Das Verständnis von „Behinderung“ im Wandel der Zeit

Transcrição

Das Verständnis von „Behinderung“ im Wandel der Zeit
Das Verständnis von „Behinderung“ im Wandel der Zeit,
Erläuterungen
Bei dem Gang durch die Geschichte wird Halt gemacht an verschiedenen Epochen. Es wird aufgezeigt, wie
Menschen mit Behinderungen in unterschiedlichen Kulturen und Zeiten gelebt haben, welchen Platz sie in
der Gesellschaft hatten und welche Prozesse der Ausgrenzung das Verständnis von Behinderung geprägt
haben.
Betrachtet man die Geschichte und wie in Gesellschaften Menschen mit Beeinträchtigungen behandelt
wurden ergibt sich ein sehr unterschiedliches Bild, denn: Modelle von „Behinderung“ sind stets wandelbar
gewesen, Muster der Ein- und Ausgrenzung sind dynamisch und verschiebbar.
Der Gang durch die Geschickte soll zum Nachdenken anregen: Um eine Gesellschaft zu schaffen, an der
alle Menschen gleichberechtigt teilhaben können – unabhängig davon ob sie eine Behinderung haben oder
nicht – ist es wichtig, sich klar zu werden, wo Ausgrenzungsmechanismen noch wirksam sind und wo –
auch im eigenen Kopf – noch Barrieren vorhanden sind.
Die verwendeten Informationen stammen großteils aus: „Wir sind bunt und frech – mutig und laut“ (Hrsg. Interessenvertretung
Selbstbestimmt Leben in Deutschland, Berlin 2014) und „Inklusion als Menschenrecht“ Online Handbuch (Hrsg. Deutsches
Institut für Menschenrechte e.V., Berlin). Die verwendeten Fotos stammen von Wikipedia.
1. MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN IN DER ANTIKE (3500 v. Chr. – 500 n.
Chr.)
Nur wenige Hinweise aus dieser Zeit geben Aufschluss über den Umgang mit behinderten Menschen. In der
Antike existierte weder das Wort noch das Konzept „Behinderung“. Man kann aber davon ausgehen, dass
eine Beeinträchtigung nicht ohne Folgen für den Umgang mit einem Menschen geblieben ist.
Wie es einem Menschen in dieser Zeit erging war auch sehr stark abhängig von seiner Herkunft. Wer aus
einer einflussreichen und wohlhabenden Familie stammte, hatte bessere Aussichten auf Unterstützung und
Versorgung als jemand der aus armen Verhältnissen kommt. Auch das Geschlecht der Person hat eine
große Rolle gespielt.
Welche Behandlung ein Mensch mit Behinderung erfahren hat, war zudem abhängig von der
Behinderungsart. Während manche Behinderungen zum gesellschaftlichen Ausschluss führten oder gar als
Unglück bringend angesehen wurden, gab es andere, die als positiv gewertet wurden. So wurden im alten
Ägypten zum Beispiel kleinwüchsigen Menschen besondere Fähigkeiten zugesprochen und es war
durchaus möglich, dass sie in hohe berufliche Positionen aufsteigen konnten.
Prägend für die verschiedenen Kulturen der Antike ist die Verknüpfung des Lebenswertes eines Menschen
mit seinem Nutzen für die Gesellschaft – ein Gedankensystem, das sich, wie wir heute wissen, bis in die
Gegenwart fortsetzen sollte.
Beispiel 1: Das Alte Ägypten (ca. 2500 v. Chr. – 300 v. Chr.)
Aus dem Alten Ägypten wird der Glaube überliefert, dass jeder Mensch, der in seinem irdischen Leben
„leidet“ und „Mängel mit sich herumträgt“ im unendlichen Jenseits von diesen befreit werde und wieder
„intakt“ sei. Der in ägyptischen Weisheitslehren dieser Zeit beschriebene Umgang mit Menschen mit
Beeinträchtigungen verbat es, dass diese Menschen verprügelt und verspottet werden.
Menschen mit leichten Behinderungen war es gestattet, sich in einfachen Berufen ihren Lebensunterhalt
selbst zu verdienen, wohingegen Schwer- und Schwerstbehinderte, sofern sie nicht in den Familien bleiben
konnten, als Bettler leben mussten. Ein Fürsorgesystem war im altägyptischen Reich unbekannt.
Welche Stellung Menschen mit Behinderungen hatten, inwiefern sie ausgegrenzt waren oder integriert
wurden, hing von der Art der Behinderung ab. Eine besondere Rolle spielten beispielsweise kleinwüchsige
Menschen. Sie waren in der Oberschicht sehr beliebt und konnten in hohe Positionen aufsteigen. Auf der
anderen Seite wurden sie auch auf entwürdigende Weise als Hofnarren eingesetzt, um den Pharao und
seinen Hofstaat zu belustigen und zu unterhalten.
Gesetzliche Grundlagen: Weisheitslehre des Amenemope
Das 25. Kapitel der Weisheitslehre des Amenemope (ägyptischer Pharao, regierte um 996 v. Chr. - 985 v.
