Unerwartet im Tessin eingetroffene Käfer vertilgen grosse Mengen

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Unerwartet im Tessin eingetroffene Käfer vertilgen grosse Mengen
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16. Januar 2015
Thema
Ambrosia-Samen können bis zu 40 Jahre keimfähig bleiben
Blütezeit ist ab Ende Juli
Die Pflanze wird zerstört, bevor sie Samen bilden kann
Unerwartet im Tessin eingetroffene Käfer vertilgen grosse Mengen Ambrosien
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Die Allergiker können aufatmen.
Endlich Winter, endlich ist die
Luft wieder rein – zumindest was
den Pollenflug betrifft. Gräser
und Co. haben ihre Blüte eingestellt. Vor wenigen Dekaden jedoch setzte die alljährliche Erleichterung deutlich früher ein.
Damals waren es Beifuss und
manche Gräser, die als Letzte
grössere Pollenmengen freisetzten. Seit sich allerdings Ambrosia artemisiifolia in der Südschweiz niedergelassen hat,
müssen Heuschnupfen-Patienten
bis Mitte Oktober mit Belastungen rechnen. Die aus Nordamerika eingeschleppte Pflanze ist ein
notorischer Spätentwickler. Ihre
Blüte beginnt normalerweise erst
Ende Juli. Abgesehen davon haben die Pollenkörner ein viel höheres allergenes Potential als diejenigen von heimischen Arten.
Im Tessin hat der kantonale
Pflanzenschutzdienst der Ambrosia schon seit Jahren den
Kampf angesagt. Die zuständige
Agronomin Marta Balmelli verbringt hierfür viel Zeit im Gelände. Sie überwacht die bereits bekannten Bestände, registriert
neue Standorte und observiert
die Populationsentwicklung.
Normalerweise gedeiht Ambrosia artemisiifolia in unserem
Kanton ganz hervorragend. Die
Art profitiert vom milden Klima.
Als Balmelli und ihre Kollegen
jedoch im Juli 2013 im Mendrisiotto in der Nähe der Ortschaft
Balerna unterwegs waren, machten sie eine ungewöhnliche Beobachtung. “Ich habe gesehen,
dass die Pflanzen nicht wirklich
gesund sind”, erzählt die Expertin im Gespräch mit der TZ. Blätter und Seitenzweige der Ambrosien waren angefressen. Auf den
geschädigten Gewächsen krabbelten kleine Larven und Käfer
herum. Anscheinend hatten sie
den Pflanzen so zugesetzt. Balmelli sah die Sechsbeiner zum
ersten Mal. Um welche Spezies
es sich wohl handelte? Und woher kamen sie?
Um diese Fragen zu klären, bat
die Wissenschaftlerin den an der
Université de Fribourg lehrenden
Heinz Müller-Schärer, einen
anerkannten Fachmann für herbivore Insekten, um Hilfe. Er untersuchte die Tierchen und bekam schnell einen Verdacht.
Nach Rücksprache mit Experten
in den USA bestätigte sich seine
Vermutung. Die gefrässigen Käfer gehörten zur Art Ophraella
communa, welche ursprünglich
HUNGRIGE HELFER
AUS ÜBERSEE
Ein natürlicher Feind: Die Ophraella communa ist wie die Ambrosia aus den USA eingewandert
aus Nordamerika stammt – genauso wie Ambrosia artemisiifolia. Doch damit nicht genug.
Ophraella communa ist eine so
genannte oligophage Spezies,
ein Nahrungsspezialist. Sowohl
die ausgewachsenen Exemplare
wie auch ihre Larven fressen mit
Vorliebe Ambrosien. Sie sind
wahrscheinlich einer der wichtigsten natürlichen Feinde der invasiven Pflanzen. Kein Wunder
also, dass man in einigen Weltregionen versucht hat, Ophraella
communa gezielt gegen die grassierenden Ambrosien-Plagen
einzusetzen. Mancherorts mit
beeindruckenden Ergebnissen.
“In China ist Ophraella ein totaler Erfolg”, erklärt Heinz MüllerSchärer. Jedes Jahr werden dort
in speziellen Anlagen Millionen
der hungrigen Helferlein gezüchtet und anschliessend an
Ambrosia-Standorten freigelassen. Unter günstigen Bedingungen bringen die Käfer bis zu
sechs Generationen pro Saison
hervor, sagt Müller-Schärer. Für
die Pflanzen hat das verheerende
Folgen. Sie werden zerstört, bevor sie Samen bilden können.
Auch die Blüte fällt weitestgehend aus, die Pollenbelastung
der Luft nimmt drastisch ab. Um
bis zu 90 Prozent, wie MüllerSchärer berichtet.
