitere Mitarbeiter
dieser Organisation wurden unter dem Vorwurf des Betruges und des Fälschens von
Dokumenten in sieben Fällen im Februar 2014 von der albanischen Polizei festgenommen
36 Stephanie Schwandner-Sievers (2009): Zwei Fingerbreit Ehre. http://www.journal-ethnolo­gie.de/Deutsch/Schwerpunktthemen/
Schwerpunktthemen_2009/Ehre_und_Schande/Zwei_fingerbreit_Ehre/in­dex.phtml (Abruf am 16.04.2014).
37 OFPRA, Anfragebeantwortung vom 18.3.2014 an das BAMF.
38 Auswärtiges Amt (16.12.2013): Bericht über die asly- und abschieberelvante Lage in der Republik Albanien (Stand Oktober 2013), Gz.: 508516.80/3 ALB
16
und Haft gegen sie angeordnet.39 Im Verdacht, falsche Bescheinigungen ausge­stellt zu ha­
ben, stehen auch die NGO Mother Tereza’s Missionaries for Peace (Präsident: Fran Nikolli)
sowie die Nationwide Reconciliation Mission, Mother Tereza (Präsident: Gjin Mekshi).40 Im
Feb­ruar 2014 wurde in Durres der Vorsitzende (Ndrec Prenga) der NGO „National Assmebly
of the Missionaries of Nationwide Reconcilation of Albania“ verhaftet.41
Bekannt ist auch, dass die Bürgermeister der Orte Postriba und Koplik wegen des Ausstellens von falschen Bescheinigungen angeklagt wurden.42 Häufig werden auch Zeitungsartikel vorgelegt, wo­rin über einen Blutrachefall berichtet wird. Nach den vorliegenden
Informationen ist aber die Lan­cierung unwahrer Zei­tungsmeldungen leicht zu bewerk­
stelligen und wird z. B. durch mangelnde Professionalität und geringe Auflagen erleichtert.
Auch Urteile und andere gerichtliche Dokumente können leicht ge- und verfälscht werden.
Auch wenn keine Organisation befugt ist, Bescheinigungen über das Vorhandensein einer
Blutra­chefehde auszustellen, ist trotzdem nicht ohne Weiteres davon auszugehen, dass jede
unberechtigt ausgestellte Bescheinigung auf unwahren Tatsachen beruht. So hat z.B. das
Auswärtige Amt den Inhalt einer von der NGO „The Peace Missionaries Union“ im Jahre
2011 ausgestellten Bescheini­gung als wahr eingestuft.43
6. Rechtsstaatlichkeit
Die Republik Albanien ist nach der Verfassung vom November 1998 ein demokrati­
scher Rechts­staat, der die Grundrechte und -freiheiten seiner Bürger gewährleistet. Die
geltende Verfassung wurde zuletzt am 18.09.2012 geändert, als sich die beiden großen
Parteien zur Korruptionsbekämp­fung auf Änderungen hinsichtlich der Immunität der
Parlamentarier und Staatsfunktionäre geeinigt hatten.44 Laut dem Fortschrittsbericht 2013
der Europäischen Kommission hat Albanien die Rechts­staatlichkeit in den vergangenen
Jahren gestärkt, vor allem durch rechtliche und institutio­nelle Re­formen im Justizwesen
und bei der Polizei. Die Verwaltungskapazitäten bei den Strafverfolgungs­behörden wur­
den ausgebaut. 2008 wurde ein neues Polizeigesetz verabschiedet, welches nach An­gaben
der Europäischen Kommission bereits positive Auswirkung auf die Strafver­folgung zeigt.
Trotzdem weichen Korruption, Nepotismus und organisiertes Verbrechen sowie eine Kultur
der Straflo­sigkeit und fehlende Implementierung der vorhandenen Regelwerke die Rechts­
staatlichkeit auf.45
39
40
41
42
43
44
45
Dokumentet false për azil në Belgjikë, 12 zyrtarë lokalë në gjyq në Shkodër.25.02.2014 In: Lajmi Fundit;
(http://lajmifundit.al/2014/02/
dokumentet-false-per-azil-ne-belgjike-12-zyrtare-lokale-ne-gjyq-ne-shkoder/ (Abruf am 24.03.2014).
