Zeitaufsatz
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Zeitaufsatz
DIE ZEIT 48/2004 N I E D E R L A N D E Vor den Trümmern des großen Traums Warum selbst in den Niederlanden, dem Mutterland der Toleranz, die islamischen Vorstellungen von Respekt und Ehre mit westlichen Werten nicht harmonieren können Von Leon de Winter Am Morgen des 2. November 2004, einem Dienstag, wurde Theo van Gogh, der umstrittene niederländische Regisseur und Polemiker, in Amsterdam von einem islamischen Fanatiker ermordet. Der Mord wurde rituell ausgeführt. Nachdem der Mörder van Gogh niedergeschossen hatte, schnitt er ihm die Kehle durch – »als schnitte er Brot«, wie ein Augenzeuge in einer Rundfunksendung bemerkte – und hinterließ einen Brief auf van Goghs Leiche. Der Brief war mit einem Messer am Körper festgesteckt. Theo van Gogh war bekannt für seine Invektiven gegen beinahe jeden niederländischen Politiker und Künstler. Er verweigerte die Gepflogenheiten des zivilen Austauschs und Anstands in der öffentlichen Debatte oder in seinen Zeitungskolumnen. Er lehnte alle Beschränkungen ab, besonders für sich selbst. Fanatische Muslime nannte er »Ziegenficker«. Viele waren von seinen zynischen Witzen über Juden und Christen gleichermaßen verletzt und schockiert. Oft stand er im Zentrum des Sturms über die Grenzen der Meinungsfreiheit. Diese Debatten endeten unweigerlich damit, dass Europas größte Moschee steht in Rotterdam, sie wurde 2003 mit saudischem Geld erbaut und gilt als Symbol für Liberalismus und Religionsfreiheit in den Niederlanden in den Niederlanden nichts heilig sei. Dass Foto [M]: Alex Majoli/Magnum Photos/Agentur Focus die Niederländer stolz darauf seien, dass ihr Land das toleranteste der Welt sei, selbst wenn das bedeutete, die Beschimpfungen der eigenen Provokateure zu ertragen. Theo van Gogh war der lebende Beweis dafür. Van Gogh wurde von seinem Mörder auf dem Weg zu einem Studio überrascht, wo er sich die erste Schnittfassung seines Films 06-05 über den Mord an dem populistischen Politiker Pim Fortuyn ansehen wollte, den er zutiefst bewunderte. Ende August hatte das niederländische Fernsehen den Kurzfilm Submission ausgestrahlt, den van Gogh zusammen mit Ayaan Hirsi Ali gemacht hatte. Darin wurden halb bekleidete misshandelte Frauen gezeigt, deren Körper mit frauenfeindlichen Koranstellen beschrieben waren. Für traditionelle Muslime war das ein schockierender Film. Für das nichtmuslimische niederländische Publikum, das provokanteres Material gewöhnt war, war der Schock erträglich. Nach van Goghs Maßstäben war es ein moderater Film. In den Niederlanden laufen die Diskussionen nach van Goghs Tod Gefahr, zwei grundverschiedene Phänomene zu vermengen: das Problem der Meinungsfreiheit, die van Gogh praktisch für grenzenlos hielt, und das Problem des radikalen Islams. Auf dem Schreiben, das der Mörder auf van Goghs Leiche zurückließ, wird dieser gar nicht erwähnt. Offenbar wurde er nicht als extremer Repräsentant einer – in den Augen eines fanatischen Muslimen – libertären, hedonistischen, gottlosen, profanen Gesellschaft umgebracht (in der die Muslime »gedemütigt« werden), sondern als symbolischer Vertreter von Ayaan Hirsi Ali. Liest man den Brief des Mörders – »Dies ist ein offener Brief an die atheistische Fundamentalistin Ayaan Hirshi Ali« (er gibt Hirsi fälschlicherweise ein zusätzliches h) –, öffnet sich eine Welt wundersamer Verschwörungstheorien und eines übertriebenen, verzweifelten Hasses. Obwohl der Mörder in den Niederlanden