Probekapitel

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Probekapitel
Die Verführung
von Engeln
Holger Zill
Roman
Ein ständiges Kommen und Gehen von Tausenden von Menschen, das ist Amsterdam. Als ich an der Zentral Station
ankam, begrüßte mich ein sonniger, klarer, aber doch recht
kühler Tag. Es war zwar Ende März, aber der Frühling würde
noch auf sich warten lassen.
Am Flughafen von San Francisco hatte ich mir einen Reiseführer gekauft, also wußte ich schon, daß die Kanäle, die die
ganze Stadt durchkreuzen, „Grachten“ heißen, und daß jede
Gracht zahlreiche Brücken hat, um den Verkehr am Fließen
zu halten. Schon auf dem Bahnhofsvorplatz sah ich, wie Touristen von den Drogendealern angesprochen wurden. Als ich
die Bahnhofsvorhalle verließ, schaute ich den Damrak hinunter, die Hauptgracht der Stadt. Um diese Gracht, die früher
die wichtigsten Anlegestellen für Handelsschiffe bot, ist die
ganze Stadt in Hufeisenform gebaut.
Baltimore, wo ich aufwuchs, war recht klein und gemütlich,
und San Francisco hatte meine Heimatstadt schnell an
Gemütlichkeit übertroffen, doch auf das, was Amsterdam vor
mir ausbreitete, war ich nicht vorbereitet. Wenn Amerikaner
an Amsterdam denken, kommen wir gerade mal so weit:
Holzschuhe, Tulpen, Redlight District und Marihuana.
Amsterdam ist aber so viel mehr. Es ist ein Sammelbecken
für Menschen aus der ganzen Welt, die aus allen Richtungen
in die Stadt strömen, um in Holland ihre ganz besondere Art
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von Freiheit zu entdecken. Jeden, der nach Amsterdam
kommt, überkommt ein Gefühl von Entspannung und das
Verlangen, einen richtig draufzumachen.
Ich stieg in einem billigen Hotel mitten im schwulen Viertel ab. Außer einem Bett und einer Kommode gab es in dem
kargen Zimmer nichts: keinen Fernseher, keine Kaffeemaschine, nicht einmal einen Wecker. Die Dusche und das Klo
befanden sich auf dem Flur. Bis ich einen Job gefunden hatte,
mußte ich auf mein Budget achten.
Ratlos, wie ich mein Geld verdienen sollte, blätterte ich
gleich am Tag nach meiner Ankunft eine der vielen schwulen
Zeitschriften durch, die ich in einem Café mitgenommen hatte. Da fiel mir die Anzeige eines Callboyservice auf. „Bist du
auf der Suche nach uns? Dann sind wir auf der Suche nach dir!“
stand unter dem Foto eines knackigen, dunkelhaarigen Typen,
der auf einer Luftmatratze in einem Pool lag.
„Warum nicht?“ dachte ich mir und ging schnell zur nächsten Telefonzelle.
Wenige Minuten später hatte ich einen Termin für ein Vorstellungsgespräch. Als ich im Büro ankam, drückte mir ein
Mann, der sich als Piet vorstellte, als allererstes ein selbstkopiertes Heft in die Hand mit den Worten: „Erklärst du dich
mit den Regeln und den Tarifen einverstanden, gehen wir zu
‚Schritt Zwei‘ über”.
Ich überlegte kurz, wie viele Schritte es wohl gäbe, wollte es
aber doch nicht so genau wissen.
Eigentlich war es ein ganz normales Büro, mit Chrommöbeln, schön blank geputzt, in der Ecke stand sogar ein Baum,
ein Ficus benjaminis, glaube ich. An der Wand hingen Poster
von nackten Jungs, und Piet, der mit mir das Einstellungsgespräch führen sollte, war sehr nett. Ich hatte fast das Gefühl,
mich für einen stinknormalen Bürojob zu bewerben. Piet saß
am Schreibtisch hinter seinem Computer; ich durfte auf einer
schwarzen Ledercouch Platz nehmen und bekam Kaffee serviert, während er mich mit den Regeln und Preisen vertraut
machte.
Das Heft war überraschend dick, was aber daran lag, daß es
Übersetzungen in mindestens sechs Sprachen gab. Ich fand
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das Ganze sehr lustig, hatte das Heft schnell überflogen,
konnte mich danach aber nur noch an ein oder zwei witzige
Sätze erinnern. Es gab sogar einen Ratgeberteil mit Tips für
merkwürdige Situationen: „Wenn du keinen hochbekommst,
was jedem mal passieren kann, sag nie, es liegt daran, daß du
schon fünf Kunden hattest, sondern daß deine Mutter schwer
krank ist oder dein Hund im Sterben liegt.“
Als ich meine Lektüre beendet hatte, ging ich zu Piet und
setzte mich auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch.
„Und? Hast du alles verstanden?“ fragte er mich.
„Glaube schon. Ist auch gar nicht so kompliziert. Eher witzig, stellenweise.“
„Na gut, dann erkläre ich dir, wie es bei uns läuft. Die Kunden rufen an, und der Typ vom Telefondienst schaut als erstes,
wer auf Abruf ist. Dann geht er die Fragebögen durch, um zu
checken, wer zu dem Kunden am besten paßt. Du kriegst
einen Anruf, man sagt dir den Namen und die Adresse des
Kunden. Nimmst du den Auftrag an, gehst du einfach hin. Je
nachdem, wo der Ort ist, kann es sein, daß jemand vom Service dich hinfährt, oder du fährst zum Kunden mit den
Öffentlichen oder mit dem Fahrrad. Ganz wie du willst.