Chr.) verbietet ausdrücklich, den vom Schicksal Gezeichneten das Leben zu erschweren, ihn zu verprügeln
oder zu verspotten. Von konkreter Hilfeleistung ist jedoch nicht die Rede.
2
Seneb - kleinwüchisger Hofbeamter (ca. 2500 v. Chr.)
Bisher konnten Historiker keine Anhaltspunkte dafür
finden, dass Kleinwüchsigkeit im Alten Ägypten zum
gesellschaftlichen
Ausschluss
führte.
Vielmehr
genossen kleinwüchsige Menschen einen hohen Status
und waren in unterschiedlichen Berufsgruppen zu
finden. Kleinwüchsigkeit findet sich sogar unter den
ägyptischen Gottheiten wieder. Als wichtiges Indiz für
das gute Image wird gewertet, dass sich etliche Gräber
von kleinwüchsigen Menschen in nächster Nähe von
Pyramiden befinden – den Grabstätten der Pharaonen.
Bekannt sind einige Details aus dem Leben von Seneb.
Der kleinwüchsige Mann spielte eine wichtige Rolle in
der königlichen Weberei und war Aufseher der
Garderobe des Pharaos. Des Weiteren sind fünf
Priestertitel belegt, ebenso eine Reihe von Ehrentiteln,
die auf eine hohe soziale Stellung hindeuten.
Seneb besaß eine eigene Sänfte und war mit einer
Frau aus dem königlichen Geschlecht verheiratet. Seine anerkannte gesellschaftliche Stellung lässt sich
auch daran ablesen, dass sein Grab sich nahe der Cheops Pyramide befindet.
Beispiel 2: Das Römische Reich (ca. 800 v. Chr. - ca. 500 n. Chr.)
Im Römischen Reich wurden Menschen mit Behinderungen, wie viele andere Randgruppen, massiv
diskriminiert.
Auch
das
Geschlecht
hatte
einen großen
Einfluss auf
mögliche Fürsorge und
gesellschaftlichen Ausschluss. Der Vater („Pater familias“) übte in der römischen Gesellschaftsordnung eine
unumschränkte Verfügungsgewalt über seine Frau und seine Kinder aus. So hatte er das Vorrecht, über
seine Familienmitglieder existentiell zu entscheiden und zu richten.
Familienmitglieder, die krank oder behindert waren, wurden entweder von der eigenen Familie unterstützt
oder mussten betteln gehen. Kinder mit Behinderungen oder Krankheiten wurden oft getötet oder
ausgesetzt, kranke Frauen wurden verstoßen. Wenn behinderte Kinder nicht getötet wurden, konnte es
sein, dass sie versklavt wurden oder ihr Leben als Narren und Komiker fristen mussten. Versklavt wurden
vor allem Kinder, bei denen eine Behinderung erst spät auffiel. Grundlage des Denkens bildete die
Nützlichkeitserwägung gegenüber der Gesellschaft: Nur wer für das Wohl der Gemeinschaft von Nutzen
war, sei es als Bauer, Handwerker oder Soldat, hatte ein Anrecht auf Leben. Wer diesem Maßstab nicht
entsprach, war zum Tode verurteilt oder zu einem Leben unter entwürdigenden und oft auch grausamen
Umständen.
3
Gesetzliche Grundlagen: Das römische Zwölftafelgesetz
Das römische Zwölftafelgesetz, um 450 v. Chr. entstandene Holztafeln, fasst schriftlich die Vorstellungen
von Recht, Rechtsprechung und Gerechtigkeit zusammen, die zu diesem Zeitpunkt im römischen Gebiet
entstanden waren. Es galt für männliche, freie, römische Bürger. Hier war auch geregelt, dass Menschen,
die aufgrund von Krankheit oder Behinderung keiner Arbeit nachgehen konnten, betteln durften. Auf Tafel
vier, die sich im Kern mit Familienrecht beschäftigt, wird dem Vater das Recht zugesprochen, ein
Neugeborenes mit Behinderung zu töten oder auszusetzen.
Dekadenz im Römischen Reich
Rom zur Kaiserzeit war wohl der Höhepunkt antiker Dekadenz. Viele Mitglieder der Oberschicht hielten sich
kleinwüchsige, körperlich oder geistig behinderte Menschen als Narren zur persönlichen Belustigung und
Unterhaltung. Sie schenkten sie wie Ringe oder Hunde ihren Freunden und Bekannten. Als „Spielereien der
Natur" wurden Behinderte oft nackt bei Festmählern zur Schau gestellt oder als Ausstellungsobjekte im
Zirkus missbraucht. Die Menschen, die auf der Strasse zur Schau gestellt wurden, sollten am besten
körperlich und geistig behindert sein.
Findige Händler eröffneten einen speziellen Markt, das sogenannte „forum morionum“ (Narrenmarkt), wohin
Menschen mit Behinderungen aus aller Welt verschleppt und teuer verkauft wurden. Auch kam es vor, dass
arme Eltern ihre Kinder künstlich verstümmelten, um ihnen so eine Zukunft als Bettler zu sichern.