aufwuchs, enthüllt sein Brief an Hirsi Ali ein Denken, das von Beginn an in der beduinisch-arabischen Kultur von Ehre und Scham des 7. Jahrhunderts bestimmt wurde. Der Mörder, Mohammed B., ist 26 Jahre alt, in Amsterdam geboren und aufgewachsen, gebildet; nach dem Tod seiner Mutter und nach den Anschlägen vom 11. September wandte er sich immer radikaleren Ideen zu. Er hat einen Vater, eine Stiefmutter und drei Schwestern, die sich nach seiner Radikalisierung zunehmend Sorgen um seine Ideen und Meinungen machten. Als eine seiner Schwestern einmal ohne die Erlaubnis der Familie fortgelaufen war, schwor er, sie umzubringen. Der Brief beginnt mit der traditionellen Lobpreisung Allahs, Mohammeds und des »Emirs der Mudschahedin«, womit wohl Osama bin Laden gemeint ist. Im ersten Absatz beschuldigt der Mörder Ayaan Hirsi Ali, den wahren Glauben verraten zu haben. Hirsi Ali war aus ihrem Heimatland Somalia vor einer arrangierten Ehe geflüchtet, ist inzwischen Abgeordnete des niederländischen Parlaments und eine Berühmtheit, nachdem sie öffentlich erklärt hatte, sie habe dem Islam den Rücken gekehrt. Nach zahlreichen Morddrohungen lebt sie nun unter permanentem Polizeischutz. Bei der Parlamentssitzung am vergangenen Donnerstag fehlte sie. Der Mörder beschreibt ihren Verrat, aber so, als überrasche ihn das gar nicht. »Als Soldatin des Bösen tust du nur deine Arbeit.« Dieses Böse sei das Werk der Juden, schreibt er und zitiert aus dem Talmud, um das verborgene jüdische Wesen ans Licht zu zerren. Er wirft Hirsi Ali vor, Muslime zu verführen, ihrem Glauben ebenfalls zu entsagen, und verheißt ihr eine Endabrechnung, eine Art Apokalypse. »Und wenn die Sterne herabfallen und wenn die Berge sich bewegen und wenn die trächtigen Kamele zurückgelassen werden und die Meere kochen...« Er prophezeit eine Erneuerung des Glaubens bei jungen Muslimen, die sich gegen die Ungläubigen erheben und die Erde reinigen werden, und schließt mit dem absoluten Traum: »Ich weiß genau, dass du, o Amerika, untergehen wirst; ich weiß genau, dass du, o Europa, untergehen wirst; ich weiß genau, dass du, o Holland, untergehen wirst; ich weiß genau, dass du, o Hirsi Ali, untergehen wirst; ich weiß genau, dass du, o ungläubiger Fundamentalist, untergehen wirst.« Der Brief verwendet eine Reihe von Begriffen, die überall in der arabisch-islamischen Kultur gebräuchlich sind: Demütigung, Ehre, Respekt, Rache. Diese Begriffe beleuchten das komplexe und problematische Verhältnis zwischen Stammeswerten und orthodox-islamischen Idealen. Auch sind sie mehr als nur das Fundament der Philosophie von van Goghs Mörder; sie bilden die Wurzel der zahlreichen Krisen in der arabisch-islamischen Welt. In der arabischen Stammeskultur dreht sich alles um die Ehre: haram. Der niederländische Islamforscher Hans Jensen erklärt die Bedeutung dieses Begriffs: »Wie immer beginnt man am besten beim biblischen Hebräisch: cherem bedeutet da ›beiseite legen‹, das heißt ›verbannen‹, ›(ent)weihen‹, ›unzugänglich machen‹; letztere Bedeutung steht noch heute im äthiopischen Wörterbuch. Der harem [der Frauenbereich] ist der unzugängliche (das heißt respektierte) Teil des Hauses, wo die haram, die Familienehre, also das Sakrosankte, bewahrt wird. Das arabische haram ist mithin auch ›das Heiligtum‹, womit für gewöhnlich Mekka gemeint ist. [...] Haram ist zum muslimischen Begriff für ›religiöses Verbot‹ geworden.