Drei Farben Blau

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Drei Farben Blau
Drei Farben Blau
Gut 200 Jahre, nachdem die Französische Revolution der Welt eine neue Ordnung bescherte, erinnert sich der in
Frankreich lebende und arbeitende Pole Krzysztof Kieslowski an die Schlagworte dieser Revolution - "Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit" -, die er verwirklicht glaubt, ordnet ihnen die Farben der französischen Trikolore Blau, Weiß und Rot - zu und will diese Ideale in einer filmischen Trilogie mit neuen Inhalten und
Interpretationsmöglichkeiten füllen.
"Blau" ist die Freiheit, eine Freiheit, die schmerzlich errungen werden will. Nach einem Autounfall, der das Leben
ihres Mannes, eines gefeierten Komponisten, und der geliebten Tochter forderte, ist Julie aus der Bahn geworfen.
Sie überlebt leicht verletzt, und da physischer Selbstmord für sie kein Weg ist, wählt sie den psychischen. Nach
einer Liebesnacht mit einem Mitarbeiter ihres Mannes, ihrem Verehrer seit langem, zieht sie sich aus dem Leben
zurück. Sie bietet ihr Landhaus zum Verkauf an, löst die Konten auf, kappt alle Kontakte zur Vergangenheit,
verweigert sich den Medien und taucht in einer anonymen Pariser Wohnung unter. Zwischenzeitlich vernichtet sie
noch die Partitur der "Europa-Hymne", die ihr Mann im Auftrag des Europarates komponiert hatte. Irgendwann
taucht ein junger Mann auf, Zeuge des Unfalls, der eine Kette mit Kruzifix, ein Geschenk ihres Mannes, an sich
genommen hatte. Nun will er sie zunickgeben. Doch sie verweigert sich auch dieser letzten Erinnerung.
Sich so einfach aus dem Leben davonstehlen, erweist sich jedoch als unmöglich. Das Leben holt Julie immer
wieder ein, sei es in der Gestalt Oliviers, der sie aufspürt, ihr erneut seine Liebe gesteht und sie zur Vollendung
der Partitur bewegen will, denn in der Fachwelt kursiert das Gerücht, nicht ihr Mann, sondern sie habe die
entscheidenden Teile seines Werkes geschrieben. Da ist auch noch die Stripperin Lucille, die keine Nacht allein
verbringen kann und mit Macht in Julies Leben drängt, ihre Anteilnahme herausfordert. Und da sind die
Mäuschen, die in der Abstellkammer ihr Leben feiern und ihr so große Angst einjagen. Und das ist natürlich die
Musik, die ihr immer häufiger und immer lauter in den Ohren klingt; die Europa-Partitur, die sie im Schwimmbad
schon einmal zwingt, denn Kopf so lange unterzutauchen, bis der letzte Rest Sauerstoff in ihren Lungen
aufgebraucht ist. Die Flucht in die absolute Stille kann für Menschen nur den Tod bedeuten - so oder so.
Das Fernsehen bewirkt letztlich den Umschwung. Dort stellt Olivier den Nachlass von Julies Mann aus und
kündigt an, er werde die Komposition, deren Kopie in Straßburg lagerte, zu Ende bringen. Auf einem der Fotos ist
der Komponist mit einer unbekannten Frau zu sehen, seine Geliebte seit langem, wie Julie erfährt. Nun ist die
Vergangenheit wieder von Interesse. Julie spürt die Frau auf, weiß bald nicht nur, daß sie schwanger ist, sondern
erkennt auch am identischen Kettchen, daß ihr Mann sie längst verlassen hatte. Das Leben wird also weitergehen,
die Erinnerung wird eine andere sein. Sie sorgt für das fremde Kind, das doch ein Teil von ihr ist, und komponiert
die "Europa-Hymne", die auch immer ein Teil von ihr war, zu Ende - unter ihrem Namen. Dann trifft sie sich mit
Olivier, der die blaue Matratze ihrer Liebesnacht erstanden hat. Den Kontakt mit ihrer Mutter, die in einem
Altenheim vor sich hin dämmert, den Kontakt mit ihrer Vergangenheit also, hat sie endgültig abgebrochen, da sich
eine Kommunikation als unmöglich und die Erinnerung als zu trügerisch erweist.
