Den ganzen Artikel können Sie hier im angehängten PDF lesen.

Transcrição

Den ganzen Artikel können Sie hier im angehängten PDF lesen.
1
DIE TIBETFRAGE VOR DEM HINTERGRUND DER
NATIONALITÄTENFRAGE IN CHINA
Konfliktursachen, Ethnische Reaktionen, Lösungsansätze und Konfliktprävention
Thomas Heberer
Protestaktionen der Tibeter und die Tibet-Frage haben im Frühjahr 2008 große
Schlagzeilen gemacht. Diese Schlagzeilen lassen indessen ein tieferes Verständnis
von dieser Frage vermissen. Ein besseres Verständnis erfordert, die Tibet-Frage in
den Rahmen der chinesischen Nationalitätenpolitik einzuordnen. Denn nur dadurch
lassen sich die Hintergründe der Entwicklung in Tibet begreifen.
Der letzten Volkszählung von 2000 zufolge hatten die 55 "nationalen Minderheiten"
mit 105 Mio. Angehörigen einen Anteil von 8,4% an der Gesamtbevölkerung Chinas.
Die Tibeter machten 0,42% der Gesamtbevölkerung und ca. 5% der Bevölkerung der
ethnischen Minderheiten aus. Die Bevölkerungsmehrheit, die Han, stellten 91.6% der
Bevölkerung.
Der folgende Beitrag befasst sich primär mit Konfliktstrukturen, mit kulturellem und
sozialem Gruppenwiderstand und mit Konfliktminderungsstrategien. China steht nicht
vor einem Zerfall nach sowjetischem Muster. Gleichwohl nehmen die Konflikte
zwischen den Nationalitäten zu. Da das Schwelen solcher Konflikte in Krisenzeiten
Sprengkraft entwickeln kann, erscheint es sinnvoll und notwendig, sich frühzeitig
Gedanken über Ursachen und Lösungsansätze zu machen. Eben dies ist eine
Intention dieses Beitrags. Ausgehend von der Perzeption von "Minderheiten" durch
die dominante Nationalität (Han), sollen zunächst Konfliktlinien und Konfliktursachen
im Beziehungsgefüge Mehrheit/Minderheiten benannt werden. Sodann soll gezeigt
werden, in welch unterschiedlicher Weise die nicht-Han Völker auf die Hegemonie
der Han reagieren. Schließlich sollen Maßnahmen erörtert werden, die zu einer
Konfliktminderung oder Konflikteskalationsprävention beitragen könnten.
Konfliktlinien und -ursachen
Kollektive Erinnerung
2
Konflikte beginnen im Denken von Nationalitäten. Stereotype und Vorurteile
gegenüber Anderen prägen das Verhalten diesen gegenüber. Und darin manifestiert
sich zugleich eine historische Dimension. Von daher muss eine Analyse ethnischer
Konflikte notwendig mit dieser historischen und mit der mental-kognitiven Dimension
beginnen. Kollektive Erinnerung umfasst im Wesentlichen zwei Grundmomente:
historische Konflikte in der Erinnerung einer ethnischen Gruppe und die historische
Bewertung anderer Gruppen. Dies bezieht sich auf historische Traumata, wie die
Verdrängung, Vernichtung oder Demütigung von Völkern. Denken wir etwa - in der
neueren Geschichte - an die blutige Niederschlagung der Miao-Aufstände in
Südchina im 18. Jh., Aufstände, die sich gegen die Verdrängungspolitik des
Kaiserhofes und die Unterdrückung und Ausbeutung durch Han-Beamte richteten.
Die Miao in Guizhou etwa waren so verzweifelt, daß sie ihre Siedlungen auflösten,
teilweise sogar ihre Frauen und Kinder töteten, um mit aller Kraft und letzter
Konsequenz an dem Aufstand teilnehmen zu können. Dieser Aufstand endete in
einer Niederlage, die die Miao 18.000 Menschenleben kostete. Oder nehmen wir die
blutige Niederschlagung muslimischer Aufstände. Zwei große Aufstände in Yunnan
und in Nordwestchina in der zweiten Hälfte des 19. Jh. beantwortete der Qing-Hof mit
grausamer Vergeltung. Die chinesischen Truppen sollen ein derartiges Gemetzel
unter den Hui angerichtet haben, dass sich ihre Zahl in beiden Regionen nahezu
halbiert habe. Dazu kommen die Traumata der Mao-Ära: die grausame
Niederschlagung von Aufständen (Hui, Tibeter, Yi, Miao, Yao, Uiguren), die
Liquidierung der Oberschicht der einzelnen Völker, die Zerstörung und Schändung
der Kulturgüter und religiösen Stätten, der Versuch ökonomischer, gesellschaftlicher
und kultureller Gleichschaltung durch zahllose politische "Kampagnen". Bekannt ist,
dass 87.000 Tibeter im Verlauf des Aufstandes von 1959 ums Leben kamen und
2.690 von 2.700 tibetischen Klöstern in den späten 50er und 60er Jahren zerstört
wurden. Das wahre Ausmaß an Massakern, Bestrafungsaktionen, Zerstörung und
Vernichtung ist bislang nicht dokumentiert. Das moderne Kerntrauma stellt die
"Kulturrevolution"
(1966-76)
dar.
Durch
die
in
dieser
Periode
versuchte
Zwangsassimilierung hat sich das Beziehungsgefüge zwischen den Nationalitäten
grundlegend gewandelt.