Wie Ophraella communa nach
Europa gelangen konnte, ist
nicht bekannt. Eine gezieltes,
von den Behörden angeordnetes
Aussetzen hat nicht stattgefunden. Die grössten Ansammlungen der Käfer wurden indes in
der Nähe des Flughafens Malpensa nordwestlich von Milano
angetroffen. Es scheint also
plausibel, dass die Tierchen per
Flugzeug in die Lombardei gekommen sind. Auch zu Land
sind die Insekten gerne als blinde Passagiere unterwegs, wie
Heinz Müller-Schärer aus eigener Erfahrung weiss. Bei der Arbeit im Gelände trafen er und
seine Kollegen die Käfer öfter in
ihren Autos an. Das würde auch
erklären, warum sich die Art im
norditalienischen Raum so
schnell bis weit in das westliche
Piemont hinein ausbreiten konnte, meint der Biologe. “Wir gehen davon aus, dass sie nicht von
alleine bis Turin gekommen ist.”
Die Nachricht über die Ankunft
der kleinen Exoten wurde von
Fachleuten mit getrübter Begeisterung aufgenommen. Denn
Ophraella communa frisst zwar
bevorzugt Ambrosien, aber sie
kann auch anders. Wenn ihre
Leibspeise nicht in ausreichenden Mengen zur Verfügung
steht, versucht sie auf nah ver-
wandte Pflanzenarten auszuweichen. Eine dieser Alternativen ist
die Sonnenblume. Vielleicht, so
die Befürchtung, stellen die Käfer deshalb auch eine potentielle
Landwirtschaftsplage dar. Sonnenblumen werden schliesslich
auch in der Schweiz und andernorts in Europa angebaut. Doch
Heinz Müller-Schärer gibt diesbezüglich vorsichtig Entwarnung. Man habe im vergangenen
Sommer im Tessin und in Norditalien Freilandversuche mit verschiedenen Sonnenblumen-Sorten sowie mit Topinambur, Zinnien und Beifuss durchgeführt,
alles Angehörige desselben
Pflanzenstammes, zur der auch
Ambrosia artemisiifolia gehört.
Die Gewächse wurden jeweils in
unmittelbarer Nähe zu ein paar
Ambrosien aufgezogen. Auf
letztere setzte man die Käfer aus
und schaute, was nun passierte.
“Die Larven von Ophraella sind
sehr gut zu Fuss unterwegs”,
sagt Müller-Schärer. Sie können
leicht über einen Meter auf dem
Boden zurücklegen. Und die
ausgewachsen Exemplare haben
Flügel. In den Versuchspflanzungen gelang es den Tierchen
dennoch nicht, den Sonnenblumen ernsthafte Schäden zuzufügen – auch nicht, als ihre ursprünglichen Wirtspflanzen ab-
gefressen waren und sie ausweichen mussten. Es ist eine Frage
des Wachstums, wie Heinz Müller-Schärer erklärt. Wenn die
Sonnenblumen, so wie hierzulande im Anbau üblich, früh ausgesät werden, seien sie für Ophraella schon bald so gut wie ungeniessbar. “Zu dick und zu holzig.” Das heisst: Bis sich die Käfer in Massen vermehrt haben
und eventuell andere Nahrungsquellen brauchen, es für saftige
Sonnenblumenblättchen bereits
zu spät.
In Europa dürfte die Bedeutung
von Ophraella communa als
Biowaffe gegen Ambrosien vermutlich auf die südlichen Gefilde begrenzt bleiben. Die Art
braucht ein warmes Klima, um
grosse Populationen aufbauen
zu können. “Heisses und trockenes Wetter fördert die Käfer”,
betont Heinz Müller-Schärer.
Bei niedrigeren Temperaturen
dagegen entwickeln sich die Tiere langsamer und bringen pro
Saison weniger Generationen
hervor. Deshalb haben sie im
vergangenen, eher nasskühlen
Sommer den Ambrosien-Beständen nicht so stark zugesetzt
wie 2013. Um die Käfer gezielt
gegen die pflanzlichen Invasoren
einsetzen zu können, müsste
man sie so wie in China jedes
Jahr massenhaft züchten, meint
Müller-Schärer. Der Aufwand
könnte sich gleichwohl lohnen,
denn im Tessin müssen die Ambrosien zum Beispiel entlang der
Autobahn A2 jedes Jahr mühsam von Hand ausgerissen werden, wie Marta Balmelli berichtet. “Kilometer um Kilometer,
zu Fuss.” Zudem ist kein schneller Sieg gegen die Gewächse in
Sicht. Dort, wo Ambrosia artemisiifolia einmal aufgetreten ist,
können die Samen im Boden
rund 40 Jahre lang keimfähig
bleiben, erklärt Balmelli. Zwischen Gotthard und Chiasso
wurden bislang etwa 480 solcher
Standorte registriert. “Und wir
kennen sicherlich nicht alle Bestände.”