Immigration and Refugee Board of Canada (IRB), 01.02.2012: Attestation Letters for Blood Feuds and Issuing Organizations, ALB103902;
http://irb-cisr.gc.ca/Eng/ResRec/RirRdi/Pages/index.aspx?doc=453797 (Abruf am 04.04.2014).
Associations against blood feud assist Albanians who seek asylum in the EU (19.02.2014). In: Independent Bal­kan NewsAgency; http://
www.balkaneu.com/associations-blood-feud-assist-albanians-seek-asylum-eu/ (Abruf am 04.04.2014).
Immigration and Refugee Board of Canada (IRB), 01.02.2012: Attestation Letters for Blood Feuds and Issuing Organizations, ALB103902;
http://irb-cisr.gc.ca/Eng/ResRec/RirRdi/Pages/index.aspx?doc=453797 (Abruf am 04.04.2014).
Auswärtiges Amt, Auskunft an das BAMF vom 02.04.2014, 508-9-516.80/47279
Eintrag „Albanien - Politik“ in Munzinger Online/Länder - Internationales Handbuch, URL: http://www.munzinger.de/
document/03000ALB020 (Abruf am 16.4.2014)
Auswärtiges Amt (16.12.2013): Bericht über die asly- und abschieberelvante Lage in der Republik Albanien (Stand Oktober 2013), Gz.: 508516.80/3 ALB.
17
6.1 Kampf gegen Kriminalität und Korruption
Teile der albanischen Gesellschaft sind von einem hohen Gewaltniveau geprägt
(Wiederaufleben der Blutrachetradition, hohe Verbreitung von Schusswaffen, organisier­
te Kriminalität). Im Ver­gleich zu anderen europäischen Ländern hat Albanien eine relativ
hohe Kriminalitätsrate. So betrug die Rate an Mordfällen pro Jahr (homicide rate) 2011 4
pro 100.000 Einwohner (Deutschland: 0,8; Serbien: 1,3).46 Nach Pressemeldungen sollen ca.
34 % der vorkommenden Morde Blutrachemorde sein.47 Laut einer Studie des Instituts für
Demokratie und Mediation (IDM) seien im Zeitraum 2008-2011 Ge­waltde­likte wieder an­
gestiegen und die Mordrate habe sich um 40 % erhöht. Von 1.027 festge­stellten Fällen ernst­
hafter Bedrohung seien allerdings nur zwei aufgrund von Blutra­che.48
Im Norden des Landes spielen mächtige Familienclans eine wesentliche Rolle. Diese
nutzten die Wirren nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, mafiöse Struk­turen
aufzubauen und sich Machtpositio­nen in der Wirtschaft und der Verwaltung zu sichern.
Die Öffnung Albaniens zum Westen ermög­lichte der albanischen Mafia in der Folge die
Internationali­sierung ihrer kriminellen Machenschaf­ten, die alle lukrativen Bereiche wie
Menschenhandel, Rauschgifthandel und Schutz­gelderpressung umfassen.