« Der Ton des Briefs von van Goghs Mörder zeigt, dass dieser in seiner Jugend nicht die niederländische individualistische Kultur der persönlichen Verantwortung angenommen hat, sondern vielmehr die Schamkultur der Heimat seiner Eltern. Was die Frage offen lässt, ob Menschen, die in der traditionellen arabisch-islamischen Schamkultur aufgezogen wurden – und das trifft auf viele Kinder marokkanischer Einwanderer zu, wurden sie nun in Rotterdam, Amsterdam oder anderswo geboren –, überhaupt in der Lage sind, an der komplexen, an persönlicher Disziplin und persönlichem Urteil orientierten und oftmals schamlos anarcho-liberalen niederländischen Gesellschaft teilzuhaben, ohne auf ernste Anpassungsschwierigkeiten zu stoßen. Anscheinend gelingt das nur den Stärksten und Klügsten. In einer Schamkultur ist die »Ehre« entscheidend für das Selbstbild der männlichen Gruppenmitglieder. Diese Ehre besteht, wenn andere »Respekt« zeigen. »Respekt« ist in den Teilen niederländischer Städte, die einen hohen Anteil von Menschen mit muslimischem Hintergrund haben, zum Schlüsselbegriff geworden: »Respekt« als Zeichen, dass der Gruppe Ehre erwiesen wird. Zahllos die Missverständnisse, die es im Lauf der Jahre in den Niederlanden gegeben hat. In westlichen Kulturen wird Respekt dem Individuum für eine persönliche Leistung erwiesen; die Kinder und Enkel islamischer Einwanderer dagegen fordern »Respekt« für ihre Religion und ihre Gruppe, womit zum Ausdruck kommt, dass sie der traditionellen Schamkultur verhaftet sind. Wird die Ehre infrage gestellt – beispielsweise, wenn eine Frau der Gruppe die Regeln des sexuellen Anstands verletzt –, droht Statusverlust für die Männer, dazu der damit einhergehende gesellschaftliche Abstieg (und damals in der Wüste: Verlust des Zugangs zu allem, was Leben ermöglicht). Wiederhergestellt werden kann die Ehre durch Gewalt, eine Zahlung von Geld oder Waren oder, früher, indem der Schuldige ein Mitglied seiner Familie hergibt. Offenkundig stand die haram des Mörders und seiner Gruppe auf dem Spiel. Der Kulturanthropologe Raphael Patai schreibt in The Arab Mind (1973), seiner monumentalen Studie über die sozio-psychologischen Merkmale und Strukturen der arabischen und islamischen Völker: »Niemand mit einem Rest von Selbstachtung kann einem anderen gestatten, ihn ungestraft zu beleidigen. Indem er sich gegen den Angriff auf seine Würde wehrt, zwingt er andere dazu, ihn zu respektieren, und stellt so seine Selbstachtung wieder her. Da die Selbstachtung eines Menschen so anfällig für die Handlungen anderer ist, reagieren die Araber besonders empfindlich auf eine Demütigung und neigen dazu, in Bemerkungen und Handlungen eine persönliche Beleidigung zu erkennen, die gar nicht beabsichtigt war.« Rückblickend hatte niemand in den Niederlanden eine Vorstellung von der Demütigung, die der Übersiedlung von Menschen aus den traditionell islamischen ländlichen Regionen in die Fabriken der prosperierenden niederländischen Provinzen innewohnte, wo sie mitten in einer Kulturrevolution steckten, von der sie ausgeschlossen waren. Während in den siebziger und achtziger Jahren Säkularismus, Hedonismus, Narzissmus und Individualismus die traditionellen kalvinistischen Werte der Niederländer umformten, blieb vielen Einwanderern aus dem marokkanischen Rif, dem abgelegenen und rückständigen Bergland Nordwestmarokkos, von wo die meisten marokkanischen Einwanderer stammen, kaum etwas anderes als die Rolle des Zuschauers und in ihrem Bedürfnis nach Selbstachtung zunehmend die Rückwendung auf ihre ehemalige traditionelle Umgebung. Die tiefe Kluft, die sie