Ein Kaiser mit Behinderung: Kaiser Claudius 10 v. Chr. - 54 n. Chr.
Kaiser Claudius litt seit seiner Geburt an spastischen Lähmungen, hatte
Epilepsie und er stotterte. Aufgrund seiner Behinderungen war er von
seiner Familie eigentlich nicht als späterer Kaiser vorgesehen. Seine
Mutter betrachtete seine Behinderungen als Strafe der Götter. Sie
versteckte Claudius vor der Öffentlichkeit. Sie soll gesagt haben, dass
er ein „Missgebilde" sei, das von der Natur nur angefangen und nicht
vollendet wurde. Dennoch zum Kaiser wurde Claudius, da er nach der
Ermordung Caligulas der letzte lebende männliche Erwachsene seiner
Familie war.
Claudius wurde der vierte römische Kaiser und, trotz seiner
mangelnden politischen Erfahrung, erwies er sich als fähiger Verwalter
und Herrscher. Als größter kriegerischer Erfolg ist die Eroberung
Britanniens zu nennen. Während seiner Regierungszeit entstanden
Ansätze sozialer Fürsorge sowie viele neue Gebäude und öffentliche
Straßen. Den Verkehrswegen widmete er sich besonders - er ließ
neben neuen Straßen auch Kanäle bauen. Dies trug bedeutend zur
Verbreitung der lateinischen Sprache im Mittelmeerraum bei, was sich bis in die heutige Zeit auswirkt.
Kaiser Claudius setzte sich auch für die Versorgung der Bevölkerung mit Getreide und für eine bessere
4
Landwirtschaft ein. Er widmete sich lange Zeit historischen Studien und war als Wissenschaftler sehr
angesehen. Ein besonderes Interesse hatte er für die römische Rechtsprechung. Allerdings war auch er Zeit
seines Lebens Spott und Missgunst ausgesetzt.
2. MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN IM MITTELALTER (ca. 500 v. Chr. – 1500
v. Chr.)
Im Mittelalter gab es verschiedene Erklärungsansätze für eine Behinderung. Man glaubte an die Einwirkung
von Dämonen, an den Kindertausch durch den Satan (Wechselbalg) oder an die Strafe Gottes für Sünden
der Vorfahren. Der Andersartige wurde als Bedrohung empfunden, der den „normalen“ Menschen
schädigen oder ihm zur Gefahr werden konnte. So wurde Kindern, die eine Behinderung hatten, eine Nähe
zum Teufel unterstellt und sie durften misshandelt und auch getötet werden. Viele geistig Behinderte wurden
aber auch auf Jahrmärkten zur Schau gestellt oder als Narr zum Spielzeug und Gespött gemacht.
Menschen mit körperlichen Behinderungen dagegen galten als „würdige Arme“, denen es gestattet war, zu
betteln. So traf man auf den Marktplätzen und an den Stadttoren auf Personen, die aufgrund von
Krankheiten, Unfall oder Kriegsverletzungen auf Gaben ihrer Mitmenschen angewiesen waren.
Durch den Einfluss der christlichen Kirchen änderte sich die Einstellung vieler Menschen zu Krankheiten
und Behinderungen. In dieser Zeit entwickelte sich die Armenpflege, die von der Kirche organisiert wurde
und sich der Nächstenliebe verpflichtete. Es entstanden Spitäler, die jedoch viele Menschen ausschlossen,
wie z.B. Menschen mit geistigen Behinderungen. Im ausgehenden Mittelalter ging man dazu über,
betroffene Menschen in Narren- und Tollhäuser einzusperren.
Gesetzliche Grundlagen: Sachsenspiegel (1220-1225) und Bremische-Evangelische
Kirchenordnung (1534)
Im Sachsenspiegel wird davon ausgegangen, dass Menschen mit geistiger Behinderung nicht in der Lage
sind, ihr Handeln einzuschätzen und zu kontrollieren, weshalb sie ein Leben lang einem Vormund
unterstanden. Sie wurden als unzurechnungsfähig betrachtet und waren somit auch nicht schuldfähig. So
hieß es im Sachsenspiegel: „Ein Geisteskranker kann sich nicht strafbar machen.“ Jedoch konnte der
Vormund haftbar gemacht werden.
In der Bremischen-Evangelischen-Kirchenordnung wird betont, dass es Pflicht „eines rechten Christen“ sei,
den Armen und Notdürftigen Almosen zu geben.
Ritter mit Handprothese: Götz von Berlichingen (1480-1562)
Götz von Berlichingen verlor im Krieg seine rechte Hand. Ein Schuss aus den eigenen Reihen traf sein
Schwert, das daraufhin zertrümmert wurde. Trümmerteile traten in die Armschiene der Rüstung ein und
zerfetzten dabei seine rechte Hand. Als Mitglied der reichen Oberschicht verfügte Götz über ausreichend
5
finanzielle Mittel und konnte sich die Anfertigung einer komplizierten Prothese
aus Eisen leisten, die es ihm ermöglichte, auch weiterhin als Ritter ins Feld
ziehen zu können. Seine Prothese brachte ihm den Beinamen „Ritter mit der
eisernen Hand“ ein.
