Die Abwicklung von Staatsbankrotten im Völkerrecht

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Die Abwicklung von Staatsbankrotten im Völkerrecht
Heimbeck • Die Abwicklung von Staatsbankrotten im Völkerrecht
ISBN 978-3-8487-0440-8
28
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Studien zur Geschichte des Völkerrechts 28
Lea Heimbeck
Die Abwicklung von
Staatsbankrotten im Völkerrecht
Verrechtlichung und Rechtsvermeidung
zwischen 1824 und 1907
Nomos
12.03.13 12:29
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Studien zur Geschichte des Völkerrechts
Begründet von Michael Stolleis
Herausgegeben von
Wolfgang Graf Vitzthum
Juristische Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen
Bardo Fassbender
Universität der Bundeswehr München
Institut für Öffentliches Recht und Völkerrecht
Miloš Vec
Universität Wien
Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte
Band 28
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Lea Heimbeck
Die Abwicklung von
Staatsbankrotten im Völkerrecht
Verrechtlichung und Rechtsvermeidung
zwischen 1824 und 1907
Nomos
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Zugl.: Frankfurt am Main, Univ., Diss., 2012
ISBN 978-3-8487-0440-8
D30
1. Auflage 2013
© Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2013. Printed in Germany. Alle Rechte,
auch die des Nachdrucks von Auszügen, der photomechanischen Wiedergabe und
der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Inhalt
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IX
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
I.
Schutz durch Verrechtlichung und Rechtsvermeidung. . . . . . . .
II. Staatsanleihen und Staatsbankrotte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
III. Völkerrecht durch Globalisierung? – Weltwirtschaftliche
Beziehungen als rechtliches Steuerungselement . . . . . . . . . . . .
IV. Völkerrechtliche Fragmentierung, Rechtsentstehungspluralismus
und Rechtlosigkeitspluralismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Staatliche Normierungsinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Nationale Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Nicht-Staatliche Normierungsinstrumente . . . . . . . . . . . . . .
3. Globalisierung und Lokalisierung von Recht. . . . . . . . . . . .
V. Souveränität als Interventionsschranke . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VI. Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII. Vier Fallstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VIII. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Griechenland, 1824–1878: Fehlendes Problembewusstsein und
bewusste Rechtsvermeidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
TEIL I
Private Abwicklung aufgrund eines völkerrechtlichen Vakuums
I.
II.
Beginn des internationalen Anleihehandels . . . . . . . . . . . . . . .
,Leere‘ in der Lehre – Ausbleibende Diskussion eines
wachsenden Problemfelds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
III. Fehlende Normierung von Interventionsgrundsätzen
zur Schuldeneintreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Britische Seeblockaden und Handelsembargos . . . . . . . . . .
2. Militärische Drohungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Erfolglose Besatzungspolitik zur Durchsetzung
finanzieller Forderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Zivilrechtliche Einigung nach gescheiterter völkerrechtlicher
Verrechtlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IV. Stagnation des Völkerrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI
Inhalt
TEIL II
Instrumentalisierung der Insolvenzabwicklung
durch die Völkerrechtswissenschaft
Ägypten, 1862–1904: Einfluss zwischenstaatlicher Insolvenzabwicklungsmechanismen auf das Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die ägyptische Schuldenverwaltung in der völkerrechtlichen
Interventionslehre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
II. Schuldenverwaltungen in der Völkerrechtswissenschaft
des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Das Defizit in Staatenpraxis und Völkerrechtslehre bis 1876 .
2. Rezeption und Funktionalisierung der Schuldenverwaltung
in der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
III. Die Gemischten Gerichte im zeitgenössischen Völkerrecht . . . .
1. Fehlende Diskussion in der Lehre bis 1876 . . . . . . . . . . . .
2. Die Relevanz der Gemischten Gerichte im Prozess
völkerrechtlicher Justizialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IV. Etablierung und Stabilisierung des Völkerrechts als
selbstständige Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V. Militärische Intervention zur Beendigung zunehmender
politischer Spannungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VI. Gewaltmaßnahmen durch die Gläubigerstaaten . . . . . . . . . . . .