Ins kollektive Gedächtnis eingegraben haben sich auch traditionelle Vorstellungen
von Hierarchisierung wie, dass die Han schon immer "Kultur" besessen hätten, deren
3
Besitz sie von den anderen Völkern unterscheide, wobei das politische Ziel in der
"Kultivierung" dieser Völker bestand. Kultivierung wurde letztlich mit Sinisierung oder
besser "Hanisierung" identifiziert. Die indigenen Völker galten als "Barbaren", die
häufig mit Tieren verglichen wurden. Die traditionellen Vorstellungen vertrugen sich
mit dem historisch-materialistischen Weltbild, wie es von Stalin in den 30er Jahren
entworfen worden war (und dem zufolge alle "Minderheiten Chinas" den Stufen
primitive,
sklavenhalterische,
feudalistische
oder
kapitalistische
Gesellschaft
zugeordnet wurden). Die Einteilung der Gesellschaften aller Nationalitäten gemäß
der
Stalinschen
Formationenlehre
kam
dem
traditionellen
chinesischen
Hierarchsierungsdenken entgegen. Wies sie doch jeder Ethnie ihren Platz in der
Nationalitätenhierarchie und in ihren Beziehungen zum "fortgeschrittensten" Volk,
den Han, zu. In Anlehnung an die traditionelle Bestimmung von der Han-Kultur als
höchster Kultur und an die Aufgabe der Zivilisierung bzw. Sinisierung der "Barbaren"
verblieben die "sozialistischen Han" in ihrer Rolle gegenüber den "Minderheiten", die
sich auch der marxistisch-leninistischen Theorie zufolge auf einer niedrigeren
Gesellschaftsstufe befanden. "Avantgarde", Träger und Bewahrer dieser Kultur und
Zivilisierung bildeten nun nicht mehr der Kaiserhof, seine Beamtenschaft und sein
Prüfungssystem, sondern die Kommunistische Partei mit ihren Funktionären und
ihrem Bildungssystem. Die von der KP formulierte Aufgabe jeder Nationalität bestand
darin,
den
großen
Bruder
möglichst
schnell
einzuholen
und
sich
seiner
(sozialistischen) Zivilisation anzunähern. Der patriarchalische sozialistische Staat
erhielt die Aufgabe, entsprechende Schritte einzuleiten. Er legt fest, was für die
"Minderheiten" nützlich ist und was abgeschafft oder reformiert werden muss.
Stereotypen wie die genannten stehen einer ernsthaften Beschäftigung und
Auseinandersetzung der Han über die Nicht-Han-Völker und ihre Kultur im Wege und
beeinflussen bis in die Gegenwart hinein die Vorstellungen der Han von den NichtHan, wobei die letzteren zugleich ein Gefühl latenter Diskriminierung und
entwicklungsmäßiger Unterlegenheit entwickelt haben.
(b) Politische Konflikte
Politisch gesehen bestehen der Kernkonfliktpunkt im Fehlen echter Autonomie. Unter
Autonomie wird die rechtswirksame Möglichkeit der Regelung der eigenen
4
Angelegenheiten ohne staatliche Intervention gesehen (Selbstorganisation der
Minderheiten). Trotz einer Aufwertung der ethnischen Minoritäten in der Verfassung
von 1982 und der Verabschiedung eines Autonomiegesetzes im Jahre 1984 existiert
indessen keine echte Autonomie. Erstens ist die Partei (gerade auch mit ihren
Organisationen
in
den
Gebieten
mit
Autonomie)
den
autonomen
Verwaltungsinstitutionen stets über- und vorgeordnet, weil sie die letztlich
entscheidende Instanz ist; zweitens handelt es sich bei der Verfassung und dem
Autonomiegesetz um "weiche" Gesetze (soft laws), weil es aufgrund mangelnder
Rechtssicherheit, fehlender Rechtsinstitutionen (es existieren keine entsprechenden
Verfassungs- und Verwaltungsgerichte) und der Überordnung der Partei über das
Recht keine rechtlichen und politischen Instrumente zur Durchsetzung dieser
Gesetze und ihrer Bestimmungen gibt; drittens sieht das Autonomiegesetz in
wichtigen Fragen wie Einwanderung von Han, Industrieansiedlung oder Schutz
natürlicher Ressourcen keinerlei Mitspracherechte vor, so daß die Autonomie a priori
begrenzt ist.
(c) Ökonomische Konflikte
Die Hauptkonfliktpunkte bestehen in: Modernisierung als Vorstellung der Bedrohung
ethnischer Identität und ökonomischer Vernachlässigung einer Nationalität oder ihres
Territoriums. Die Minoritätengebiete zählen zu den ärmsten und am wenigsten
entwickelten Gebieten. Allein von daher sind die Voraussetzungen für eine
Selbstverwaltung
nicht
besonders
gut.