Zu dieser Zeit waren Prothesen nicht neu, es gab sogar einen regen Austausch
über die Konstruktion und die Herstellung von Handprothesen in Europa. Die
angewandte Mechanik war durchaus komplex, so war es z.B. möglich, einzelne
Finger zu bewegen.
3. MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN IN DER NEUZEIT (1500 – 1900)
In der Neuzeit setzte sich in Europa zunehmend ein weltliches gegen das christliche Weltbild durch. Vor
allem die Aufklärung veränderte das Denken in Europa radikal, was sich auch auf die Kunst, die Politik und
viele andere Bereiche auswirkte. Krankheit und Behinderung wurden immer seltener als Strafe Gottes und
immer öfter als medizinisches Problem betrachtet. Dies führte zu einer Verwissenschaftlichung von
Behinderung. Während Menschen mit Behinderungen im Mittelalter noch vermehrt zum Alltag der
Gesellschaft gehörten, zumindest als Randfiguren, beginnt in der Neuzeit durch die Separation und
Isolierung der schleichende Prozess der Exklusion.
Aufgrund der zunehmenden Industrialisierung zogen immer mehr Menschen in die Städte, um in Fabriken
zu arbeiten. Familienverbände brachen zunehmend auseinander. Es kam zu den Gründungen von ersten
staatlichen Anstalten. Menschen mit Behinderungen verschwanden allmählich aus dem alltäglichen Bild der
Gesellschaft. In den sogenannten Irrenhäusern ließ man Menschen mit Behinderungen in der Regel
verwahrlosen und versorgte sie nicht richtig.
Doch gab es auch Bewegungen, die sich für einen humanen Umgang mit Menschen mit
Beeinträchtigungen einsetzten. So erreichte um 1800 der Schweizer Johann Heinrich
Pestalozzi (12.1.1746 - 17.02.182), dass die erste Schule für Kinder mit Behinderungen
erbaut wurde und ein Institut für Menschen mit psychischen Erkrankungen errichtet
wurde.
Im 18. Jahrhundert fand die grausame Praxis der Zurschaustellung von Menschen mit Behinderungen zur
Belustigung und Unterhaltung ein Ende. Man gelangte zu der Einsicht, dass auch das Halten von Hofnarren
nicht mit der menschlichen Würde vereinbar ist. Das Verspotten oder Lachen über Menschen mit
Behinderungen galt nicht mehr als schicklich. Vielmehr wurde an die Moral der Menschen appelliert. All das,
was Mitleid erregt, darf nicht Gegenstand der Belustigung sein. So konnte der Aufruf zum Mitleid das
Auslachen zwar eindämmen, änderte jedoch nichts an der gesellschaftlichen Stellung von Menschen mit
Beeinträchtigungen.
6
Eine wertfreie Betrachtung von Behinderung wurde also auch durch die Verwissenschaftlichung nicht
erreicht. Menschen mit Behinderungen wurden vielmehr zu Forschungsobjekten. Behinderungen zogen das
Interesse von Medizinerinnen und Medizinern auf sich. In diese Zeit fallen die ersten Versuche,
Beeinträchtigungen zu klassifizieren. Die Betroffenen selbst kamen allerdings nur sehr selten zu Wort.
1826 wurde in Leipzig mit „Buckeliana oder ein Hand-,
Trost-
und
Geschlechts“
Menschen
Hülfsbuch
für
eines
ersten
mit
der
Verwachsene
beiderlei
Selbsthilfebücher
Körperbehinderungen
für
herausgegeben.
Anonym verfasst, enthält das Buch Ratschläge, Gedichte
und Anekdoten.
Gesetzliche Grundlagen: Entstehung der Sozialgesetzte
Am Ende der Neuzeit entstehen die Sozialgesetze
1883 tritt das Krankenversicherungsgesetz in Kraft, 1884 das Unfallversicherungsgesetz und 1889 das
Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz
Autor mit Behinderung: Ludwig von Baczko (1756-1823)
Ludwig von Baczko war von Jugend an gelähmt und
erblindete im Alter von einundzwanzig Jahren durch eine
Pockenerkrankung. Damals hatte er gerade sein Studium
der Rechtswissenschaften abgeschlossen. Wegen seiner
Behinderung war es ihm nicht gelungen, eine Stellung als
Professor an einer Universität zu erhalten, obwohl er dies
etliche Male versuchte. Jedoch unterrichtete er für einige
Jahre Geschichte an der Artillerie-Akademie in Königsberg.
Zudem widmete sich Baczko der Schriftstellerei. Er schrieb
Bücher in den verschiedensten Gebieten, in erster Linie
aber der Geschichte und der Dichtkunst. Mit seinem Buch
„Über mich Selbst und meine Unglücksgefährten“ verfolgte
er das Ziel, die Gesellschaft über seine Lebenswelt
aufzuklären, Informationen weiterzugeben, aber auch zur
Gründung von Blindeninstitutionen anzuregen. In seinem
Buch wird deutlich, dass Baczko seine Beeinträchtigung als
Unglück ansah und seine Abweichungen von der Norm als
Ursache für Spott und Ausgrenzung definierte.