VII. Die britische Okkupation Ägyptens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Okkupation als Instrument zur Durchsetzung von
Vertragsschulden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Präzedenzfall Ägypten? – Handlungsfreiheit und Sparprinzip
als Hindernis der Verrechtlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VIII. Völkerrechtliche Entrechtlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IX. Insolvenzabwicklungsmaßnahmen als völkerrechtliche
Rechtfertigungsnarrative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I.
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138
Das Osmanische Reich, 1854–1907: Private Anleger als
Co-Autoren völkerrechtlicher Normierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
143
I.
II.
Völkerrechtliche Rechtsvermeidung: Das Mouharrem-Dekret
von 1881 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Die Einrichtung der transnationalen Schuldenverwaltung .
2. Funktionalisierung der Schuldenverwaltung als
völkerrechtliches Rechtfertigungsnarrativ . . . . . . . . . . . .
Nationalstaatlicher und privater Anlegerschutz . . . . . . . . . .
1. Nationalstaatliche Normierungsebene . . . . . . . . . . . . . .
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VII
Inhalt
2. Der Zusammenschluss zu Gläubigerschutzvereinigungen . . . . .
3. Vertragliche Schutzmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
III. Völkerrechtliche Rechtsvermeidung aufgrund politischer Interessen
160
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TEIL III
Verrechtlichung und Rechtsvermeidung als Ordnungsinstrumente
internationaler Finanzbeziehungen
Venezuela, 1902–1907: Von der Drago-Doktrin zur
Drago-Porter-Konvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
I.
Die Venezuela-Krise und ihre völkerrechtliche Bedeutung. . . . . . .
1. Die Drago-Doktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Ablehnung durch die Völkerrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . .
II. Interamerikanische und transatlantische Verrechtlichungsbestrebungen in der Staatenpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Zweite Panamerikanische Konferenz (1901/02):
Justizialisierungsversuche in Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Dritte Panamerikanische Konferenz (1906):
Kein amerikanischer Alleingang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Zweite Haager Friedenskonferenz (1907):
Die Drago-Porter-Konvention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Die Drago-Porter-Konvention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Evaluierung des Abkommens in der Völkerrechtswissenschaft
III. Regionale Initiative zur globalen Kodifikation. . . . . . . . . . . . . . .
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Fazit: Simultane Kodifizierung, Rechtsvermeidung und faktische
De-Regulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
203
Anhang
I.
Historische Zeittafeln . . . . . . . . . .
1. Griechenland, 1824–1878 . . . . .
2. Ägypten, 1854–1904 . . . . . . . .
3. Osmanisches Reich, 1862–1907 .
4. Venezuela, 1902–1907 . . . . . . .
II. Historische Umrechnungskurse. . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VIII
British Parliamentary Papers .
I. Griechenland . . . . .
II. Ägypten . . . . . . . .
III. Osmanisches Reich.
IV. Venezuela . . . . . . .
Inhalt
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257
257
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Akten des Auswärtigen Amtes zur Zweiten Haager Friedenskonferenz . . .
263
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
265
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Danksagung
Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2012 von der Juristischen
Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main als
Dissertation angenommen. Sie entstand zwischen 2009 und 2012 im Rahmen der
Projektgruppe „Das Völkerrecht und seine Wissenschaft, 1789–1914“ am MaxPlanck-Institut für europäische Rechtsgeschichte unter der Leitung von Prof. Dr.
Miloš Vec. Die dortigen großartigen institutionellen Arbeitsbedingungen haben
die erfolgreiche Fertigstellung dieser Dissertation erst ermöglicht.
Sie wäre jedoch nie ohne die professionelle und private Unterstützung einer
Vielzahl von Menschen entstanden, denen ich zu tiefstem Dank verpflichtet bin.
Ein herzlicher Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Miloš Vec. Er
hat die Arbeit von Anfang an eng begleitet, kritisch diskutiert, Thesen hinterfragt
und wertvolle Tipps gegeben. Parallel dazu durfte ich an vielen seiner Projekte
teilhaben, so dass sich mir viele neue Aspekte und Forschungsfragen der
Völkerrechtsgeschichte eröffnet haben.
Weitere entscheidende Impulse hat Herr Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Michael
Stolleis dieser Arbeit gegeben, der auch Zweitgutachter dieser Dissertation war.
