Frühe Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten

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Frühe Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten
Frühe Entwicklungs- und
Verhaltensauffälligkeiten
- nicht alles ist hyperaktiv
und oppositionell
Dr.med. Dietlind Klaus
Sozialpädiatrisches Zentrum Reifenstein
Eichsfeld-Klinikum gGmbH
 Historische
Betrachtung
 Definitionen und Abschnitte der
kindlichen Entwicklung
 Einflüsse auf die kindliche Entwicklung
 Entwicklungsstörung und Behinderung
 Differentialdiagnosen kindlicher
Entwicklungsstörungen
Historische Betrachtung

Altertum:
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Mittelalter
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Plato, Aristoteles,Seneca
Hippokratischer Eid
Hexenwahn und Aberglaube
„Wechselbälger und Kielköpfe“
Aufklärung/Neuzeit
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1859 erste „Nachhilfsschule“ in Halle/S.
1883 Anstalt zur Erziehung und Bildung „krüppelhafter“ Kinder
„Rassenhygiene und Eugenik“ – „Sozialdarwinismus“
Moderner Utilitarismus
„Reproduktionsmedizin“ – „Embryonale Stammzellenforschung“
Entwicklungsdefinition (nach Straßburg)
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Entwicklung sind alle Veränderungen, die innerhalb
eines bestimmten Zeitraumes zu struktureller und
funktioneller Differenzierung führen.
Die Abfolge der kindlichen Entwicklung führt zur
Vervollkommnung, d.h. zur stetigen Annäherung an ein
der Entwicklung innewohnendes Ziel.
Entwicklung beinhaltet somit Reifung, deren Richtung
bestimmt ist, aber auch Entfaltung von Fähigkeiten, die
durch Anlagen vorbestimmt sind und von
Umwelteinflüssen modifiziert werden.
Somit ist Entwicklung die Reifung eines in den
Grundzügen vorbestimmten, aber offenen Systems.
Abschnitte der kindlichen Entwicklung
 Neugeborenenperiode:
1.-4. Lebenswoche
 Säuglingsalter: 1. Lebensjahr
 Kleinkindalter: 2.-6. Lebensjahr
 Schulalter: 7. Lebensjahr bis zum Eintritt der Pubertät
 Pubertät: Zeitspanne vom Auftreten der ersten sekundären Geschlechtsmerkmale bis zum Eintritt der körperlichen Geschlechtsreife
 Adoleszenz: Zeitspanne vom Eintritt der Geschlechtsreife bis zum Abschluss des Körperwachstums
Einflüsse auf die kindliche Entwicklung
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Körperliche Faktoren
– Vererbung/Genetik
– Schwangerschaft/Geburt
– Krankheit
Soziale Faktoren
– Familiäre Beziehungen
– Soziale und ökonomische Ressourcen
– Erziehungsverhalten der Eltern
– Bildungsstand der Eltern (Mutter)
Gesellschaftliche Faktoren
– Ernährung/Wohnen/Hygiene/Bildung
Entwicklungsstörungen und
Behinderungen
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Entwicklungsauffälligkeit
 Übergeordneter Begriff ohne Aussage zur späteren
Prognose
Entwicklungsverzögerung/-retardierung
 Abweichung von der Normgruppe, die potentiell
aufgeholt werden kann
Entwicklungsstörung
 Entwicklungsabweichung mit Krankheitswert,
meist zu bleibender Behinderung führend
Behinderung
 Entwicklungsstörung führt zur Beeinträchtigung im
täglichen Leben
Entwicklungsstörungen
 Sprachentwicklungsstörungen
 Entwicklungsstörungen
der Motorik
 Kognitive Entwicklungsstörungen
– Teilleistungsstör., Lern- oder geistige Behinderung
 Autistische
Störungen
 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-
u.a. Verhaltensstörungen
Intelligenzminderung/Geistige
Behinderung
 Leichtgradige
Intelligenzminderung (IQ 70-50)
 Mittelgradige
Intelligenzminderung (IQ 49-35)
 Schwergradige
 Schwerste
Intelligenzminderung (IQ 34-20)
Intelligenzminderung
(IQ <20)
Ursachen leichter geistiger ES/ Behinderung
pränatal
23%
unbekannt
55%
perinatal
18%
postnatal
4%
Ursachen schwerer geistiger ES/Behinderung
unbekannt
18%
postnatal
12%
perinatal
15%
pränatal
55%
Ursachen von ES/Behinderungen
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
Pränatal
– Genetisch/Chromosomal
– Exogen/Multifaktoriell
Perinatal
– Hypoxie/Frühgeburt/ICB
– Hypoglykämie/Azidose/Hyperbilirubinämie
Postnatal
– Stoffwechselstörungen
– Entzündungen/Traumata o.a. Krankheiten
Differentialdiagnosen früher Entwicklungs- und
Verhaltensauffälligkeiten
 Normvarianten/Erziehungsprobleme
 Frühe
Bindungsstörungen
 Vernachlässigung/Misshandlung/Missbrauch
 Kindliches Schlaf-Apnoe-Syndrom
 Epilepsie/Medikamentennebenwirkungen
 Stoffwechselkrankheiten/Genetische Syndrome
 Frühgeburtlichkeit/Alkoholembryopathie
 Autismus
Fall 1: C. 4 Monate