Zwar
hat
das
ökonomische
und
technologische Defizit dieser Gebiete auch historische Ursachen und kann von daher
nicht der gegenwärtigen Parteiführung angelastet werden. Gleichwohl hat eine an die
Bedingungen jener Regionen nicht angepasste Entwicklungspolitik seit den 50er
Jahren die Kontinuität von Rückständigkeit begünstigt, und dies, obwohl ein Großteil
dieser
Gebiete
aufgrund
Entwicklungspotential
besitzt.
reicher
Der
Rohstoffvorkommen
Großteil
der
ein
Menschen
signifikantes
unterhalb
der
Armutsgrenze lebt in Minderheitengebieten. Ein Fünftel der Angehörigen ethnischer
Minoritäten gelten als "arm". Fast die Hälfte aller von Peking offiziell als
"Armutskreise"
Wachstumsraten
eingestuften
Kreise
auch
die
für
liegt
in
Minoritätengebieten.
autonomen
Gebiete
haben
Trotz
aller
sich
die
Entwicklungsunterschiede zwischen den Siedlungsgebieten ethnischer Minoritäten
5
und den Han-Gebieten im Verlauf der Reformära vergrößert. Nun sind zwar seit
Gründung der Volksrepublik China beachtliche Subventionsmittel in diese Gebiete
geflossen, aber weitgehend für eine Entwicklung, die entweder verfehlt war, weil sie
den lokalen und regionalen Bedingungen nicht entsprach oder im Interesse der HanGebiete (Erschließung von Rohstoffquellen für die Industrie Ostchinas).
(d) kulturelle Konflikte
Kernpunkte sind die ungleiche Behandlung von Kulturen, unterschiedliche Staatsund Rechtsvorstellungen und unterschiedliche kulturelle oder religiöse Erwartungen
und
Zielsetzungen.
Unzufriedenheit
mit
politischen,
gesellschaftlichen
und
ökonomischen Entwicklungen kann sich durch Eingriffe in Sitten, Brauchtum und
religiöse Glaubensvorstellungen verstärken. Das Kernproblem der Kulturpolitik
Chinas ist die Unterscheidung zwischen "gesundem" und "ungesundem" Brauchtum
seit den 50er Jahren. Ungesundes soll beseitigt oder "reformiert", gesundes bewahrt
werden. Da nie eine eindeutige Definition für "gesund" oder "ungesund" gegeben
wurde, waren und sind immer wieder willkürliche Eingriffe möglich. Doch Kultur ist
nicht
nur
materiell
manifestiertes
Brauchtum,
sondern
auch
"psychisches
Einkommen", das sich auf diejenigen Dinge bezieht, welche die mentalen und
spirituellen Bedürfnisse menschlicher Wesen befriedigen. Und dies erklärt, weshalb
Kultur so eng mit einer Nationalität verwoben ist, so dass Angriffe auf die Kultur
zugleich als Angriffe auf die Identität einer Nationalität gewertet werden. Auf diese
Situation versucht der chinesische Staat mit einer doppelgleisigen Politik zu
reagieren: mit einer Politik des eingeschränkten kulturellen Pluralismus fördert er
Momente, die im Interesse der Integration zu sein scheinen (wie gewisse Sitten und
Bräuche oder die Nutzung von Sprachen und Schriften), während er gleichzeitig
solche Momente einschränkt oder bekämpft, die als desintegrativ rezipiert werden
(wie Religion oder eigenständige Geschichtsbilder). Diese Balance zwischen
Pluralismus and ethnischer Einheit durchzieht die gesamte Nationalitätenpolitik.
(e) Neue Konfliktlinien im Zuge des sozialen Wandels
Verstärkte Zuwanderungen in Minoritätengebiete (von Händlern, staatlichen
Institutionen oder Privatpersonen, die ohne Rücksicht auf die lokale Bevölkerung
6
Wälder abholzen, nach Edelmetallen schürfen oder Kohle abbauen) bei gleichzeitiger
Abwanderung von Fachkräften (Techniker, Wissenschaftler, Ärzte, Lehrer) in die
prosperierenden Küstengebiete, das hohe Maß an Korruption (die vielfach den "Han"
und ihrer Partei, der KP, angelastet wird) oder kriminelle Aktivitäten, die von Han
begangen werden, wie Entführungen von Mädchen aus den Minderheiten zum
Zwecke der Zuführung zur Prostitution im Ausland (vor allem aus Südwestchina)
oder zum Verkauf an Han-Bauern (als Ehefrauen, da der "Erwerb" einer Han-Frau für
viele Han-Bauern nahezu unerschwinglich geworden ist), Betrug und Übervorteilung
von Minoritätenangehörigen durch Han-Händler u.a. Momente verstärken die
Unzufriedenheit in den Minoritätengebieten. Durch die soziale und räumliche
Mobilisierung nimmt die Zuwanderung von Han in die Minderheitengebiete signifikant
zu. Eine Untersuchung über Lhasa von Ende der 90er Jahre belegt, dass 74,7% der
floatierenden Bevölkerung dieser Stadt Han, nur 14,8% Tibeter waren. Auswärtige
Händler und Handwerker verdrängen einheimische vielfach vom Markt.
Ein wichtiges Moment der Unzufriedenheit ist die steigende Arbeitslosigkeit in den
Minoritätengebieten
infolge
der
bevorzugten
Einstellung
von
Han
in
den
Staatsbetrieben mit dem Argument, Minoritätenangehörige besäßen ein niedriges
Bildungsniveau, seien faul und arbeitsunwillig und sprächen und verstünden nur
schlecht Chinesisch. Beschäftigte, die einer ethnischen Minorität angehören, werden
oftmals schlechter bezahlt, verrichten minderwertigere Tätigkeiten und besitzen
geringere Fortbildungschancen als Han. Die Kreditvoraussetzungen für Betriebe in
Minderheitengebieten und für private Unternehmer, die einer ethnischen Minderheit
angehören, sind erheblich strenger als für andere.