Bei der Be­kämpfung der (organisierten) Kriminalität sind mittlerweile Fortschritte zu
verzeichnen. Ein Team für den Kampf gegen Wirtschaftskriminalität und Korruption hat
verbesserte Ermitt­lungsmethoden in Gang gebracht. Ein Strategie- und Aktionsplan gegen
organisierte Krimi­nalität wurde verabschiedet. Die Zahl der Ermittlungen und Anklagen
hat sich erhöht. Seit langem mahnt die EU neben der Bekämpfung der organisierten
Kriminalität auch die Bekämp­fung der Kor­ruption an und hat dies zu einer wichtigen
Vorbedingung für den Kandidatenstatus gemacht. Laut EU-Kommission hat Albanien erste
Schritte zur Verbes­serung der Wirk­samkeit von Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen und zur Verstärkung der Zusammenar­beit zwischen den Strafver­fol­gungsbehörden unternommen. Die Zahl der Verur­teilungen wegen Korruption und Geldwäsche
ist gestiegen, ebenso die Zahl der Ermittlungen im Zusammenhang mit dem Menschenund Dro­gen­handel. Die jüngsten Empfehlungen des Europa­rates in Bezug auf die Finanzierung von politi­schen Parteien und die rechtlichen Bestimmungen zur Korruption wurden
allesamt in zufrieden stellender Weise umgesetzt.49 Die im Juni 2013 neu ge­wählte soziali­
stisch geführte Regierung un­ter Edi Rama hat ihre Entschlossenheit zur Bekämpfung der
Korruption be­kräftigt und dieses Thema im Rahmen ihres Programms zur Priorität erklärt.
Noch liegt Albanien laut dem Korrupti­onsindex 2013 aber auf einem schlechten 116 Platz
von 175 Län­dern (z. Vgl. Deutschland Platz 12).50 Nach wie vor ist Korruption in Albanien
systemimmanent. Sie ist in der Justiz, bei der Poli­zei, im Gesundheitssektor, in der gesamten
öffentlichen Verwaltung aber auch in der Zivilgesell­schaft all­gegenwärtig. Das politische
System basiert primär auf Vettern­wirtschaft und Klientelis­mus.
46 United Nations Office on Drugs and Crime (UNDOC), Homicide statistic 2013, http://www.unodc.org/documents/data-and-analysis/statistics/crime/Homicide_statistics2013.xls (Abruf am 08.04.2014).
47 Balkan Insight: Blood Feuds still blight Albanian lives, Report says, 03.04.2013, http://www.balkaninsight.com/en/article/blood-feuds-stillblight-albanian-lives-report-says (Abruf am 07.04.2014).
48 Institute for Democracy and Mediation (IDM):Crime Trends in Albania (2012). http://idmalbania.org/sites/default/files/publications/crime_trends_in_albania_2012_-_english_-_final_3.pdf (Abruf am 10.04.2012).
49 European Commission (16.10.2013): Albania Progress Report 2013.
50 Transparency International; Corruption Perceptions Index 2013, 03.12.2013, http://www.transparency.de/TabellarischesRanking.2400.0.html (Abruf am 07.04.2014).
18
6.2 Staatliche (Schutz)Massnahmen gegen Blutrache
Blutrache wird in der Gesellschaft mittlerweile als eine „soziale Plage“ bezeichnet. Der
albanische Staat lehnt sie ab und bekämpft sie. Das albanische Parlament verabschiede­
te bereits im Mai 2005 ein Gesetz zur Ein­richtung eines Koordinierungsrates, der unter
dem Vorsitz des Präsidenten eine nationale Strategie gegen Blutrache ausarbeiten und die
Tätigkeiten der Regierungsbehörden koor­dinieren sollte. Bis dato wurde dieses Gesetz aber
nicht umgesetzt.51 Erst in Zusammenhang mit der Kandidatur für die EU-Mitgliedschaft
(2009) verstärkten sich die Bestrebun­gen des albanischen Staates, die Anwendung des
traditionellen Gewohnheitsrechts zu ver­ringern und Fälle von Blutra­che zu bekämpfen.