Die regelmäßige Präsentation des Forschungsstandes in seinem Oberseminar
machte es immer wieder erforderlich, die eigenen Gedanken zu ordnen und
bisherige Arbeitsschritte, Fragestellungen und Thesen kritisch zu überdenken.
Vor allem hat er jedoch durch seine schier unerschöpfliche Kenntnis historischer
Quellen, Ereignisse und Anekdoten einen der Grundsteine zur Fertigstellung
dieser Arbeit gelegt. Beiden bin ich für ihre fantastische Betreuung sehr dankbar.
Diese Dissertation hätte auch dann nicht ihre jetzige Form, wenn sie nicht im
Rahmen der Projektgruppe „Das Völkerrecht und seine Wissenschaft, 1789–
1914“ verfasst worden wäre. Auf diese Weise wurde sie von Anfang an in einem
interdisziplinären Forschungsrahmen diskutiert und erhielt dadurch Impulse aus
ganz unterschiedlichen Perspektiven. Für diese großartige Hilfe meiner MitDoktoranden vor allem aber für die schöne gemeinsame Zeit möchte ich mich bei
Nina Keller, Friederike Kuntz, Dr. Stefan Kroll und Dr. Kristina Lovrić-Pernak
von ganzem Herzen bedanken.
Für die schöne gemeinsame Zeit danke ich ferner meinen Mit-Doktoranden
Dr. Elisabetta Fiocchi Malaspina, Dr. Christian Lange, Ulrike Meyer, Osvaldo R.
Moutin und Ulrike Schillinger.
Ein großer Dank gilt ferner einigen Menschen, die durch ihre Anregungen,
Ideen und ehrliche Kritik entscheidend zur Fertigstellung der Arbeit beigetragen
haben: Herr Jürgen Heimbeck, Frau Anne Höhne, Herr Dr. Stefan Kroll sowie
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X
Danksagung
Herr Dr. Michael Waibel. An dieser Stelle möchte ich ebenfalls Frau Mary
Josephine Migliozzi danken, die alle englischen Artikel und Vorträge unermüdlich korrigiert hat. Sie hat unsere Freundschaft nicht nur nicht beendet,
sondern sich lachend für ihre dergestalt gewonnenen Kenntnisse im internationalen Wirtschaftsvölkerrecht bedankt. Herr Heiko Menken hat mir ferner über alle
technischen Katastrophen im Rahmen der Fertigstellung dieser Arbeit hinweg
geholfen. Merci beaucoup!
Ferner möchte ich mich beim Rothshild Archive, London für die sehr gute
Betreuung und Hilfe bei der Recherche vor Ort bedanken.
Zu guter Letzt möchte ich einen „institutionellen“ Dank aussprechen für die
maßgebliche professionelle Unterstützung, die ich am Max-Planck-Institut für
europäische Rechtsgeschichte erfahren habe. Dieser gilt insbesondere dem
Bibliotheksteam, der IT, der Redaktion und der Verwaltung, letztlich aber allen,
die diese Zeit so bereichernd und schön gemacht haben.
Schließlich gilt mein besonderer Dank meinen Eltern, Christine und Jürgen
Heimbeck, die von Anfang an an mich geglaubt, mir durch Motivationslöcher
geholfen und sich schließlich mit mir gefreut haben. Ihnen sei diese Arbeit
gewidmet.
Lea Heimbeck
Bremen, im August 2012
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Einleitung
„Gleichwerte von geringem Anfang, aus sich selbst,
der Seidenwurm sein glänzendes Grab schließt,
so spannen sich Anleihen aus Anleihen um den Staat.“ 1
Verrechtlichung und Rechtsvermeidung – ein Korrelat, das insbesondere im
Rahmen der Abwicklung von Staatsbankrotten besondere Bedeutung erlangte.
Im 19. Jahrhundert gebrauchten beteiligte Akteure nach staatlichen Insolvenzen Recht in verschiedener Weise auf diversen Normierungsebenen: dem
nationalen Recht, dem Völkerrecht sowie privaten Rechtsregimen. Diese Funktionalisierung erfolgte jedoch nicht lediglich durch die Schaffung von Normen,
sondern ebenfalls dadurch, dass die Parteien es bewusst unterließen, Rechtsnormen – sei es auf einer bestimmten oder allen Ebenen – zu generieren. Die
Heterogenität der involvierten Parteien und die Vielzahl berührter Rechtsordnungen im Kontext von Staatsbankrotten sind somit Voraussetzung und Folge für die
Instrumentalisierung von Recht für politische, wirtschaftliche oder juristische
Zwecke.