Die Bevorzugung von Han im Wirtschaftsleben hat nicht nur mit Fähigkeiten oder
Vorurteilen zu tun, sondern muss zugleich als Ausdruck eines ethnischen
Nepotismus begriffen werden, bei dem die Han aufgrund ihrer Dominanz und der
institutionellen Abhängigkeit der Minoritäten ihre Interessen am besten durchsetzen
und sich gegenseitig begünstigen können. Durch eine derartige begriffliche
Einordnung wird die Konfliktträchtigkeit, die solches Verhalten auf der Gegenseite
hervorbringt, unterstrichen.
7
Modernisierungsprozesse und sozialer Wandel erzeugen ein Gefühl unterschwelliger
Bedrohung, weil die damit verbundene Zuwanderung von Han, die Abwanderung von
Angehörigen
der
eigenen
Ethnie,
die
industrielle
Erschließung
der
Minderheitengebiete sowie die Erodierung der eigenen Kultur (Geringschätzung von
eigenen Trachten, Bräuchen und Sprachen vor allem unter der Jugend) die
Integration und Konsistenz der einzelnen Ethnien zu schwächen scheint.
Widerstandsformen
Die Nicht-Han Völker reagieren unterschiedlich auf das Agieren des Zentralstaates
und seiner administrativen Gliederungen. Bei einigen ethnischen Gruppen wächst
das Moment der Ethnizität, d.h. das Selbstbewusstsein eigener ethnischer Identität,
verbunden mit Abgrenzung gegenüber den anderen; bei einem Teil davon schlägt
Ethnizität in Widerstand um, bis hin zum Entstehen separatistischer Bewegungen.
Vor allem bei einigen kleineren Nationalitäten hat sich eine Tendenz zur Resignation
und
der
Anpassung
an
die
Han
entwickelt.
Zum
Teil,
wie
bei
den
nordostchinesischen kleinen Jägervölkern (Ewenken, Oroqen, Dahuren, Hezhe)
haben
der
von
den
Behörden
erzwungene
Wandel
im
Wirtschaftsleben
(Zwangssesshaftmachung mit erzwungener Umwandlung von Nomaden sowie
Jägern und Sammlern in Ackerbauern) sowie der "Kulturschock" aufgrund des
Verbots schamanistischer und animistischer Rituale und Praktiken bzw. Eingriffe in
das Brauchtum diese Völker ruiniert. Nicht anders als bei anderen indigenen Völkern
weltweit werden diese Gruppen durch Alkoholismus, Selbstmorde und Krankheiten
dezimiert.
An den o. g. Konfliktlinien zeigt sich die Komplexität der Nationalitätenfrage in China.
So entwickeln stärker akkulturierte, d.h. von den Han kulturell deutlich geprägte oder
gar weitgehend assimilierte Gruppen (wie große Teil der Mandschuren) sublimere
und passivere Widerstandsformen als Gruppen, die sprachlich, religiös, kulturell,
sozial oder auch ökonomisch stärkere Integrationskraft besitzen, bei denen sich die
Reaktion eher aktiv äußert. Sieben Hauptformen aktiver Reaktion lassen sich
ausmachen: das Entstehen separatischer Bewegungen, aktiver und passiver lokaler
8
Widerstand, Revitalisierung von Religion, grenzüberschreitende Abwanderung,
Migration und Segregation.
(1) Entstehen separatistischer Strömungen
Bewegungen, die für eine gewaltsame Loslösung von China eintreten, finden wir in
Xinjiang, wo rund ein Dutzend Gruppen unter pantürkischen oder panislamischen
Vorzeichen für einen eigenen Staat kämpfen, in Tibet und - in geringerem Umfang in der Inneren Mongolei.
(2) aktiver lokaler Widerstand
Nicht nur die Schließung von Moscheen, Tempeln oder Kirchen, sondern auch die
Umwandlung von Weide- in Ackerland, das Abholzen von Forstgebieten,
Umweltverschmutzung und ökologische Zerstörungen durch Unternehmen von
außerhalb
des
Siedlungsgebietes
("Han-Unternehmen"),
Verletzungen
von
Brauchtum und Tabus lokaler ethnischer Gruppen, Eingriffe in soziale Belange (wie
versuchte Durchsetzung von Geburtenplanung oder Verbot von "Verschwendung bei
lokalen Festen") führen immer wieder zu lokalen Unruhen. So protestierten Muslime
in den letzten Jahren mehrfach gewaltsam gegen Verächtlichmachungen ihrer
Religion in chinesischen Publikationen. 1989 kam es zu Unruhen in muslimischen
Gebieten, als Hunderttausende auf die Straße gingen und gegen ein Buch über
sexuelle
Sitten
und
Schweinefleischtabu
Bräuche
sexuell
der
Muslime
interpretiert
und
protestierten,
Minarette
als
in
dem
das
Phallussymbole
bezeichnet wurden.
(3) passiver lokaler Widerstand
Dazu zählen etwa der Abwanderung von Familien, Sippen oder sozialen Gruppen in
Rückzugsgebiete (Berge, Wälder), um ungestörter dem eigenen Lebensrhythmus
nachgehen zu können, das Wiederaufleben traditioneller Kulturträger und deren
Ausbildung (wie Schamanen, Heiler, Wahrsager und anderer Personen mit religiössozialen
Aufgaben).
Die
Rückkehr
lange
Zeit
verfolgter
gesellschaftlicher
Funktionsträger muß daher als Zeichen wachsender Ethnizität und als Reaktion auf
9
die häufig als Druck verstandene Modernisierung durch "die Han" verstanden
werden.
(4) Revitalisierung von Religion
Dies gilt nicht nur für den Islam und den tibetischen und mongolischen Buddhismus,
sondern
auch
für
animistische,
animatistische
und
schamanistische
Glaubensvorstellungen, das Anwachsen von Sekten und chiliastischen Bewegungen.