7
4. Menschen mit Behinderungen im 20. Jahrhundert
Die Exklusion von Menschen mit Behinderungen, die im 18. Jahrhundert begann und sich im 19.
Jahrhundert verfestigte, nahm auch in 20. Jahrhundert ihren weiteren Lauf. Menschen mit Behinderungen
wurden zunehmend unsichtbar, da sie nun in den für sie geschaffenen Sonderinstitutionen untergebracht
und „verwahrt“ wurden.
Auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts kann noch nicht von einem allgemeingültigen Verständnis von
Behinderung gesprochen werden. Vielmehr wurde zwischen verschiedenen spezifischen Formen der
Beeinträchtigung unterschieden, so z.B.: „Krüppel, Invaliden, Idioten, Schwachsinnige“ – Bezeichnungen,
die dem heutigen Verständnis nicht mehr entsprechen. Wie sich eine Beeinträchtigung auf das Leben einer
Person auswirkte, war abhängig vom individuellen Defizit in Bezug auf die Erwerbsfähigkeit.
Mit dem Ersten Weltkrieg und der vielen „verstümmelten“ Kriegsheimkehrer veränderte sich die
Wahrnehmung und Darstellung von Menschen mit Behinderungen. Eine Unterteilung in angeborene und
erworbene Beeinträchtigungen wurde nun sehr gängig. So war das gesellschaftliche Ansehen von
Kriegsverletzten positiver besetzt als das von Menschen mit Behinderungen. Große Anstrengungen wurden
unternommen, Kriegsverletzten einen Platz in der Gesellschaft zu schaffen und sie nach Möglichkeit ins
Arbeitsleben zu integrieren. Die Rehabilitation war geboren, Prothesen sollten Verlorenes ersetzen und
wiederherstellen, mit dem Ziel, die einstige Arbeitsleistung und -fähigkeit wiederzuerlangen.
Gesetzliche
Grundlagen:
1920
Krüppelfürsorgegesetz,
1919
1%-Quote
von
Beschäftigten mit Behinderungen in Unternehmen
Das Krüppelfürsorgegesetz führte zur Meldepflicht von Menschen mit Beeinträchtigungen. Es gilt als erstes
Gesetz, das eine Verpflichtung zu schulischer, medizinischer und beruflicher Rehabilitation von Kindern,
Jugendlichen und Erwachsenen mit Behinderungen vorsah. Eine Behinderung lag vor, „wenn eine Person
infolge eines angeborenen oder erworbenen Knochen-, Gelenk, Muskel oder Nervenleidens oder Fehlens
eines wichtigen Gliedes oder von Teilen eines solchen in dem Gebrauch ihres Rumpfes oder ihrer
Gliedmaßen nicht nur vorübergehend derart behindert ist, dass ihre Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen
Arbeitsarbeit voraussichtlich wesentlich beeinträchtigt wird.“ (Krüppelfürsorgegesetz 1920). Behinderung
wird also nach wie vor an der Arbeits(un)fähigkeit eines Individuums festgemacht.
1919 wurde erstmals in der Sozialpolitik eine Quote verordnet, die vorsah, dass 1 % der in einem
Unternehmen Beschäftigten „Schwerbeschädigte“ sein sollten. Unter „Schwerbeschädigten“ wurden
allerdings nur Kriegsverletzte verstanden, die auf diese Weise wieder in das Arbeitsleben eingegliedert
werden
sollten.
Alle
anderen
Menschen
mit
Beeinträchtigungen
waren
von
dieser
Regelung
ausgeschlossen.
8
Otto Perl (1882 – 1951): Mitbegründer des Selbsthilfebundes der Körperbehinderten,
1919
Im Alter von 13 Jahren erkrankte Perl an einer
Gelenkentzündung,
die
zur
vollständigen
Versteifung seiner Gelenke führte. Er verbrachte den
Großteil seines Lebens in Heimen, in denen er sich
meist sehr unwohl und entmündigt fühlte. Seine
Erfahrungen nahm er zum Anlass, die Verhältnisse
in den Anstalten zu beschreiben und der Kritik zu
unterziehen.
Er
prangerte
das
Prinzip
der
Heimfürsorge an, das die bloße Verwahrung von
Menschen mit Körperbehinderungen nach den
gesetzlichen
Regelungen
der
sogenannten
„Krüppelfürsorge“ vorsah, ohne ihnen Möglichkeiten
der Schul- und Berufsausbildung bereitzustellen. Er bildete sich selber fort und konnte im Alter von 37
Jahren sein Abiturexamen ablegen.
Otto Perl zählte zum engen Kreis der Mitbegründerinnen und Mitbegründern des 1919 in Berlin initiierten
"Selbsthilfebundes der Körperbehinderten", des historisch ersten Zusammenschlusses körperbehinderter
Menschen, der deren Gleichstellung innerhalb der Gesellschaft anstrebte. In der erklärten Absicht, "keine
Mauer um die Krüppel [zu] bauen, sondern eine lebendige Wechselbeziehung zwischen Gesunden und
Leidenden zu schaffen", war der Bund von Anfang an auch für nichtbehinderte Mitglieder offen.