I. Schutz durch Verrechtlichung und Rechtsvermeidung
Private Rechtssubjekte, die im internationalen Raum agieren, sind besonders
schutzbedürftig. Ihnen stehen weniger juristische Konfliktlösungsmechanismen
zur Verfügung als auf nationaler Ebene bzw. diese sind oftmals kaum erfolgversprechend. Eine Verrechtlichung grenzüberschreitender Transaktionen wie der
Ausgabe von Staatsanleihen außerhalb des emittierenden Staates sowie der
Folgen, die ein Scheitern solcher Geschäfte auslösten, scheint daher dem gesteigerten Schutzbedürfnis der Parteien zu dienen.
Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert entstanden indes nur wenige völkerrechtliche Normen, die spezifisch derartige Auseinandersetzungen regelten. Im
Gegenteil: Akteure bedienten sich vielfach des Mittels der Rechtsvermeidung.
Dadurch wollten sie einerseits ihre Profitchancen erhöhen, andererseits ihre
wirtschaftlichen und/oder politischen Handlungsspielräume im Fall der Insolvenz eines staatlichen Schuldners wahren.
Freilich gewährt gerade die Existenz der Völkerrechtsordnung derartige
Handlungsspielräume innerhalb derer die Akteure sich entscheiden können, ob
1
Sulzer: Völkerglück (1828), S. 93.
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2
Einleitung
sie ihre Beziehungen rechtlich konkretisieren oder nicht. Eine derartige Konkretisierung – durch die Schaffung eines internationalen Insolvenzrechtsregimes
– unterließen sie indes. Innerhalb eines rechtlich geregelten Rahmens schufen sie
vielmehr einen spezifischen, rechtsfreien Raum, indem sie die Abwicklung von
Staatsbankrotten nicht näher ausgestalteten.
Handelt es sich bei den Mechanismen der Verrechtlichung/ Rechtsvermeidung
jedoch um eine Antithese? Die These dieser Arbeit lautet, dass im Rahmen der
Abwicklung von Staatsbankrotten alle involvierten Parteien (Investoren, Banken,
Börsen, Gläubiger- und Schuldnerstaaten) die Instrumente der Verrechtlichung
und der Rechtsvermeidung kombinierten. Verrechtlichung und Rechtsvermeidung schlossen sich nicht automatisch aus. Sie ergänzten sich vielmehr, wirkten
sich aufeinander aus bzw. waren voneinander abhängig. Diese wechselseitigen
Einflüsse und Interdependenzen fanden zwischen und innerhalb unterschiedlicher Rechtsordnungen statt: dem Völkerrecht, nationalen Rechtsordnungen
sowie Selbstregulierungsregimen juristischer Personen des Privatrechts. Auf
diese Weise kam es nicht nur zu einem Rechtsentstehungs-, sondern auch zu
einem Rechtlosigkeitspluralismus. Diese Tatsachen begründen den multidimensionalen Charakter globalen Rechts – unabhängig davon, ob Recht geschaffen
wird oder nicht.
Es ereignete sich allerdings nicht nur eine Globalisierung von Recht. Die
partielle Regelung grenzüberschreitender Sachverhalte führte vielmehr gleichzeitig zu einer damit verbundenen Lokalisierung von Recht (sog. „Glokalisierung“). 2 In Ermangelung einer umfassenden internationalen Insolvenzrechtsordnung wuchs somit die Bedeutung verschiedener Rechtsregime im Rahmen der
Abwicklung von Staatsbankrotten.
Diese These stützt sich auf vielfältiges historisches Material, das neben der
Staatenpraxis auch die zeitgenössische Völkerrechtslehre umfasst. Dazu gehören
Originaldokumente beteiligter Parlamente, der Banken sowie privater Gläubigerschutzvereinigungen ebenso wie völkerrechtliche, ökonomische und historische Primär- und Sekundärliteratur.