Bei verschiedenen Miao-Gruppen etwa findet die traditionelle Heilserwartung, dass
nach einer Zeit der Katastrophe der Miao-König zurückkehren, den Miao das ihnen
von den Han weggenommene Land zurückgeben, ihr Leben verbessern und ihnen
möglicherweise einen eigenen Staat geben werde, wieder wachsende Verbreitung.
Bei den Yi im Liangshan-Gebirge wuchs in den 90er Jahren der Einfluss der von
charismatischen Führern organisierten chiliastischen Bewegungen und Sekten, die
auf das Ende der Welt warten. Bewegungen wie die genannten entstehen meist in
Zeiten des Verfalls traditionaler Normen und Beziehungen. Ein utopisches,
eschatologisches und egalitäres Weltbild wird entworfen, als Gegenbild zu Verfall,
sozialer Desintegration und zum Gefühl sozialer und ethnischer Bedrohung. Auf
diese Weise versuchen die Betroffenen, mit den wachsenden Unsicherheiten des
Lebens in Zeiten raschen sozialen Wandels fertigzuwerden.
Besonders ausgeprägt ist die religiöse Revitalisierung bei den Hui und in Xinjiang.
Der
Zwang
zur
Teilnahme
an
religiösen
Praktiken,
Diskriminierung
von
Nichtgläubigen, die illegale Errichtung von Moscheen, die (verbotene) Einrichtung
von Koranschulen, die "Einmischung der Religion" in öffentliche Angelegenheiten wie
Bildungswesen, Eheschließungen, Rechtsstreitigkeiten, Geburtenplanung oder das
Kulturleben, die Gründung überregionaler religiöser Organisationen, die Rückkehr zu
"feudalen Herrschaftsverhältnissen" (religiöse Privilegien- und Steuersysteme),
missionarische
Tätigkeiten,
die
Annahme
finanzieller
Unterstützung
durch
ausländische Institutionen, aufrührerische Ansprachen religiöser Würdenträger usw.
hätten sich, so chinesische Berichte, bis zu einem kaum noch kontrollierbaren Grad
entwickelt.1
1
Liu Zhongkang 1996: 66.
10
Auch abweichendes Verhalten und kriminelle Aktivitäten nehmen offensichtlich in
allen Minderheitengebieten bedrohlich zu. Dies gilt besonders für Eigentumsdelikte
und Menschenhandel, aber auch für Schwerkriminalität (Mord, Raub und
Vergewaltigungen). Bandenkriminalität ist fast überall ein signifikantes Problem.
Massiv
zugenommen
Auseinandersetzungen
haben
(Clanfehden)
auch
sowie
innerethnische
intraethnische
um
gewalttätige
Boden-
oder
Wasserrechte. Mangelnde Beschäftigungsmöglichkeiten, Armut und Rückständigkeit
in vielen Minoritätengebieten sowie mangelnder Zugang zu Bildungsmöglichkeiten
dürften zu den Hauptursachen für das Abgleiten in die Kriminalität zählen.
Die materiellen Ursachen kriminellen Verhaltens sind deutlich. Die wachsende
Diskrepanz bei Einkommen, Lebensstandard und Lebensqualität zwischen den HanMetropolen und den weithin ländlich geprägten Minoritätengebieten vergrößert sich
immer mehr. Die Unzufriedenheit mit den Verhältnissen in den eigenen
Siedlungsgebieten verbindet sich mit dem Verfall traditionaler Werte und einer
Lockerung lokaler ethnischer Gemeinschaften. Kriminelles Verhalten scheint für viele
Jugendliche überdies die einzige Möglichkeit zu bieten, der Hoffnungslosigkeit und
Armut durch raschen Gelderwerb zu entrinnen. Von daher muss kriminelles
Verhalten zugleich als eine Art ethnischen Protestes begriffen werden, vor allem
unter den Bedingungen existentieller Hoffnungslosigkeit in den Heimatgebieten, die
meist zu den ärmsten Regionen Chinas zählen sowie des Empfindens, nur Bürger
zweiter Klasse zu sein.
Konfliktlösungs- und Konflikteskalationspräventionsstrategien
Ethnische Konflikte resultieren aus einem Gemisch historischer, gesellschaftlicher
und psychischer Verwurzelung, das, wie Senghaas sagt, einer "therapeutischen
Konfliktintervention" bedarf.2 Im folgenden wollen wir uns daher mit möglichen
Lösungsansätzen beschäftigen. Denn auch in China könnte das nächste Jahrhundert
eine Periode ethnischer Konflikte und Auseinandersetzungen werden, wenn nicht
frühzeitig Lösungs- und Konfliktpräventionsansätze entwickelt werden. Und solche
Konflikte
erschweren
Demokratisierungsprozesse,
weil
erstens
in
akuten
Konfliktsituationen in noch-autoritären Gesellschaften die Wahrung politischer
2
Senghaas 1993.
11
Stabilität und deren Durchsetzung mit autoritären Mitteln erfolgen und zweitens
autoritäre Eliten die Zementierung der bestehenden Verhältnisse mit dem Hinweis
auf Wiederherstellung politisch stabiler Verhältnisse und nationaler Einheit
legitimieren.