Der Chor, den Julie, wunderbar gespielt von Juliette Binoche, sich für ihr Konzert aussucht, entstammt dem 1.
Korinther-Brief ("Das Hohe Lied der Liebe"): "Die Liebe ist langmütig./Die Liebe ist gütig./Alles erträgt
sie./Alles erhofft sie./Die Liebe hört niemals auf, heißt es dort, doch zunächst handelt Julie genau entgegengesetzt.
Sie verweigert sich ihren Erinnerungen, lebt allein dem Schmerz: eine Form, dem Kummer zu begegnen, aber nur
eine Form des Übergangs. Der Moralist Kieslowski gemahnt an die Verpflichtungen, die der Mensch dem Leben
gegenüber hat, die Sorge für das Gemeinwohl, aber auch für das eigene Leben. Dies ist durchaus bedenkenswert,
doch die (Stil-)Mittel, mit denen er seine Botschaft vorträgt, wirken gekünstelt. Alles will Symbol sein, wird
ausgestellt, wirkt damit wie ein großes Gedankenspiel ohne menschliche Wärme. Dem "Zufall möglicherweise" so der Fernsehtitel eines älteren Kieslowski-Films - bleibt nichts überlassen. Alle Personen agieren wie von
unsichtbaren Fäden gezogen, ihre Schicksale fügen sich nahtlos, wie in einem Puzzle, zusammen, wobei ihr
Verhalten durchaus nicht überzeugt, da es nicht das Leben zu spiegeln scheint, sondern Teil einer intellektuellen
Versuchsanordnung ist, die den Charakteren aufgezwungen wird. So findet Julie zwar ihre "Freiheit", kann sich
nach Verlust und Trauerarbeit (auch künstlerisch) emanzipieren, doch ihre neuerliche Öffnung zum Leben erstarrt
in Künstlichkeit. Sie verdrängt alle Erinnerung, ohne die Vergangenheit wirklich zu verarbeiten.
Natürlich dominiert die Farbe Blau den Film. Kieslowski sucht - fast verbissen - und wird natürlich fündig. Mal
huschen blaue Lichtreflexe über die Augen der trauernden Julie (ein Effekt, den der Regisseur auch schon bei "Die
zwei Leben der Veronika" eingesetzt hat, dort diente er allerdings der Verzauberung und war nicht deutlich
kalkulierter Effekt), dann gibt es die blaue Kristall-Lampe, das einzige Erinnerungsstück, das Julie zulässt. Doch
sie stammt noch aus Kinderzeiten und symbolisiert all die Träume und Wünsche, die man sich für das Leben
erhofft hat. Und dann gibt es das in tiefes Blau getauchte Schwimmbad, in dem Julie- vornehmlich nachts und
allein - ihre Bahnen zieht und versucht, die Vergangenheit zu verdrängen. Ein Film voller Symbole und Zeichen,
doch alles wirkt eine Spur zu bemüht, um wirklich glaubhaft zu sein.
So ist der erste Teil der Trilogie zwar ein gut gemeinter, aber kein ganz guter Film. Keiner, der sich auf das
Wesentliche konzentriert, sondern der Handwerk zelebriert. Schaut man auf die zwei Folgen des Dekalogs, die in
unseren Kinos zu sehen waren ("Ein kurzer Film über das Töten"; "Ein kurzer Film über die Liebe"), so kann man
sich vergegenwärtigen, welch ein kraftvoller Erzähler Kieslowski war, der mit spärlichen, kargen Mitteln
konzentriert seine Botschaft zu transportieren verstand. Auch ihm scheint das große europäische Kino, dem man
seine Entstehungskosten ansehen kann, nicht gut zu tun. Er ist zwar noch nicht so weit wie die Taviani-Brüder, die
mit "Fiorile" (fd 30 484) in jede Produzentenfalle getappt sind, aber es besteht die Gefahr, daß auch dem
Moralisten Kieslowski durch den Blick auf die Dinge der Blick auf das Thema verstellt wird.
Hans Messias