von ihrer neuen Umgebung trennte, war zu breit, um sie in einer Generation zu überbrücken. Mit dem Altern der ersten Generation resignierter und erschöpfter Einwanderer wurde allseits erwartet, dass die Kinder ihren Platz in den neuen multikulturellen und radikal libertären Niederlanden einnehmen würden. Doch von wenigen Ausnahmen abgesehen, geschah nichts dergleichen. Was die erste Generation ihren Kindern hinterließ, war etwas, was viele Niederländer gar nicht bemerkten: Groll. Bei vielen der zweiten Generation führte das Gefühl von Demütigung und mangelndem Respekt dazu – zumal angesichts der häufig schmutzigen, unterbezahlten Arbeit, die ihre Eltern und sie für Ungläubige und Christen leisteten –, dass sie das Problem der langsamen gesellschaftlichen Integration in ideologischen und religiösen Kategorien definierten: zunehmend warfen sie der niederländischen Gesellschaft vor, sie würden wegen ihrer Religion, Kultur und Herkunft diskriminiert. Zwar gab es Diskriminierung durchaus auf dem Arbeitsmarkt, doch die Ablehnung der Muslime aus religiösen Gründen war äußerst selten. Dennoch betrachteten die Muslime die Islamphobie als den Hauptgrund ihres gesellschaftlichen Scheiterns. Anders gesagt, ihrer Gruppenehre und mithin ihrem Selbstbild wurde in ihrem Umfeld aus Ungläubigen nicht der korrekte und angemessene Respekt erwiesen. Auffallend an dem Brief ist der Hass auf die Abtrünnige. »Indem du deine Religion aufgegeben hast, hast du dich nicht nur von der Wahrheit abgewandt, du hast dich auch in die Armee des Feindes eingereiht«, schreibt der Mörder. In einer rauen Wüstengesellschaft ist Apostasie (Abtrünnigkeit) die schlimmste Sünde. In einer Welt, in der man als Einzelner schlicht nicht überleben kann, kämpfen die Stämme in heftigen Auseinandersetzungen um die knappen Ressourcen. Daher impliziert das Verlassen des Stammes per definitionem Verrat und Überlaufen zu einem feindlichen Stamm. Es fordert die Todesstrafe, eine Strafe, die der Islam institutionalisiert hat. Der Brief berührt auch den Glauben an überwältigende böse Mächte, die vor allem von den Juden ausgeübt werden. Diese Mächte sind so stark, dass der Muslim, der vom geraden und schmalen Weg abweicht, ihnen leicht erliegt. Die traditionellen Muslime, zumal die aus dem marokkanischen Rif, leben in einer von Geistern bevölkerten Welt. Für sie ist Satan kein abstrakter Begriff, sondern lebendige, tatsächliche Realität. Rituelle Gesundbeter sind ein offenes Geheimnis. Auch wenn der Islam sich als streng monotheistische Religion darstellt, ist er doch voller präislamischer Symbole, Rituale und Praktiken, die häufig aus beduinischen und regionalen Kulturen stammen (die ursprüngliche Sprache im Rif ist nicht Arabisch, sondern die der Berber). Der Mörder schreibt: »Tatsache ist, dass die niederländische Politik von vielen Juden beherrscht wird, die das Produkt der Talmud-Schulen sind, wie auch deine Parteifreunde.« In dieser magischen Welt mit ihren erfundenen Protokollen der Weisen von Zion und bösartigen Zitaten aus dem Talmud spielen die Juden eine führende Rolle (in den Niederlanden leben 30000 Juden; vor dem Zweiten Weltkrieg waren es 120000). In der Tradition des Korans und des Islams sind die Juden Verräter, die sich verschlagen und standhaft weigern, Mohammeds Botschaft anzuerkennen; der Jude ist ein »Sohn von Affen und Schweinen« (van Gogh hat nicht das Monopol auf Invektiven; der Koran und andere heilige muslimische Texte sind voller übler Beschimpfungen gegen Häretiker