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„DU MUSST
AUFFALLEN!“
Ob Superstar, Model, Koch oder Friseur –
jeder wird gecastet und in ein Fernsehformat
gepresst. Doch welche Rolle spielen Leistung
und Talent der Kandidaten in Casting-Shows?
Von Lisa Kräher
Thailand. Ein Tempel. Drei Elefanten. Bunte Tücher wehen
in den Bäumen. Die Kulisse für Dieter Bohlen und die Juroren der zwölften Staffel von „Deutschland sucht den
Superstar“ im April 2015. Zeitlupe: Drei junge Frauen
schreiten auf die Bühne. Als habe es keinen bedeutenderen Moment in ihrem Leben gegeben, spricht eine Männerstimme aus dem Off: „Die Schicksalsperformance. Entweder Triumph oder Trauer. Die Stimme, der Auftritt. Alles
muss stimmen. Sonst geht es zurück ins alte Leben.“ Eine
dieser Frauen ist Rebecca Schelhorn. Sie wird mit den
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zwei anderen „Raise your glass“ von Pink interpretieren.
Die eine wird aus dem Takt kommen, Töne verfehlen, die
andere den Text vergessen. Rebecca wird gesanglich
alles richtig machen – doch die Jury wird sie wegen ihres
„Hausfrauenimages“ nach Hause schicken.
Rebecca Schelhorn singt seit ihrer Kindheit in Chören und
Bands, hat im Fach Gesang Abitur gemacht. Die große,
schlanke 20-Jährige mit den braunen Augen und dem
sympathischen Lächeln singt auf den Weihnachtsfeiern
der Bamberger Basketballmannschaft Brose Baskets und
hat erfolgreich an anderen Gesangswettbewerben teilgenommen. Kurz: Sie ist jung, klug, talentiert und fleißig.
Doch für DSDS hat es nicht gereicht. Superstar wurde ein
anderer: Severino Seeger, ein Typ mit akkurat gezupften
Augenbrauen und Schnulzen-Stimme, der vorher in einem
Callcenter jobbte. Seine Karriere war jedoch schon wieder beendet, bevor sie begann. Seeger wurde wegen
Betrugs zu einem Jahr und neun Monaten auf Bewährung
verurteilt. RTL distanzierte sich, die Tour wurde abgesagt.
Erfolg ohne Leistung
Stimmliche oder künstlerische Leistung spielt in CastingShows eine Nebenrolle. Wer dort erfolgreich sein will,
muss sich nur gekonnt inszenieren – so die These von
Prof. Bernhard Pörksen. Der Medienwissenschaftler ist Autor
des Buchs „Die Casting-Gesellschaft“. Die Teilnehmer solcher
Shows seien lediglich Lieferanten von Klischees. „Es geht
darum, ein Melodram aus Hoffen, Bangen, Aufstieg, Absturz, Verzweiflung, Sentimentalität, Kampf und Intrige zu
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Foto: Christian Plath Photography
Rebecca Schelhorn, 20, nahm
an der zwölften Staffel von
DSDS teil. Die Jury fand ihre
Performance „zu langweilig“.
Musikmanagerin Anja Lukaseder
setzt bei der Bewertung von
Nachwuchskünstlern auf Erfahrung
und Bauchgefühl. Als sie 2007 und
2008 neben Dieter Bohlen in der
DSDS-Jury saß, habe die Leistung
der Kandidaten noch mehr gezählt,
sagt sie.
Foto: Pörksen
Heute, 15 Jahre nach der ersten Staffel des Casting-Klassikers Popstars, sind Casting-Shows fester Bestandteil des
deutschen TV-Programms. Warum sie beim Publikum so
gut ankommen, wurde in Studien erforscht. Ein Grund
ist das gemeinsame Lästern über unfähige Kandidaten.