Die chinesische Nationalitätenpolitik nach 1949 wies zwar durchaus Momente einer
"destruktiven
Konfliktaustragung"
auf,
wie
eine
forcierte
Assimilationspolitik,
bevölkerungsmäßige Majorisierung ethnischer Gebiete durch Migration oder gezielte
Verfolgung und Diskriminierung. Dies gilt vor allem für die radikalpolitischen Phasen
der Mao-Zeit, primär für die Periode der Kulturrevolution. Darüber hinaus gibt es
jedoch durchaus konstruktive Ansätze, die für eine künftige Nationalitätenpolitik
fruchtbar gemacht werden könnten. Zum einen war die politisch-kulturelle Grundlage,
der "Konfuzianismus" traditionell nicht auf die Vernichtung der nicht-Han Völker aus,
sondern auf deren "Kultivierung" auf friedlichem Weg. Diese Kultivierung wurde nicht
rassisch oder ethnisch legitimiert, sondern kulturell-moralisch. Wie der Sinologe
Wolfgang Franke schrieb: "Auch ein Barbar konnte chinesischer Kaiser werden, aber
nur durch das Sich-einfügen in das chinesische System und durch weitgehende
Aufgabe seiner Eigenart".3 Daher fehlte dem Konfuzianismus der missionarische
Aktivismus, der das europäische Christentum auszeichnete, bot er eine gewisse
Akzeptanz anderer Kulturen, auch wenn diese Akzeptanz nicht mit dem Gedanken
der Gleichheit oder Gleichberechtigung verbunden war. Die junge Volksrepublik
erkannte in den 50er Jahren offiziell über 50 "nationale Minderheiten" und damit
deren reale Existenz an und sicherte diese Anerkennung zugleich rechtlich ab. Es
wurde ein Recht auf Autonomie formuliert und in Teilbereichen gewährt.
Verfassungsrechtlich gelten alle Nationalitäten als gleichberechtigt. Diskriminierung
wurde gesetzlich untersagt. Auch Ansätze zur Sonderbehandlung sind erkennbar,
etwa was Subventionierung, Hochschulzugang, Geburtenplanung, Verwendung von
Sprachen und Schriften, teilweise auch kulturelle Spezifika anbelangt. Ferner gibt es
schriftlich fixierte sowie prozentual festgelegte Vertretungsrechte für die ethnischen
Minoritäten in den Parlamenten (Volkskongressen) aller Ebenen. Zwar sichert dies
keine Partizipation im demokratischen Sinne, es weist aber auf ein gewisses Maß an
Akzeptanz von Vertretungsrechten für Minderheiten und deren Inklusion in
Entscheidungsprozesse hin. Manche westliche Wissenschaftler vergleichen diese
3
Franke 1962: 22.
12
Sonderbehandlung mit der US-amerikanischen Politik des affirmative action, d.h. der
positiven Diskriminierung im Sinne der Gewährung bestimmter Vorteile im Interesse
von
Minoritätengruppen.
Doch
wir
wissen,
daß
all
dies
eine
wirkliche
Gleichberechtigung nicht realisiert hat. Von daher bedarf es grundsätzlich neuer, auf
zukünftige Politik hin orientierter Überlegungen.
Unabhängig von einer künftigen Gestaltung des Staatswesens könnten die folgenden
Maßnahmen zu einer Lösung der oben erwähnten Konfliktursachen beitragen:
- Anerkennung,
dass
es
auch
unter
sozialistischen
Bedingungen
keine
Interessensidentität von ethnischen Minderheiten und Staat gibt, zumal aus der
Annahme einer solchen Identität der Schluß gezogen wird, es gäbe keine
Konflikte und Widersprüche mehr. Die Entwicklung auf dem Balkan und in der
ehemaligen Sowjetunion haben bereits gezeigt, wie fatal eine solche Annahme
ist.
-
Längerfristig
könnte
die
Schaffung
eines
föderativen
Staates
eine
Lösungsmöglichkeit bieten. Ein föderalistisches System böte sich nicht nur für
Tibet, Taiwan oder für die Provinzen an, sondern auch für zahlreiche andere
Siedlungsgebiete von nicht-Han Völkern. Föderalismus könnte nicht nur aus
ethnischen, sondern auch aus raumstrukturellen Gründen eine Alternative
darstellen, da die Zentralregierung aufgrund der Größe und Vielschichtigkeit des
Landes stets Schwierigkeiten mit einer regional angepaßten und flexiblen Politik
hatte. Allerdings bedarf ein funktionierender Föderalismus eines Konsenses der
davon betroffenen Verwaltungseinheiten. Auf Nationalitäten bezogen verlangt
dies die Bereitschaft, in einem föderativen Gebilde gemeinschaftlich und
gleichberechtigt zu leben und das Staatswesen gemeinsam zu gestalten. Dies
setzt ein demokratisches Staatswesen voraus, zumal ohne die Prinzipien
Freiwilligkeit und Gleichberechtigung ein föderatives Gemeinwesen stets wieder
zu zerbrechen droht. Ohnehin sind Gefühl und Loyalität von Minderheiten
gegenüber dem Staat in der Regel geringer als die der dominanten ethnischen
Majorität. Von daher sind Interessen und Empfindungen einer Minorität in einem
föderativen Staat nicht die gleichen wie die der Majorität. Und darum bedarf es
partizipativer Instrumente, um den Gefühls- und Loyalitätsgrad zu erhöhen. Da
ein
föderatives
System
allen
Verwaltungseinheiten,
nicht
nur
den
Minoritätengebieten, sondern auch den Han-Provinzen, gleiche Rechte einräumt,
13
wäre auch eine Variante denkbar, nämlich ein asymmetrischer Föderalismus.