Er
berichtete
von
Bespitzelungen
und
Übergriffen
von
Anhängerinnen
und
Anhängern
der
nationalsozialistischen Partei, die sich auch unter den Leitern und dem Pflegepersonal der Anstalten
befanden. Er schrieb dazu: „In der Nazifürsorge war es geradezu lebensgefährlich für den
Schwerbehinderten, sich auf den Rechtsstandpunkt in fürsorgerischen Dingen zu stellen. Denn die Henker
Hitlers waren mit ihren 'Todeslisten' sehr eifrig am Werke. Mancher aus meiner Umgebung musste den Weg
zur Giftspritze gehen." Es handelt sich hierbei um einen von sehr wenigen vorliegenden Hinweisen eines
körperbehinderten Menschen, der vom Mitwirken der Fürsorgeanstalten am nationalsozialistischen Regime
spricht und der unter den Körperbehinderten auch Anhänger des Nationalsozialismus ausmacht und die
Euthanasie in den Anstalten direkt erwähnt.
9
5. Menschen mit Behinderungen im Nationalsozialismus (1933 – 1945)
Ungefähr 300 000 Menschen mit Behinderungen wurden vom Naziregime ermordet
Sozialdarwinistische Theorien sowie die verbreitete Überzeugung, ein Staat nehme Schaden, wenn er sich
einsetzt für die Unterstützung der schwächsten Mitglieder seiner Gesellschaft, setzten sich durch und
lieferten eine passende Strategie für Rechfertigungen. Es kam zur Einführung von Zwangssterilisationen
von Menschen, deren Behinderungen als erblich eingestuft wurden. Wer heiraten durfte und wer nicht wurde
von Eheberatungsstellen entschieden. 1939 wurde gar eine Meldepflicht von „missgestalteten“ Kindern
eingeführt.
Eltern ließen ihre Kinder in Heime einweisen, weil man ihnen Heilerfolge ausmalte. Mittels Flüssigkeits- und
Nahrungsentzug wurden tausendfache Tode behinderter und kranker Kinder herbeigeführt. Die Tötung von
erwachsenen Menschen mit Behinderungen, die 1939 unter dem Tarnname „T4“ begann, lief geheim ab.
Man holte die Betroffenen aus ihren Einrichtungen und transportierte sie zu den für ihre Vergasung
vorgesehenen Tötungseinrichtungen.
Als Argument auf die Frage nach der Legitimität von Tötungen wurde aufgeführt, dass es sich um eine
„sinnvolle
hygienische
Maßnahme“
im
Sinne
des
gemeinschaftlichen
Wohles
handle.
Im
nationalsozialistischen Deutschland wurden Menschen als lebenswerte und lebensunwerte Menschen
klassifiziert. Lebensunterwerte Menschen, auch „Ballastexistenzen“ genannt, wurde das Recht auf Leben
abgesprochen, da sie nur Kosten verursachen, aber nicht in der Lage waren, zu arbeiten.
10
Gesetzliche Grundlagen: Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, 1933
Mit diesem Gesetz wurden Zwangssterilisationen von Personen legitimiert, die nach „Erfahrungen der
ärztlichen Wissenschaft“ höchstwahrscheinlich eine Behinderung vererben könnten. Das Gesetz umfasste
sowohl geistige, körperliche und Sinnesbehinderungen als auch psychische Erkrankungen wie
Schizophrenie oder Depression. Auch schwerer Alkoholismus konnte Ursache für eine Sterilisation sein.
11
6. Menschen mit Behinderungen nach 1945
Kaum geschichtliche Aufarbeitung, Verantwortliche blieben ungestraft
Bis heute hat die Situation kranker oder behinderter Kinder und Erwachsener in Zeiten des
Nationalsozialismus nur wenig Beachtung erfahren. Nach 1945 wurden die Geschehnisse und Strukturen,
die der Zweiten Weltkrieg geschaffen hat, weder genau analysiert, noch wurden die Verantwortlichen zur
Rechenschaft gezogen. Auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurden Menschen mit Behinderungen
zwangssterilisiert. Erst am 24. Mai 2007 konnte der Bund der „Euthanasie-Geschädigten und
Zwangssterilisierten“ erreichen, dass der Bundestag die nationalsozialistischen „Gesetze zur Verhütung
erbkranken Nachwuchses" als von Anfang an nicht mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland
vereinbar und deshalb ungültig erklärte.
Nach Kriegsende wurde in der Bundesrepublik an die bereits vor dem Krieg bestehenden Strukturen der
Werkstätten, Sonderschulen und Berufsförderwerke angeknüpft und diese wurden ausgebaut. Aufgrund der
für Menschen mit Behinderungen entstandenen Sondersysteme, wie Behindertenheime, Werkstätten für
Menschen mit Behinderungen und besondere Bildungseinrichtungen, gab es nur sehr wenig Kontakt
zwischen Menschen mit und Menschen ohne Behinderungen. Im Mittelpunkt standen Fürsorge,
medizinische Maßnahmen und die Sortierung nach dem Kriterium der Arbeitsfähigkeit.