und Ungläubige). Da für die meisten muslimischen Fanatiker alle Probleme der Welt auf den Mangel an muslimischer Frömmigkeit zurückzuführen sind und der Islam ja vollkommen ist und per se zur Vorherrschaft der wahren Muslime führen muss, werden von den gedemütigten fanatischen Muslimen als Grund für die Schwäche der Umma, der islamischen Weltgemeinschaft, zwei Faktoren ausgemacht: die böse Macht des Weltjudentums und mangelnde Frömmigkeit der Muslime selbst (was mit der Gottlosigkeit der verführenden Juden zusammenhängt, die die Muslime vom geraden und schmalen Weg abbringen). Der Mörder schreibt: »[Die Umma] ist an ihrer Aufgabe gescheitert, sich gegen Ungerechtigkeit und das Böse zu widersetzen, und schläft ihren Rausch aus. Alle deine [Hirsi Alis] Angriffe auf den Islam sind daher die Schuld der islamischen Umma.« Van Goghs Mörder begreift nicht, warum der wahre Gläubige nicht die Welt beherrscht, obwohl sein Glaube ihm sagt, dies sei sein göttliches Recht. Und nicht nur das verblüfft ihn: Er erhält auch nicht den Respekt, den Ungläubige und Atheisten ihm schulden. In der Schamkultur, in der viele Kinder marokkanischer Eltern erzogen werden, führt ein Verlust von Ehre und Würde gerade bei den Söhnen zu Scham und Gesichtsverlust, und das gilt es um jeden Preis zu vermeiden. Niemals eine Lüge einräumen, niemals eine Schwäche zugeben, niemals scheitern, niemals straucheln, niemals Verantwortung übernehmen. Die Amsterdamer Polizei kennt das Problem allzu gut. Junge Verdächtige islamischer Herkunft bestreiten störrisch alles, selbst wenn sie auf frischer Tat mit einem Rucksack voller gestohlener Süßigkeiten erwischt worden sind. Eine Schuld einzuräumen hieße, dass man Scham empfindet und dass die Gruppe das Gesicht verliert. Es ist bemerkenswert, dass die meisten niederländischen Muslime, statt die islamische Inbrunst von van Goghs Mörder zu akzeptieren – er ist frommer Muslim und ein absolutes Produkt seiner Kultur –, sich von ihm distanzieren, indem sie ihn als Häretiker brandmarken, wodurch sie ihn aus der Gruppe ausstoßen und sich so jeder moralischen Verantwortung entledigen. Den meisten islamischen Fürsprechern der letzten Wochen zufolge ist der Islam eine Kultur und Tradition des Friedens, auch wenn Geschichte und gegenwärtiger Zustand des Islams eine Litanei der Gewalt gegen Nichtmuslime und Muslime gleichermaßen sind und auch der Prophet selbst ein Kriegsherr und Krieger war, der seine Religion mit dem Schwert verbreitete. Die Schande der sozioökonomischen Stellung vieler islamischer Väter – die in ihren Familien wie die Patriarchen herrschen – in einer von Nichtmuslimen und Atheisten beherrschten niederländischen Umgebung wird in einer tödlichen Mischung noch verstärkt von den Werten, die im traditionellen Islam und in der Schamkultur bewahrt werden. Das Gefühl von Demütigung und die Furcht, in der niederländischen Gesellschaft nie richtig aufgenommen zu werden, genügt, um bei jungen Muslimen einen Prozess der Radikalisierung auszulösen und eine megalomanische, völlig unrealistische Selbstüberhöhung zu schüren: Der wahre Muslim ist der vollkommene Mensch und dazu ausersehen, die Welt zu beherrschen. Dieses Gefühl von Demütigung – obwohl man ja überlegen ist – führt unausweichlich zu Rachefantasien, die in religiöser Rhetorik und Symbolik eingebettet sind, und zu einem strukturellen Verlust einer realistischen Perspektive, der wiederum zu einer gefährlich übersteigerten Einschätzung muslimischer Macht führt, was neue