Anamnese:
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–
–
–
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1. Kind gesunder, nicht verwandter Eltern
Familie, Schwangerschaft, Geburt unauffällig
NG: kurzzeitig Apnoen
Ab 4. LW „Schreibaby“
Ab 9. LW V.a. KISS, MT, KG nach Vojta, Heilpraktiker
Befunde:
– Gesunder Säugling
– Belastete Mutter (hohes Anspruchsdenken, unterdrückte Affekte)
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
VD: Frühe Interaktionsstörung („Schreibaby“)
Therapie:
– Absetzen von Manual- und Vojtatherapie
– Elternberatung und Anleitung (Schlafverhalten, Bobath-Handling)
– Psychotherapie (Kindesmutter)
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Prognose: gut, Therapieabschluss nach 6 Monaten
Fall 2: T. 4 Jahre

Anamnese:
– 2. von 2 Kindern gesunder, nicht verwandter Eltern
– Familie, Schwangerschaft, Geburt unauffällig
– Ab 9. LM häufige Infekte der Atemwege
– Sprechen und Laufen ab 24 LM

Befund:
– Verhalten unruhig, distanzarm und aggressiv
– Hohe Ablenkbarkeit und wenig Vollendungsinteresse
– Sprachlich-kognitive Retardierung
– Grobe Gesichtszüge, feste Haarstruktur und betonte Augenbrauen
– Großer Bauch mit vergrößerter Leber und Milz
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Diagnose: Mukopolysaccharidose Typ III Sanfilippo
Therapie: keine kausale Therapie
Prognose: schlecht, progressiver körperlicher und geistiger Abbau
Fall 3: F. 18 Monate
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Anamnese:
–
–
–
–
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2. von 2 Kindern gesunder, nicht verwandter Eltern
Familie, Schwangerschaft, Geburt unauffällig
Zunächst normale Entwicklung, Laufen mit 12 LM
Ab 10. LM wiederholt Mundöffnen und Anspannen des Rumpfes
bei überwiegend freudigen Erregungen
Befund:
– Neurologie, Perzeption und EEG unauffällig
– leicht verzögerte Sprachentwicklung
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VD: unklare dystone Bewegungsstörung, DD: beginnender Tic
Weiteres Prozedere:
–
–
–
–
2002 Bethel: V.a. frühe Tic-Störung
2003 KJP GÖ: V.a. atypische Tic-Störung/Tourette-Syndrom
z.Z. 5J.: „Normalentwicklung“ bei zunehmender Tic-Symptomatik
Kontrolle Neurologie/ cMRT/ ggf. Medikamente
Fall 4: J. 4 Jahre
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Anamnese:
– 2. von 2 Kindern nicht verwandter Eltern,Mutter Colitis ulcerosa
– Schwangerschaft, Geburt und Entwicklung bis EV 03 unauffällig
– Im 4. Lebensjahr 2-malig Anfälle im Mittagsschlaf
Befunde:
– Körperlich, geistig und sprachlich unauffällig
– EEG mit ausgeprägtem sharp-wave-Fokus und Aktivierung im Schlaf
Diagnose: idiopathische fokale Epilepsie – ESES
Verlauf:
– Bis dato unter wechselnden AE anfallsfrei, EEG weiter pathologisch
– Entwicklung deutlicher kognitiver Teilleistungsstörungen und
Unruhe
– z.Z. FSU Jena zur Dexamethason-Therapie
Prognose:
– Hinsichtlich Anfällen gut
– Hinsichtlich Kognition/Lernen unsicher
Fall 5: Ph. 4 Jahre
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Anamnese:
– 3. von 3 Kindern gesunder, nicht verwandter Eltern
– Familie, Schwangerschaft und Geburt unauffällig
– Leichte Sprachentwicklungsverzögerung
– Unruhe in der Kindergruppe ohne alterstypisches Spiel

Befund:
– Klinisch-neurologisch unauffällig
– Ausschließliche Beschäftigung mit Details oder „Nicht-Spielzeug“
– Sprache mit Echolalien, Floskeln und zeitversetzten Antworten


Diagnose: atypischer Autismus
Verlauf:
– Autismusspezifische Frühförderung
– Seit 2003 integrative Grundschulklasse Stiftung „Finneck“
– 6/2005 LD, ADOS und ADI-R
Zusammenfassung

Die gesunde kindliche Entwicklung ist von äußeren
(Familie, Umwelt) und inneren (Vererbung, Krankheit)
Faktoren abhängig.

Eltern von entwicklungs- und/oder verhaltensauffälligen
Kindern brauchen frühe Hilfsangebote.

Entwicklungs- und verhaltensauffällige Kinder brauchen
eine mehrdimensionale medizinische Diagnostik zu der
immer eine gründliche Anamnese und ein genauer
klinischer Befund gehören.