Danach rechnest du direkt mit dem Fahrer ab, oder du
kommst einmal die Woche eins Büro und erledigst das hier. Es
gibt immer eine Liste, die die Außenstände zeigt. Wenn du
beim Kunden ankommst, rufst du als erstes bei uns an, um zu
sagen, daß die Uhr läuft. Wenn der Kunde fertig ist, meldest
du dich noch mal bei uns. So können wir mit dem Kunden
genau abrechnen, und alles bleibt professionell und ehrlich.
Wir kriegen natürlich unseren Prozentsatz, den Rest behältst
du. Ich bin hier nur angestellt; der Besitzer heißt Kaywai, er
kommt aus Thailand, lebt aber jetzt in Spanien.“
„KY?“
„Ja, auch wir denken natürlich gleich an das Gleitgel KY
und müssen immer lachen, wenn wir seinen Namen hören.
Jetzt nennen wir ihn statt Kaywai nur KY – oder besser noch:
Madame. In Amsterdam ist er Gott sei Dank nur sehr selten.
Wenn du länger bei uns bleibst, wirst du aber ganz bestimmt
das Vergnügen haben. Alles klar?“
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„Kein Problem, Piet. Das meiste steht auch im Handbuch
drin.“
„Ja, ich wollte das nur noch mal zusammenfassen. Hast du
noch irgendwelche Fragen?“
„Nein, eigentlich nicht. Ich bin mit allem einverstanden.
Auch mit den Preisen und Prozenten.“
Also gingen wir zu „Schritt Zwei“ über. Als erstes wollte Piet
wissen, ob ich ein Handy hatte. Ich verneinte, mußte aber versprechen, mir sofort eins zu besorgen. Dann fragte Piet eine
ganze Latte von Sachen ab, etwa ob ich aktiv oder passiv sei,
gerne küsse und blase, bis hin zu Dingen, die ich auf keinen
Fall machen würde. Piet wollte alles wissen und trug meine
Antworten fein säuberlich in eine Tabelle ein, die der Person
vom Telefondienst später vorliegen würde, wenn sie uns mit
den Kunden verkuppelte.
Ich beschrieb mich als einundzwanzig Jahre alt, blond, blauäugig, 180 cm groß, unbehaart, nicht oral – also weder Küssen noch Blasen – und „versatile“, d.h. sowohl aktiv als auch
passiv. Als Künstlernamen legte ich mir „Con“ zu. Das wird
bei den Männern bestimmt gut ankommen, dachte ich mir.
Kurz und direkt, mit einer Ahnung von „brutal“.
Als Begrüßungsgeschenk bekam ich eine Flasche Poppers,
eine kleine Tube Gleitgel und ein paar Kondome. Piet sagte
mir, ich könne jederzeit Kondome umsonst haben, Gleitmittel und Poppers gebe es zum Einkaufspreis über das Büro. Er
ermahnte mich, auf jeden Fall immer genau diese drei Dinge
bei mir zu haben und am besten auch noch einen Cockring –
falls mein Schwanz mal nicht von allein stand.
Mit so einer einfachen Geschäftsphilosophie konnte ich
wunderbar leben. Also hob ich meine Kaffeetasse und prostete Piet zu: „Auf gute Zusammenarbeit!“
„Willkommen an Bord, Con! Wir freuen uns immer, wenn
wir mit solchen knackigen Jungs wie dir arbeiten können.
Unsere Kunden werden dich lieben. Besorg dir schnell ein
Handy, dann ruf an und sag Bescheid, wenn ich dich eintragen kann.“
„Mache ich als erstes, wenn ich hier fertig bin, Piet. Dann
gebe ich euch die Telefonnummer durch.“
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„Du wirst schon bald von uns hören, Con. Da bin ich mir
sicher. Es könnte sogar sein, daß ich heute abend schon was
für dich habe.“
„Hört sich toll an.“
„Also gut. Wir melden uns. Bis dann. Und danke.“
„Ich habe zu danken, bis später!“
Das Vorstellungsgespräch hatte kaum eine Stunde gedauert.
Wieder draußen hatte ich ein richtig gutes Gefühl. Das
Überleben in einem fremden Land würde doch einfacher sein,
als ich gedacht hatte. In meinen ersten Jahren in San Francisco
hatte ich schon so häufig Sex verschenkt. Nun war es an der
Zeit, aus meinem Hobby Kapital zu schlagen. „Ich bin vielleicht eine Hure, aber auf jeden Fall eine teure!“ sagte ich zu
mir selbst.
Gott sei Dank gibt es im kosmopolitischen Amsterdam keine Probleme, ohne Kenntnisse der holländischen Sprache den
Alltag zu bestreiten. Irgend jemand konnte immer genug Englisch, und so war es ein Kinderspiel, mir noch am gleichen Tag
ein Mobiltelefon zu besorgen. Nachdem ich den Handykauf
hinter mich gebracht und Piet die Telefonnummer durchgegeben hatte, ging ich in mein Hotel und wartete auf den
ersten Anruf vom Service.
Am gleichen Abend noch hatte der erste Kunde das Vergnügen, meine Dienste in Anspruch zu nehmen. In den
ersten drei Tagen wickelte ich ungefähr zehn Kunden ab. Die
Hälfte davon hat mir sogar Spaß gemacht, da die Männer
verhältnismäßig jung waren. Die restlichen verliefen im Prinzip ebenfalls komplikationslos. Ein wirklich leicht verdientes
Geld.
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