In dieser Arbeit wird untersucht, welcher Mittel sich die Akteure bei der
Liquidation staatlicher Insolvenzen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert
bedienten. Es geht darum, ob durch diese Maßnahmen völkerrechtliche Normen
in der Staatenpraxis entstanden oder in der Völkerrechtswissenschaft als solche
rezipiert worden sind. Dieser Fragestellung wird auf der Grundlage von vier
historischen Fallstudien nachgegangen.
Diese intrikate Verknüpfung von Verrechtlichung und Rechtsvermeidung wird
im Rahmen der Abwicklung von Staatsbankrotten im 19. Jahrhundert sehr
deutlich. Nicht nur die Anzahl, sondern insbesondere das Volumen staatlich
2
Voigt: Weltrecht (2008), S. 376.
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I. Schutz durch Verrechtlichung und Rechtsvermeidung
3
emittierter Anleihen erhöhte sich signifikant: Während europäische Staaten
zwischen 1794 und 1850 derartige Wertpapiere in Höhe von ca. 75.576.000
Pfund Sterling begaben, betrug das Volumen zwischen 1851 und 1880 bereits
ca. 454.107.000 Pfund Sterling. 3 Es stieg allerdings nicht nur die Quantität der
ausgegebenen Staatsanleihen, der emittierenden Staaten sowie des Volumens des
internationalen Kapitalverkehrs, sondern auch die Anzahl der Staatsbankrotte
nahm zu. 4 Dieses in der Finanzpraxis wachsende Problem stellte das (Völker-)
Recht vor neue Herausforderungen. Es unterlag einem „Anpassungsdruck“ der
Märkte, 5 um den veränderten Bedürfnissen der involvierten Rechtssubjekte
gerecht zu werden.
Der Terminus der „Verrechtlichung“ wird weder im nationalen noch im
Völkerrecht definiert. Begriffe wie Verrechtlichung, Normativierung, Vergesetzlichung und Justizialisierung unterscheiden sich zudem je nach wissenschaftlicher Perspektive: Politikwissenschaftler, Juristen und Soziologen verwenden sie mit verschiedenen Akzentuierungen. 6
Aus juristischer Sicht stellt eine Verrechtlichung sowohl die quantitative
Vermehrung von Normen als auch die Verregelung neuer Lebensbereiche dar. 7
Diese Zunahme von Normen erfolgt im Völkerrecht durch den Abschluss bi- oder
multinationaler Verträge sowie durch die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht. Ferner kam es in der Staatenpraxis des 19. Jahrhunderts zu einer wachsenden Verlagerung politischer Entscheidungs- und Initiativfunktionen auf die
Justiz; insbesondere die Bedeutung der Schiedsgerichtsbarkeit nahm erheblich
zu. 8
Die Verrechtlichung internationaler Beziehungen kann sich ferner in der
Völkerrechtswissenschaft vollziehen. Juristen können sich neuen Materien zuwenden und diese als völkerrechtlich relevant erfassen. Diese Rezeption kann auch
dadurch erfolgen, dass ein Tatbestand bzw. seine Rechtsfolgen präzisiert, modifiziert, in anderer Weise verwendet oder in das Völkerrecht eingeordnet werden.
3 Quittner-Bertolasi: Öffentliche Auslandsanleihen (1936), S. 603–5. Den mit Abstand höchsten Anteil an Staatsanleihen emittierten europäische Staaten. Zwischen 1851 und 1880 emittierte
Asien (inklusive des Osmanischen Reichs) Anleihen in Höhe von £ 161,838,000; Afrika (inklusive
Ägypten) £ 84,172,000 und Südamerika £ 152,064,000 (S. 605).
4 Suter: Schuldenzyklen (1988), S. 89, Tabelle 3.5. Freilich war es auch früher zu Staatsbankrotten gekommen, beispielsweise nach dem Zusammenbruch des sog. Law’schen Systems 1715 in
Frankreich. Ferguson: Ascent of Money (2009), S. 127 ff. Da vor dem 19. Jahrhundert die
Landwirtschaft Staaten wirtschaftlich stabilisierte, wirkten sich diese Insolvenzen jedoch nicht
derartig verheerend aus. Plumpe: Wirtschaftskrisen (2010), S. 42.