Alarmiert durch steigende Asylbewerberzahlen in Europa seit 2011 kam es zu weiteren
Aktivitäten. Seitens des Ombudsmanns wurden zahlreiche Anstrengungen unternom­
men, staatliche Institutionen und die Öffentlichkeit zu sensibilisieren. Auf sein Bestreben
wurde eine Task-Force für die Verfolgung und Untersuchung von Fällen eingerichtet, in
denen die Behörden nicht ausreichend eingegriffen hatten. In der Stadt Puka wurde z.B.
ein Blutrachefall unter­sucht, bei dem es wegen der Nachlässigkeit von Polizeibeamten
zur Tötung von zwei Personen ge­kommen war. In Shkoder wurde eine Versammlung un­
ter Beteiligung von Vertretern der zentralen und lo­kalen staatlichen Verwaltung, NGOs,
Religionsgemeinschaften, Medien, etc. organisiert. Im De­zember 2013 fand unter der
Schirmherrschaft des Ombudsmanns eine nationale Konferenz statt.52
2012 gab die albanische Polizei die Einrichtung einer Datenbank bekannt, aber diese soll
(laut einer Pressemeldung vom November 2013) bis dato noch nicht funktionsfähig sein.53
Auf An­weisung der Bezirksstaatsanwaltschaft von Shkoder werden nun sämtliche Fälle und
Personen, die in der Region in Blutrachefälle verwickelt sind, aufgelistet und untersucht.54
Nach wie vor gibt es aber keine ver­lässlichen Zahlen über das Ausmaß von Blutrachefällen.
2012 wurde das Strafgesetz geändert. Es sieht für Blutrachemorde mittlerweile härtere Strafen
als für andere Morde vor. Bereits 2001 wurde das Strafgesetz um den Tatbestand „Blutrache“
erweitert. 2008 und 2012 wurde das albanische Strafge­setz weiter angepasst. Heute wird vor­
sätzliche Tötung im Kontext von Rache oder Blutfehde mit nicht weniger als dreißig Jahren
oder lebenslänglicher Haft geahndet. Die Androhung von oder die Anstiftung zur Androhung
(incitement) von Blutrache, welche zur Isolation der betroffenen Fami­lien führt, wird mit bis
zu drei Jahren Haft bestraft.55
Article 78a Murder for blood feud: Intentional homicide for blood feud shall be punishable
by im­prisonment of not less than thirty years or life imprisonment).
Article 83/a [No title in original]: Serious intimidation for revenge or blood feud, against a
person in order to have him immobilized within the house is punishable by imprisonment up to
three years.
Article 83/b Incitement for blood feud: Inciting other persons for revenge or blood feud,
when it does not constitute other criminal act, is punishable by imprisonment up to three years.
51 Republic of Albania: Peoples Advocate: Tracing, Analysis and evincing factors affecting increase of Asylum applications, March 2014, http://
www.theioi.org/news/albania-people-s-advocate-releases-report-on-albanian-asylum-seekers, (Abruf am 09.04.2014).
52 Republic of Albania: Peoples Advocate: Tracing, Analysis and evincing factors affecting increase of Asylum applications, March 2014, http://
www.theioi.org/news/albania-people-s-advocate-releases-report-on-albanian-asylum-seekers, (Abruf am 09.04.2014).
53 „Ich blute – du sollst auch bluten“. In: SZ vom 11.11.2013.
54 Republic of Albania: Peoples Advocate: Tracing, Analysis and evincing factors affecting increase of Asylum applications, March 2014, http://
www.theioi.org/news/albania-people-s-advocate-releases-report-on-albanian-asylum-seekers, (Abruf am 09.04.2014).
55 Albanian Criminal Code (Law Nr. 144/2013) abrufbar unter: http://legislationline.org/documents/section/criminal-codes/country/47
(Abruf am 02.04.2014).
19
Zusätzlich zu den Gesetzesänderungen wurden weitere Maßnahmen von der albanischen
Regie­rung ergriffen, um den Opfern zu helfen. So unterstützt sie Versöhnungsbestrebungen
mit finanziellen Mitteln und versucht, aufgrund von Familienfehden isolierte Kinder mit
Schulbüchern und Hausleh­rern zu versorgen. In Shkoder und zwei weiteren stark betroffe­
nen Regionen unterstützt UNICEF die lokalen Bildungsdepartemente bei der Umset­zung
von Programmen zur Förderung von Heim­unterricht.56
Die staatlichen Behörden sind in der Regel bemüht, gegen Blutrache vorzugehen.