Ein anderer die Identifikation, das Mitfühlen mit dem
Lieblingskandidaten. Dem Publikum, so Pörksen in einem
SZ-Interview, werde ein Aschenputtel-Mythos verkauft:
Jeder kann es schaffen, jeder kann berühmt sein, wenn er
die Chance bekommt und auch nutzt. Die hat Rebecca
Schelhorn jedoch nicht wirklich für sich gesehen: „Ich
wusste, dass ich keine Chance habe. Sie haben mir
gesagt: Du musst auffallen, Party machen vor der Kamera.“
Selbst hätte sie sich nie beworben, RTL habe bei ihr
angefragt, sagt sie. „Meinem Image hat es nicht geschadet, ich habe mich am Zicken-Krieg nicht beteiligt.“
Foto: M. Wilfing/RTL
weben. Zu besetzen sind immer die gleichen Rollen: die
Zicke, der Streber, die Naive, der Underdog, die Peinliche,
das verkannte Genie. Wer stattfinden will, muss das eigene
Privatleben als Reservoir für rührende oder schockierende
Geschichten zur Verfügung stellen“, sagte Pörksen in einem Interview auf meedia.de.
Bernhard Pörksen ist Professor
für Medienwissenschaft an der
Universität Tübingen. In seinem
Buch „Die Casting-Gesellschaft“
stellt er die These auf: Erfolgreich
ist nicht, wer viel leistet, sondern
wer sich gekonnt inszeniert.
Depressive Exkandidaten
Andere Kandidaten können das nicht von sich behaupten.
„Sprungbrett oder Krise“ ist der Titel einer Studie der
Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen über die
Folgen von Casting-Teilnahmen. Diese ergab, dass die Erfahrung für einige so schlimm war, dass sie noch nach Jahren depressiv sind. Für die Studie wurden 59 ehemalige Teilnehmer von deutschen Casting-Shows befragt. Jeder fünfte
Teilnehmer hatte keine musikalische Vorerfahrung. Knapp die
Hälfte gab an, dass Musik vorher nicht mehr als ein Hobby war.
Vor allem junge Teilnehmer wüssten nicht, auf was sie sich
einlassen. Peinliches Material steht noch Jahre später in den
Mediatheken oder bei YouTube.
Die Musikmanagerin Anja Lukaseder saß in der vierten
und fünften DSDS-Staffel neben Dieter Bohlen. Bestimmte
Leistungskriterien gab es für sie nicht. Bei ihrer Bewertung verließ sie sich auf ihre Erfahrung – für sie die wichtigste Voraussetzung für ein gutes Jury-Mitglied. Auch
das Bauchgefühl zählt. „Musik hat etwas mit Emotionen
zu tun. Und du musst wissen: Lässt sich aus der Stimme
was machen?“
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Künstleraufbau fehlt
Bei den meisten Casting-Shows stehe aus ihrer Sicht nicht
mehr die Leistung der Kandidaten im Mittelpunkt – sondern Bohlen, Klum und die privaten Schicksale der Teilnehmer. Eine Ausnahme gibt es für sie: The Voice of
Germany. Da zähle das Talent des Bewerbers am ehesten.
„Dass das Interesse an den Künstlern meist kurz nach der
Sendung abebbt, liegt daran, dass kein Artist Development stattfindet“, erklärt Anja Lukaseder und meint damit
den Aufbau eines Künstlers zur Marke. Im Ausland läuft
das teilweise anders: Leona Lewis gewann 2006 die britische Ausgabe von X-Factor und ist international erfolgreich. 2002 gewann Kelly Clarkson die erste Staffel der
US-Show American Idol – und später drei Grammys.
Einmal von der Musik leben zu können, davon träumt
auch Rebecca Schelhorn. Dass das nicht leicht ist, weiß
sie. Ihr Jura-Studium will sie auf alle Fälle beenden. Von
ihrer DSDS-Teilnahme hat sie profitiert. Nicht nur, weil sie
jetzt mehr Auftritte hat. Sie weiß nun besser, wie man vor
der Kamera agiert.