In dessen Rahmen könnten autonome Regionen weitgehendere Kompetenzen
(Sonderstatus) erhalten als Provinzen, wobei die jeweiligen Kompetenzen mit den
einzelnen autonomen Einheiten ausgehandelt werden könnten ("spanisches
Modell"). Auf jeden Fall wären aber in den mit autonomen Rechten
ausgestatteten Verwaltungseinheiten die Rechte der anderen Minderheiten (vor
allem auch der Han) rechtlich sicherzustellen.
-
Die Schaffung eines symmetrischen oder asymmetrischen föderativen Systems,
d.h. eine vertikale Gewaltenteilung, könnte zu einer regional und ethnisch
angepaßteren Politik führen und damit die Zentralregierung entlasten. Föderative
Strukturen tragen zugleich den Unterschieden zwischen den Kulturen und
Regionen Rechnung und können deren Akzeptanz erleichtern. Ein solches
System sollte zugleich eine Machtteilung zwischen der Zentralregierung und den
Autonomen Gebieten umfassen. Der Staat sollte eher im Sinne eines
"Minimalstaates" wirken, der sich auf die politischen Rahmenbedingungen und
ordnungspolitische Maßnahmen beschränkt. In diesem Sinne wäre der Staat für
(a) die Makropolitik (makroökonomische Kontrolle und Steuerung, öffentliche
Angelegenheiten im nationalen Rahmen); (b) für auswärtige Angelegenheiten
(Außen- und Sicherheitspolitik) und (c) für eine Politik der Ausgleichssteuerung
(ausgewogene
regionale
Entwicklungen
und
Ausgleich
von
Entwicklungsdisparitäten) zuständig. Die autonomen Regionen hätten das Recht,
in wirtschaftlichen und kulturellen regionalen und lokalen Angelegenheiten
weitgehend selbständig zu entscheiden.
- Dies wiederum würde größere Rechtssicherheit voraussetzen, d.h. die gesetzliche
Absicherung kultureller, ökonomischer und sozialer Autonomie. Autonome Rechte
wären vor allem auch für die indigenen, kleineren Minoritäten wichtig, um deren
Überleben zu sichern. Die autonomen Verwaltungseinheiten sollten zugleich über
wichtige Fragen wie Zuwanderungen, Industrieansiedlung, Landnutzung und vergabe, die Kontrolle über natürliche Ressourcen des Gebietes oder Umweltund Ökologieschutz selbständig entscheiden können. Auf internationaler Ebene
wird bereits anerkannt, daß Land und Ressourcen sowohl für das Überleben
indigener Kulturen wie für eine echte Autonomie ethnischer Minderheiten eine
zentrale Bedeutung zukommt. Zur Durchsetzung dieser Rechte bedürfte es
zugleich Maßnahmen, die ihre effektive Umsetzung sicherstellen.
14
- Ein institutioneller Rahmen für die Durchführung und Durchsetzung von Autonomie
ist also erforderlich. Dies verlangt u.a. ein unabhängiges Gerichtswesen: der
Mehrheit müssen rechtliche Grenzen gesetzt werden. Auch die Partei dürfte dann
nicht außerhalb des Rechtsrahmens stehen und der Autonomie übergeordnet
bleiben. Nicht nur Einzelpersonen, sondern auch ethnischen Gemeinschaften
sollte das Recht eingeräumt werden, Klage gegen Rechtsverstöße zu führen.
- Vorzugsbehandlung
(affirmative
action)
sollte
politisch,
ökonomisch
(z.B.
bevorzugter Zugang zu Krediten, Rohstoffen, Fachkräften), im Bildungs- und
Ausbildungsbereich gewährt werden, um die Ungleichheit zwischen Han und
Nicht-Han zu reduzieren.
- Geschichte und Kultur der einzelnen Nationalitäten sowie die Geschichte der
interethnischen Beziehungen sollten neu bewertet werden und zwar in einem
offenen Diskurs von Angehörigen der verschiedenen Nationalitäten. Das Konzept
der Hierarchisierung von Kulturen und Gesellschaften sollte aufgegeben und es
sollte anerkannt werden, dass alle Kulturen und Nationalitäten politisch,
gesellschaftlich und kulturell gleichwertig sind. Die Kulturpolitik sollte in die Hände
der jeweiligen autonomen Verwaltungseinheiten gelegt werden.
- Rechte von Minderheiten, die außerhalb autonomer Verwaltungseinheiten leben,
sollten abgesichert werden. Territoriale Autonomie sollte zugleich von personaler
begleitet sein. Die Sicherstellung und Durchsetzung der genannten Rechte
erfordert eine organisierte und legitimierte Interessensvertretung der einzelnen
Nationalitäten, zumal das Recht auf Autonomie nur durch organisierte
Gemeinschaften vertreten bzw. ausgeübt werden kann. Dies verlangt zunächst
Vereinigungsfreiheit für die Minoritäten, d.h. soziale Gruppenbildung.
- Maßnahmen gegen die wachsende Diskriminierung von Angehörigen ethnischer
Minderheiten sollten ergriffen werden. Zwar ist offene Diskriminierung gesetzlich
untersagt, Diskriminierung herrscht allerdings latent und im Alltag und nimmt
besorgniserregend zu. Die Existenz von Diskriminierung sollte zunächst offen
anerkannt und spezifische Programme gegen dieses Phänomen sowie gegen die
weit verbreiteten Vorurteile entwickelt werden. Gleichzeitig sollten Vorstellungen
ethnischer Feindschaft, Vorurteile und Stereotypen auf beiden Seiten (Han wie
Nicht-Han) durch spezielle Programme im Erziehungssektor abgebaut werden.