Grundsätzlich leiden staatliche Stellen in Albanien aber unter einem Mangel an fi­nanziellen
und perso­nellen Res­sourcen. Administrative Kapazitäten sind gering ausgeprägt. Viele
Institutionen, insbe­sondere Ge­richte und Polizei, gelten als käuflich. Rechtsstaatliches
Handeln und Schutz der Men­schenwürde sind in den Köpfen einer Polizeiführung, die
noch unter Enver Hoxha ihre ersten Erfah­rungen sammelte, noch nicht zum Maßstab des
Handelns geworden.57 Auch gibt es immer wieder Fälle, in denen sich die Behörden weigern,
betroffenen Familien Schutz zu gewähren. Noch widerstrebt es manchen Poli­zisten, sich
bei Familienfehden einzumischen, da sie Konsequenzen für sich selbst und ihre Fa­mi­lien
befürchten.58 Dem­zufolge kann der albanische Staat nur mit eingeschränktem Erfolg Schutz
vor Blutrache ge­wäh­ren.59 Hinzukommt, dass es in Albanien aufgrund fehlenden Vertrauens
und ernüchternder Erfah­rungen mit Ordnungshütern für breite Bevölkerungsschichten
weiterhin legitim ist, Konflikte au­ßerhalb des regulären Justizsystems auszutragen.60
Aufgrund der Schwä­che der Institutionen des albanischen Staates werden viele Rechtsverstöße entweder gar nicht oder nicht in ausreichendem Maße verfolgt, insbesondere
wenn sie von Personen mit Einfluss begangen wer­den.61 Viele Alba­ner meiden Gerichte, weil
Urteile oft zugunsten desjenigen mit mehr Geld oder Kontakten ausfal­len. Zeugen können
eingeschüchtert oder bedroht, Rachesuchende durch eine An­zeige erst recht provoziert wer­
den.62
7. Zusammenfassende Bewertung
Blutrache ist in Albanien ein nach dem Gewohnheitsrecht geregeltes Prinzip zur Sühnung
von Tö­tungen und Ehrverletzungen. Betroffen ist meist nicht nur der Täter selbst, sondern
seine gesamte Familie. Verbreitet ist die Blutrache vor allem in den geografisch isolierten
Gegenden im Norden des Landes, wo das Gewohnheitsrecht noch in der Bevölkerung ver­
ankert ist. Die schwierige Trans­formation, die Albanien nach dem Ende der kommunisti­
schen Herrschaft durchlaufen hat, hat zu einem Wiederaufleben der archaischen Tradition
der Blutrache geführt.
56 Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) (13.02.2013): Auskunft der SFH-Länderanalyse: Albanien: Posttraumati­sche Belastungsstörung;
Blutrache.
57 Auswärtiges Amt (16.12.2013): Bericht über die asly- und abschieberelvante Lage in der Republik Albanien (Stand Oktober 2013), Gz.: 508516.80/3 ALB.
58 Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) (13.02.2013): Auskunft der SFH-Länderanalyse: Albanien: Posttraumati­sche Belastungsstörung;
Blutrache.
59 Auswärtiges Amt (16.12.2013): Bericht über die asly- und abschieberelvante Lage in der Republik Albanien (Stand Oktober 2013), Gz.: 508516.80/3 ALB
60 Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) (13.02.2013): Auskunft der SFH-Länderanalyse: Albanien: Posttraumati­sche Belastungsstörung;
Blutrache.
61 Auswärtiges Amt (16.12.2013): Bericht über die asly- und abschieberelvante Lage in der Republik Albanien (Stand Oktober 2013), Gz.: 508516.80/3 ALB
62 „Ich blute – du sollst auch bluten“. In: SZ vom 11.11.2013.
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Die Angaben über die Zahl der Blutrachetoten seit der politischen Wende schwanken.