7. Menschen mit Behinderungen ab 1960 bis 1990
In der Behindertenpolitik der Nachkriegszeit konzentrierte man sich zunächst auf die Versorgung der kriegsund arbeitsverletzten Menschen. Im Fokus der Fördermaßnahmen stand die Wiederherstellung ihrer
Arbeitsfähigkeit. Immer mehr Selbsthilfegruppen entstanden und forderten bessere gesetzliche Grundlagen
der Behindertenhilfe. Erst in den 60-er Jahren änderte sich allmählich die Gesetzgebung. Hilfe für Menschen
mit Behinderungen war nicht mehr eine reine Armenhilfe, sondern wurde ein Rechtsanspruch.
Dennoch wurde erst 1974 das Schwerbehindertengesetz so geändert, dass zum ersten Mal staatliche
Unterstützungsleistungen nicht mehr von der Ursache, der Art und dem Umfang der Behinderung abhingen.
1986 wurde in einem zweiten Schritt die Beurteilung der Behinderung verändert: Statt nach dem „Grad der
Erwerbsminderung" wurde nun nach dem „Grad der Behinderung" gefragt. Dies bedeutete, dass nicht mehr
alleine die Frage nach der Leistungsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt im Zentrum der Beurteilung stand,
sondern auch individuelle und soziale Aspekte mit einbezogen wurden.
Gesetzliche Grundlagen: Schwerbehindertengesetz (SchwbG), erlassen 1974
Behinderung wurde damals an einer Minderung der Erwerbsfähigkeit festgemacht: „Schwerbehinderte im
Sinne dieses Gesetzes sind Personen, die körperlich, geistig und seelisch behindert und infolge ihrer
Behinderung in ihrer Erwerbsfähigkeit nicht nur vorübergehend um wenigstens 50 von Hundert gemindert
12
sind, sofern sie rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzes wohnen, sich gewöhnlich aufhalten oder
eine Beschäftigung als Arbeitnehmer ausüben.“ ( SchwbG, §1)
Das Krüppeltribunal von 1981, Beginn der deutschen Behindertenrechtsbewegung
1980 protestierten Gruppen und Initiativen, die sich für die Rechte von Menschen mit Behinderung
einsetzten gegen die herrschenden Zustände, die Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen. Noch
angefeuert wurden Unmut und Protest durch ein Gerichtsurteil des Frankfurter Landesgerichts aus dem
Februar 1980. Eine Urlauberin klagte auf Rückerstattung ihrer Kosten, da an ihrem Ferienort auch eine
Gruppe von Menschen mit Schwerbehinderungen ihren Urlaub verbrachte. Dies habe den Erholungswert
eingeschränkt, so die Klägerin. Das Gericht gab ihr Recht und sie erhielt einen Teil ihrer Reisekosten
zurück.
Für das Tribunal im Dezember 1981 stellten Aktivistinnen und
Aktivisten
aus
dem
ganzen
Bundesgebiet
Fälle
von
Menschenrechtsverletzungen in Heimen, Psychiatrien und
Werkstätten zusammen. In diesem Zug wurden auch die
eklatanten Missstände im Öffentlichen Personennahverkehr
beklagt.
Auch
Behinderungen
sexualisierte
wurde
im
Gewalt
Tribunal
gegen
erstmals
Frauen
mit
aufgegriffen
thematisiert.
Das Krüppeltribunal wird häufig als der Beginn der deutschen
Behindertenrechtsbewegung genannt. Mitinitiatorin war die
damals
20-jährige
Theresia
Degener,
die
auch
die
Eröffnungsrede des Krüppeltribunals hielt. Mittlerweile ist
Theresia Degener Professorin für Recht und Disability-Studies
in Bochum. Seit 2011 ist sie Mitglied des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit
Behinderungen. In der deutschen Behindertenrechtsbewegung wird ihre eine richtungsweisende Rolle
zugeschrieben.
8. Menschen mit Behinderungen ab 1990 bis 2008
Gleichberechtigte Teilhabe und Selbstvertretung: „Nichts über uns ohne uns!“
Um die Jahrtausendwende begannen sich allmählich weltweit gesellschaftliche Veränderungen für
Menschen mit Behinderungen bemerkbar zu machen. Diese Veränderungen in der Haltung gegenüber
Menschen mit Behinderungen und in der Rechtswirklichkeit sind ohne die Behindertenrechtsbewegung und
andere
soziale
Bewegungen
undenkbar.