5 Voigt: Weltrecht (2008), S. 362.
6 S. kurze Zusammenfassung bei Voigt: Verrechtlichung (1980), S. 16–8.
7 Blichner/Molander: Mapping Juridification (2008), S. 42–3.
8 Vec: Verrechtlichung internationaler Streitbeilegung (2011); Kneisel: ,par amour‘ oder ,par
droit‘? (2011). Dieser Vorgang wird als Justizialisierung, einer Form der Verrechtlichung,
bezeichnet. Voigt: Verrechtlichung (1980), S. 21–3; Blichner/Molander: Mapping Juridification
(2008), S. 45–7.
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4
Einleitung
Im 19. Jahrhundert schufen Staaten kaum völkerrechtliche Normen zur Abwicklung von Staatsbankrotten. Überwiegend wickelten Gläubiger- und Schuldnerstaaten internationale Liquidationen bi- oder multinational ab, indem sie
beispielsweise internationale Schuldenverwaltungen errichteten. Das hatte zur
Folge, dass ein umfassendes normatives System fehlte, welches das Verhalten der
Parteien im transnationalen Raum gesteuert hätte. Durch die neuen grenzüberschreitenden Verhältnisse sank somit einerseits die Steuerungsfähigkeit von
Nationalstaaten hinsichtlich daraus entstehender Rechtsfragen, andererseits entstand kein globales Recht, das eine derartige Steuerungsfunktion ausgeübt hätte. 9
Ein multinationaler Vertrag mit einem relativ umfassenden Regelungsbereich
wurde lediglich in Form der Drago-Porter-Konvention (1907) geschlossen. Im
Kontext internationaler Finanzbeziehungen handelt es sich daher nicht nur um
einen „Raum ohne Rechtsgeometrie“ 10 zwischen einzelnen Teilrechtsregimen,
sondern Recht fehlte teilweise völlig. Es handelte sich um einen partiell rechtsfreien Raum, der innerhalb der Völkerrechtsordnung existierte.
Niels Petersson betont indes, dass Auslandsinvestitionen trotz eines fehlenden
übergeordneten Rechtssystems für Investoren lukrativ waren, eben weil ein
großer Teil dieses „Wirtschaftens“ „abseits des Rechts“ stattfand. 11
Ab den 1870er Jahren verschob sich die Aufmerksamkeit der Wissenschaft hin
zu neuen Themenkomplexen, die in der Praxis immer mehr an Bedeutung
gewonnen hatten; dies kann man ebenfalls als Prozess der Verrechtlichung
beschreiben. Völkerrechtliche Lehrbücher enthielten nunmehr Hinweise auf
das Problem der Abwicklung von Staatsbankrotten, in der Revue de Droit
International et de Législation Comparée erschienen diesbezügliche Artikel
und Juristen erörterten die Problematik ausführlich bzw. funktionalisierten sie
neuartig.
Der Begriff der Rechtsvermeidung findet sich weder in zeitgenössischer
völkerrechtlicher noch in aktueller völkerrechtsgeschichtlicher Forschungsliteratur. Die Termini der „Anarchie“ 12 sowie der „Rechtslosigkeit“ 13 passen jedoch
nicht. Sie bezeichnen einen Zustand, wohingegen der Begriff der Verrechtlichung
einen Prozessverlauf kennzeichnet. Dessen Gegenpol muss daher ebenfalls einen
Transformationsverlauf ausdrücken, welcher in der Entscheidung der Akteure,
kein Recht zu schaffen, liegt. Dieses voluntative und zugleich dynamische
Element beschreibt indes der Terminus der Rechtsvermeidung.
Kerngegenstand dieser Arbeit bildet die Frage, welcher Instrumente bzw. in
welcher Weise sich die Parteien dieser bedienten, um die Abwicklung von
9
10
11
12
13
Voigt: Weltrecht (2008), S. 364.
Amstutz/Karavas: Rechtsmutation (2006), S. 15.
Petersson: Handels- und Finanzintegration um 1900 (2012), S. 70.
S. Petersson: Anarchie und Weltrecht (2009).
Struck: Rechtssoziologie (2011), S. 73.