Es gibt unter­schiedliche und widersprüchliche Zah­lenangaben. Das liegt auch daran, dass
es unterschiedliche Interessenlagen der mit Blutrache be­fassten Akteure (Behörden, NGOs)
gibt. Nach Ansicht vieler NGOs spielt die Regierung das Ausmaß der Blutrache herunter,
weil sie in die EU strebt und das nationale Image aufbessern möchte.
Lokale Versöhnungskomitees hingegen würden das Problem aufblähen, um ihrer Daseinsberechtigung und Einkünfte nicht beraubt zu werden. Außerdem basie­ren ihre Zahlenangaben meist auf Schätzungen. Nur vorangegangene (vorsätzliche) Tötungen oder schwer­
wiegende Ehrverletzungen können eine Blutrache im Sinne des Kanuns nach sich ziehen.
Das Opfer bzw. dessen Familie hat das Recht und die Pflicht, die „Ehre“ wiederherzustellen,
auch wenn es Jahre dauert. Ehrverletzungen können nur durch Vermittlung vergeben oder
mit Blut abgewaschen werden. Dieser Unausweichlichkeit kön­nen sich die Betroffenen nur
durch Flucht oder Isolierung entziehen. Heute werden die Regeln des Kanuns jedoch nicht
immer eingehalten; so kommt es auch zu Tötungen von Frauen und Kindern, kriminelle
Absichten werden als Blutrache kaschiert.
Die Behörden werden nicht eingeschaltet, da es sich um eine Form der Selbstjustiz handelt,
bei der der Staat außen vor bleibt. Durch eine strafrechtliche Verurteilung lässt sich auch die
„Ehre“ nicht wiederherstellen. Der Staat lehnt die Blutrache ab, bekämpft sie und kann auf­
grund seiner begrenz­ten Kapazitäten und der langsamen und korruptionsanfälligen Justiz
Schutz jedoch nur mit einge­schränktem Erfolg gewähren.
Nach den vorliegenden Erkenntnissen ist keine Organisation befugt, Bescheinigungen über
das Vorhandensein einer Blutra­chefehde auszustellen. Trotzdem ist nicht ohne Weiteres da­
von auszu­gehen, dass jede unberechtigt ausgestellte Bescheinigung auf unwahren Tatsachen
beruht.
Insgesamt ist festzustellen, dass das Phänomen schwer zu erklären und auch zahlenmäßig
kaum zu erfassen ist. Der Mangel an verlässlichen Daten macht es schwierig, den tatsächli­
chen Um­fang des Problems zu erkennen. Sicher ist aber, dass es nach wie vor Blutrachefälle,
vor allem in Nordalba­nien gibt. Verschiedene Interpretationen und Auslegungen des
Kanuns erschweren eine klare Ab­grenzung zu „normaler“ Kriminalität. Die Schwäche des
albanischen Staates, verbrei­tete Korruption und Kriminalität sowie das nicht vorhandene
Vertrauen der Bevölkerung in die Justiz behindern die Bekämpfung des Phänomens und
beschränken die Schutzmöglichkeiten für die Be­troffenen.
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Anhang: Karte von Albanien
Quelle: http://www.lib.utexas.edu/maps/europe/txu-oclc-309295661-albania_admin_2008.jpg
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Impressum
Herausgeber
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)
Frankenstr. 210
90461 Nürnberg
Bezugsquelle/Ansprechpartner
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
Frankenstr. 210
90461 Nürnberg
[email protected]
www.bamf.de
Tel. +49 911 943-0
Fax +49 911 943-1000
Stand
April 2014
Druck
BAMF, Zentraler Service
Gestaltung
BAMF, Zentraler Service - Veranstaltungsmanagement/Besucherdienst, Publikationen
Bildnachweis
BAMF
Verfasser
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
Referat 225 - Länderanalysen
Tel.: +49 911 943 7201
Fax: + 49 911 943 7299
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