Dies sollte bereits in den Kindergärten und Grundschulen einsetzen, wo häufig
15
schon ein einseitiges Bild von den "Minderheiten" (singende und tanzende
Menschen in farbenfrohen Gewändern) vermittelt wird. Zunehmend berichten
auch chinesische Publikationen über diskriminierende Äußerungen von HanLehrern im Unterricht in Schulen in Minderheitengebieten. Die Kennzeichnung der
Minoritäten-Schüler als arm, rückständig, schmutzig und ungebildet verstärkt die
Vorurteile der Han-Schüler gegenüber Mitschülern aus den Minderheiten und
fördert Spannungen und Gewalttätigkeiten.
Solche Maßnahmen träfen in China durchaus auf fruchtbaren Boden, zumal
ethnische Minderheiten als solche formal anerkannt und gesetzlich respektiert
werden und den Gesetzen zufolge die gleichen Rechte wie die ethnische Majorität
genießen. Zudem besteht Konsens in der Notwendigkeit von Sonderbehandlung und
positiver Diskriminierung. Es bedürfte also nicht nur der Anerkennung von Konflikten,
sondern zugleich einer Konflikttransformation, nicht nur im Sinne der Etablierung
echter, demokratischer Autonomierechte, sondern auch der o.g. "therapeutischen
Konfliktintervention" die zugleich die Aufarbeitung der Geschichte umfassen sollte.
Dazu gehört ferner eine zwischenethnische Trauer- und Versöhnungsarbeit.
Nationalitätenkonflikte werden nur durch Öffentlichmachung, nicht durch Kaschieren
wahrnehmbar und diskutierbar. Doch eine Aufarbeitung würde von der Mehrheit, den
Han, die Anerkennung der Minoritäten als gleichberechtigte Gesprächs- und
Verhandlungspartner verlangen. Solange diese Akzeptanz nicht gegeben ist,
erscheint eine zivilisierte Austragung der Konflikte kaum möglich.
Doch wie realistisch ist überhaupt die Möglichkeit einer Umsetzung des
vorgeschlagenen Maßnahmenkatalogs. Es ist eine Binsenwahrheit, daß in
autoritären Staatswesen keine demokratische Nationalitätenpolitik möglich ist. Aber
die internationale Entwicklung, der weltweite ethnic revival, die ethnischen Konflikte
auf dem Balkan und in der ehemaligen Sowjetunion haben auch in China zu einem
Überdenken der bisherigen Politik geführt. Seit den 1990er Jahren ist eine
Diskussion über umfangreichere Rechte und ein größeres Maß an Partizipation für
die ethnischen Minoritäten in Gang gekommen. Die Diskussion konzentrierte sich
zunächst auf das Autonomiegesetz sowie dessen Mängel. Ein dringender
Revisionsbedarf wurde konstatiert. U.a. wurde argumentiert, das Autonomiegesetz
sei
im
Prinzip
ohne
Wirkung
geblieben,
weil
seine
Bestimmungen
nicht
16
rechtsverbindlich seien. Weder die Behörden in den autonomen Regionen noch die
übergeordneten Instanzen hielten sich daran; die Nationalitätenbeziehungen,
müssten auf eine rechtliche Grundlage gestellt werden;.eindeutige Gesetze für
Teilbereiche
(Wirtschaft,
Finanzverwaltung,
Kontrolle
über
Ressourcen,
Bildungswesen, Schriften und Sprachen, Kultur, Religion, Sitten und Bräuche der
Minoritäten) müssten erlassen und deren Durchsetzung institutionell abgesichert
werden; Verstöße gegen das Autonomiegesetz müssten bestraft und dafür
entsprechende Rechtsinstitutionen und Verwaltungsgesetze geschaffen werden.
Andere sprachen sich für ein größeres Maß an Partizipation in Form einer
Ausweitung der Selbstverwaltungsrechte aus. Gewiß erwächst daraus noch kein
Rechtsstaat. Aber die Erkenntnis, dass dem hegemonistischen Staat Grenzen
gezogen werden müssen, Grenzen, die rechtlich abgesichert und durchsetzbar
gemacht werden sollen, bedeutet zweifellos ein Fortschritt auf dem Weg dorthin.
Die Parteiführung hat nicht zuletzt aufgrund der internationalen Entwicklung erkannt,
welche Brisanz Nationalitätenkonflikte in sich tragen. Neue Denkansätze sind
erkennbar, jedoch nicht so weit gediehen, daß der staatliche Diskurs durch einen
öffentlichen, inter-ethnischen abgelöst wird. Die Verschärfung der Konflikte in den
kommenden Jahren dürfte die Frage des Konfliktmanagements daher zu einer der
zentralen politischen Fragen werden lassen.
Bibliographische Angaben:
Wolfgang Franke, China und das Abendland, Göttingen 1962.
Liu Zhongkang, Feifa zongjiao huodong ji qi weihai (Illegale religiöse Aktivitäten und ihre
Schädlichkeit), in: Xinjiang Shehui Jingji (Gesellschaft und Wirtschaft Xinjiangs), 5/1996: 6669.
Dieter Senghaas, Therapeutische Konfliktintervention in Europa, in: Attesländer, Peter, Hg., Kulturelle
Eigenentwicklung. Perspektiven einer neuen Entwicklungspolitik, Frankfurt/M. 1993: 65-85.