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II. Staatsanleihen und Staatsbankrotte
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Staatsbankrotten völkerrechtlich zu regeln: des Rechts oder des Nicht-Rechts. Im
Rahmen der Liquidation staatlicher Insolvenzen sind zwei Prozesse zu beobachten: Im Hinblick auf substantielle Normen verfolgten die Akteure während des
gesamten Untersuchungszeitraums eine Strategie der Rechtsvermeidung. Bezüglich formaler Aspekte staatlicher Bankrotte erfolgte eine Verschiebung von der
Rechtsvermeidung zur Entstehung von soft law 14 sowie zu Rechtsnormen. Diese
Verschiebung geschah durch die Entstehung gewisser rechtlicher Verpflichtungen
sowie die Übertragung von Kompetenzen auf internationale Schuldenverwaltungen bzw. internationale Schiedsgerichte.
II. Staatsanleihen und Staatsbankrotte
Staatsbankrotte sind freilich schon vor dem 19. Jahrhundert aufgetreten. 15 Ab den
1820er Jahren beruhten sie jedoch oftmals auf der internationalen Ausgabe von
Staatsanleihen. Infolgedessen verfügte die Mehrzahl privater Anleger in der
Regel nicht über die Staatsangehörigkeit des Schuldnerstaates.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts stellten nur noch wenige Juristen die
Insolvenzfähigkeit von Staaten in Frage. Dennoch, um Erwägungen wie dem
Bestandsschutz und dem Selbstzweck des Schuldnerstaates zu genügen, unterscheidet sich die Definition eines Staatsbankrotts von ihrem zivilrechtlichen
Pendant. 16 Es handelt sich um einen Staatsbankrott, wenn ein Staat sich weigert,
seine „rechtlich unzweifelhaften Schuldverbindlichkeiten gegenüber Privatpersonen zu erfüllen, geschehe dies nun aus Unvermögen oder aus Unredlichkeit oder
aus beiden Ursachen zugleich“. 17 Eine derartige Zahlungseinstellung beruht
nicht nur auf finanziellen, sondern auch auf politischen und sozialen Erwägungen. 18 Nicht jede Beendigung der Tilgungs- oder Zinszahlungen durch den
14 Soft law stellt indes kein Recht im engeren Sinne dar, sondern es besitzt lediglich eine
gewisse rechtliche Relevanz. Thürer: Soft Law, in: Rüdiger Wolfrum (Hg.), The Max Planck
Encyclopaedia of Public International Law (2008), online edition, [www.mpepil.com], Rdnr. 2.
15 S. z. B. Reinhart/Rogoff: This time is different (2009), S. 87, Tabelle 6.1.
16 Im Privatrecht bezeichnet der Begriff Bankrott die Zahlungsunfähigkeit eines zivilrechtlichen Schuldners in Bezug auf ausstehende Forderungen und laufende Kosten. S. z. B.: Concurs 3
(1846), S. 387–98, Definition auf S. 387–8. Der Begriff des Bankrotts stammt aus dem Italienischen. Die dortigen Kaufleute übten ihr Gewerbe an bankartigen Tischen vor Messen und Märkten
aus. Wenn ein Kaufmann seine ausstehenden Verbindlichkeiten nicht mehr tilgen konnte, wurde
sein Tisch symbolisch zerbrochen: ,banco rotto‘. Loewy: Staatsbankrotte (1922), S. 9.
17 Pflug-Nürnberg: Staatsbankrott (1898), S. 1. Loewy unterschied zwei Fälle von Staatsbankrotten: den Anleihe- und den Geldbankrott. Ersterer bezeichne ausbleibende Tilgungs- und/oder
Zinszahlungen, letzterer eine Verschlechterung des Münz- oder Papiergeldwertes. Loewy: Staatsbankrotte (1922), S. 24–59. Ohler sah hingegen in der bloßen Zahlungsunwilligkeit keinen Fall des
Staatsbankrotts. Ohler: Staatsbankrott (2005), S. 593.
18 Reinhart/Rogoff: This time is different (2009), S. 51. Die Mehrheit der völkerrechtlichen
Autoren des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts verwendeten beide Termini: Bankrott und
Insolvenz. Laut Borchard ist der Begriff des Bankrotts in Kontinentaleuropa, der der Insolvenz im
angloamerikanischen Raum gebräuchlich. Im Fall von staatlichen Schuldnern könnten die
Bezeichnungen jedoch synonym verwendet werden. Borchard: State Insolvency (1951), S. 117.

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