2002
trat
in
Deutschland
auf
Bundesebene
das
Bundesgleichstellungsgesetz in Kraft. Waren über viele Jahrhunderte hinweg behinderte Menschen – auch
in Gesetzestexten – eher als „soziale Probleme" statt als gleichberechtigte Bürger und Bürgerinnen
13
behandelt worden, so wurde mit diesem Gesetz eine neue Richtung eingeschlagen: „Ziel dieses Gesetzes
ist es, die Benachteiligung von behinderten Menschen zu beseitigen und zu verhindern sowie die
gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft zu gewährleisten und
ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen.“
Gesetzliche Grundlagen: Sozialgesetzbuch 9 (SGB IX)
SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen
Im SGB IX, das 2001 in Kraft trat, wird Behinderung folgendermaßen definiert: „Menschen sind behindert,
wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit
länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre
Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die
Beeinträchtigung zu erwarten ist.“ (SGB IX, §2)
Während das Bundesgleichstellungsgesetz auf die Teilhabe von Menschen abzielt, bestehende
Benachteilungen abzubauen, wird bei der Definition von Behinderung weiterhin an einer defizitär
ausgerichteten Blickrichtung festgehalten.
Stephen Hawking (geb. 1942): Wissenschaftler mit Behinderung
Der berühmte Physiker Stephen Hawking leidet seit er
Anfang zwanzig ist an einer degenerativen
Erkrankung des motorischen Nervensystems. Damals
schätzten die Ärzte, dass er noch zwei bis drei Jahre
zu leben habe. Hawking promovierte dennoch und
war von 1979 bis 2009 Inhaber des Lucasischen
Lehrstuhls für Mathematik an der Universität
Cambridge. Er wurde zu einem der bekanntesten
Wissenschaftler unserer Zeit.
Hawking sitzt im Rollstuhl und kommuniziert über
einen Sprachcomputer. Er lieferte bedeutende
Arbeiten zur Kosmologie und Physik. Sein besonderes Interesse gilt der Theorie der Schwarzen Löcher.
Neben seinen wissenschaftlichen Erfolgen erlangte Hawking auch Berühmtheit durch seine
autobiographischen Bücher, wie z.B. „Meine kurze Geschichte“ (2013).
14
9. Auf dem Weg zur inklusiven Gesellschaft, seit 2009
Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) fordert Inklusion
Inklusion hat zum Ziel, dass allen Menschen der Gesellschaft die Teilhabe an allen Lebensbereichen
ermöglicht wird. Mit der UN-Behindertenrechtskonvention, die 2009 von Deutschland unterzeichnet wurde,
wird ein Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik eingeläutet: Ging es bisher um eine möglichst große
Anpassung von Menschen mit Behinderungen an die gesellschaftliche Norm, lautet die neue Aufgabe, das
Gemeinwesen so zu gestalten, dass es allen Menschen möglich wird, gleichberechtigt am gesellschaftlichen
Leben teilzuhaben.
Inklusion fordert einen gesellschaftlichen Wandel und ist somit ein Thema, das die Gesellschaft als Ganzes
betrifft und jeden einzelnen herausfordert. Es bedarf eines grundlegenden Umdenkens, um vorherrschende
Strukturen aufzubrechen und verändern zu können. Durch die Unterzeichnung der UN-BRK hat sich
Deutschland zur Umsetzung der Inhalte der Konvention verpflichtet. Seither wurden zahlreiche Gesetze
angepasst und neu erlassen. Der Bund und die meisten Länder haben Aktionspläne verabschiedet, die als
Leitfaden dienen bei der Schaffung eines inklusiven Gemeinwesens. Auch und besonders die Kommunen
sind gefordert an diesem Prozess mitzuwirken und ihn vor Ort zu gestalten. Die Stadt Waldkirch nimmt
diesen Auftrag ernst, was durch den „Aktionsplan für kommunale Inklusion der Stadt Waldkirch“
unterstrichen wird.
Gesetzliche Grundlagen: UN-Behindertenrechtskonvention (2006)
Die Konvention wurde 2006 erlassen, aus Sorge, dass Menschen mit Behinderungen nach wie vor sehr
häufig diskriminiert und in ihren Rechten verletzt werden. Hier werden bereits bestehende Menschenrechte
für die Lebenssituationen behinderter Menschen konkretisiert, damit Menschen mit Behinderungen im
selben Umfang wie alle anderen an der Gesellschaft teilhaben können. An der Ausarbeitung der Konvention
waren Menschen mit Behinderungen beteiligt, ganz nach dem Motto: „Nicht über uns ohne uns!
Im ersten Artikel wird das veränderte Verständnis von Behinderung definiert: „Zu den Menschen mit
Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder
Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der
vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“
Keine Form körperlicher, seelischer oder geistiger Besonderheit wird in diesem Vertragstext als Problem
oder von vorneherein als Behinderung betrachtet. Behinderungen treten demzufolge erst dann auf, wenn zu
individuellen Einschränkungen Hindernisse hinzukommen, die von anderen Menschen gemacht oder nicht
abgebaut wurden und somit Zugänge versperrt werden. Behinderung wird als selbstverständlicher
Bestandteil menschlichen Lebens und menschlicher Gesellschaft ausdrücklich als eine Besonderheit unter
vielen erachtet und darüber hinaus als Quelle möglicher kultureller Bereicherung wertgeschätzt.
Einige wichtige Schlagworte der Konvention sind: uneingeschränkte Teilhabe, Barrierefreiheit,
Wertschätzung, Selbstbestimmung, Einbezug in Entscheidungsprozesse.
15
16