Demütigungen nach sich zieht und den Kreislauf aus Schande, Radikalisierung, Rache und Überschätzung aufrechterhält (Beispiele für diesen Kreislauf sind die arabisch-israelischen Kriege und die palästinensische Tragödie). Als Einzelner vereint van Goghs Mörder Mohammed B. in sich die schlimmsten Aspekte der Probleme, denen sich die gesamte arabisch-islamische Welt gegenübersieht. Es ist, als wäre er nicht in West-Amsterdam aufgewachsen, sondern in Falludscha. Liberale muslimische Denker meinen, der Islam solle sich seines beduinischen Erbes entledigen, weil die Beduinen den Islam in dem Wertesystem der ländlichen, nomadischen Clangesellschaft eingesperrt halten. Die niederländische Gesellschaft kann zu dieser Befreiung beitragen, indem sie sich mit den Problemen der islamischen Einwandererfamilien nicht nur aus einer sozioökonomischen, sondern auch aus einer kulturanthropologischen Sicht auseinander setzt. Nicht nur der Tod seiner Mutter machte Muhammed B. für den radikalen Islam empfänglich. Entscheidend ist, dass seine Radikalisierung schon in seiner Jugend angelegt und mit Gedanken und Normen genährt wurde, die der heutigen nichtreligiösen niederländischen Gesellschaft vollkommen fremd sind. Dabei fällt auf, dass Mädchen und junge Frauen nordafrikanischer Herkunft sich offenbar erfolgreicher als ihre Brüder entwickeln. Sie haben am meisten zu gewinnen, wenn sie die traditionellen Muster überwinden, die sie zu einem Leben als »Sohnfabrik« (der Titel eines Buchs von Hirsi Ali) unter der patriarchalischen Herrschaft dörflichen Lebens verurteilt hätten. In den Niederlanden haben offenbar viele Frauen die Gelegenheit zu dieser Selbstbefreiung ergriffen, mit oder ohne Zugeständnisse an religiöse Symbole (wie das Kopftuch). Allerdings stellt dies einen Machtverlust und eine zunehmende Bedrohung der Ehre ihrer Väter, Brüder, Neffen und Familien dar. Nach der militärischen Zerschlagung der Machtelite in Afghanistan obliegt es nun Geheimdiensten und Polizei, gegen die muslimischen Terrornetzwerke vorzugehen. In den letzten Jahren haben diese Behörden achtbare Erfolge erzielt und nach Kräften terroristische Aktivitäten begrenzt. Doch das hat keinen Einfluss auf die individuellen und kollektiven Obsessionen und Psychosen, die das Wertesystem des Stammes und der Religion begleiten, das von einem Ehr- und Überlegenheitsgefühl sowie der Furcht vor gesellschaftlichem Gesichtsverlust und Scham gekennzeichnet ist. In einem liberalen Rechtsstaat wie den Niederlanden kann die Regierung nicht so eingreifen wie Eltern, die ihren Kindern ihre religiösen, emotionalen und existenziellen Werte vermitteln. Doch wenn die Gefahr besteht, dass Familien, die unter den hier in groben Zügen dargestellten Problemen leiden, potenzielle Terroristen hervorbringen, die nicht nur bereit sind, einzelne Gotteslästerer wie Theo van Gogh niederzuschießen, sondern ganze Städte wegen ihres irreligiösen Gepräges zu zerstören, sollten wir uns überlegen, wie wir die moralischen und ethischen Familienstrukturen traumatisierter islamischer Einwanderer und ihrer Kinder beeinflussen können. Wie man das machen soll, wie das mit dem System unseres Rechtsstaats vereinbart und wie der Zorn einer ganzen Zivilisation gemindert werden kann, die sich von übermächtigen und arroganten Kräften gedemütigt fühlt, lässt sich gegenwärtig unmöglich sagen. Einfacher wird die Sache jedenfalls nicht. „Submission I“ von Theo van Gogh: www.ifilm.com/ifilmdetail/2655656 Aus dem Englischen von Eike Schönfeld